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Schwiegermütter, Schuhe und ein toter Gast Kati Blum hat ihr Leben fest im Griff. Denkt sie. Zwar muss sie sich mit ihrer äußerst anstrengenden Schwiegermutter Anke herumschlagen, aber damit kommt sie klar, und auch mit ihrem neuen Job als Frühstücksfee ist Kati ganz zufrieden. Doch als ein Hotelgast tot aufgefunden wird und plötzlich der unwiderstehliche Lars als zuständiger Ermittler auf der Bildfläche erscheint, gelingt es ihr nicht, ihre vorwitzige Nase da rauszuhalten. Gemeinsam mit ihrer Freundin Nina stellt sie ihre etwas eigenwilligen und chaotischen Nachforschungen an und kommt zu der Frage: Warum scheint sich auf einmal die ganze Welt um tolle Schuhe zu drehen? Lesezeit mit Witz und Spannung! - Das zweite Krimi-Abenteuer aus der Reihe "Kati Blum ermittelt" Dieser Roman ist in sich abgeschlossen. Alle Teile können unabhängig voneinander gelesen werden LeserInnenstimme zu KATI BLUM ERMITTELT: Witzig, skurril, spannend - lesenswert!
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Eine Herausforderung zum Küssen
Kati Blum ermittelt – Band 2
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Birgit Gruber
Dies ist ein Roman.
Die Namen der behandelten Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit real existierenden (lebenden oder toten) Menschen wäre reiner Zufall.
»Im Jahre 1430 wird in Bayreuth das erste Kommunbrauhaus gebaut. Wie kann man sich seine Rolle vorstellen? Man hat alles vorgefunden, um sein Bier zu brauen, man musste nur seine Zutaten selber mitbringen.
1439 wird die Bayreuther Stadtfreiheit verabschiedet, und damit wollte man bezwecken, dass man nur innerhalb der Stadtgrenzen brauen konnte, und man hat sich somit diese Einnahme gesichert.
Es wurde ziemlich viel gebraut damals. Es hat trotzdem nicht gereicht. Nachdem man das Bier gebraut hatte, musste es reifen, und dafür wurde es in solche Fässer hier gefüllt. Wenn man es probieren musste, dann hat man hier vorne ein Loch gebohrt. Das Loch wurde danach mit einem Holzstück verschlossen. Ein sogenannter Zwickel. Von daher kommt auch der Name einer unserer Biersorten, ›Zwickel‹, aber auch von ganz vielen anderen Kellerbieren.«
Monika sah sich verstohlen um. Sie befand sich tief unter der Erde, genauer gesagt in einem Bereich der alten Gänge der Bayreuther Katakomben, die zur Bayreuther Aktienbrauerei gehörten, und nahm an einer Führung teil. Die junge Dame, die die Führung leitete, war nett und bestach durch ihr Wissen, was die von Touristen gestellten Fragen bewiesen, auf die sie konkret einging und ausführlich beantworten konnte.
Monika kannte das aber schon, hatte sie die Führung doch erst kürzlich mitgemacht. So wusste sie bereits Bescheid über die Bayreuther Katakomben, ihren Zweck bezüglich des Bierbrauens und ihrer Funktion als Schutzbereich für die Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg.
Bewusst hielt sie sich im Hintergrund. Die Temperaturen waren kühl hier unten. Um die zehn Grad nur, obwohl es draußen angenehme zweiundzwanzig Grad betrug. Der Boden unter ihren Füßen war teilweise feucht, und rechts des Weges befand sich eine Rinne, in der Wasser floss.
Die Augen aller Besucher waren auf die junge Dame gerichtet, die mit Freude ihr Wissen über die Katakomben weitergab. Ob sie sich jetzt davonschleichen konnte? Hier an dieser Stelle war der alte Mann verschwunden. Das hatte sie genau beobachtet. Er lief in den Seitengang schräg hinter ihr. Ein Stück weit hatte sie ihn verfolgt, und, als sie um die nächste Ecke gelugt hatte, gesehen, wie er hinter einem Stapel aus betagten Fässern, Bottichen und sonstigem alten Zeugs seine Plastiktüte fallen ließ, die er bei sich hatte, und herumkramte. Aus Angst, entdeckt zu werden, oder aber dass ihr Fehlen in der Gruppe auffallen würde, eilte sie schließlich zurück. Gerade noch rechtzeitig, um den Anschluss an die Führung nicht zu verlieren.
Der Alte jedoch traf erst später wieder auf die Truppe, von wo auch immer er daherkam. Wie aus dem Nichts war er wieder unter ihnen gewesen. Doch außer ihr selbst schien das niemand bemerkt zu haben.
Ihre Nackenhaare sträubten sich ein wenig, so aufgeregt war sie. Ihre Augen huschten hin und her. Jetzt oder nie!
Langsam und so unauffällig wie möglich trat sie ein paar Schritte rückwärts nach hinten. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass sie den von ihr angestrebten Gang fast erreicht hatte. Blitzschnell drehte sie sich um und verschwand.
Sie nahm den gleichen Weg wie der alte Mann. Zumindest hoffte sie das. Denn irgendwie sah alles ziemlich ähnlich aus. Aber schon kurze Zeit später erkannte sie den Ort, an dem sich der Mann zu schaffen gemacht hatte.
Die Stimme der Führerin wurde allmählich leiser, dann war alles mucksmäuschenstill. Nur das laute Pochen ihres Herzschlags hallte in ihren Ohren. Ihre Schritte verlangsamten sich. Schließlich befand sie sich an der gleichen Stelle, an der der Alte sich gebückt hatte.
Sie tat es ihm nach. Im schummrigen Licht konnte sie zuerst nichts weiter Auffälliges entdecken. Dann fiel ihr Blick auf zwei alte Plastiktüten. Nicht so alt, als dass sie museumsreif gewesen wären. Alt im Sinne von vielleicht ein, zwei Jahren. Der Aufdruck war bereits abgegriffen. Beide Tüten waren ausgebeult von deren Inhalt. Vorsichtig zog sie eine zu sich heran.
Als sie hineinschaute, konnte sie ihr Glück kaum glauben. Ohne zu überlegen, griff sie nach der alten hölzernen Schatulle und verstaute sie in ihrer übergroßen Handtasche. Ein Hoch auf die Modefritzen, die vor nicht allzu langer Zeit beschlossen hatten, dass diese Monstertaschen in waren. Dann schob sie mit spitzen Fingern die alte, abgegriffene Tüte zurück an ihren angestammten Platz. Was sich sonst noch darin befand, interessierte sie nicht.
