Eine rätselhafte Verwandlung - Dirk Walbrecker - E-Book

Eine rätselhafte Verwandlung E-Book

Dirk Walbrecker

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Beschreibung

Greg wacht eines Morgens auf und stellt fest, dass er sich nicht mehr bewegen kann. Über Nacht hat er sich in eine riesige Raupe verwandelt. Was ist geschehen? Ein Albtraum? Eine biologische Sensation? Seine Eltern reagieren geschockt und versuchen, seinen neuen Zustand vor der Außenwelt geheim zu halten. Doch die Medien kommen der Geschichte auf die Spur und Greg wird als Ereignis im Fernsehen vorgeführt. Zum Glück gibt es aber auch noch Menschen, die zu ihm stehen. Darunter Sara, in die Greg heimlich verliebt ist.

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Allitera Verlag

DIRK WALBRECKER, in Wuppertal geboren, seit 1965 in München und jetzt in Landsberg am Lech lebend, ist Vater dreier Töchter und inzwischen auch zahlreicher literarischer Kinder. Nach diversen Studien (u. a. Germanistik und Pädagogik) arbeitete er lange Zeit beim Film und einige Jahre an der Schule. Seit 1986 ist er freiberuflicher Autor: Drehbücher, Hörspiele, Hörbücher sowie Bilderbücher, Kinder- und Jugendromane. Seine Werke erhielten zahlreiche Auszeichnungen und wurden in 15 Sprachen übersetzt. In den letzten Jahren ist er häufig auf Lesereisen, um jungen Menschen live und lebendig Freude an Literatur und allem Musischen zu vermitteln. Zudem veranstaltet Dirk Walbrecker Schreibwerkstätten verschiedenster Art und Thematik für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Nähere Informationen, Unterrichtsmaterialien etc. unter:www.dirkwalbrecker.de

Mehr über den Verlag und sein Programm unterwww.allitera.de

»EINE RÄTSELHAFTE VERWANDLUNG« wurde vielfach ausgezeichnet und erhielt u. a. den Marsh-Award (die vier besten Jugendbücher Europas eines Jahres) und wurde bisher übersetzt ins Englische, Türkische, Dänische und Estnische.

Kostenloses Unterrichtsmaterial zum Buch unter:www.dirkwalbrecker.de

September 2013 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2013 Buch&media GmbH, München Redaktion: Rebecca Walbrecker, München Umschlaggestaltung: Alexander Strathern, München unter Verwendung eines Bilds von © ftrouillas - Fotolia.com Printed in Europe · ISBN 978-3-86906-548-9

Greg wollte diesen Tag nicht beginnen lassen.

Kein Amselgezwitscher, keine Morgendämmerung durch die Jalousie, kein Schultaschengeruch, kein Familienfrühstück. Nichts hören. Nichts sehen. Nichts riechen. Und nichts reden. Vor allem aber nicht Ben begegnen. Nicht noch einmal seine idiotischen Sprüche ertragen.

»Gib endlich zu, kleiner Bruder, dass du den Brief in meinem Zimmer geklaut hast! Trau dich endlich zu sagen, dass du auch spitz auf Sara bist! Doch da läuft nichts, Kleiner! Weil du nämlich viel zu viele Komplexe hast. Hast du kapiert, Brüderchen?«

Geklaut? Spitz? Komplexe?

Greg hätte am liebsten sein Gehirn abgeschaltet. Er wollte all diese Gemeinheiten loswerden – nicht aber diesen Brief.

Er spürte ihn unter seinem Kopfkissen. Er hatte ihn mindestens zehnmal gelesen. Er brauchte ihn eigentlich nicht mehr anzuschauen, er sah jedes Wort vor seinen Augen.

Hi du,

ich hab ‘ne wichtige Frage an dich.

Gefall ich dir eigentlich?

Falls ja, hast du hier die Antwort auf die Frage, die du mir bisher nie gestellt hast.

