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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Phantastisches und Unheimliches, Paradoxes und Absurdes: Kafka beschreibt die unglaublichsten Sachverhalte nüchtern und minutiös. Grenzbereiche werden ausgeleuchtet, existenzielle Grund- oder Ausnahmesituationen in unvergessliche Bilder gefasst. Seine Texte haben die gleiche Intensität wie Träume. »Es ist das Schicksal und vielleicht auch die Größe dieses Werks, dass es alle Möglichkeiten darbietet und keine bestätigt« (Albert Camus).
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Seitenzahl: 41
Franz Kafka
Eine Kreuzung
Fischer e-books
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Ich habe ein eigentümliches Tier, halb Kätzchen, halb Lamm. Es ist ein Erbstück aus meines Vaters Besitz, entwickelt hat es sich aber doch erst in meiner Zeit, früher war es viel mehr Lamm als Kätzchen, jetzt aber hat es von beiden wohl gleichviel. Von der Katze Kopf und Krallen, vom Lamm Größe und Gestalt, von beiden die Augen, die flackernd und mild sind, das Fellhaar, das weich ist und knapp anliegt, die Bewegungen, die sowohl Hüpfen als Schleichen sind, im Sonnenschein auf dem Fensterbrett macht es sich rund und schnurrt, auf der Wiese läuft es wie toll und ist kaum einzufangen, vor Katzen flieht es, Lämmer will es anfallen, in der Mondnacht ist die Dachtraufe sein liebster Weg, Miauen kann es nicht und vor Ratten hat es Abscheu, neben dem Hühnerstall kann es stundenlang auf der Lauer liegen, doch hat es noch niemals eine Mordgelegenheit ausgenutzt, ich nähre es mit süßer Milch, die bekommt ihm bestens, in langen Zügen saugt es sie über seine Raubtierzähne hinweg in sich ein. Natürlich ist es ein großes Schauspiel für Kinder. Sonntagvormittag ist Besuchsstunde, ich habe das Tierchen auf dem Schooß und die Kinder der ganzen Nachbarschaft stehn um mich herum. Da werden die sonderbarsten Fragen gestellt, die kein Mensch beantworten kann. Ich gebe mir auch keine Mühe, sondern begnüge mich ohne weitere Erklärungen damit, das zu zeigen was ich habe. Manchmal bringen die Kinder Katzen mit, einmal haben sie sogar zwei Lämmer gebracht; es kam aber entgegen ihrer Erwartung zu keinen Erkennungsscenen, die Tiere sahen einander ruhig aus Tieraugen an und nahmen offenbar ihr Dasein als göttliche Tatsache gegenseitig hin.
In meinem Schooß kennt das Tier weder Angst noch Verfolgungslust. An mich angeschmiegt fühlt es sich am wohlsten. Es hält zur Familie die es aufgezogen hat. Es ist das wohl nicht irgendeine außergewöhnliche Treue, sondern der richtige Instinkt eines Tieres, das auf der Erde zwar unzählige Verschwägerte, aber vielleicht keinen einzigen nahen Blutsverwandten hat, und dem deshalb der Schutz den es bei uns gefunden hat, heilig ist. Manchmal muß ich lachen, wenn es mich umschnuppert, zwischen den Beinen sich durchwindet und gar nicht von mir zu trennen ist. Nicht genug damit, daß es Lamm und Katze ist, will es fast auch noch ein Hund sein. Ähnliches glaube ich nämlich im Ernst. Es hat beiderlei Unruhe in sich, die von der Katze und die vom Lamm, so verschiedenartig sie sind. Darum ist ihm aber seine Haut zu eng. Vielleicht wäre für das Tier das Messer des Fleischers eine Erlösung, die muß ich ihm aber als einem Erbstück versagen.
Textgrundlage: Franz Kafka, ›Schriften, Tagebücher, Briefe‹, Kritische Ausgabe, herausgegeben von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley, Jost Schillemeit und Gerhard Kurz, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1982ff. Entstehung: März 1917. Druckvorlage: Handschrift.
1883
3. Juli: Franz Kafka wird in Prag als ältestes Kind des Kaufmanns Hermann Kafka und seiner Frau Julie, geborene Löwy, geboren.
1889–1893
Besuch der Deutschen Volks- und Bürgerschule am Fleischmarkt in Prag.
1893–1901
Besuch des humanistischen Deutschen Gymnasiums in der Prager Altstadt. Abschluss mit dem Abitur.
1901
Im Herbst Beginn des Studiums an der Deutschen Universität Prag, zunächst kurz Chemie, dann Jura; nebenbei kunstgeschichtliche Studien.
1902
Sommersemester: Studium der Germanistik, Wintersemester: Fortsetzung des Jurastudiums. Erste Begegnung mit Max Brod.
1903
Im Sommer: Staatsprüfung in Rechtsgeschichte, anschließend Sanatoriumsaufenthalt zunächst bei Dresden, dann in Südböhmen.
1904
Beginn der Arbeit an Beschreibung eines Kampfes.
1905
Im Sommer Sanatoriumsaufenthalt in Zuckmantel, ab Winter regelmäßige Zusammenkünfte mit den Freunden Max Brod, Oskar Baum und Felix Weltsch.
1906
Volontariat in einem Rechtsanwaltsbüro. 18. Juni: Promotion zum Dr. juris.
Ferien in Zuckmantel, ab Herbst einjährige Rechtspraxis, zunächst am Land-, danach am Strafgericht.
1907
Arbeit an Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Ab Herbst Aushilfskraft in den »Assicurazioni Generali« in Prag.
1908
Juli: Eintritt als Aushilfsbeamter in die »Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag«. Engere Freundschaft mit Max Brod. Erste Publikation von acht Prosastücken (aus dem späteren Band Betrachtung) in der von Franz Blei herausgegebenen Zeitschrift ›Hyperion‹.
1909
Zahlreiche Dienstreisen und Ferienreise mit Max und Otto Brod an den Gardasee. Arbeit an Die Aeroplane in Brescia, Beginn der Tagebuchaufzeichnungen.
1910
Ernennung zum »Anstaltscopist«. Besuch von sozialistischen politischen Veranstaltungen. Ferienreise mit Max und Otto Brod nach Paris.
1911
Zahlreiche Dienstreisen und Ferienreise mit Max Brod nach Oberitalien und Paris, Sanatoriumsaufenthalt bei Zürich. Kafka wird stiller Teilhaber der Asbestfabrik seines Schwagers. Freundschaft mit dem jiddischen Schauspieler Jizchak Löwy, Beschäftigung mit dem Judentum.
1912
Im Sommer Reise mit Max Brod nach Weimar, abschließend Sanatoriumsaufenthalt im Harz. Arbeit an der ersten Fassung von Der Verschollene (Amerika)