Eine Rose, die im Sand erblüht - Tracie Peterson - E-Book

Eine Rose, die im Sand erblüht E-Book

Tracie Peterson

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Beschreibung

Eine Liebesgeschichte zwischen Eisenbahn und Wüstensand, ein neuer historischer Roman der beliebten Autorin Tracie Peterson mit viel Romantik, ein wenig Spannung und Glauben. Aus der Zeit, als New Mexico ans amerikanische Eisenbahnnetz angeschlossen wurde. 1911: Isabella Garcia ist ein luxuriöses Leben bei ihrer Tante in Kalifornien gewohnt. Doch nun soll sie schleunigst zu ihren Eltern nach New Mexico zurückkehren - sie ist empört! Vor allem, da sie auf der Reise von Aaron Bailey, dem besten, aber auch arrogantesten Mitarbeiter ihres Vaters, eskortiert wird. Als Isabella bei ihren Eltern eintrifft, erwartet sie eine schockierende Nachricht: Ihr Vater liegt im Sterben! Hin- und hergerissen zwischen ihrem Traumleben in Kalifornien und ihrem Erbe in New Mexico steigen in Isabella viele Fragen auf: Wie soll sie damit umgehen, dass ihr Vater Aaron Bailey als seinen Nachfolger bei der Santa Fé Eisenbahngesellschaft ernennt? Wieso sind ihre Eltern gegen eine Ehe mit ihrem kalifornischen Freund Diego? Und wo zeigt sich Gott in diesen verwirrenden Zeiten?

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Seitenzahl: 432

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Tracie Peterson

Eine Rose, die im Sand erblüht

Deutsch von Dorothee Dziewas

Copyright 2022 by Peterson Ink, Inc.

Originally published in English under the title Beyond the Desert Sands by Bethany House Publishers, a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.

All rights reserved.

© 2024 Brunnen Verlag GmbH Gießen

Redaktion: Alexandra Eryiğit-Klos

Umschlagfoto: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

ISBN Buch 978-3-7655-2170-6

ISBN E-Book 978-3-7655-7858-8

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Prolog

Silver Veil, Gebiet New Mexico Juni 1904

Isabella García folgte ihrem Vater in seine geräumige Bibliothek, ohne ihr Plädoyer auch nur eine Sekunde lang zu unterbrechen.

„Du musst mich einfach anhören, Papi. Ich bin 18 Jahre alt – alt genug, um eine solche Entscheidung selbst zu treffen. Du weißt, wie ich diesen Ort hasse. Vor ein paar Jahren hast du mich gezwungen, mein geliebtes Zuhause in Kalifornien zu verlassen, und mich hierhergeschleppt. Das habe ich nur überlebt, weil du mir erlaubt hast, diesen und den vergangenen Sommer bei Tante Josephina in Kalifornien zu verbringen.“

Daniel García bedachte seine Tochter mit einem strengen Blick. Es war offensichtlich, dass er dieses Thema schon jetzt gründlich leid war. „Das mag ja sein, Isabella, aber du kannst nicht bei meiner Schwester leben. Ich werde es nicht erlauben und Josephina wird es auch nicht tun. Sie versteht die Situation und weiß, dass ich nur das Beste für dich will.“

Isabella stemmte die Hände in die Hüften. „Wie kann es das Beste für mich sein? Du hast mich gezwungen, diese winzige Stadt mitten in der Wüste zu ertragen, die du hier wegen der Silbermine gebaut hast. Seit acht Jahren lebe ich schon hier und das Einzige, was mich hat durchhalten lassen, sind die Besuche bei Tante Josephina auf unserem Familiensitz.“ Isabella begann, auf und ab zu gehen. „Ich weiß wirklich nicht, warum du so stur bist, Papi. Ich war eine pflichtbewusste Tochter. Ich habe getan, was du verlangt hast. Ich habe ausgehalten, dass du mich aus meiner Heimat herausgerissen hast – dem einzigen Ort, den ich jemals geliebt habe – und mich hierhergebracht hast. Ich habe meinen Tutoren und Musiklehrerinnen gehorcht. Ich habe alles getan, worum du mich gebeten hast, und jetzt bitte ich mal um etwas und du weigerst dich. Du bist grausam und herzlos.“

„Ich bin keins von beidem, Isabella“, erwiderte ihr Vater und sein Tonfall verriet, dass er ungehalten war. Er sank auf seinen Schreibtischstuhl und fuhr sich mit der Hand durch das schwarze Haar, das viel zu schnell grau wurde. „Du bist noch keine 18 und kaum alt genug, um zu wissen, was das Beste für deine Zukunft ist. Da du noch nicht volljährig bist, hast du nach meinen Regeln zu leben. Ich habe versucht, dir das Leben leichter zu machen, indem ich dir erlaubt habe, die Sommer bei deiner Tante zu verbringen, aber es gibt hier noch sehr vieles, was du lernen musst.“

„Zum Beispiel?“ Isabella trat näher an den Schreibtisch heran. „Und jetzt sag bitte nicht, dass ich die Menschen besser kennenlernen und ihnen mehr Respekt entgegenbringen soll. Silver Veil und der Bergbau, den du erschaffen hast, sind mir gleichgültig. Ich liebe Kalifornien. Ich liebe die schönen Menschen dort und die Tanzveranstaltungen und all die Annehmlichkeiten, die ich dort habe. Ich liebe Tante Josephina und die Farm, die mein Urgroßvater aufgebaut hat. Das ist immer noch mein Zuhause, so wie damals, als ich klein war. Warum bist du so wild entschlossen, mir das alles vorzuenthalten?“

Daniel García seufzte. „Irgendwann wirst du es verstehen. Deine Mutter und ich brauchen dich hier. Wir wollen dir zeigen, was es bedeutet, für andere Menschen zu sorgen. Die Bewohner von Silver Veil sind auf uns angewiesen, um Arbeit zu haben, ein Dach über dem Kopf, einfach alles. Du musst lernen, eine gute Verwalterin zu sein.“

„Ich möchte aber nicht ihre Verwalterin sein, Papi. Um diese Aufgabe habe ich nie gebeten. Ich will auf dem Gut meiner Vorfahren leben. Es ist mein Schicksal – das Vermächtnis unserer Ahnen –, aber du tust gerade so, als wäre es etwas Schändliches.“

„Ich habe nie behauptet, dass es schändlich ist. Aber es gehört mehr dazu, als du zu verstehen scheinst. Wenn du Wohlstand und Besitz hast, schuldest du einen gewissen Anteil an deinem Erfolg den Menschen, die dir helfen – die für dich und mit dir arbeiten. Du tust so, als wüchse das Geld aus der Erde oder regnete vom Himmel herunter, sodass wir es nur aufsammeln müssen.“ Er lächelte und schüttelte den Kopf. „Meine liebe Isabella, du bist ein Mädchen, das Glück gehabt hat. Du bist reich gesegnet geboren worden und musst deshalb lernen, wie wichtig es ist, anderen ein Segen zu sein.“

„Aber ich kann ihnen doch in Kalifornien ein Segen sein!“ Isabella erhob ihre Stimme, senkte sie dann aber wieder. „Ich weiß, dass ich übertrieben euphorisch wirke, Papi, aber das liegt daran, dass es mir so viel bedeutet. Ich gehöre auf das Anwesen. Meine Freundinnen sind dort. Hier habe ich keine Freunde.“

„Das war deine eigene Entscheidung. Es gibt hier Menschen, die liebend gerne mit dir befreundet sein würden, aber du hast dich zurückgezogen und versteckst dich hier im Haus oder gehst reiten.“

„Ich wollte hier keine Freundschaften schließen, weil … es hat so wehgetan, als ich meine Freundinnen in Kalifornien zurücklassen musste. Ich möchte nicht noch einmal so verletzt werden.“

Die Miene ihres Vaters wurde weicher und einen Moment lang glaubte Isabella, sie hätte ihn überredet.