Nun musste sie nur wieder unbemerkt ihre Gruppe finden und nach draußen gelangen. Und dann konnte sie endlich den Beweis vorlegen.
Während die anderen nach der Führung noch im Braustüberl ein Bier ihrer Wahl genießen wollten, befand sich Monika bereits auf dem Weg nach draußen. Ohne darüber nachzudenken, zog sie ihr Handy hervor und wählte eine Nummer. Nach dem dritten Klingeln wurde abgehoben.
»Ich hab sie!«, platzte Monika heraus und verließ dabei das Brauereigelände. »Tut mir ja echt leid für Sie, aber Sie sollten sich künftig lieber nach etwas anderem umsehen.«
»Ich glaube Ihnen kein Wort!«, blaffte eine Männerstimme ungehalten zurück.
»Sie wollen den Beweis? Sie sehen? Bitte schön. Sehr gern!« ihre Stimme klang wie zerflossene Butter. Es tat so gut, diese Worte endlich auszusprechen. Monika fühlte sich überlegen. Sie hätte in diesem Moment die ganze Welt einreißen können. »Wie wäre es in fünfzehn Minuten?« Monika blieb stehen und sah sich um. Wo genau war sie eigentlich? Dann sah sie ein Schild, das auf einen Fußweg hinwies, der am Herzogkeller vorbeiführte, hinunter zur Hindenburgstraße. Wenn sie nicht alles täuschte, würde sie von dort aus zum Roten Main kommen. Sie war dort schon einmal entlangspaziert.
»Und wo?«, fragte die Stimme.
»Am Fußweg des Mainufers. Auf Höhe des Spielplatzes der Hindenburgstraße. Etwas weiter hinten.«
»Ich denke, ich weiß, wo Sie meinen«, stieß der Angerufene hervor. Dann legte er auf.
Monika stand abseits des Weges, nahe dem Gebüsch. Sie strahlte. Warum auch nicht?
Für einen kurzen Moment waren ihre Gesichtszüge entgleist, und sie schalt sich, so unbedacht und vorschnell gehandelt zu haben, ohne vorher auf Nummer sicher zu gehen. Das war der Moment, in dem sie die Schatulle aus ihrer Tasche geholt und geöffnet hatte. Für einen Augenblick dachte sie, dass sie leer wäre, abgesehen von etwas Krimskrams, das der Alte darin versteckt haben mochte. Doch dann strichen ihre professionell lackierten Fingernägel über eine Einbuchtung am Grund der Holzschachtel. Ein doppelter Boden. Sie hielt den Atem an, während sie die dünne Holzplatte herauspulte. Da lag es dann, dieses wertvolle Stückchen Papier, das ihr Leben verändern sollte.
Entspannt warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. Dieser alte Hund. Karl Gerhard musste sie selbst im Tod noch triezen. Aber letztlich hatte sie doch gewonnen. Sie klappte den Deckel der Schatulle zu und warf einen Handkuss gen Himmel. »Danke, Karli. Danke!«, murmelte sie.
Der Wecker klingelte gnadenlos. Widerwillig öffnete ich einen Spalt breit meine Augen, während ich mit der Hand nach dem lärmenden Ungetüm angelte und endlich die Taste fand, um die unsanfte Beschallung zu beenden. Schlaftrunken hievte ich ein Bein aus dem Bett. Das zweite war im Begriff, zu folgen. Mitten in der Bewegung hielt ich jedoch inne. Verdammt! Heute war doch mein freier Tag. Warum nur hatte ich vergessen, den blöden Wecker auszuschalten? Ich ließ mich wieder zurück in die kuscheligen Federn sinken, bevor ich zehn Minuten später dann doch aus dem Bett sprang. Genau in der Sekunde, als mir im Dämmerzustand der Hinweis durch den Kopf waberte, dass ich meinen freien Tag mit meiner Kollegin Linda getauscht hatte.
Es war gerade einmal kurz nach fünf Uhr. Eine unchristliche Zeit, wie ich fand. Aber seit gut drei Monaten begann mein Tag so früh. Genauer gesagt, seit ich im Hotel »Zur Sonne« als Servicekraft für das Frühstück zuständig war. Damit verdiente ich zwar kein Vermögen, aber der Job ließ sich relativ gut mit meiner Tätigkeit als freie Mitarbeiterin der örtlichen Zeitung vereinbaren, von der allein ich meinen Lebensunterhalt nicht bestreiten konnte.
Ich bin übrigens Kati Blum. Anfang dreißig und Witwe. Mein Mann Thorsten starb vor einem guten dreiviertel Jahr. Seitdem wohne ich allein in der kleinen Wohnung, die wir liebevoll unser »Baumhaus« nannten, weil sich eine große, alte Eiche, die sich auf dem Anwesen der alteingesessenen Bayreuther Juweliersfamilie Blum befand, direkt nebenan regelrecht an unsere Fenster schmiegte.
Ja, Sie haben richtig gehört. Anwesen! Die Familie Blum hat nicht nur irgendein Grundstück samt Haus in Bayreuth. Nein, sie lebt seit Urzeiten auf einem Anwesen, das etwa dreitausend Quadratmeter umfasst und kann eine Villa ihr Eigen nennen, die wahrscheinlich eine ganze Grundschule hätte beherbergen können. Natürlich war sie prachtvoll ausgestattet. Darauf achtete Anke Blum, meine Schwiegermutter, die Herrscherin über das Blum’sche Königreich.
Ich glaube, in früheren Zeiten wäre Anke mindestens eine Herzogin oder so etwas in der Art gewesen. Das Herumkommandieren beherrschte sie jedenfalls mit links. Man könnte sagen, es lag ihr im Blut.
Thorsten, mein verstorbener Mann, war ihr einziges Kind, und weder sie noch Klaus, mein Schwiegervater, waren von der überstürzten Heirat ihres Sohnes mit einer völlig Fremden begeistert gewesen. Sie müssen wissen, wir hatten uns im Urlaub kennengelernt und schon nach ein paar Tagen das Jawort gegeben. Nun, die Ehe war gut gewesen, wenn auch nur von kurzer Dauer. Lediglich auf vier gemeinsame Jahre konnte ich zurückblicken, bevor Thorsten ein bis dahin unerkannter Herzfehler auf tragische Weise aus dem Leben riss.
