Eine Sprache der Liebe - Loretta Würtenberger - E-Book

Eine Sprache der Liebe E-Book

Loretta Würtenberger

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Beschreibung

»Ein hipposophischer Parforceritt, auf dem wir uns auch als nicht reitender Leser staunend selbst neu entdecken.« — Andreas Isenschmidt Loretta Würtenberger und Hubertus Graf Zedtwitz nähern sich in Eine Sprache der Liebe der jahrtausendealten Beziehung zwischen Mensch und Pferd und eröffnen eine Perspektive, die weit über die Reitkunst hinausweist. Das Buch verbindet persönliche Erfahrungen mit philosophischen und historischen Reflexionen und schafft so einen Raum, in dem Kommunikation, Vertrauen und Beziehung neu gedacht werden. Im Zentrum steht die Sprache der Reitkunst, deren Begriffe – »Hilfen«, »Anlehnung«, »Losgelassenheit« – nicht nur technische Anweisungen sind, sondern zu Metaphern für das menschliche Miteinander werden. Die Interaktion zwischen Reiterin und Pferd wird zur Grundlage eines stillen Dialogs, der sich auf universelle Fragen von Harmonie, Nähe und Vertrauen übertragen lässt. Mit erzählerischer Dichte und literarischer Präzision schildert das Buch diese Suche nach Verbindung und Resonanz. Würtenberger und Zedtwitz verweben persönliche Momente mit dem Nachdenken über die Rolle des Pferdes in Kunst, Literatur und Kulturgeschichte.  Der Künstler Erwin Wurm steuert eigens für das Buch angefertigte Aquarelle bei und liefert so seine ganz persönliche künstlerische Auseinandersetzung mit dem Text. Eine Sprache der Liebe lässt die Grenzen zwischen praktischer Erfahrung, kultureller Analyse und poetischer Betrachtung verschwimmen und liefert ganz nebenbei einen wichtigen Beitrag zum aktuellen Diskurs um die Interspezies-Kommunikation. Die Autoren laden dazu ein, die Beziehung zwischen Mensch und Tier als Spiegel unserer eigenen Verhaltensweisen zu verstehen – und darüber hinaus die Sprache der leisen Töne in einer lauten Welt zu entdecken. »Viele sprechen heute von Interspezies-Kommunikation. Hier wird sie gelebt und erfahren.«  — Elisabeth von Samsonow

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Seitenzahl: 175

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

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BIBLIOGRAFIE

Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht,

gehen die Sonnenpferde der Zeit

mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch;

Und uns bleibt nichts,

als mutig gefaßt die Zügel festzuhalten.

– Johann W. v. Goethe, Egmont, 2. Aufzug

1

Die Wärme der ersten heißen Junitage hatte die Blüten eines langen Frühlings versengt. Ein sattes Grün lag über den Wiesen und Wäldern, das nur von den hellgrünen Ähren des noch jungen Weizens unterbrochen wurde. An den Rändern der Felder das gesprenkelte Rot des Mohns und das leuchtende Blau der Kornblumen, deren Samenkörner die unsichtbaren Flügel des Windes bereits im vergangenen Jahr mit dem Versprechen eines nächsten Sommers herbeigetragen hatten. Am Himmel ein Storch, der, wie in jedem Jahr, aus dem Süden zu uns ins Märkische zurückgekehrt war, um seine Eier in dem angestammten Nest auf dem nahegelegenen Schornstein der dörflichen Schmiede zu legen.

Meine Stute Grace und ich waren auf dem Weg zum Dressurplatz, nachdem wir zum Aufwärmen die weiten Bögen der Galoppbahn, die die kleine, von Weiden gesäumte Reitanlage einfasst, im Schritt umrundet hatten. Ich hörte einen Wagen über den Kies auf den Hof rollen, wandte mich um und sah, wie ein Mann aus einem grünen, leicht verstaubten Auto stieg und sich umschaute. Er blickte auf den Springplatz und den Unterstand der Pferde, alles sehr zweckmäßig, nicht sonderlich elegant, dann fiel sein Blick auf das Dressurviereck, auf dem Grace und ich mittlerweile angelangt waren. Ich nahm an, dass er Graf Zedtwitz sei, und winkte. Er winkte zurück und kam auf uns zu.

Vor wenigen Wochen hatte ich ihn angerufen und gefragt, ob er sich Zeit nehmen würde, mich zu trainieren. »Ich suche einen neuen Trainer und habe viel von Ihnen gehört.«

»Der Beste, den ich kenne«, hatte mir ein Freund gesagt und mir seine Nummer gegeben.