Doch dann stand er auf und sah sie mit einem Blick an, den sie gut kannte: Er wollte nichts mehr davon hören. „Die Angelegenheit ist entschieden. Du darfst den Sommer bei meiner Schwester verbringen, aber im Herbst kommst du zurück, um deiner Mutter bei ihrer Arbeit mit den Menschen von Silver Veil zu helfen. So habe ich entschieden. Wenn du dich weigerst, meinen Wünschen zu entsprechen, wird nichts aus deinem Sommer in Kalifornien.“

Isabella sagte nichts, als er die Bibliothek verließ. Ihre Finger waren in ihren Rock gekrallt und sie hatte die Lippen so fest aufeinandergepresst, dass ihr Unterkiefer schmerzte. Wie konnte er so herzlos sein? Er war einfach unmöglich!

Doch sie würde nicht aufgeben. Sie würde ihn immer wieder bitten und betteln, bis er sie schließlich nach Kalifornien zurückgehen ließe.

„Du bist ein furchtbarer Vater und ein schrecklicher Mensch“, sagte sie und ballte die Faust in Richtung Tür.

„Ich finde eigentlich, dass er ein ziemlich guter Mensch ist.“

Isabella fuhr erschrocken herum und sah, wie ein Mann um eines der Bücherregale bog. Sie wusste nicht, wer der Fremde war, aber es war offensichtlich, dass er ihre Unterhaltung mit angehört hatte.

„Und ich finde, Sie sind ein ziemlich unhöflicher Mensch.“ Als er näher kam, registrierte sie einen Hauch seines Rasierwassers. Es roch moschusartig und süßlich, gar nicht unangenehm, aber sie beschloss auf der Stelle, dass sie den Geruch nicht ausstehen konnte.

Der Mann grinste schief. „Man hat mir schon Schlimmeres nachgesagt.“

„Da bin ich mir sicher. Sie sind ein schrecklicher Mensch, wenn Sie eine persönliche Unterredung zwischen Vater und Tochter belauschen.“

„Vielleicht haben Sie recht, wenn Sie sagen, ich sei unhöflich – oder sogar schrecklich –, weil ich mich nicht gezeigt habe. Aber andererseits sind Sie ein verzogenes, undankbares Kind und ich fühle mich in keiner Weise verpflichtet, mich Ihnen zu erklären.“ Er nahm seinen Hut von einem Tisch, der in der Nähe stand. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen möchten – Ihr Vater und ich haben Geschäftliches zu besprechen in Bezug auf die Bahnlinie nach Silver Veil. Das hat er über Ihrer kleinen Auseinandersetzung sicherlich vergessen, aber ich bin sehr interessiert daran, unser Geschäft abzuschließen, damit ich in eine, sagen wir, weniger gespannte Atmosphäre zurückkehren kann.“

„Sie sind unverbesserlich. Ich hoffe, Sie gehen schnell und kommen nie wieder, Mister …“

„Bailey. Aaron Bailey.“

„Also, leben Sie wohl, Mr Bailey. Ich hoffe, wir sehen uns nie wieder.“ Isabella wollte schon aus dem Zimmer stürmen, blieb dann aber noch einmal stehen. „Und ich hasse Ihr Rasierwasser!“

Bailey lachte leise. „Meinen Sie nicht eigentlich, dass Sie mich hassen?“

Sie kniff die Augen ein wenig zusammen und nickte kurz. „Ja! Genau das meine ich.“

1

Kalifornien Dezember 1911

Isabellas Blick wanderte von ihrer Tante Josephina zu Diego Morales, dem Mann, den sie liebte. „Ich will nicht gehen. Jetzt, wo ich 25 bin, kann ich meinem Vater doch sicher die Stirn bieten.“

„Ich denke, das wäre unklug, meine Liebe. Er bezahlt immer noch deine Rechnungen und verwaltet das Erbe, das deine Großeltern dir vermacht haben.“ Tante Josephina schenkte ihr ein mütterliches Lächeln. „Alles wird gut werden, du wirst schon sehen. Ich habe deinem Vater versprochen, dass ich euch besuchen komme, sobald ich einige geschäftliche Angelegenheiten hier erledigt habe. Wir sehen uns bald wieder.“

„Das ist einfach nicht fair! Ich wollte Weihnachten mit Diego verbringen.“ Isabella lächelte dem dunkelhaarigen Mann zu. Er war zehn Jahre älter als sie und unglaublich elegant und weltgewandt. Er brauchte sie nur anzusehen und sie spürte einen Schauer freudiger Erregung.

Schon als Mädchen hatte sie für ihn geschwärmt, aber in den vergangenen fünf Jahren war ihr klar geworden, dass es wahre Liebe war. Sie wartete ungeduldig auf einen Heiratsantrag und hatte gedacht, sie würde ihn vielleicht an Heiligabend erhalten. Aber jetzt, wo sie am Bahnhof stand und auf den Zug wartete, der sie für das Weihnachtsfest nach Silver Veil bringen würde, war sie mehr als nur ein wenig enttäuscht. Ausgeträumt war der Traum von einem romantischen Abend am Kamin mit Diego, der ihr auf Knien versprach, sie ewig zu lieben. Isabellas Vater hatte wirklich ein Händchen dafür, ihr das Leben zu ruinieren, und das schon, seit sie 10 Jahre alt gewesen war. Fünfzehn Jahre später hatte Isabella geglaubt, sie hätte einen Weg gefunden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich der Einmischung ihres Vaters zu entledigen, aber offenbar sollte es nicht sein.

Als das Signal der Bahn ertönte, trat Isabellas Tante einen Schritt vor. „Gleich musst du einsteigen. Ich will dir nur sagen, wie lieb ich dich habe und wie sehr ich dich vermissen werde.“ Sie umarmte Isabella und drückte sie fest. „Ich weiß, dass wir uns wiedersehen werden, aber ich möchte dich daran erinnern, dass Gott unser Leben oft in Richtungen lenkt, mit denen wir nicht gerechnet haben. Aber was auch immer geschieht – es bedeutet nicht, dass Gott uns nicht mehr liebt oder wir ihm gleichgültig sind. Denk immer daran.“

„Was willst du mir damit sagen, Tantchen?“ Isabellas Blick wanderte von ihrer Tante zu dem näher kommenden Zug. Ihr Vater hatte einen Privatwaggon am Ende des Zuges gemietet, damit sie es bequem hatte. Das war wenigstens etwas. Sie gab Tante Josephina keine Zeit zu antworten. „Hast du unsere Sachen, Rosa?“

Ihre Zofe war mit mehreren Taschen beladen. „Ja, Miss. Ich habe alles außer den großen Koffern. Die bringt der Gepäckträger. Er hat gesagt, er sorgt dafür, dass sie in Ihren Waggon geladen werden.“

„Das hoffe ich.“ Isabella ließ ihre Tante stehen und ging zu Diego. „Ich wünschte, du würdest mitkommen.“

Er lächelte. „Das wäre ein ganz schönes Abenteuer, hm?“

Am liebsten wäre Isabella auf dem hölzernen Bahnsteig zerflossen. „Ich werde dich sooo sehr vermissen! Unfassbar, dass es ganze sechs Wochen dauern wird, bis wir uns wiedersehen! Das kommt mir viel zu lange vor.“

„Die Zeit wird schneller vergehen, als du denkst.“ Er berührte Isabellas Kinn mit dem Zeigefinger. „Sei tapfer, Liebste. Ich warte hier auf dich.“

Es war kein Heiratsantrag, aber eine Art Versprechen war es doch. Isabella lächelte und legte eine Hand auf seine Wange. „Das will ich doch wohl hoffen“, neckte sie ihn.

„Isabella, die Leute schauen schon.“ Tante Josephine legte größten Wert auf Sitte und Anstand und erlaubte keinerlei Zuneigungsbekundungen in der Öffentlichkeit.

Sich von Diego zu lösen, war schwierig, aber Isabella trat einen Schritt zurück, weil sie wusste, dass es besser so war. „Ich werde zurückkommen, sobald ich kann. Vater will, dass ich bei den Feiern zur Staatsgründung dabei bin. Ich weiß nicht, warum, aber dass New Mexico ein Bundesstaat wird, ist ihm sehr wichtig, und er verlangt, dass es mir auch wichtig ist.“

Diego nickte, sagte aber nichts weiter. Isabella musterte ihn einen Moment lang. Er war groß gewachsen und schlank und trug eine maßgeschneiderte Anzugjacke, die seine breiten Schultern und schmalen Hüften betonte. Die meisten Männer trugen weitere Mäntel, aber Diegos Jacke war so geschnitten, dass sie wie angegossen passte. Selbst die graublaue Farbe sah aus, als wäre sie extra für ihn entworfen worden. Noch nie hatte sie eine solche Farbe an einem anderen Mann gesehen.