So blieb ich allein zurück. Als Kuckuckskind, das dem Ehepaar Blum mal eben so über Nacht ins Nest gelegt worden war. Da ich aber zu meiner Hunderte von Kilometern entfernten Heimat keinerlei Kontakte mehr hatte und meine Eltern inzwischen nach Australien ausgewandert waren, blieb ich in Bayreuth. Das Baumhaus, es war mein Zuhause geworden, und ich liebte es, ebenso wie meine mütterliche Freundin, die ebenfalls auf dem Blum’schen Anwesen wohnte und hier den Haushalt schmiss.
Gähnend watschelte ich zu meiner kleinen Küchenzeile, um den Kaffeeautomaten anzuschalten. Wie immer gab er zum Gruß erst einmal ächzende Geräusche von sich. Ich wünschte auch ihm einen guten Morgen und verschwand unter der Dusche. Besonders gut geschlafen hatte ich letzte Nacht nicht. Irgendetwas musste wohl wieder passiert sein, denn die lauten Sirenen der Feuerwehr rissen mich zwischendurch kurzzeitig aus meinem wohlverdienten Schlaf.
Da mein geliebtes Baumhaus gleich an der Einfahrt zum Blum’schen Anwesen lag, und somit fast direkt neben der Straße, bekam ich des Öfteren Sirenen zu hören. Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen. Die ganze Palette fuhr hier vorbei, wenn auf der Autobahn etwas passiert war. Und natürlich auch sonst, je nach Zielort. Inzwischen kannte ich jede Sirene genau und wusste sofort, um welches Fahrzeug es sich handelte. Letzte Nacht war eindeutig die Feuerwehr im Einsatz gewesen. Nun ja. Ich hoffte einfach einmal, dass nichts wirklich Schlimmes geschehen war.
Wenig später schwang ich mich auf mein Fahrrad und traf pünktlich zum Schichtbeginn um sechs Uhr im Hotel ein. Jetzt hieß es bis elf Uhr Frühstück herbeizuräumen, Schüsseln und Platten nachzufüllen, Gäste zu bewirten und alles wieder abzuräumen. Das war mein Job. An sechs Tagen die Woche. Da ich mich aber als Bedienung gar nicht so dumm anstellte und obendrein den Duft von Kaffee und frischen Croissants liebte, war ich nicht unglücklich damit.
»Guten Morgen«, trällerte ich Alex, dem Koch, zu, während ich mich aus meiner Strickjacke befreite. Es war Ende Mai, und in diesen Tagen herrschten frühsommerliche Temperaturen. Jedenfalls den Tag über. Morgens war es der Jahreszeit entsprechend noch frisch.
»Morgen Kati. Was machst du denn heute hier?«, nuschelte Alex und schlug Eier in eine große Metallschüssel.
Ich schmiss meinen Kram in den Spind und betrat die Küche.
»hab mit Linda getauscht. Sie hat einen Arzttermin oder sowas«, erklärte ich und sah ihm zu, wie er in Rekordzeit ein Dutzend Eier bearbeitete. Ich liebte seine Rühreier! Abgesehen davon war Alex außerdem nett. Er war jung. Die Ausbildung zum Koch hatte er erst im letzten Jahr erfolgreich beendet, und das cholerische Verhalten vieler erfahrener Köche hatte sich bei ihm noch nicht festgesetzt. Klar, Chefköche mussten alles im Griff haben, Mitarbeiter wie Speisen. Und sie mussten auf die Minute genau arbeiten, egal wie viel los war. Vielleicht gehörte da ein etwas aufbrausendes Auftreten einfach mit zum Berufsbild. Alex hingegen war immer entspannt, so lange ich ihn kannte, und hatte meist ein spitzbübisches Grinsen im Gesicht, fast so, als wollte er den Lebensmitteln, mit denen er arbeitete, sagen: Jetzt passt mal gut auf, was ich aus euch zaubern werde.
»Ist Sahra schon da?«, erkundigte ich mich nach meiner Kollegin, mit der ich heute zusammen die Schlacht am Frühstücksbuffet meistern würde.
Alex wies mit dem Kinn in Richtung Speisesaal. »Drin.«
»Du bist ja heute ganz schön einsilbig«, stellte ich fest und band mir meine lange burgunderrote Schürze um die Taille.
»Ach. Nicht gut geschlafen.«
»Das liegt dann wohl in der Luft. Meine Nacht war auch nicht das Gelbe vom Ei.«
Alex hielt inne. Einen Augenblick sahen wir uns an, dann in die Schüssel. Beide lachten wir los.
»Nein. Eine Gartenlaube in meiner Nähe hat kurz nach Mitternacht Feuer gefangen«, erklärte Alex gleich darauf.
»Ach, echt?«
»Das war ein Gestank, sag ich dir. Ist genau in mein Fenster gezogen, der Qualm. Und spätestens als die Feuerwehr anrückte, stand ich im Bett. Mann, sind die Sirenen laut.«
»Wem sagst du das«, seufzte ich. Somit war auch dieses Rätsel des Morgens gelöst. Also kein Unfall auf der Autobahn. Ein Gartenhäuschen hatte gebrannt.
»Morgen Kati«, rief da Sahra und schwang die Tür gekonnt mit ihrem Hinterteil auf. In den Händen trug sie zwei große aufeinandergestapelte Bäckerkörbe mit frischen Brötchen. Gleich hinter ihr erschien Oskar mit einer ebenso großen Kiste, randvoll gefüllt mit Orangen.
»Uff.« Er stellte die schwere Box auf die lange Anrichte.
»Ah, gut. Du kannst gleich damit anfangen, die Orangen zu pressen«, ordnete Alex an, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.
»Na, dann wollen wir mal. Oder?«, fragte Sahra und zwinkerte mir zu.
Ich griff bereits ins Regal, um die Brotkörbchen herauszuholen.
Es war ein schöner Morgen. Die Sonne verlor keine Zeit und schien, kaum dass sie aufgegangen war. Den Gästen, die im Wintergarten direkt neben der Glasscheibe ihr Frühstück einnahmen, wurde bald warm. Später Eintreffende wählten gleich einen Platz auf der Terrasse. Eigentlich war es mehr ein Innenhof als eine Terrasse. Der Wintergarten war in U-Form an das alte Sandsteingebäude angebaut worden, sodass man von der Straße aus über den Innenhof zum Eingang des Restaurants gelangte. Er war mit seinem Kopfsteinpflaster und den Granitsteinen schön anzusehen. Seitlich und auch in der Mitte standen große Kübel mit verschieden hohen Grünpflanzen, dazu etliche Holztische und -stühle mit schwarzen Metallfüßen.