Antwort bitte bei dem Wesen, das es schon seit etwa 250 Millionen Jahren gibt. Hat zur Zeit grüne Blätter und im Herbst goldgelbe. Steht genau gleich weit entfernt von dir und mir. Wartet auf uns nächsten Samstag. Bei später Dämmerung.

Nur dann. Nur du. Und nur ich.

Rätselhaft.

Greg spürte sein Gehirn arbeiten. Zugleich aber war irgendwas abgestorben. Sein Körper war anders als sonst. Er konnte sich nicht normal bewegen. Es war überhaupt nicht sein richtiger Körper!

Und die Augen: Er wollte sie öffnen – einfach nur so zum Herumgucken. Aber sie ließen sich nicht öffnen und er sah trotzdem!

Draußen wurde es hektisch. Unten in der Küche gab es morgendlichen Elternstreit. Nebenan warf Ben irgendwelche Klamotten gegen die Wand.

»Greggy, das Bad ist längst frei!«

Wieso schenkt Sara diesen Brief eigentlich Ben? Weshalb nicht mir? Im Bus guckt sie doch viel öfter zu mir … oder ist das alles nur Einbildung?

»Greggy, wo bleibst du? Das Frühstück kommt nicht zu dir aufs Zimmer!«

Ja. Essen. Viel essen. Greg hatte ein Hungergefühl wie nie. Sein Magen war nicht wie sonst etwas rundes Leeres. Er war seltsamerweise wie ein langes, schlauchähnliches Leeres, das nach … nach … Grünem verlangte. Nach grünem Salat. Nach grünem Gemüse. Nach irgendwas Grünem.

Es klopfte hart an Gregs Tür.

»Der Schulbus dreht keine Extrarunde für dich!«

Greg hörte Bens Stimme überdeutlich. Er wollte antworten, doch die Wörter blieben irgendwo unterwegs stecken. Er wusste genau, dass er sehr spät dran war. Aber Bus und Schule und all der Ärger waren ihm jetzt egal. Momentan interessierte ihn nur dieser ewig lange, leere Magen. Er hatte das Bedürfnis, ihn von außen zu erkunden, ihn abzutasten. Doch auch das funktionierte nicht. Dort, wo sich sonst immer seine Arme befanden, war … nichts! Nichts zum Greifen und nichts, um die Augen, diese Nichtaugen, zu reiben, die jetzt das Zimmer rundum unscharf und fast nur als Farbflecken wahrnahmen. Augen? Es war ihm, als habe er nicht nur zwei, sondern viel mehr, die ihm fast einen Rundumblick erlaubten.

Ich träume noch, okay, ich träume noch … Trotzdem will ich wissen, was mit mir los ist. Meinetwegen ohne Arme und ohne Hände und ohne richtige Augen. Ich will jetzt aufstehen und mich im Spiegel angucken!

Aber der lockere Satz aus dem Bett wollte Greg nicht gelingen. Das gewohnte Beingefühl war nicht da. Keine beweglichen Zehen, keine Füße, alles da unten nur ein undefinierbares Ganzes …

»Was ist mit Greg? Hat er später Schule heute?«

»Ich warte keine Sekunde auf den Kleinen!«

Greg fühlte sich gar nicht so klein. Ihn interessierten im Augenblick auch nicht die Probleme von Pa und von Ben. Er hatte mit sich und seiner höchst seltsamen Gestalt genug zu tun. Zu seiner Verblüffung war sie trotz fehlender Extremitäten sehr beweglich. Fast ohne Befehl vom Gehirn liefen sanfte, wellenartige Regungen durch den Körper. Immer ganz unten beginnend, durch den langen, leeren Magen bis hoch zum Kopf … sehr harmonisch und mit einem ungewohnten Wohlgefühl verbunden.