Nach wenigen Sätzen hatte mich Graf Zedtwitz, noch waren wir per Sie, am Telefon gefragt: »Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?« Ein Pferd im Leistungssport muss mindestens fünf Mal in der Woche bewegt werden, außerdem war Graf Zedtwitz, wie ich bald feststellen sollte, anspruchsvoll und hatte, im Gegensatz zu mir, eine konkrete Vorstellung davon, wie schwer es war, in meinem Alter reiterlich noch weiter zu kommen. Doch ich ließ mich von seiner Nachfrage nicht schrecken und antwortete, ohne wirklich zu wissen, worauf ich mich einließ: »Ja.«

»Gut. Aber fragen Sie Ihren Mann, ob er einverstanden ist.«

»Ganz sicher nicht«, antwortete ich lachend, bevor ich auflegte.

Dabei war es gerade mein Mann gewesen, der mich ermutigt hatte, nach einer langen Pause wieder Unterricht zu nehmen. Er hatte erlebt, wie gut es mir ging, wenn ich auf dem Pferd saß. Er konnte mein inneres Glück spüren, wenn ich von großen Dressurturnieren, die ich als Zuschauerin besucht hatte, nach Hause kam. Auf seine Frage hin, was mich am Reiten so fasziniere, hatte ich ihm geantwortet: »Für mich ist Reiten in seiner Vollendung Kunst. Und Reiten kann in dem Zusammenspiel mit dem Pferd wie Lieben sein. Ich glaube, es ist diese Kombination, die ich mich so anzieht.«

Nun ritt ich also zur Bahnmitte, zog meinen rechten Handschuh aus und gab Graf Zedtwitz vom Pferd aus die Hand. Ein Händedruck, ein Lächeln, erste Worte – in seiner Stimme hörte ich einen leichten rheinischen Singsang –, ein wenig Smalltalk.

Er hatte sich neben Grace gestellt und ihr seine Hand unter die Nüstern gehalten, die sich weiteten, um seine Haut zu riechen. Dann wandte sie ihm an den von mir locker gehaltenen Zügeln den Kopf zu, um ihm in die Augen zu blicken. Graf Zedtwitz schaute zurück, sein Blick weich, viel weicher als in den wenigen Augenblicken unseres kurzen Austauschs. Langsam hob er die Hand und strich vom Nacken aus ihren Hals, den großen Muskel unter ihrer Mähne entlang, und wandte sich wieder mir zu: »Erzählen Sie mal von Ihrer Stute.«

Eigentlich hätte ich sagen sollen: »Grace: mein Herzenspferd.« Den Augenblick unserer ersten Begegnung werde ich nie vergessen: Es war vor acht Jahren, als sie weißbandagiert in einer ländlichen Stallgasse zwischen Boxen vor mir stand, die etwas improvisiert in eine nach wie vor als Heulager genutzte Scheune gebaut worden waren. Sie war umgeben von kleinen Kindern, die ihre Ponys umwuselten und Grace gerade die Lippen mit Öl eingeschmiert hatten: »Damit sie glänzt – weil, ihre Lippen sind so weich!« Ich hatte Grace auf Empfehlung einer Pferde züchtenden Tante in einem kleinen Stall in Niedersachsen gefunden. Nach meiner dritten Schwangerschaft, von der ich glaubte, sie sei die letzte, hatte ich mich auf die Suche nach einem Pferd gemacht. Und nun stand ich vor dieser langbeinigen, dunkelbraunen Stute, einem erfolgreichen Dressurpferd – und das Erste, was sie tat, war, ihre weiche Schnauze meiner ältesten, damals achtjährigen Tochter, die mich begleitet hatte, entgegenzustrecken. Das war der Moment, in dem ich mich in Grace verliebte.

»Grace not only by name, but also by nature!«, wie ein Freund einmal treffend über sie sagte. Gemeinsam mit den Ponys unserer Kinder lebt sie auf den Wiesen hinter unserem Haus in einem kleinen oberhavelländischen Dorf nördlich von Berlin. Hebt sie ihren Kopf, blickt sie auf eine dem märkischen Sand abgerungene Landschaft. Der Blick zum Horizont von Gräben durchzogen, an deren Rändern lichte Weiden und Pappeln stehen und die daran erinnern, dass die Durchquerung dieser Landschaft früher einmal nur dem möglich gewesen war, der die Dämme in den Wäldern und die Wasserwege der Sümpfe kannte. Heute singen Frösche ein Lied von dieser Zeit, das Kraniche und Störche über die Weiden und Wiesen weitertragen, die unsere Pferde auf der Suche nach dem nächsten Grasbüschel mit gesenkten Köpfen durchziehen wie Segelboote die ruhige See.