Der Himmel war blau und mit einzelnen weißen Wölkchen geschmückt. Vögel pfiffen. Die Welt und auch die Gäste schienen mit sich im Einklang zu sein. Die Kirchturmuhr schlug zehn Mal. Wie schnell die Zeit doch verging.
Ich trug ein Tablett mit dreckigem Geschirr zur Küche. In der Nähe des Buffets lief mir Sahra entgegen, die allmählich mit dem Abräumen begann.
»Sag mal, hast du Frau Hofmann heute schon gesehen?«, fragte ich sie und blieb stehen.
Sahra hob den Kopf. »Hofmann?«
»Du weißt schon, die adrette ältere Dame mit den rotlackierten Fingernägeln. Schätzungsweise Ende fünfzig. Sportlich-elegant gekleidet, trägt meist Turnschuhe. Ist recht nett und immer freundlich.«
»Ach die. Nee. hab ich nicht gesehen.«
»Komisch. Als ich mich vorgestern mit ihr kurz unterhalten habe, hat sie mir erklärt, dass für sie das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist. Aber nur vor neun Uhr! Das hat sie extra noch betont und gemeint, dass es schließlich Frühstück heißt, und nach neun Uhr wäre es für den Körper nicht mehr gesund. Das würde sonst ihren Stoffwechsel durcheinanderbringen.«
Sahra zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist sie ja abgereist? Gestern.«
»Vielleicht.«
Nachdenklich ging ich weiter, um mein Dreckgeschirr Oskar zu übergeben, dem Wächter der Spülküche. Dass sich die Frau nicht einmal verabschiedet hatte, wunderte mich ein wenig. Seitdem ich hier arbeitete, hatte ich einiges an Menschenkenntnis dazugewonnen. Es gab die Hochnäsigen, die gerne meckerten, die, die nur mit sich selbst beschäftigt waren und um sich herum kaum etwas wahrnahmen. Für diese Menschen war das Personal wahrscheinlich nicht einmal existent. Die dachten offenbar, der bestellte Latte macchiato erschien wie von Zauberhand an ihrem Platz. Und dann gab es noch die netten Leute, die freundlich lächelten, sich bedankten und gern ein kleines Schwätzchen hielten. Zu dieser Sorte gehörte Frau Hofmann. Obwohl sie ihrem Outfit nach auf den ersten Blick zum anderen Typ hätte zählen können, überraschte sie mich mit ihrer freundlichen Art. Umso mehr verwunderte es mich, dass sie gestern nicht erwähnt hatte, dass sie abreisen würde. Meistens teilten die Netten das dann mit und verabschiedeten sich. Manchmal auch mit einer kleinen oder größeren Trinkgeldgabe, nachdem ich sie ein paar Tage zur Zufriedenheit bedient hatte.
Eine Stunde später waren alle Gäste verschwunden, alles sauber aufgeräumt und auch in der Küche waren Oskar und Alex bei den letzten Handgriffen. Sahra und ich schmissen unsere Schürzen in die Wäsche, bevor wir nach unseren eigenen Habseligkeiten angelten.
»Tschüss, bis morgen«, rief Sahra und war schon halb zur Tür hinaus. Ich musste noch nach vorn zur Rezeption. Frau Eymold, unsere Chefin, müsste jetzt Dienst dort haben, und ich sollte für meine Schwiegermutter noch einen kleinen Empfang organisieren.
»Kati. Am nächsten Donnerstag möchten wir Bernhard aus unserem Literaturclub für seine fünfundzwanzigjährige Mitgliedschaft ehren. Da muss der Rahmen schon stimmen! Organisier hierfür bitte im Hotel »Zur Sonne« die Kutscherstube. Es werden circa dreißig Personen kommen. Menüvorschläge und Tischschmuck benötige ich natürlich auch«, bat sie mich gestern, wie immer höchst liebevoll.
»Aber ich kann doch nicht …« Als ich protestieren wollte, schnitt sie mir sofort das Wort ab.
»Du wirst das ja wohl für mich erledigen können! Bist eh täglich dort … um zu bedienen.« Sie spie das Wort bedienen förmlich aus. Eine solche Tätigkeit lag deutlich unter ihrem Niveau und dem ihrer Familie. Was mich betraf, war sie sichtlich hin- und hergerissen. Ich war zwar »Familie«, aber wenn es nach ihr ginge, würde sie diesen Umstand lieber vergessen. Und was meinen Job als Servicekraft betraf, so passte der doch grundsätzlich zu mir und meinem Wesen. Dass sie das so sah, da war ich mir sicher. Mir entlockte ihre zweifelhafte Haltung diesbezüglich regelmäßig ein Lächeln. Es war mir immer eine Freude, Anke aus der Fassung zu bringen.
»Ich weiß nicht, was für einen Tischschmuck du dir vorstellst«, formulierte ich meinen Einwand anders. Schließlich waren Ankes gehobene Ansprüche nur schwer zu erfüllen, das wusste ich aus Erfahrung. Und ich würde mich garantiert nicht in die Nesseln setzen, um mir am Schluss wieder eine Predigt anhören zu müssen, wie unfähig ich doch sei. Anke war in ganz Bayreuth berühmt-berüchtigt. Jedem Gastwirt, Restaurant- und Hotelbesitzer brach schon der kalte Schweiß aus, wenn sie über die Schwelle trat.
»Es wird doch bestimmt Unterlagen mit Vorschlägen und Fotos geben. Bring sie mit. Ich wähle dann in Ruhe aus.« Ihr Kinn stach erhaben hervor.
Ich gab mich geschlagen. Wie könnte ich auch anders, wenn sie mich schon so nett darum bat?
Der Haupteingang zum Hotel befand sich seitlich am Gebäude und führte direkt zur Rezeption. Da ich mich aber schon im Haus aufhielt, lief ich durch das zu dieser Zeit menschenleere Restaurant, hindurch durch die sauber polierte Glastür, den Gang entlang nach vorn. Frau Eymold saß in Unterlagen vertieft in dem kleinen Büro direkt hinter der Empfangstheke. Ich schwang meine Handtasche über die Schulter und lehnte mich an die hölzerne Ablagefläche des Rezeptionstresens.
»Frau Eymold? Hätten Sie kurz Zeit?«, winkte ich ihr.
Sie sah auf und kam lächelnd auf mich zu. »Kati. Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie gerade in dem Moment, als die Tür des Haupteingangs aufging und zwei Männer eintraten.
Ich hatte das Gefühl, dass mir das Herz stehenbleiben würde.
»Guten Tag«, sagte der erste Mann und kam einen Schritt näher.