Und dann machte Greg noch eine verblüffende Entdeckung: Etwa da, wo er seine Arme vermisste, regte sich trotzdem etwas. Nicht zweifach, sondern gleich sechsfach! Es ließ sich etwas Kurzes, Eingliedriges bewegen. Nicht einzeln, sondern immer nur paarweise. Bei weitem nicht so behände wie Hände, aber offenbar auch nicht unbrauchbar. Und je konzentrierter sich Greg auf dieses neue Körpergefühl einließ, desto mehr Entdeckungen machte er: Auch im unteren Bereich seines langen Leibes gab es mehrere bewegliche Dinger – eher kurze und dafür dickere Ausstülpungen, paarweise gewachsen, zwei davon sogar ganz am Körperende.

Mit dem Durchzählen jedoch kam Greg nicht klar: Mal kam er auf zwölf von diesen Auswüchsen, ein anderes Mal sogar auf sechzehn.

Greg gab das Rechnen auf, denn in diesem Moment tat sich wieder etwas im Haus. Kurz hintereinander fiel zweimal die Eingangstür ins Schloss. Dann eilige Schritte auf der Treppe und gleich darauf das Geräusch der Türklinke …

»Greg, aufwachen, was ist los? Seit wann schließt du bei dir ab? Mach sofort auf!«

Nun wurde es kompliziert. Einerseits befand sich Greg gerade voll und ganz in diesem wundersamen neuen Körperzustand. Andererseits war ihm die Situation seiner Mutter gegenüber ausgesprochen peinlich. Die Tür hatte er tatsächlich am Vorabend zum ersten Mal in seinem Leben abgeschlossen. Außerdem hatte er keinerlei Grund, länger im Bett zu bleiben. Die Schule musste jetzt irgendwann anfangen. Die Schule … eine amüsante Vorstellung in diesem Zustand!

»Greg, ein letztes Mal: Komm raus! Ich mach mir ernsthaft Sorgen. Hörst du mich?!«

»Jaaaa …«

Das war kein richtiges Ja. Das war ein mehr geröchelter, fast nur gehauchter langer Laut, der Greg sozusagen im Hals stecken blieb.

Im Hals? Auch da stimmte was nicht: Greg konnte nämlich den Kopf nicht nur problemlos weit nach links und rechts drehen. Er vermochte ihn sogar dank eines wunderbaren Mechanismus, den er erst mal nicht richtig unter Kontrolle bekam, fast in seinen Leib einzufahren.

All das war Greg plötzlich zu viel. Vor allem die Unfähigkeit, seine Stimme zu benutzen, versetzte ihn in Panik.

»Greggy! Ich kann dich nicht verstehen, sprich bitte deutlicher!«

»Jaaa … Jaa …«

Greg gab es auf. So war der Situation nicht beizukommen. Er hörte, wie seine Mutter die Treppe hinunter eilte, um wer weiß was zu unternehmen. Er machte sich jetzt Sorgen um sie. Er kannte ihre schwachen Nerven nur zu gut. Sie war solche Überraschungen von ihm nicht gewohnt.

Was tun? Wie mit dieser Situation klarkommen? Wo war ein Ausweg? Wenn Ma mich in diesem Zustand sieht, bekommt sie einen Schock. Wenn alles nur Einbildung ist und ich einfach so als Greg vor ihr stehe – auch gnadenlos peinlich …

Immerhin funktionierten solche Gedankengänge noch, das war beruhigend. Und etwas anderes funktionierte besser denn je: das Gehör. Es war so, als sei eine hochsensible Wanze implantiert. Ein Hoch- und Niedrigfrequenzempfänger mit extremer Reichweite. Greg kannte so etwas aus seinen vielen Tierstudien.

Tier?? Was? Wie? Greg zwang sich, diesen verrückten Gedanken erst mal nicht weiter zu verfolgen …

Um die Situation besser in den Griff zu bekommen, beschloss er, sich ganz auf seine Bewegungsmöglichkeiten zu konzentrieren. Und zu seiner Verblüffung gelang ihm etwas, was fast schon wieder Spaß machte: Er konnte sich ohne jede Mühe im Liegen beugen und beugen … bis er mit dem einen Körperende das andere erreicht hatte. Ja, es ging sogar weiter: Greg vermochte sich regelrecht einzurollen. Dabei kitzelte es ihn auf nicht unangenehme Weise in den Seiten. Offenbar war da was Spitzes, Borstenartiges oder Haariges im Spiel.