Grace sehe ich täglich viele Male. Sie behält mich im Blick, wenn ich zum Auto gehe, im Garten bin oder aus dem offenstehenden Küchenfenster schaue. Manchmal blickt sie nur kurz auf und frisst dann weiter, manchmal wiehert sie und kommt zum Zaun, um mir ihren Kopf entgegenzustrecken. Habe ich Zeit, gehe ich hin und streichle ihre Blesse, was sie besonders liebt, oder kraule sie am Widerrist. Dann wendet sie mir den Kopf zu und knabbert auch mir zärtlich am Hals. In den letzten Jahren ist mir Grace zur Freundin geworden. Sie ist liebevoll, zugewandt und aufgeweckt. In dem kleinen Herdenverband, zu dem Ziezo, das Pony unserer Kinder, und zwei Minishettys gehören, ist sie die Leitstute. Ich gestehe, ich fühle mich ihr ähnlich, innerlich wie äußerlich – beide sind wir groß und schmal, haben braunes Haar und auch unsere Wesen sind vergleichbar. Und manchmal denke ich, dass sie das genauso empfindet.

Von all dem hätte ich Graf Zedtwitz erzählen können, doch ich antwortete:

»Ich habe sie seit sechs Jahren, und sie ist bis M ausgebildet.«

»Und ihre Abstammung?«, fragte er weiter.

»Don Crusador mal Fabriano, der erste der Name ihres Vaters, der zweite des Vaters ihrer Mutter, zusammen bestes Hannoveraner Blut.«

»Hört sich gut an. Und, sagen Sie – wie weit sind Sie?«

»Wenn ich das nur wüsste.«

In den letzten Jahren hatte ich einige ländliche L-Turniere geritten, also auf ›leichtem‹ Niveau, war aber jedes Mal kläglich gescheitert. Immer lagen wir im letzten Drittel des Feldes, obwohl Grace gut genug war, um weitaus höher platziert zu werden. Es hatte an mir und meinen Nerven gelegen. Bereits auf dem Weg zu einem dieser kleinen Turniere bei uns im Brandenburgischen war ich so nervös gewesen, dass ich eigentlich hätte umdrehen sollen. In meinem Beruf – ich bin im Kulturbereich tätig – kann ich ohne große Aufregung Vorträge vor vielen Menschen halten oder schwierige Verhandlungen führen. Da bringt mich wenig aus der Ruhe. Ritt ich hingegen eine Dressurprüfung, verließ mich jede Souveränität. Als ginge es beim Reiten um alles. Und irgendwie tat es das auch. Denn meine Sehnsucht war es, so zu reiten, wie ich

es bei den Großen gesehen hatte: der schwingende Rücken eines Cassidy unter Cathrine Dufour, die weiche Anlehnung eines Famoso unter Benjamin Werndl oder Daleras gesenkte Hinterhand in der Piaffe – eine Trabbewegung des Pferds fast auf der Stelle – unter Jessica von Bredow-Werndl. In meiner lebhaften Fantasie konnte ich mir all diese Bewegungen vorstellen. Allein die Idee, in solchem Einklang mit einem Pferd zu sein, war überwältigend. Und wie das so ist mit unerfüllten Sehnsüchten, sie schwingen am längsten nach und lassen einen nur schwer wieder los.

Ohne weiter nachzufragen, sagte Graf Zedtwitz: »Na, dann schauen wir mal.«

Er bat, ich solle mich zu ihm herunterbeugen, damit er vorsichtig die Schnallen meiner Reitkappe lösen und mit sanften Fingern ein Headset an meinem linken Ohr befestigen konnte, bevor er es mit seinem verband. Dann ging er zum Rand des Platzes, setzte sich auf eine dort stehende Bank und sagte: »So, los geht’s. Traben Sie einfach mal an.«

Ich nahm die Zügel auf, setzte mich aufrechter hin und gab mit dem leichten Druck beider Schenkel, mehr war bei Grace nie nötig, die Hilfen zum Antraben. Sie ging meinem Gefühl nach eigentlich ganz gut.