Ich kannte ihn. Es handelte sich um Kriminalkommissar Hartmann. Wir hatten uns vor etwa einem halben Jahr flüchtig kennengelernt, als ich zufällig eine Leiche entdeckt hatte. Aber das war eine andere Geschichte und nicht der Grund für meine kurzzeitigen Herzrhythmusstörungen. Dafür war vielmehr der Mann verantwortlich, der hinter ihm in der Tür erschien und den ich deutlich besser kannte als Herrn Hartmann.
»Kati!«, sagte da Lars auch schon. Er hatte mich ebenfalls auf Anhieb wiedererkannt.
»Lars!« Es war lediglich ein Flüstern, das ich von mir gab. Ich räusperte mich und probierte es erneut: »Lars! Was machst du denn hier?«
Lars. Wie oft hatte ich in den vergangenen Monaten immer wieder an ihn gedacht. Ja, man konnte durchaus sagen, dass er einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen hatte. Ich hatte ihn in Verbindung mit der bereits erwähnten Leiche, die ich gefunden hatte, kennengelernt. Das war kurz nach Weihnachten gewesen, als ich so manches über meinen verstorbenen Mann Thorsten erfuhr, was ich lieber nicht gewusst hätte. Mit ein bisschen Abstand zu den Geschehnissen zum Jahreswechsel beschloss ich aber, mir die Zeit meiner glücklichen Ehejahre nicht vermiesen zu lassen und nur an den schönen Momenten festzuhalten. Egal, was ich im Nachhinein alles erfahren hatte.
Vielleicht mochte sogar Lars ein wenig seinen Teil zu dieser Einstellung beigetragen haben. Er war nach Thorstens Tod der erste Mann, der meinen Hormonhaushalt doch etwas durcheinanderbrachte. Na gut. Nicht etwas sondern gewaltig. Dabei war unser Start vielmehr ruppig gewesen.
Sechs Tage standen wir in ziemlich intensivem Kontakt, wie man sagen könnte. Dann verschwand er so schnell, wie er aufgetaucht war. Ich dagegen blieb mit meinen neugewonnenen Erkenntnissen bezüglich meines verstorbenen Mannes und wiederholt kribbelnden Gedanken an Lars zurück.
»Hauptkommissar Hartmann, Kripo Bayreuth«, stellte sich indes der mir flüchtig bekannte Beamte, an Frau Eymold gewandt, vor. »Und das ist mein Kollege Winkelmann.« Er zog seinen Ausweis hervor und hielt ihn meiner Chefin unter die Nase.
Lars blaugraue Augen waren noch immer auf mich geheftet. Erst bei der Erwähnung seines Namens richtete er seine Aufmerksamkeit ebenfalls auf die Hotelbesitzerin.
»Eymold. Petra Eymold. Was kann ich für Sie tun?«
Kommissar Hartmann räusperte sich. »Wohnt bei Ihnen eine …«, er sah kurz auf einen kleinen schwarzen Block, »Monika Hofmann?«
»Äh, ja?« Meine Chefin zog fragend die Augenbrauen nach oben. »Ich weiß aber nicht ,ob sie gerade im Haus ist.«
Hartmann nickte mäßig. Lars ergriff das Wort.
»Ich glaube, das können wir beantworten. Frau Hofmann wurde nämlich heute Morgen am Mainufer tot aufgefunden.«
Meiner Chefin und mir klappte gleichzeitig der Unterkiefer herunter.
»Was?«, hauchte Frau Eymold und sank auf den Stuhl hinter der Rezeption. »Wann? Wie? Ich meine … was ist denn passiert?«
»So wie es aussieht, wurde sie erschlagen«, teilte die nüchterne Stimme von Herrn Hartmann uns mit.
»Erschlagen?«, echote ich.
»Wir müssten bitte das Zimmer von Frau Hofmann sehen«, forderte Hartmann meine Chefin auf.
»Ja. Sicher. Kommen Sie.« Leicht wankend erhob sie sich und griff nach der Generalschlüsselkarte, mit der sich alle Türen im Hotel öffnen ließen.
Die drei liefen an mir vorbei zum Aufzug. Ich stand noch immer wie zur Salzsäule erstarrt da.
»Ich wusste doch, dass etwas nicht stimmt«, murmelte ich.
Lars blieb kurz bei mir stehen. Ich roch sein Aftershave, und trotz dieser schrecklichen Nachricht breitete sich flüchtig ein wohliges Kribbeln in mir aus.
»Kanntest du sie?«, fragte er mich.
Ich nickte. »Vom Frühstück.«
Das »Pling« des Fahrstuhls ertönte. »Lars?«, hörte ich Herrn Hartmann.
»Komme«, rief er über die Schulter. »Wir reden später«, sagte er zu mir. »Ich weiß ja, wo ich dich finde.« Dann drehte er sich um und verschwand mit den anderen im Aufzug.
***
Blindlings radelte ich durch die Stadt, als wäre ich auf Autopilot gestellt. Was um mich herum passierte, nahm ich nur am Rande wahr. Ich wusste nicht, was mich mehr aufwühlte … die Nachricht, dass Frau Hofmann tot war, oder dass schon wieder ein Mord in Bayreuth geschehen war. Sie war so eine nette Frau gewesen. Warum hatte ausgerechnet sie so ein Schicksal ereilt? Oder lag der Gefühlsaufruhr gar nicht an der schrecklichen Neuigkeit, sondern daran, dass ich Lars wiedergetroffen hatte?
Gedankenversunken trat ich in die Pedalen, durch die Au am Mistelbach entlang, über die Hindenburgstraße weiter zum Rad- und Fußweg am Roten Main weiter, als etwas meine Aufmerksamkeit erregte. Ich sah genauer hin. Auf der anderen Uferseite flatterte weiß-rotes Absperrband im Wind. Ob das die Stelle war, an der man Frau Hofmann gefunden hatte? Andererseits … das Mainufer war lang. Es konnte also genauso gut einfach eine Stelle sein, an der irgendwelche Bauarbeiten vorgenommen werden sollten. Ich fuhr langsamer und schaute genauer hin. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Lediglich ganz weit hinten konnte ich eine Joggerin entdecken. Aber das war für diese Tageszeit nicht unüblich. Für die Mittagspause war es noch zu früh, ebenso wie für nachmittägliche Spaziergänger oder Mütter, die mit ihren Kindern hier entlangtobten, auf dem Weg zum in der Nähe gelegenen Spielplatz. Der Rote Main floss geruhsam zwischen grünem Gras dahin, und die Baumblätter glänzten in der Sonne. Ein schöner Ort zum Abschalten. In mir hingegen herrschte eine gewisse Anspannung. Ich hatte Lars wiedergetroffen. Dabei wusste ich nicht einmal, dass er in der Stadt war. Und wenn ich richtig verstanden hatte, war er nicht nur kurz hier, sondern nun bei der Bayreuther Kriminalpolizei. Wie war das möglich? Half er vielleicht nur aus? Gab es einen personellen Engpass?