Seine Mundwinkel hoben sich ein wenig, als er ihren Blick auffing. Er wusste zweifellos, dass sie ihn bewunderte, und sie wusste, dass er ihre Bewunderung genoss. Isabella lächelte und wandte ihren Blick ab. Er war der attraktivste Mann, den sie kannte, und die Aussicht, ihn zu heiraten, entzückte sie.

Die Dampflok rollte an ihnen vorbei und hielt dann so, dass die Passagierabteile am Bahnsteig aufgereiht waren. Doch um zu ihrem Privatwaggon zu gelangen, der sich ganz hinten befand, mussten Isabella und Rosa vom Bahnsteig hinuntersteigen und zum Ende des Zuges laufen.

„Sie hätten wenigstens so weit vorfahren können, dass unser Waggon auch am Bahnsteig hält“, beklagte Isabella sich verärgert. Es missfiel ihr gründlich, dass ihr neues weizenfarbenes Reisekleid aus Seide in Gefahr geriet, während sie am Gleis entlanglief. Auf keinen Fall wollte sie Rußflecken auf dem feinen, teuren Stoff. Sie küsste ihre Tante. „Ich komme so bald wie möglich wieder.“

Ihre Tante nickte, zeigte aber nicht die gewohnte Begeisterung. „Denk daran, dass ich zu euch kommen werde. Ich freue mich darauf, deinen Vater wiederzusehen. Und deine Mutter auch.“

Isabella nickte.

Der Zugführer kam auf sie zu. „Sind Sie Miss García?“

„Ja.“ Sie sah den älteren Mann mit hochgezogenen Augenbrauen an, weil er ihr Gespräch unterbrochen hatte.

„Ich werde Sie zu Ihrem Privatwaggon begleiten. Alles ist für Sie vorbereitet. Ich denke, Sie werden es sehr bequem haben.“

„Das wird sich zeigen.“ Sie sah Diego an. „Ich zähle ungeduldig die Tage, bis wir wieder zusammen sind.“

„So wie ich, mi amor.“

Isabella lächelte und nickte kurz, dann sah sie den Bahnbeamten an. „Bitte, gehen Sie voran.“

Als sie vom Bahnsteig hinunter in Richtung Gleis gingen, bot er ihr den Arm. „Der Boden ist etwas uneben.“

Sie hielt sich an dem Zugführer fest und hob dabei ihren Rocksaum an, damit der nicht den Boden berührte. Sie kamen zu dem Waggon, bei dem ein Schaffner bereits mit einer kleinen Trittleiter wartete, um Isabella und Rosa zu den Stufen des Zugabteils hinaufzuhelfen. Es war unangenehm, ließ sich aber offenbar nicht ändern.

Isabella stieg die Stufen hinauf und betrat den Privatwaggon. Er war beeindruckend, das musste sie zugeben. Auf Hochglanz polierte Holzpaneele zierten den schmalen Korridor vom Eingang bis zum großen Salon, in dem eine teure Mahagonieinrichtung im Schein der Lampen glänzte. Die Jalousien und samtenen Vorhänge waren zugezogen, um neugierige Blicke von vornherein auszusperren – etwas, das Isabella sehr zu schätzen wusste.

„Auf dem Tisch steht ein Krug mit gekühlter Limonade“, erklärte der Zugführer. „Ein Schlafwagenschaffner wird sich um Ihr Wohl kümmern. Er wird immer zur vollen Stunde nach Ihnen sehen.“

„Das ist wirklich alles sehr hübsch. Ich denke, ich werde mich hier recht wohlfühlen.“

Hinter ihr ging eine Tür auf, aber Isabella ignorierte es. Zweifellos war es der Schaffner, den der Zugführer angekündigt hatte.

Doch gleich darauf war alles anders. Ein Duft lag in der Luft. Sie kannte diesen Geruch. Moschusartig und süßlich. Isabella war, als wäre eine unangenehme Erinnerung damit verbunden, aber sie konnte sie nicht recht einordnen. Jedenfalls nicht, bis der Mann hinter ihr sprach.

„Miss García – lange nicht gesehen.“

Als sie sich umdrehte, sah sie Aaron Bailey, der sie anlächelte. Er war viel attraktiver, als sie ihn von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte. Seine braunen Haare waren mit einem Seitenscheitel versehen und mit Pomade zurückgekämmt. Hatte er das Haar schon immer so getragen? Sie versuchte, sich an den Tag in der Bibliothek zu erinnern. Damals hatte er auf sie eher den Eindruck eines Knaben gemacht.

„Mr Bailey, habe ich recht?“

„Das haben Sie in der Tat. Ihr Vater hat mich zu Ihrer Begleitung auserkoren.“ Er grinste schief, so als amüsierte ihn diese Tatsache.

Isabella hatte nicht vor, darauf zu reagieren. „Ich bin nicht sicher, warum er meinte, Sie schicken zu müssen, Mr Bailey, aber da Sie nun einmal hier sind, können Sie auch gleich Rosa mit den Taschen helfen.“ Sie deutete mit dem Kinn auf ihre Zofe.

Aaron zögerte nicht. „Hier, lassen Sie mich die nehmen, Rosa. Die sind für eine so zierliche Frau viel zu schwer.“ Er lächelte breit, was Isabella ärgerte. „Ich zeige Ihnen die Schlafabteile.“ Er nahm die Taschen und durchquerte den Raum zu einer polierten Holztür, die er öffnete. „Dies ist der größere der beiden Schlafräume, also gehe ich davon aus, dass Ihre Herrin ihn nehmen wird.“

„Sí.“ Rosa nickte.

„Der andere Raum“, sagte er und zeigte auf das andere Ende des Waggons, „gehört Ihnen. Er ist klein, aber sehr gemütlich.“

Rosa sah hinein und lächelte. „Er ist sehr hübsch.“

„Welche der Taschen gehört Ihnen?“, fragte Bailey.

Sie zeigte auf das entsprechende Gepäckstück und er stellte die Tasche in ihr Zimmer. Dann nahm er das restliche Gepäck und verstaute es in dem größeren Zimmer. Als er auf Isabella zutrat, verkündete der Zugführer gerade, dass sie gleich abfahren würden.

„Während des Tages und am Abend werde ich Ihnen hier Gesellschaft leisten, aber meine Schlafkabine befindet sich im nächsten Waggon. Es ist das letzte Abteil, sodass ich andere davon abhalten kann, Sie zu belästigen.“

„Ja, aber wer hält Sie davon ab, mich zu belästigen, Mr Bailey?“ Isabellas Tonfall war sarkastisch, aber das war ihr gleichgültig. Aaron Bailey war der letzte Mann auf Erden, den sie um sich haben wollte.

Draußen konnte sie hören, wie der Zuführer „Alle einsteigen!“ rief, dann ging sie, um auf dem weich gepolsterten Thronsessel am Fenster Platz zu nehmen. Sie fühlte sich wie eine Königin bei Hofe, während Aaron auf sie hinunterblickte. Sie schob den Vorhang zur Seite und zog die Jalousie hoch.

„Bequem?“, fragte er.

„Sehr.“ Sie zog ihre Handschuhe aus, als der Zug einmal kurz ruckelte und dann langsam den Bahnhof verließ. Isabella winkte ihrer Tante und Diego zu, als ihr Waggon am Bahnsteig vorbeifuhr. Wenn doch nur Diego sie begleiten könnte! Jeder andere wäre ihr lieber als Aaron Bailey!

*

Aaron nahm Isabella gegenüber Platz, während Rosa sich daranmachte, die Koffer auszupacken. Die Lokomotive nahm an Fahrt auf und schon bald ließen sie jeden Hinweis auf die Stadt hinter sich, als der Zug durch das weite Land mit seinen Bauernhöfen, Farmen und brachliegenden Feldern fuhr.