Ich werde jetzt dieses Bett verlassen, beschloss Greg. Und prompt regten sich die fuß- oder beinartigen Dinger fast wie automatisch … erst ganz hinten und dann schön paarweise nach vorn. Es bedurfte nur noch einer kleinen Drehung mit dem ganzen Körper auf den Bauch und Greg konnte sich tatsächlich aus dem Bett bewegen … Schritt für Schritt und richtig gewandt, jedenfalls ohne Anstrengung.

Und während Greg so über den Boden kroch, kam es ihm plötzlich wie eine Ungeheuerlichkeit:

Ich bin eine Raupe! Ich bin eindeutig eine Raupe!! Eine Riesenraupe!!!

Wie abwegig und unfassbar diese Feststellung auch war – Greg hatte vorläufig keine Zeit, sich damit anzufreunden. Denn mit seinem exzellenten Gehör vernahm er jetzt, wie die Mutter von einer Stelle nahte, an der sie noch nie erschienen war:

Erst ein Stöhnen. Dann ein Klappern an der Außenwand. Dann vorsichtige Schritte auf der Leiter. Und dann tauchte hinter der Jalousie ein dunkler Schatten auf …

Greg hörte das Atmen. Er empfing auf erstaunliche Weise auch noch etwas anderes: die Aufregung und die Angst seiner Mutter.

Das Fenster war gekippt. Ein einziger Griff genügte …

»Greg?«

Noch einmal versuchte Greg einen menschenähnlichen Laut von sich zu geben.

»Jjjj…«

»Greggy?«

Regungslos hockte Greg in seiner ganzen Länge am Boden. Hilflos starrte er zum Fenster. Ein schattiges Etwas drückte die Lamellen der Jalousie auseinander. Ein breiter Strahl gleißenden Morgenlichts fiel genau auf Greg und blendete ihn.

»Neiiiin!«

Der Schrei seiner Mutter war so fremd und so entsetzlich, dass Greg zu zittern begann. Unwillkürlich machte er eine Wendung weg vom Fenster. Wieder war es zuerst das hinterste Beinpaar, das die Bewegung begann. Dann das nächste, das nächste … bis ganz nach vorn – verblüffend schnell und gewandt verkroch sich Greg unter seinem Bett.

Erst einmal nur Schutz und Ruhe. Nichts mehr von draußen wahrnehmen. Ganz bei sich bleiben und verstehen, was hier vorging.

Greg lag nicht zum ersten Mal unter diesem Bett. Seit dem Einzug vor zwei Monaten war er mehrfach hier abgetaucht, um Comic-Zeichnungen zu verstecken. Entwürfe und ein paar fertige Blätter – mit einem Krebs und einem Skorpion, die sich gerade kennen lernten. Beide ziemlich schüchtern und verliebt obendrein. Nichts für heimliche Schnüffler und aufräumwütige Mütter … Da waren auch noch eine Tüte Gummibärchen und zwei Tafeln Schokolade deponiert. Greg roch das alles überdeutlich und umgehend stellte sich wieder dieses Hungergefühl ein. Stärker und stärker und kaum zu ertragen.

Ich halte das jetzt aus, nahm Greg sich vor. Ich lasse es sich in meinem ganzen Körper ausbreiten und dann mache ich einen Test. Ich analysiere sozusagen meinen Ist-Zustand:

Gregor Hansen, Sohn des Architekten Thomas Hansen und der Heilpraktikerin in spe, Helen Hansen, liegt am heutigen Dienstagmorgen unter seinem Bett, statt in der Schule zu sitzen. Für sein Fluchtverhalten gibt es wichtige Gründe. Erstens: eklatanter Vorfall mit Bruder Ben. Zweitens: eine gewisse Sara Auster, die wie Familie Hansen in einem frei stehenden Landhaus wohnt und fast jeden Morgen den gleichen Schulbus benutzt. Diese Sara Auster …

Greg konnte sich kaum mehr konzentrieren. Ihm wurde schwindelig. Der Schokoladengeruch neben ihm verursachte ein Ekelgefühl. Mit letzter Kraft bemühte sich Greg, den Test zu Ende zu bringen.