Das letzte Mal, als ich ihn sah, war er auf dem Weg nach Hamburg gewesen. Als er davonfuhr, wog mein Herz schwer. Er war, seit Thorstens Tod, der erste und auch seither der einzige Mann gewesen, der in mir ein gewisses Kribbeln ausgelöst hatte. Versonnen biss ich mir auf die Lippe.
Ohne es zu bemerken, fuhr ich eine Schleife und stand plötzlich neben dem abgesperrten Bereich. Das Absperrband glänzte im Sonnenlicht und flatterte noch immer leicht im Wind. Ich stieg vom Fahrrad und trat näher. Die Stelle, die das Band umgab, war schätzungsweise vier mal fünf Meter groß und befand sich direkt vor dem angrenzenden Gebüsch. Aber nichts war zu sehen. Nur zertrampeltes Gras. Hier könnte es sich um alles Mögliche handeln. Vielleicht verbarg sich im Erdreich eine Gas- oder Wasserleitung, die demnächst repariert werden musste. Aber ebenso gut könnte das der Tatort sein, Kati, riet meine innere Stimme. Ich beugte mich vor und sah genauer hin. Etwas weiter hinten entdeckte ich eine dunkle Stelle. Blut womöglich? Hatte die Kripo nicht erwähnt, dass Frau Hofmann erschlagen wurde? Ich spitzte die Lippen.
Plötzlich bellte ein Hund. Ich fuhr zusammen. Schon tauchte ein schwarzes Fellknäuel, das bis zu meinen Knien heranreichte, bei mir auf.
»Hero! Komm sofort hierher«, rief eine Männerstimme.
Doch der Hund kümmerte sich nicht darum. Stattdessen zog er es vor, mich zu beschnüffeln und an mir hochzuspringen. Ich mochte Hunde. Trotzdem war mir die stürmische Bekanntschaft etwas zu viel, und ich hatte meine liebe Mühe, nicht mitsamt meinem Fahrrad, dessen Lenker ich immer noch in Händen hielt, umzufallen.
»Hero!« Der Mann war noch in einiger Entfernung, und ich befürchtete, dass er nicht rechtzeitig hier wäre, um seinen Hund zu bändigen.
Also beschloss ich, den Heimweg anzutreten. Ich wusste sowieso nicht, was ich überhaupt hier wollte. Ich schob den Hund von mir und tätschelte seinen Kopf. »Tschüss, Großer«, sagte ich und blickte in seine freundlichen Hundeaugen, stieg wieder auf mein Rad und machte mich davon. Einen kurzen Augenblick befürchtete ich, Hero würde mich verfolgen. Aber glücklicherweise lief er schwanzwedelnd zu seinem Herrchen.
»Kati! Da bist du ja. Hast du den Raum reserviert? Wo sind die Fotos für die Tischdekoration?«
Maria und ich drehten uns um. Wir saßen in der Küche der Blum’schen Villa und sprachen gerade über den königlichen Rasen, der sie umgab.
Maria war die Haushaltsfee der Villa Blum. Sie kümmerte sich um alles. Vom Saubermachen über die Wäsche bis hin zur Küche. Bis vor kurzem tat sie das gemeinsam mit ihrem Mann Richard, der seinerseits für alle handwerklichen Arbeiten zuständig war, die auf so einem Anwesen täglich anfielen. Leider war Richard kurz vor Weihnachten aus dem Leben gerissen worden. Ein herber Schlag, für uns alle.
Für Maria, die kinderlos war, natürlich am meisten. Aber auch mich hatte es tief getroffen. Waren Richard und sie doch wie Eltern geworden, seitdem es mich hierherverschlagen hatte. Aber auch für meine Schwiegereltern hinterließ sein plötzliches Ableben eine Leere, schließlich kümmerte sich nun niemand mehr um die Hausmeisterpflichten. Na gut, das war gemein. Ganz so schlimm waren Klaus und Anke auch nicht. Obwohl …
Anke stand erhaben wie immer im Türrahmen und streckte auffordernd den Arm in meine Richtung.
Was dachte sich diese Frau nur? Dass sich immer alles um sie drehen würde? Erwartete sie ernsthaft, dass ich ihr die gewünschte Mappe vom Hotel in dieser Sekunde in die Hand drücken könnte?
Unsere Augen trafen sich. Oh ja! Genau das erwartete sie.
»Es tut mir leid …«, räusperte ich mich.
Seufzend trat meine Schwiegermutter einen Schritt näher. »Du hast meinen Auftrag also nicht ausgeführt!« Es war eine Feststellung. Keine Frage. »Was ist denn bitte schön so schwer dabei gewesen?« Sie schüttelte den Kopf, und ich kam mir vor wie ein Kind, dem mit einer Portion Resignation mitgeteilt wurde, wieder einmal versagt zu haben.
Zum Glück konnte ich das ganz gut ab. Von Anke ließ ich mir schon länger keine Schuldgefühle mehr einreden.
»Natürlich habe ich daran gedacht«, teilte ich ihr mit. »Allerdings kam die Kripo gerade, als ich mich mit meiner Chefin darüber unterhalten wollte.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich werde mich morgen darum kümmern.«
Anke starrte mich an. Wenn ich raten sollte, hätte ich darauf getippt, dass sie überlegte, ob ich sie auf den Arm nahm, um mich aus der Affäre zu ziehen, oder die Wahrheit sprach. Aber sie kannte mich gut genug, dass sie wusste, dass ich nicht log.
»Die Kriminalpolizei? Im Hotel »Zur Sonne«?«, fragte sie. »Was treibt die denn dort? Unter diesen Umständen sollten wir die Feier vielleicht woanders stattfinden lassen.«
Mir entschlüpfte ein Kichern. Es war so typisch, dass ihre Belange an oberster Stelle standen. Immer.
»Ist was passiert?«, mischte sich nun auch Maria ein, die bisher reglos am Tisch mir gegenüber gesessen hatte. Ich drehte mich zu ihr um.
»Leider ja. Eine Frau, die Gast im Hotel war, wurde heute früh tot aufgefunden.«
»Im Hotel?« Ankes Stimme wirkte alarmiert.