Er war nicht erpicht darauf gewesen, Isabella nach Silver Veil zu begleiten. Schließlich arbeitete er für die Bahngesellschaft von Santa Fe und nicht für Daniel García. Aber als ihr Vater ihn darum gebeten hatte, war er gerade beim Direktor der Bahngesellschaft gewesen, und der hatte an Aarons Stelle geantwortet, sein Mitarbeiter werde dies natürlich übernehmen und die Gesellschaft werde Mr García gerne einen geräumigen Privatwaggon leihen, in dem Isabella mit dem allerhöchsten Komfort reisen könne.

Daniel García war für die Bahngesellschaft wichtig. Nicht nur wegen all der Aufträge, die er der Bahn in Silver Veil und an einem Dutzend anderer Orte bescherte, sondern auch wegen der Anteile, die er selbst an Santa Fe Railroad besaß. García hatte sich einen Namen gemacht und war bei den Männern, die das Unternehmen leiteten, höchst angesehen. Auch andere hatten großen Respekt vor ihm. Selbst der angehende Gouverneur des Bundesstaates und andere Politiker kannten García und schätzten seine Meinung und seine Großzügigkeit in Bezug auf ihre Projekte.

Seit er Daniel vor einigen Jahren kennengelernt hatte, bewunderte und mochte Aaron ihn ebenso. Daniel García war klug und fleißig, aber es war noch mehr als das. Er war ein gottesfürchtiger Mann, der seinen Glauben auch tatsächlich lebte. Wenn jemand schwere Zeiten durchmachte, bot García ihm Unterstützung und eine Stelle an. Aaron hatte gesehen, wie er ehemaligen Sträflingen Arbeit gegeben und ihnen geholfen hatte, ihrem Leben eine Kehrtwende zu geben, bis sie selbst angesehene Mitglieder der Gesellschaft wurden. Er war bereit, in Bezug auf andere Menschen ein Risiko einzugehen, selbst wenn alle anderen aufgegeben hatten. Aaron war noch nie jemandem begegnet, der so gütig war und andere derart förderte und unterstützte. Oft hatte er Aaron beraten und ihm bei der Umsetzung schwieriger Entscheidungen geholfen. Daher hatte Aaron allerhöchsten Respekt vor Daniel García.

Schade, dass seine egoistische, selbstsüchtige Tochter ausgerechnet jetzt zurückkommen musste. In den letzten paar Jahren hatte sie bei ihrer Tante gelebt und auch wenn Aaron wusste, dass García sein Kind vermisste, war es zu Hause wenigstens friedlich gewesen. Aaron vermutete, dass sich das jetzt ändern würde.

„Ich nehme an, Sie arbeiten eng mit meinem Vater zusammen“, brach Isabella das Schweigen, „sonst hätte er Sie niemals geschickt, um mich auf dieser Reise zu beschützen.“

Aaron blickte auf und sah, dass Isabella ihn aufmerksam betrachtete. „Das stimmt. Ich arbeite für die Santa Fe Railroad an der Verpachtung von Bahngleisen, und Ihr Vater hat mehrere, wie Sie wahrscheinlich wissen. Wir sind im Laufe der Jahre gute Freunde geworden.“

„Wie schön für Sie beide.“ Isabella wandte sich wieder dem Fenster zu. „Aber ich brauche wohl kaum eine Reisebegleitung. Ich bin eine erwachsene Frau, die durchaus in der Lage ist, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen. Ich trage sogar eine Waffe bei mir.“ Sie sah ihn mit einem leichten Lächeln an. „Schockiert Sie das?“

„Nicht im Geringsten.“

Sie schien darüber nachzudenken, aber er konnte nicht erkennen, ob seine Antwort sie ärgerte oder befriedigte. „Nur damit Sie Bescheid wissen.“ Er musste lachen. „Ist das eine Art Warnung?“

Ihre dunklen Augen verengten sich. „Nennen Sie es, wie Sie wollen.“

Aaron nickte und streckte die Beine aus, um sie anschließend an den Knöcheln zu kreuzen. Eigentlich hatte er eine bissige Bemerkung machen wollen, entschied sich dann aber dagegen. Er war nicht gekommen, um Krieg zu führen. Es war nur anständig, dass er ihr eine Chance gab. Immerhin waren siebeneinhalb Jahre eine lange Zeit – jedenfalls lange genug, um sich von einer selbstsüchtigen, zickigen Göre zu einer Frau voller Anmut und Güte zu entwickeln.

„Haben Sie Ihre Zeit in Kalifornien genossen? Ich erinnere mich daran, dass Sie bereits früher einmal dort gelebt haben.“

Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, nickte aber. „Ich bin dort auf dem Gut meines Urgroßvaters aufgewachsen. Es war immer mein Zuhause, selbst nachdem Vater darauf bestand, uns alle nach Silver Veil zu verschleppen.“

„Silver Veil ist inzwischen eine ganz schön interessante Stadt geworden. Sie waren seit fast fünf Jahren nicht mehr dort, richtig? Eine Menge hat sich verändert. Ihr Vater war sehr aktiv.“

„Da bin ich sicher. Es war immer sein Ziel, der Stadt zur Blüte zu verhelfen. Silver Veil und ein paar andere kleine Bergbaustädte – das ist alles, was ihm wichtig ist.“

So viel dazu, dass sie sich geändert haben könnte.

„Dem kann ich nicht zustimmen.“ Diese Bemerkung konnte Aaron ihr schlechtweg nicht durchgehen lassen. „Sie und Ihre Mutter sind ihm sehr wichtig.“

„Woher wollen Sie denn das wissen?“

Aaron richtete sich in seinem Sessel auf. „Ihr Vater und ich stehen uns recht nahe. Was glauben Sie, warum er mich sonst gebeten hätte, Sie nach Hause zu bringen? Er vertraut mir und weiß, was ich in wichtigen Dingen denke. Er ist mir ein guter und gottesfürchtiger Mentor gewesen.“

„Haben Sie keinen eigenen Vater?“

„Doch, aber meine Eltern leben in Chicago und Ihr Vater ist in der Nähe. Ich glaube, Gott wusste, dass ich einen Freund und Mentor brauchen würde, und hat Ihren Vater geschickt.“

„Und der Reichtum meines Vaters ist kein motivierender Faktor bei dieser Freundschaft?“ Ihr Tonfall war schnippisch und triefte nur so vor unausgesprochenen Anschuldigungen, während sie ihn mit einem durchdringenden Blick taxierte.

Aaron schüttelte den Kopf. „Wenn man bedenkt, dass mein Vater Ihren Vater finanziell mühelos in die Tasche stecken könnte und dass ich mehr als genug Ersparnisse habe, die mein Großvater für mich angelegt hat, glaube ich nicht, dass mir die Frage des Geldes überhaupt jemals in den Sinn gekommen ist.“

Sie wandte sich ab und sah wieder aus dem Fenster. „Sie werden mir wohl kaum vorwerfen, dass ich mich schützend vor meine Eltern stelle.“

„Nein, aber ich werfe Ihnen vor, dass Sie kein Interesse daran haben, Ihre Eltern überhaupt zu kennen.“

Ihr Kopf fuhr mit einem Ruck herum und ihre Augen begegneten seinem gelassenen Blick. Aaron hatte gewusst, dass sie auf seine Worte reagieren würde, vielleicht hatte er das sogar gewollt. All die Jahre hatte er sich angehört, wie Daniel García sich nach einer engeren Beziehung zu seinem einzigen Kind sehnte, und nie hatte er etwas gegen sie gesagt. Dies schien der perfekte Moment, um sie wegen ihrer Versäumnisse zur Rede zu stellen. Es war Aarons dringender Wunsch, einen Sinneswandel in ihr zu sehen, bevor sie in Silver Veil ankamen. Daniel und Helena García hatten etwas Besseres verdient als das herzlose verwöhnte Kind, das sie erzogen hatten.

„Sie haben kein Recht, so mit mir zu sprechen. Sie kennen mich doch gar nicht.“

„Ich kenne Sie besser, als Sie denken. Ihr Vater hat sehr offen über seine Probleme mit Ihnen gesprochen.“

„Ich bin sicher, er hat Ihnen alle möglichen schrecklichen Dinge über mich erzählt.“

„Das habe ich nicht gesagt. Im Gegenteil, er hat nur gut von Ihnen gesprochen. Sie und Ihre Mutter sind für ihn die wichtigsten Menschen auf der Welt und er liebt Sie vorbehaltlos.“

Seine Worte schienen Isabella vorübergehend zum Schweigen zu bringen, obwohl sie Aaron weiterhin missmutig anstarrte. Ihre Schroffheit machte ihm nicht das Geringste aus.