Das bisher eindeutig menschliche – ich wiederhole: menschliche Wesen Greg Hansen hat heute noch nicht gefrühstückt und fühlt sich deshalb wie eine halb verhungerte, fressgierige Riesenraupe. Aus diesem Ist-Zustand findet jetzt umgehend eine Verwandlung in folgenden Soll-Zustand statt: Greg Hansen kriecht auf allen Vieren – definitiv nur auf allen Vieren – unter dem Bett hervor. Er stellt sich auf seine zwei – nur zwei! – Beine, schließt die Tür auf, verlässt sein Zimmer, geht ins Bad, putzt die Zähne und bittet dann seine Mutter um eine doppelte Frühstücksportion.

Erneut wurde Gregs Kopf von einem Schwindel durchflutet. Benommen kroch er unter dem Bett hervor. Ganz hinten begann die Bewegung und wellenartig lief sie durch seinen Körper nach vorn.

Richte dich jetzt auf, geh zur Tür und schließ auf!, versuchte Greg noch einmal seinem Zustand eine Wende zu geben.

Vergeblich.

Von fern und nah zugleich hörte er seine Mutter mit dem Handy agieren: »Du musst sofort umkehren! Ist mir egal, ob Bagger, Bauherr oder sonst was. Wenn du nicht auf der Stelle kehrtmachst, alarmiere ich sonst wen! Es ist der pure Grusel …«

Greg wollte das alles nicht hören und hätte sich gerne die Ohren zugehalten. Er wollte nur allein sein und alles um sich herum vergessen. Er kroch in die Ecke, wo sein Bett stand, reckte den vorderen Teil seines Körpers mühelos nach oben, glitt mit einer weichen Bewegung auf die Matratze und rollte sich zusammen – ganz so wie es eben eine echte Raupe tut.

Wie lange er so lag, wusste Greg nicht. Sein sonst so verlässliches Zeitgefühl ließ ihn im Stich. Es war die Stimme des Vaters, die ihn ins Hier und Jetzt zurückholte:

»Du hast Wahnvorstellungen, meine Liebe.«

»Du wirst es sehen, Thomas …«

»Wenn ich die Tür einschlage, kostet uns das mindestens einen Tausender …«

Der Stick! Den Raupenkörper durchzuckte ein Schreck und das Gehirn reagierte wie bei dem Greg des Vortages: Wenn sie den Stick entdecken und Ben davon erfährt, ist alles aus.

Und dann geschah etwas, was Greg nicht unter Kontrolle hatte: Zwei kleine, eigenwillige, ungemein regsame, instinktgesteuerte Fühler vorn am Kopf suchten nach dem Stick unter dem Kissen. Ein seltsames Beißbedürfnis überkam Greg. Er fasste zu und begann das Speicherteilchen zu zerkleinern. Es tat weh, es schmeckte widerwärtig und Greg musste röcheln.

Im gleichen Moment gab es einen fürchterlichen Krach: Herr Hansen hatte die Tür eingeschlagen und stand zusammen mit seiner Frau im zersplitterten Türrahmen.

Es war still, unheimlich still.

Greg lag regungslos und seine Eltern rührten sich ebenso wenig.

Ma ist fassungslos, Ma ist so konsterniert, dass sie gleich ohnmächtig umfällt, empfand Greg und er verstand nicht, wie er das aufnehmen konnte, ohne sie zu sehen.

»Halt mich!«, flüsterte sie tatsächlich und es war wieder still.