»Nein. Irgendwo am Mainufer.«
»Wie schrecklich«, murmelte Maria.
»Ach so«, sagte Anke, halb zufrieden. »Ein Hotelgast? Demnach ist es niemand, den ich kenne, oder?«
»Nein, liebste Schwiegermama«, erwiderte ich in einem so lieblichen Tonfall, wie ich konnte, wusste ich doch genau, wie sie diese Bezeichnung hasste. »Du kannst also getrost deine kleine Feier im Hotel Zur Sonne abhalten.«
Ihre Augen verengten sich. »Schön«, sagte sie, »dann klär das morgen!«, und verschwand.
Maria zwinkerte mir zu. »Wenn sie anders reagiert hätte, müssten wir uns wahrscheinlich Sorgen machen.«
»Stimmt.« Ich nickte lächelnd. »Also ich werde mir nachher mal den Rasenmähertraktor anschauen und ein bisschen mähen. Mach dir keine Gedanken. Das bekommen wir schon hin.« Wir standen auf.
»Danke! Was würde ich nur ohne dich machen?« Maria umarmte mich.
Froh, Maria helfen zu können, machte ich mich auf den Weg zu meinem Baumhaus. An so einem schönen Tag ein bisschen Rasen mähen war keineswegs eine schreckliche Aussicht. Bisher hatte das immer Richard gemacht. Doch der war ja nicht mehr da. Maria mit ihren sechzig Jahren hatte hingegen schon genug zu tun. Außerdem scheute sie sich, mit der Maschine umzugehen. Mir jedoch gefiel die Vorstellung, ein wenig durch die Gegend zu brausen. Wie viel PS das Ding wohl hatte? Ich grinste bei der Vorstellung, Ankes heißgeliebte Blumen umzumähen. Böse Kati! Nein, natürlich würde ich das nicht machen. Jedenfalls nicht mit Absicht.
Mit dem Rad war die Entfernung zwischen der Villa und meinem Baumhaus ein Katzensprung. Zu Fuß zog sich die lange Einfahrt dahin. Aber mir war der »Sicherheitsabstand« zu meinen Schwiegereltern mehr als recht. Auf diese Weise hatte ich zumindest meine Privatsphäre.
Ich öffnete das Garagentor und schob mein Fahrrad hinein. Die Garage war größer als der Durchschnitt, und so hatte ich neben meinem Auto noch einigen Platz, den ich als Stauraum und eben für mein Rad nutzen konnte.
Durch eine Tür gelangte man auch ins Treppenhaus, das mich zu meiner kleinen Wohnung führte. Die lag genau über der Garage und war dementsprechend groß. Oder eben klein. Je nachdem, wie man das bezeichnen wollte. Ein Wohnraum inklusive Küchenzeile, die nur durch einen spärlichen Tresen abgetrennt wurde. Schlafzimmer, Bad. Das war’s. Doch mir genügte es. Thorsten und ich hatten hier viele schöne Stunden verbracht. Jetzt war es mein Reich.
Das Einzige, was mir fehlte, war ein Balkon. Deshalb rumorte seit einigen Tagen wieder die Idee in mir, hinter dem Gebäude eine Terrasse anzulegen.
Bereits im letzten Sommer hatten Thorsten und ich schon über eine ebensolche nachgedacht. Er hatte sogar mit seinen Eltern darüber gesprochen. Soweit ich wusste, waren sie einverstanden gewesen. Zumindest Thorsten gegenüber. Ob das auch für mich allein noch galt?
Statt in meine Wohnung zu gehen, lief ich deshalb wieder hinaus und nach hinten. Platz für eine Terrasse wäre genug. Das Grundstück war durch eine Hecke von der Straße und dem Gehweg nicht einsehbar, und obwohl mein Baumhaus gleich neben der Einfahrt zum Anwesen lag, befanden sich hinter meinem Häuschen gut zwanzig Meter Rasen bis zur Hecke und dem Zaun.
Grübelnd stand ich da und versuchte, meine Fantasie spielen zu lassen. Für einen Handwerker hatte ich kein Geld. Ob ich meine Schwiegereltern noch einmal fragen sollte? So wie ich Klaus kannte, hatte er seine Meinung bestimmt nicht geändert und nichts dagegen. Bei Anke könnte das durchaus anders sein. Wir hatten eben einfach unsere Differenzen. Selbst wenn es nur darum ging, mir zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Arglos, wie ich war, beschloss ich, dass es vielleicht am besten wäre, meine Schwiegereltern einfach damit zu überraschen.
»Da steckst du!« Lars Stimme riss mich aus meinen Tagträumereien. »Du grinst so verschmitzt. Was heckst du diesmal aus?«, fragte er und kam näher, die Arme lässig unterhalb der Brust verschränkt, ebenfalls mit einem neckischen Grinsen im Gesicht.
Prompt begannen einige Schmetterlinge in meinem Bauch umherzuwirbeln.
»Da könnte man ja auf die Idee kommen, ich würde permanent etwas im Schilde führen«, sagte ich und kniff die Augen ein wenig zusammen. »Außerdem kennst du mich gerade mal ein paar Tage«, stellte ich fest.
»Schon möglich. Aber das hat ausgereicht.«
Stumm sah ich ihn an. Was meinte er damit? Das konnte alles Erdenkliche bedeuten. Sowohl positiv als auch negativ.
Er lachte. Gut sah er aus. Wie immer steckte er in Jeans. Anders als im Winter trug er heute jedoch keinen Pulli, sondern ein hellblaues Hemd. Auch nicht schlecht! Seine sportliche Statur konnte sich durchaus sehen lassen.
Dann bemerkte ich, dass auch er mich einer eingehenden Musterung unterzog.
Ich überlegte, ob ich mich seit unserer letzten Begegnung verändert hatte, und vollzog eine schnelle Bestandsaufnahme. Schwarze Hose, weiße Bluse. Ich hatte weder zu- noch abgenommen, somit nach wie vor eine Durchschnittsfigur. Mein rotbraunes Haar hatte ich wegen der Arbeit im Hotel zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Antwort lautete demnach: Nein. Dennoch war ich leicht verunsichert.
»Also, was treibt dich hier her?«, fragte ich, um das Schweigen zu brechen.
»Ich möchte dich über Frau Hofmann befragen«, grinste er, und sein markantes Gesicht mit dem Dreitagebart bekam eine spitzbübische Note.
Ich zog eine Augenbraue nach oben. Er wusste genau, was ich wissen wollte, und stellte sich absichtlich dumm. Sein Grinsen wurde breiter.