„Ich hatte gehofft, Sie hätten sich in den vergangenen Jahren geändert – und wären erwachsen geworden, sodass Sie auch die Bedürfnisse anderer Menschen sehen“, sagte er.

Isabella öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann verdrehte sie nur die Augen und sah wieder zum Fenster hinaus.

Aaron merkte, dass er immer ungehaltener wurde. „Ihr Vater ist nicht bei guter Gesundheit. Er ist schon lange krank – nicht dass ich erwartet hätte, dass Sie das wissen – und in letzter Zeit hat sich sein Zustand deutlich verschlechtert. Sie schreiben Ihren Eltern kaum einmal, obwohl ich weiß, dass Ihre Mutter Ihnen jede Woche einen Brief schickt. Und zu Besuch waren Sie auch lange nicht.“

„Ach, er hat immer irgendein Zipperlein. Das ist einfach seine schwache Konstitution. Meine Mutter hat nicht erwähnt, dass es ihm schlechter geht. Sie müssen sich irren.“

„So etwas würde sie nicht in einem Brief sagen. Ihre Mutter ist eine mitfühlende und liebevolle Frau. Sie würde nicht wollen, dass Sie sich sorgen.“

„Ihnen hingegen scheint das gar nichts auszumachen.“

„Ich bin der Meinung, dass man die Wahrheit sagen sollte. Aber nicht nur das, sondern ich finde es wichtig, dass Sie es wissen.“

Isabella spielte mit ihren Handschuhen. „Was versprechen Sie sich davon, Mr Bailey?“ Sie sah ihm in die Augen. „Wenn es Ihr Wunsch ist, mich zu beschämen, werde ich Ihnen nicht den Gefallen tun, darauf zu reagieren. Ich habe mich vor langer Zeit entschieden und bereue die Entscheidung nicht. Ich liebe meine Eltern, aber ich liebe auch meine Tante und mein Leben in Kalifornien. Ich wüsste nicht, warum ich mich schämen oder Gewissensbisse haben sollte.“

„Das kann ich mir denken.“ Aaron schüttelte den Kopf. „Sie sehen nur, was Sie sehen wollen, Miss García. Das wusste ich schon damals, als Sie sich Ihrem Vater gegenüber so herzlos verhalten haben.“

„Ich? Herzlos? Er war derjenige, der kein Mitgefühl hatte. Er hat mir alles genommen, was mir als Kind lieb und teuer war. Meine Freundinnen und Verwandten. Meine geliebte Großmutter und Tante und noch viele andere.“ Isabella blickte nachdenklich drein. „Ich war 10 Jahre alt und habe nicht verstanden, warum ich alles, was ich kannte und liebte, verlassen sollte. Niemand hat mich gefragt. Niemand wollte wissen, wie ich mich dabei fühlte. Er hat uns aus unserem Zuhause herausgerissen und uns mitten in der Wüste abgeladen, wo es keine anderen Kinder oder Verwandten gab außer ihm und meiner Mutter. Ich hatte Angst und war einsam.“ Sie runzelte die Stirn. „Aber ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Sie wissen ja so viel mehr als jeder andere über meine Familie und mich. Also verurteilen Sie mich ruhig als herzlose Frau, Mr Bailey. Es ist mir völlig egal, was Sie denken.“

Sie stand auf und machte einen Schritt, aber das Ruckeln des Zuges ließ sie wanken. Sie griff nach der Rückenlehne des Sessels, obwohl Aaron den Arm ausstreckte, um ihr eine stützende Hand anzubieten. Natürlich wollte sie keinesfalls seine Hilfe annehmen und begab sich in Richtung Schlafzimmer.

An der Tür drehte sie sich um. „Aber eins ist mir nicht gleichgültig. Ich wünschte, Sie würden aufhören, dieses schreckliche Rasierwasser zu benutzen. Davon bekomme ich Kopfschmerzen.“

Mit diesen Worten war sie verschwunden und Aaron blieb in seinem Sessel zurück und fragte sich, ob er sie vorschnell verurteilt hatte. Er wusste, wie sehr sie ihre Eltern verletzt hatte, auch wenn Mr und Mrs García nicht darüber sprachen. Man spürte es trotzdem. Vielleicht tat Isabella es nicht absichtlich. Vielleicht versuchte sie ja, so gut sie konnte, ihren eigenen Kummer zu verarbeiten, und wollte ihren Eltern gar nicht wehtun.

Aber selbst wenn sie den beiden keinen Kummer bereiten wollte, hatte sie es doch getan. Das Resultat war das gleiche. Das konnte Aaron nicht einfach wegschieben. Daniel García lag im Sterben und das Einzige, was er wollte, bevor er diese Welt verließ, war die Aussöhnung mit seiner Tochter. Und Aaron war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass sein Wunsch in Erfüllung ging. Das war er Daniel schuldig und er würde sein Bestes geben, um das zu erreichen, was auch immer ihn das kosten würde.

*

Isabella saß auf ihrer Bettkante und dachte darüber nach, was Aaron Bailey gesagt hatte. Der Duft seines Rasierwassers hing noch immer in der Luft. Sie hasste den Geruch eigentlich gar nicht. Sie hasste das, wofür er stand – die Peinlichkeit, dass er damals den Streit belauscht hatte und dass er sie damals schon durchschaut hatte und noch immer durchschaute.

Sie hatte lange nicht mehr an ihre Eltern und deren Bedürfnisse gedacht. Sie hatte nicht wissen wollen, wie es ihnen ging oder was sie gerade beschäftigte. Sie hatte sich keine Sorgen um sie machen wollen, aus Angst davor, was es für sie bedeuten würde.

„Es ist nicht, weil ich selbstsüchtig bin“, murmelte sie vor sich hin und nahm ihren Hut ab. Es war nicht Egoismus oder mangelnde Zuneigung, die sie antrieben. Obwohl der ein oder andere – so wie Aaron – das glauben könnte.

Isabella legte den Hut auf die kleine Ablage am Fuß ihres Bettes. Ihre angestauten Emotionen drohten überzufließen. Ihre Augen wurden feucht. Sie war kein schlechter Mensch. Das war sie wirklich nicht.

Isabella hatte einen großen Teil ihres Lebens damit zugebracht, Schutzmauern zu errichten – Hürden, die eine Festung bildeten, damit sie nie wieder verletzt würde, so wie damals, als ihr Vater sie aus Kalifornien entführt hatte.

Er hatte ihren Schmerz und ihren Kummer nie verstanden. Die Gefühle eines kleinen Mädchens waren ihm nie wichtig gewesen. Dass sie ihre Großeltern verlor, ihre Freundinnen und ihre Tiere. Wie sehr sie doch geweint hatte, weil sie Lucy, ihr Pferd, und ihre Hündin Mini verloren hatte, die gerade erst Junge bekommen hatte. Sie hatte in den Armen ihrer Großmutter geweint und sie angefleht, sie solle Papi überreden, es sich anders zu überlegen. Aber er war eisern geblieben und kurz nach ihrer Abreise war ihre geliebte Großmutter gestorben. Großvater starb ein Jahr später, sodass nur noch Tante Josephina auf der Farm war. Wenigstens hatte ihre Tante Mitleid mit Isabella gehabt und Lucy nach New Mexico bringen lassen, damit sie wieder mit ihrem Pferd vereint war.

Dann, als Isabella 16 war, hatte ihre Tante sie eingeladen, den Sommer in Kalifornien zu verbringen. Isabella war unendlich froh darüber gewesen, dass jemand sich für ihre Sehnsucht nach ihrer Heimat interessierte. Silver Veil war nie ihr Zuhause gewesen, trotz des schönen Hauses, das ihr Vater gebaut hatte.

Ihre Eltern waren nicht gerade begeistert, gaben am Ende aber nach. Die Frau, die Isabella Musikunterricht gab, Mrs Sanborn, war offiziell beauftragt worden, die Begleitung zu übernehmen, und war mit ihr nach Kalifornien gereist, wo sie ebenfalls Verwandte hatte. Mama und Papi hatten sich nicht einmal die Zeit genommen, selbst mit ihr zu fahren, und aus einem Grund, den sie nicht erklären konnte, hatte das alte Wunden aufgerissen.