Was denkt Pa? Was denkt er?, versuchte Greg zu empfangen. Aber die Gedanken seines Vaters blieben ihm verborgen wie sonst auch.

Draußen im Garten zwitscherten Meisen und in Gregs Magen rumorte es.

»Wo, wo ist Greg?«, flüsterte Herr Hansen und seine Stimme war belegt.

Greg wandte ganz langsam seinen Kopf in Richtung Tür.

»Vorsicht!«, hörte er seinen Vater wispern und gleich darauf sich selber korrigieren:

»Du brauchst keine Angst zu haben. Er sieht harmlos aus.«

Bringt mir was zu essen!, wollte Greg sagen und versuchte es durch das Aufrichten seines Vorderkörpers auszudrücken.

»Guck mal, die Augen!«, flüsterte Frau Hansen.

»Die sind nicht echt!«, sagte Herr Hansen schroff.

»Was sollen wir tun?«

»Frag mich was Leichteres …«

Greg war verlegen. Wie sonst auch, wenn alle schwiegen und niemand etwas tat, war es ihm peinlich und er fühlte sich schuldig an der Situation.

Das wird schon wieder, hätte er gerne gesagt.

Aber zum einen war ihm diese Verständigungsmöglichkeit abhanden gekommen. Und zum anderen deutete vorerst nichts auf eine Veränderung hin. Stattdessen wurde es Greg jetzt speiübel. Die Stickreste schienen unverdaulich. Sie steckten ganz vorn – dort, wo er noch eine Art Halsgefühl hatte. Ich muss gleich kotzen!, dachte er. Und der Drang, sich irgendwo, irgendwie den Blicken der Eltern zu entziehen, war riesengroß. Die beiden hingegen schienen wie angewurzelt und beäugten das Raupenwesen wie einen Außerirdischen.

Die Gedanken seiner Mutter schwirrten durch den Raum, kamen zu Greg. Sie drangen in Gregs Kopf ein, als wäre darin ein Lesegerät implantiert: Sie wünschte sich, dass alles sofort und ohne Aufhebens wieder vorbei sein sollte … Es war mehr als ein Wünschen. Es war eher ein Flehen. Die Gedanken seines Vaters waren kaum zu entschlüsseln. Irgendwas zwischen Wut und Ratlosigkeit schien sich in seinem Inneren abzuspielen. Jedenfalls hatte es ihm nach wie vor die Sprache verschlagen.

Um mit seiner immer ärger werdenden Übelkeit klarzukommen, beschloss Greg, sich unter seinen Schreibtisch zurückzuziehen.

»Guck!«, hörte er die fremd und irgendwie sehr berührt klingende Stimme seiner Mutter.

Geht raus, lasst mich allein!, hätte Greg liebend gern signalisiert. Aber bis auf ein paar Röchler blieb er stumm. Noch einmal versuchte er es mit dem Einrollen. Den Eltern schien dies ein Zeichen zu sein, dass sie sich zurückziehen konnten. Greg glaubte zu hören, wie sie die Tür notdürftig verbarrikadierten.

Erschöpft und von Magenschmerzen und Hunger geplagt, sank Greg in eine Art Bewusstlosigkeit.

Als Greg wieder aufwachte, war er verwirrt. Er hatte soeben eine Schulbusfahrt hinter sich gebracht und alles war wie früher abgelaufen:

Ben war vor ihm an der Haltestelle gewesen. Selbstverständlich stand er bei Sara. Und natürlich spielte er den Macker. Er quatschte laut und gestikulierte wie ein Schauspieler. Er lächelte charmant und zog blöde Grimassen. Und beim Einsteigen hielt er Saras Arm, als hätte er gerade einen Spezialkurs für Gentlemen und Charmeure absolviert.

Ben und Sara vorn im Bus. Und wer stand mal wieder fast ganz hinten, noch dazu mit Herzklopfen? Greg natürlich.

Dann das bekannt vertrickste Spiel: So tun, als sähe man was sehr Wichtiges draußen hinter der Scheibe – dabei suchte man viel Wichtigeres in der Scheibe.