Es war genau wie vor gut fünf Monaten, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Damals waren wir uns nicht gerade grün gewesen, wie man so sagt. Wir kamen einfach nicht umhin, uns zu kabbeln. Und dann herrschte da noch diese gewisse Spannung zwischen uns. Sie war noch da, wie ich feststellte.
Mein Blick fiel auf seine schön geschwungenen Lippen. Bei der Erinnerung, wie er mich geküsst hatte, wurde mir plötzlich heiß. Ich schluckte.
»Du weißt genau, was ich gemeint habe. Kripo Bayreuth?«
»Ach so. Das.«
Es fühlte sich an wie ein Katz-und-Maus-Spiel.
»Bei meinem letzten Job habe ich hier einige nette Leute kennengelernt. Und als bei der Kriminalpolizei im Morddezernat eine Stelle frei wurde, dachte ich: Warum nicht?« Er kam etwas näher. »Weißt du, ich wollte mich eh nach einem sesshafteren Job umsehen. Das ständige Nomadenleben war eine Zeitlang recht interessant, aber irgendwann verliert auch das seinen Reiz. Und Bayreuth ist doch ein schönes Städtchen. Deshalb … hier bin ich.«
Etwas perplex starrte ich ihn an. Das war ja einmal eine wirkliche Neuigkeit. Forschend sah ich ihm ins Gesicht. Freute ich mich darüber?
Ein Schmetterling in meinem Bauch vollführte einen Purzelbaum.
»Könnte also durchaus sein, dass wir uns in Zukunft öfter über den Weg laufen«, fügte er noch zwinkernd hinzu.
»Aha«, kam es mir dümmlich über die Lippen. Innerlich rollte ich über mich selbst mit den Augen. Das war so typisch für mich. Blöd dastehen und grinsen. Oh Gott! Grinste ich etwa auch noch dämlich? Bemüht, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten, schob ich die Hände in die Gesäßtaschen.
»Tja, dann: Herzlich willkommen!«
»Danke.« Er zuckte leger mit den Schultern. »Und, was kannst du mir nun zu Frau Hofmann erzählen?«
Stimmt. Der eigentliche Grund seines Besuchs.
»Nicht viel. Ich hab sie jeden Morgen beim Frühstück bedient. Zwei Tassen Kaffee, ein Fünf-Minuten-Frühstücksei.«
»Hm. Und war das Ei immer genau richtig gekocht? Ich meine, du hast sie demnach nicht zufällig mit einem hartgekochten Ei erschlagen?«
Es ging also schon wieder los. Wollte er mich auf den Arm nehmen? Ich schenkte ihm einen abschätzigen Blick, der Anke alle Ehre gemacht hätte.
»Da muss ich dich enttäuschen. Sie war nett.«
Lars nickte. »Und war sie immer für sich, oder hatte sie auch mal Gesellschaft?«
»Nein. Sie saß täglich allein an ihrem Tisch.«
»Tja, dann würde ich sagen, das war’s. Danke für deine Hilfe«, meinte er, hielt aber weiterhin Blickkontakt.
Ich biss mir auf die Lippe. Sollte ich ihm etwas zu trinken anbieten, um der alten Zeiten willen?
Sein Handy klingelte. Das Gespräch war kurz und knapp. Es bestand eigentlich nur aus »Ja. Okay. Ich bin gleich da.«. Dann war Lars verschwunden, und ich blieb auf meiner noch nicht vorhandenen Terrasse allein zurück.
Der Rasenmähertraktor war relativ leicht zu bedienen. Mit fast kindlicher Freude zog ich Schleifen über den »königlichen« Rasen. Sehr zum Missfallen der Queen. Eine »Acht« hatte sie bisher noch nie im Gras gehabt und wollte sie auch nicht, wie sie mir gestenreich und mit grimmiger Miene versuchte mitzuteilen. Leider war das Motorengeräusch zu laut, um ihre mit Sicherheit nicht damenhafte Wortwahl verstehen zu können. Lächelnd winkte ich ihr zu und setzte noch ein »S« neben die »8«.
Dann riss ich mich zusammen und mähte ordentlich. Als ich fertig war, hatte ich nicht nur ein beachtliches Stückchen geschafft, sondern auch eine von Ankes heißgeliebten Hortensien abrasiert. Ups. Da musste ich echt abgelenkt gewesen sein. Aber es stimmte. Mir ging diese Geschichte mit Frau Hofmann einfach nicht aus dem Kopf. Die arme Frau. Sie war als Touri nach Bayreuth gekommen und hatte hier so ein schreckliches Ende gefunden. Oder war sie gar keine einfache Touristin gewesen? Mir fiel ein, dass sie vor zwei Tagen etwas von einem Termin erzählt hatte, den sie nicht verpassen dürfte. Deshalb hatte sie an dem Tag auf die zweite Tasse Kaffee verzichtet. Sie machte auch öfters einen nachdenklichen Eindruck, wenn ich recht überlegte. Dann kam mir in den Sinn, dass sie mich gefragt hatte, ob es in Bayreuth Bettler gäbe und wo die immer säßen. Als ich sie am nächsten Tag nach ihrem Termin erkundigt hatte, erklärte sie mir lächelnd, dass er durchaus erfolgversprechend verlaufen sei. Aber konkret könne man das erst sagen, wenn noch etwas anderes geklärt wäre. Und wenn alles klappte, bekäme ich ein dickes Trinkgeld, weil ich ihr so sehr geholfen hätte.
Ebenso wie bei dem Gespräch runzelte ich auch jetzt verständnislos die Stirn. Frau Hofmann und ich hatten lediglich harmlos geplaudert. Ich wüsste nicht, was ich gesagt haben sollte, was derart hilfreich für sie gewesen sein könnte. Der Unterschied war, dass ich es vor drei Tagen als nebensächlich abtat. Heute stellte ich mir die Frage, ob demnach sogar ich in gewisser Weise für ihren Tod mitverantwortlich war. Bei diesen Gedanken lief es mir kalt den Rücken hinunter. So sehr ich mir auch den Kopf zerbrach, über was wir sonst geredet hatten und ich für kluge Weisheiten von mir gegeben haben mochte, mir fiel einfach nichts ein.
Ob die Polizei schon einen Verdächtigen hatte? Aber Lars hatte nichts dergleichen erwähnt. Genau genommen hatte er eigentlich gar nichts erzählt und war nach dem Anruf so schnell verschwunden, dass ich keine Gelegenheit gehabt hatte, nachzufragen.
Lars. Der konnte mich immer noch genauso reizen wie vor einigen Monaten.