Isabella war froh gewesen, wieder in Kalifornien zu sein, aber es war nie mehr so wie früher. Irgendwann konnte sie ihren Vater davon überzeugen, dass er sie ganz dort wohnen ließ, aber selbst Diegos wachsendes Interesse brachte die Dinge nicht wieder in Ordnung. Sie gab ihrem Vater die Schuld. Es war seine Schuld, dass sie ihre Großeltern nicht mehr hatte. Es war seine Schuld, dass nichts mehr so war wie früher. Warum mussten alles und alle, die sie jemals geliebt hatte, ihr genommen werden? Die Dinge und Menschen der Vergangenheit waren alle nicht mehr da. Ihre Eltern hatten sich verändert und sie selbst auch.

Manche würden sagen, sie habe sich das Gefühl, ihre Eltern verloren zu haben, selbst zuzuschreiben, aber die beiden hatten ihren Kummer verursacht und Isabella wollte so wenig wie möglich mit ihnen zu tun haben. Ihnen war ihr Schmerz gleichgültig gewesen – sie hatten nie mit Isabella darüber gesprochen, warum sie sich entschieden hatten, in die Wüste zu ziehen. Für Isabella war klar, dass sie sich einfach nicht für die Gefühle ihrer Tochter interessierten, warum also sollte sie sich etwas aus den Gefühlen ihrer Eltern machen?

Sie knöpfte ihre Jacke auf und streifte sie ab. Der Raum war ein wenig stickig, ja sogar heiß, aber sie konnte nicht in den Salon zurückgehen, ohne sich mit Aaron Bailey auseinanderzusetzen. Und sie war fest entschlossen, genau das nicht zu tun. Stattdessen legte sie die Jacke beiseite und streckte sich auf dem Bettüberwurf aus. Wenn sie Glück hatte, schlief sie vielleicht ein, und wenn sie aufwachte, war alles nur ein böser Traum gewesen.

Sie lächelte und stellte sich Weihnachten auf dem Gut vor, wie Tante Josephina die Kerzen am Baum anzündete, während Diego und Isabella sich mit Klavierspielen abwechselten. Er würde mit seiner wundervollen Baritonstimme Weihnachtslieder singen und Isabella und Tantchen würden einstimmen. Nach einer Weile würden sie zum Dinner gerufen und sie würden in den Speisesaal gehen und den Tisch weihnachtlich dekoriert vorfinden, mit Kerzen, in deren Licht die grünen Girlanden und goldenen Bänder glänzten, mit denen der Raum geschmückt war. Es würde ein regelrechtes Festmahl geben, mit Silber, Kristall und Porzellan auf Tante Josephinas feinstem Tischleinen.

Isabella seufzte. „Es wäre perfekt gewesen!“

2

Aaron verbrachte in seiner Kabine eine schlaflose Nacht. Er musste immerzu an Isabella denken und daran, wie schön sie war – zumindest äußerlich. Ihre schwarzen Haare waren für die Reise sorgfältig hochgesteckt und das Reisekleid brachte ihre Figur perfekt zur Geltung. Sie erinnerte Aaron an eine Statue, die er einmal gesehen hatte – eine griechische Göttin aus weißem Marmor. Wie es schien, war Isabella genauso kalt und hart, wie sie schön war. Doch was taugte äußere Schönheit, wenn keine innere hinzukam?

Aaron bat Gott im Gebet um Führung und Einsicht. Er wollte wirklich freundlich zu Isabella García sein und nicht nur glühende Kohlen auf ihr Haupt sammeln. Schließlich war sie nicht der Feind, von dem in Römer 12 die Rede war. Dieser Abschnitt in der Bibel verlangte von ihm, dass er Frieden mit ihr schloss – und großherzig war. Das war viel verlangt. Isabella hatte Daniel und Helena García viel Kummer bereitet. Sie mussten kein Wort darüber verlieren, ihre Gefühle waren in ihren Mienen manchmal sehr deutlich zu erkennen. Ihre Tochter bedeutete ihnen alles, aber Isabella hatte sie im Stich gelassen, sodass sie sich ohne ihre Hilfe durchschlagen mussten. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihren Eltern regelmäßig zu schreiben.

Isabellas Abwesenheit hatte ein Loch in die Herzen und in das Leben der Garcías gerissen und es war ihr gleichgültig. Oder vielleicht doch nicht? Er wollte wirklich gerne gut von ihr denken. Aaron wollte nicht ungerecht sein, aber nichts an Isabella ließ ihn hoffen, dass ihr irgendetwas wichtig sein könnte außer sie selbst.

Der Eisenbahnwaggon erwachte um ihn herum zum Leben und Aaron wusste, dass er den neuen Tag in Angriff nehmen musste. Er begab sich zum Bad und wusch sich, kämmte seine Haare und überlegte, was er anziehen sollte. Der Schaffner hatte dafür gesorgt, dass Aarons Anzug gebürstet und sein sauberes Hemd am Abend zuvor gebügelt worden war. Die Sachen sahen erstaunlich frisch aus. Er musste dem Mann ein ordentliches Trinkgeld geben.

Er kleidete sich schnell an, räumte seine Schlafkleidung fort und steckte die Bettdecke unter der Matratze fest. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es nichts mehr gab, was seine Begegnung mit Miss García noch länger hinauszögern konnte, begab Aaron sich zu dem Privatwaggon und kam dort genau in dem Augenblick an, in dem der Schlafwagenschaffner ihn verließ.

„Guten Morgen, Sir. Ich habe gerade die Frühstücksbestellung der Damen aufgenommen. Werden Sie mit ihnen frühstücken?“

„Ja, danke. Bringen Sie mir bitte Eier und Schinkenspeck, Toast und viel Butter.“ Aaron lächelte und der Schaffner erwiderte sein Lächeln. „Oh, und Kaffee bitte.“ Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog seine Geldbörse heraus. Dann gab er dem Mann mehrere Geldscheine. „Sie haben bei diesem Anzug ganze Arbeit geleistet. Danke.“

„Gern geschehen, Sir. Die Santa Fe ist immer bestrebt, es ihren Kunden recht zu machen.“

Aaron nickte. „Ich weiß, aber Sie haben mehr als nur Ihre Pflicht getan, und das weiß ich zu schätzen.“

Der Schaffner nahm das Geld und ging summend den Schlafwagen hinunter.

Aaron betrat das Privatabteil, entschlossen, die Zeit mit Isabella in Zukunft besser zu gestalten. Zweifellos war sie enttäuscht, weil sie die Menschen, die sie liebte, zurücklassen musste. Ein Mann hatte sie am Bahnhof verabschiedet. Die beiden schienen sich sehr vertraut zu sein. Ob sie verlobt waren? Und dann war da natürlich noch Isabellas geliebte Tante. Es musste schwer sein, ihr Lebewohl zu sagen. Trotzdem sollte sie auch an ihre Eltern denken. Wo waren Isabellas Gefühle für die beiden? Die Garcías saßen in ihrem stillen Kummer da und sehnten sich nach einem Kind, das nichts mit ihnen zu tun haben wollte.

Aber vielleicht hatte sie ja gar keine Ahnung. Was, wenn die beiden Isabella gegenüber kein Wort darüber hatten verlauten lassen, dass sie sich wünschten, sie würde zurückkommen? Was, wenn Isabella dachte, die beiden wären ebenso zufrieden damit, dass sie fort war, wie sie selbst es war? Vielleicht schwiegen sie ihr gegenüber genauso, wie sie es Aaron gegenüber taten.

„Guten Morgen, Mr Bailey“, sagte Rosa, die gerade aus Isabellas Zimmer kam. „Miss García kommt gleich.“

„Guten Morgen, Rosa. Haben Sie gut geschlafen?“

Die Zofe kicherte. „Ja. Ich habe noch nie bei einer Bahnfahrt im Bett gelegen. Es war, als würde meine Mama mich in den Schlaf wiegen.“

„Mit einem gelegentlichen Ruck, bei dem Sie fast aus dem Bett gefallen wären, oder?“ Er lächelte die junge Frau an, die eigentlich noch ein Mädchen war.