Augen, nur ein Augenblick …

Ben hielt ausnahmsweise mal die Klappe und Sara guckte auch nach draußen. Oder? Ihre Augen unbewegt und starr in der Scheibe. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel. Eindeutig kein Blick in die Ferne. Nein, genau in meine … eindringlich, eindringend und nicht lange auszuhalten.

Fahrt, Fahrt … und dann plötzlich Ben, unüberhörbar und bedrohlich nah:

»Ihr wollt mich verarschen, oder?«

Die Stimme von Pa:

»Wart ab …«

Die Stimme von Ma:

»Und sag erst mal besser nichts, wenn du ihn siehst!«

Greg war hellwach. Eingerollt und mit einem Kotzgefühl.

»Ich glaub, ich bin im Kino!«, drang Bens seltsam belegte Stimme an Gregs Gehör.

Dann würgte Greg. Sein ganzer vielgliedriger Körper begann zu zittern. Er musste sich in die Länge strecken. Aus der mundähnlichen Öffnung kam ein Röcheln. Und dann spie er mit ein paar heftigen Zuckungen die Splitter des USB-Sticks aus.

»Ihm geht’s schlecht. Er braucht Hilfe …«

Greg hörte erst die besorgte Stimme der Mutter, anschließend die von Ben und seinem Vater.

»Unfasslich!«

»Unfasslich!!«

Die drei waren näher getreten.

»Das ist doch …«, begann die Mutter und Greg spürte ihre Verwirrung.

»Das sind unzweideutig Reste eines USB-Sticks«, stellte Herr Hansen fest.

Von Ben kam nichts. Greg aber nahm seine Nähe überdeutlich wahr. Wie sonst auch war ihm nach Flucht oder nach Verstecken zumute. Bei aller durcheinandergeratenen Wirklichkeit kam das ganze schlechte Gewissen wieder hoch. Dazu auch Angst. Angst vor Bens Wut und vor seiner Rache …

Körperlich fühlte Greg sich jetzt erleichtert. Zugleich aber war nun das Hungergefühl wieder da – fordernder denn je. Am liebsten hätte er wahllos in irgendetwas hineingebissen – vorzugsweise in etwas Grünes.

»Er hat Hunger, ihm geht es eindeutig schlecht«, bemerkte Frau Hansen. »Wir müssen was für ihn tun!«

»Und was?«

»Und was??«

Es gab eine kurze Diskussion. Ben musste trotz heftiger Proteste etwas zum Aufwischen holen. Und Herr Hansen sollte Fressbares herbeischaffen – ob er wollte oder nicht.

Greg versuchte abzuschalten, das Gerede auszublenden. Ihm kam es so vor, als wären es die gleichen Sätze wie gestern noch und all die Tage, Monate und Jahre zuvor. Auch anderes, was nun folgte, war ihm nicht fremd: Nachdem Ben mit Gefluche und Gestöhne den Boden vor dem Schreibtisch gereinigt hatte, kam Frau Hansen mit zwei kleinen Fläschchen.

»Komm, mein Kleiner. Du brauchst Beruhigungstropfen. Rescue Remedy tut dir sicher gut.«

Greg ließ es geschehen wie sonst auch – mütterliche Zuneigung in Form von diesen komischen Bachblüten, die sie ihm in die Mundöffnung träufelte. Eine Stimme, als rede sie mit einem Zehnjährigen. Ein Verhalten, das Greg nicht gerade angenehm war, vor dem er sich am liebsten verkrochen hätte.

Und dann, endlich, gab es etwas Essbares. Greg roch es durchs Treppenhaus: Salatköpfe, Rohkost pur! Herr Hansen reichte sie mit Scheu und mit Kopfschütteln – er war merklich überfordert.

»Hier …«

»Sag Greg zu ihm, bitte!«

Herr Hansen wurde laut:

»Das ist nicht Gregor. Das ist ein Tier. Das ist alles ein Albtraum!«