„Genau!“ Sie nickte eifrig. „Das stimmt.“

„Und Miss García? Hat sie auch gut geschlafen?“

„Das habe ich.“ Isabella rauschte durch den Waggon auf den Esstisch zu, der bereits zum Frühstück gedeckt war. Orangensaft stand an drei Plätzen. Isabella setzte sich und runzelte die Stirn. „Ich brauche ja wohl kaum drei Gläser Saft.“

„Ich nehme an, der Schlafwagenschaffner geht davon aus, dass wir zu dritt an diesem Tisch sitzen.“ Aaron gab ihr gar keine Gelegenheit zu widersprechen und zog einen Stuhl für Rosa heraus. „Bitte setzen Sie sich.“

„Oh nein, ich esse in meinem Zimmer“, wehrte Rosa ab.

Isabella nahm ihre Serviette. „Wenigstens einer, der weiß, was sich gehört.“

„Es gibt keinen Grund, warum Ihre Zofe mit einem Tablett auf ihrem Bett sitzen sollte“, entgegnete Aaron. „An diesem Tisch ist mehr als genug Platz für uns alle. Setzen Sie sich, Rosa.“

Sie zögerte, aber schließlich nickte Isabella kurz und die junge Frau nahm Platz. Aaron schob ihren Stuhl an den Tisch und setzte sich dann selbst.

„Sieht aus, als würde es ein schöner Tag.“ Er zeigte auf die Wüstenlandschaft vor dem Fenster.

Der Schaffner wählte genau diesen Augenblick, um mit einem Wagen voller Essen zu erscheinen. Er trug rasch die bedeckten Teller auf und nahm dann die silbernen Hauben ab. Anschließend fügte er Ständer mit Toast hinzu und jede Menge Butter, um die Aaron gebeten hatte.

„Wenn ich noch etwas bringen kann, sagen Sie einfach Bescheid. Mein Name ist Abraham.“ Der Schaffner schenkte jedem Kaffee ein.

„Ein sehr schöner Name“, erklärte Aaron. „Dieses Frühstück ist ein regelrechtes Festmahl.“ Neben dem Ei und dem Speck, die er bestellt hatte, gab es noch einen Teller mit Obst. Alles sah sehr schmackhaft aus.

Isabella sagte nichts. Sie wartete, bis Abraham mit seinem Wagen verschwunden war, bevor sie ihre Gabel nahm.

„Darf ich ein Tischgebet sprechen?“ Aaron sah, dass die Frage Isabella überraschte. Sie wirkte sogar ein wenig verlegen.

„Natürlich.“ Sie legte ihre Gabel ab und neigte den Kopf.

Aaron dankte für das Essen und bat um Bewahrung auf ihrer Fahrt. Dann betete er noch für Isabellas Eltern und ihre Tante. Als er fertig war, murmelte Rosa Amen, aber Isabella schwieg. Sie starrte ihr Essen einen Augenblick lang an und griff dann nach der Sahne. Nachdem sie eine großzügige Menge davon in ihren Kaffee gerührt hatte, stellte sie das Kännchen zur Seite und streckte die Hand nach dem Zucker aus.

Aaron trank einen Schluck von seinem schwarzen Kaffee. Er mochte ihn lieber so und kannte die Abmachungen der Santa Fe mit den zuliefernden Restaurants der Harvey-House-Kette gut genug, um zu wissen, dass der Kaffee auf der gesamten Strecke gleich schmecken würde. Sie brachten das Wasser in speziellen Tankwagen aus dem Osten her, um den mineralischen Geschmack zu vermeiden, der im Westen so oft zu finden war.

„Guter Kaffee“, bemerkte er.

Isabella widmete sich bereits ihrem Essen. Aaron musste unwillkürlich lächeln. Sie hatte das Gleiche bestellt wie er. Er überlegte, ob er eine entsprechende Bemerkung machen sollte, aber er vermutete, dass sie dann zu essen aufhören und etwas anderes bestellen würde.

Zwischen einzelnen Bissen Speck und Ei erlaubte Aaron sich, der attraktiven jungen Frau, die mit ihm am Tisch saß, verstohlene Blicke zuzuwerfen. Sie war umwerfend – eine richtige Schönheit. Ihre schwarzen Haare und Augen deuteten auf das mexikanische Erbe ihres Vaters hin. Sie hatte sich für einen lachsfarbenen Rock mit passender Jacke entschieden und trug dazu eine elfenbeinfarbene Spitzenbluse, die sie am Hals mit einer Kamee dekoriert hatte. Die Farbe passte perfekt zu ihrem Teint. Isabella war einfach perfekt.

„Gibt es einen Grund, warum Sie mich anstarren? Habe ich auf meine Jacke gekleckert?“ Ihre rechte Augenbraue war fast unmerklich hochgezogen.

„Ich habe gerade darüber nachgedacht, ob Sie eher Ihrer Mutter oder Ihrem Vater ähneln.“

Isabella zuckte mit den Schultern. „Ich komme nach der Mutter meiner Mutter, wenn Sie es unbedingt wissen wollen. Im Haus in Kalifornien gibt es ein Gemälde von ihr und Fremde denken immer, das wäre mein Porträt.“

Weil er nicht wusste, was er noch sagen sollte, strich Aaron Butter auf sein Brot. Er fragte sich, worüber er wohl sprechen könnte, ohne Isabella zu verärgern. Sollte er sich auf das Haus in Kalifornien konzentrieren oder würde sie dann traurig werden? Sollte er nach dem jungen Mann fragen, der sie am Bahnhof verabschiedet hatte? Oder ihr von seiner Arbeit für die Santa Fe erzählen? Nichts schien ihm so recht passend, deshalb sagte er nichts.

Rosa entschuldigte sich, um sich um die Wäsche zu kümmern, sodass Aaron und Isabella allein zurückblieben. Aaron glaubte Isabella seufzen zu hören.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja. Warum fragen Sie?“

„Ich dachte, Sie hätten geseufzt.“

„Das habe ich auch, aber es sollte kein Hinweis für Sie sein, dass etwas nicht stimmt.“

„Ich verstehe.“ Aaron zuckte mit den Achseln. „Ich nehme an, ein Mensch kann ohne Grund seufzen, aber in der Regel haben Seufzer eine Ursache.“

Isabella legte ihre Serviette auf den Tisch. „Selbst wenn es so wäre, würde ich es Ihnen gegenüber nicht erwähnen.“

„Warum nicht? Ihr Vater hat mir doch den Auftrag gegeben, mich um Ihre Bedürfnisse zu kümmern.“

„Dann bringen Sie mich nach Kalifornien zurück, denn dort gehöre ich hin.“ Sie sah ihn einen Augenblick lang an und zuckte dann selbst mit den Schultern. „Sehen Sie? Sie können mir in dieser Angelegenheit nicht behilflich sein. Ich möchte nach Hause.“

„Ist Silver Veil nicht auch Ihr Zuhause? Immerhin leben Ihre Eltern dort, und wenn ich richtig gerechnet habe, haben Sie selbst dort länger gelebt als in Kalifornien.“

„Wo man physisch anwesend ist, deckt sich nicht immer mit dem Ort, wo das Herz wohnt, Mr Bailey.“ Sie griff nach der Kaffeekanne. „Möchten Sie noch etwas?“

Er nickte und hielt ihr seine Tasse hin. Isabella schenkte ein, bis die Tasse voll war, dann goss sie Kaffee in ihre eigene Tasse, wobei sie gute zwei Zentimeter Platz ließ. Wieder fügte sie eine Menge Sahne und Zucker hinzu. „Gab es gar nichts, was Sie an Silver Veil mochten?“ Er wusste, dass dies vermutlich eine verfängliche Frage war, aber er konnte sie sich einfach nicht verkneifen.

Isabellas Antwort überraschte ihn. „Ich mochte das Haus, das mein Vater gebaut hat, sehr. Die Lehmziegel sorgten dafür, dass es im Sommer schön kühl und im Winter warm war. Ich erinnere mich an den Kamin im Musikzimmer. Ich bin sicher, dass mich dort ein großes Feuer erwartet.“

„Es ist ein sehr schöner Kamin.“ Aaron hätte gerne zugegeben, dass es einer seiner Lieblingsplätze war, befürchtete aber, er könnte sie damit provozieren.

Der Schlafwagenschaffner erschien mit seinem Wagen und einem breiten Lächeln. „Wie ich sehe, hat Ihnen das Frühstück gemundet.“

„Das hat es, Abraham. So gut habe ich schon lange nicht mehr gefrühstückt“, lobte Aaron.

Der Schaffner räumte das Geschirr ab und bürstete dann ein paar Krümel von der Tischdecke, bevor er diese zusammenlegte. Er nahm sie vom Tisch und verschwand, bevor jemand noch etwas sagen konnte. Dies schien für Isabella das Zeichen zu sein, zu ihrem Thron am Fenster zurückzukehren. Sie erhob sich anmutig und Aaron stand ebenfalls auf. Er würde keine schlechten Manieren an den Tag legen, auch wenn es ihm schwerfiel.

„Gedenken Sie eigentlich, jeden wachen Augenblick mit mir zu verbringen?“, fragte Isabella und ihre Stimme hatte einen sarkastischen Unterton.

„Sieht so aus. Ihr Vater hat mich darum gebeten und ich habe ihm mein Wort gegeben.“

„Warum?“

„Warum was? Warum hat Ihr Vater mich darum gebeten? Oder warum habe ich ihm mein Wort gegeben?“

„Ich denke, ich weiß, warum er Sie gefragt hat. Warum hatten Sie das Bedürfnis, seinem Wunsch nachzukommen?“

Aaron zog einen Stuhl näher und nahm ihr gegenüber Platz. „Ich schätze ihn sehr. Er ist für mich ein Mentor geworden und hat mir viel beigebracht. Vor allem in geistlichen Dingen.“

Isabella nickte. „Vater waren sein Glaube und die Bibel immer sehr wichtig.“

„Und was ist mit Ihnen?“ Aaron wappnete sich für den, wie er vermutete, empörten Hinweis, dass er kein Recht habe, ihr solche Fragen zu stellen. Doch stattdessen überraschte sie ihn erneut.

„Meine Eltern waren immer sehr fromm, also bin ich als Kind oft in die Kirche gegangen und habe alle Gebote und Besonderheiten des Glaubens kennengelernt. Ich kenne zahllose Gebete und Bibelverse auswendig.“ Sie sah zum Fenster hinaus. „Ich glaube sogar, dass Jesus für meine Sünden gestorben ist. Aber ich glaube nicht, dass Gott sich wirklich um irgendetwas schert, was mich beschäftigt. Meine Gebete sind nie erhört worden.“

„Warum sollte Gott seinen Kindern einen Erlöser schicken, sich aber dann weigern, ihre Gebete anzuhören?“

Isabella dachte einen Moment nach, dann sagte sie: „Ich bin nicht sicher, aber warum sollte es ihn als Gott des Universums interessieren, was ich will oder brauche?“

„Warum sollte es ihn als unseren Vater nicht interessieren? Selbst irdische Väter interessieren sich dafür, was ihre Kinder brauchen.“

„Meiner nicht“, entgegnete sie und sah ihm in die Augen. Sie hob eine Hand, um ihn am Weitersprechen zu hindern. „Ich weiß, dass Sie große Stücke auf meinen Vater halten, Mr Bailey. Ich verstehe, dass Sie Zuneigung für ihn empfinden – und dass er gut zu Ihnen war. Vermutlich sollte ich mich für Sie freuen, aber stattdessen stelle ich fest, dass es meinen eigenen Kummer nur noch größer macht. Es erinnert mich daran, dass Sie nicht wie ich mit ihm aufwachsen mussten und Ihnen das Einzige verwehrt wurde, was Ihnen jemals wichtig war.“ Sie blickte wieder in die Wüste hinaus.

Sie klang so traurig, dass Aaron gar nicht mehr den Wunsch hatte, sie zu tadeln. Stattdessen verspürte er ein seltsames Verlangen, sie zu trösten. Er faltete die Hände und folgte ihrem Blick.

„Meine Eltern hatten auch einen sehr starken Glauben, aber sie haben nicht darüber geredet“, sagte er. „Sie sind keine Menschen, die ihre Gedanken mit anderen teilten.“

„Schade, dass Sie Ihren Eltern nicht ähnlicher sind“, murmelte Isabella. Bevor Aaron etwas darauf sagen konnte, fuhr sie fort: „Warum hatte mein Vater das Bedürfnis, Sie zu schicken, damit Sie mich nach Hause holen? Hatte er Angst, ich würde nicht kommen? Wollte er mir unbedingt das Gefühl geben, ein Kind zu sein – und mir seine Autorität aufzwingen?“

„Ich glaube, er wollte nur sicher sein, dass Sie nicht belästigt werden. Frauen, die allein reisen, vor allem schöne Frauen, werden oft Opfer ruchloser Übergriffe. Ihr Vater sagte, er wolle nicht, dass Sie allein sind, für den Fall, dass es Schwierigkeiten gibt.“ Aaron schüttelte den Kopf. „Ich bin sicher, er weiß nichts von der Waffe, die Sie bei sich tragen.“

Sie zog die rechte Augenbraue hoch. „Sie klingen so, als wären Sie mir böse. Ich habe nur eine einfache Frage gestellt.“

„Nein, wir wissen beide, dass Sie mit Ihren Worten viel mehr andeuten wollten.“

Sie kniff die dunklen Augen ein wenig zusammen. „Wenn diese Reise so gefährlich ist, wieso mutet er sie mir dann überhaupt zu? Wenn er mich wissentlich in Gefahr bringt, kann er mich ja wohl kaum sehr lieben.“

Aaron sah, dass es zwecklos wäre, Isabella von der Liebe ihres Vaters zu überzeugen. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Rein theoretisch könnte er Sie auf diese Weise loswerden, aber diese Methode erscheint mir mehr als fraglich. Ein Scheitern wäre leicht möglich und es gibt keine absolute Gewissheit, dass Sie umkommen würden. Außerdem hätte er mich ganz gewiss nicht zu Ihrer Begleitung auserkoren, wenn er wollte, dass Sie überfallen werden und aus seinem Leben verschwinden.“

Einen Augenblick lang schien sie überrascht von seiner Schärfe, aber schnell hatte sie wieder ihre undurchdringliche Maske aufgesetzt. „Sie sind doch derjenige, der behauptet, er würde mich so sehr lieben. Ich zeige nur die Fehler in Ihrer Logik auf.“

„Ja, Sie scheinen sehr gut darin zu sein, allen ihre Fehler aufzuzeigen. Außer sich selbst.“

Es klopfte an der Tür und der Schlafwagenschaffner streckte den Kopf zur Tür herein. „Wir erreichen gleich den Bahnhof, falls Sie sich die Beine vertreten wollen. Wir haben hier zwanzig Minuten Aufenthalt.“

Isabella nickte. „Das würde ich gerne tun.“ Sie erhob sich und wandte sich Rosas Zimmer zu. „Rosa, bring mir den Sonnenschirm.“

Aaron stand auf und dankte dem Schaffner. Der Zug fuhr bereits langsamer und stieß schrille Pfiffe aus, um seine Ankunft anzukündigen. Isabella verschwand in ihrem Schlafzimmer und kehrte in Mantel und Hut zurück. Dann zog sie ihre Handschuhe an und warf einen kurzen Blick nach draußen.

Rosa holte den Sonnenschirm aus ihrem Zimmer. Offenbar war in einer Kabine nicht genügend Platz für Isabellas Sachen. Die Zofe durchquerte den Raum und reichte Isabella den Schirm gerade in dem Augenblick, als der Zug zum völligen Stillstand kam. Durch den Ruck wären die beiden Frauen beinahe gestürzt. Rosa streckte den Arm aus, um Isabella zu stützen.

Als sich beide wieder gefangen hatten, kicherte Rosa. „Mir geht es so wie meinem Onkel, wenn er den ganzen Abend getrunken hat. Meine Füße wissen, wohin sie wollen, aber der Boden spielt nicht mit.“

„Niemand hat dich um deine Meinung gebeten, Rosa.“ Isabella riss ihrer Zofe den spitzenbesetzten Sonnenschirm aus den Händen.