Nach einigen Minuten bat er uns, anzuhalten.

»Hm. Das gehen wir jetzt mal anders an.«

Er griff mein linkes Bein über dem braunen Reitstiefel unterhalb des Knies, löste es vom Sattelblatt, schüttelte es leicht und legte es wieder ab.

»Öffnen Sie die Oberschenkel ganz, und halten Sie sich auch nicht mit den Knien fest.«

Dann schob er meinen Unterschenkel weiter nach hinten und drückte ihn unterhalb des Sattels an Graces Körper. Mir war schleierhaft, wie ich das Bein über längere Zeit so würde halten können.

»Nun die Schultern zurück. Und die Hände weiter nach vorn, und vor allen Dingen tiefer.«

Wir sollten wieder antraben.

»Aber nicht durch einen längeren Schenkeldruck. Geben Sie mit den Schenkeln nur einen kurzen Impuls und lösen Sie sie dann schnell wieder vom Pferdekörper.«

Antraben, durchparieren, erneut antraben, erneut durchparieren. Etwas anderes übten wir in dieser ersten halben Stunde nicht. Grace schien genauso verwirrt zu sein wie ich. Immer wieder hielt sie an und äppelte. Es war ihre Art, mit Spannung umzugehen. Spatzen kamen geflogen, um sich über die dampfenden Hinterlassenschaften herzumachen.

Die Sonne schien und der Himmel war klar, aber die Luft stand. Schweißgebadet stieg ich nach dieser intensiven halben Stunde ab. Wir verabschiedeten uns, Graf Zedtwitz ging zu seinem Auto zurück. Grace führte ich zu der Waschplatte neben der Sattelkammer, um ihr den Schweiß, der am Hals und unter der Satteldecke weißer Schaum geworden war, abzuwaschen. Anschließend brachte ich sie zurück auf die Weide, damit sie in der Sonne trocknen und sich erholen konnte.

Nachdenklich ging ich zurück zum Haus. Mein Mann stand an der Tür.

»Wie war es?«

»Weiß nicht – kannst du mich erstmal in den Arm nehmen?«

Ich war verunsichert, wusste noch nicht, was ich von all dem halten sollte. Nachdem ich ein großes Glas Wasser getrunken hatte, ging ich hinauf und ließ mir eine Badewanne ein. Die Verführung war groß, einfach beim Alten zu bleiben, zum Gewohnten zurückzukehren. Doch war es das, was ich wirklich wollte? Immerhin war Reiten meine große Leidenschaft und Graf Zedtwitz ein bekannter Lehrer. Und irgendetwas hatte er an sich, dem ich mich stellen wollte, irgendetwas an ihm forderte mich heraus. Ich legte mich in das warme Wasser, nahm mit meiner trockenen Hand das Handy und schrieb ihm eine Nachricht: Ich dankte ihm für den Unterricht und bat um eine weitere Stunde.

2

Zedtwitz’ Zusage war, wie er mir später gestand, ausschließlich von Corona bedingt. Wegen der Reisebeschränkungen während der Pandemie hatte er, der sonst durch halb Europa flog, um seine internationalen Schüler zu unterrichten, Zeit und Kapazitäten. Und so kam er nun zwei bis drei Mal die Woche in seinem alten Auto aus der Stadt zu uns auf unsere kleine Reitanlage.

Bereits als Reiter war Hubertus Zedtwitz äußerst erfolgreich gewesen, hatte als Deutscher Meister der Berufsreiter mit erst Mitte zwanzig Deutschland international vertreten. Dr. Schulten-Baumer, einer der weltweit erfolgreichsten Dressurtrainer aller Zeiten, hatte ihn anschließend zu sich geholt. Von ihm inspiriert war er Trainer geworden, unterrichtet seitdem Schüler bis zum Grand Prix, der höchsten Stufe der Reiterei. Im Verhältnis zu meinem Können war er also eigentlich eine Nummer zu groß unterwegs – aber welch ein Glück, welch unverhoffter Coronagewinn! Als Kind schon hatte mir mein Vater gesagt: »Wenn du etwas lernen willst, such dir den Besten und lerne von ihm.«

Seit der letzten Stunde hatten Grace und ich fast täglich geübt. Ich hatte versucht, meine Oberschenkel offen zu halten und die Knie und Unterschenkel zu lösen. Hatte versucht, gerade zu sitzen und die Schultern zurückzunehmen. Hatte immer dann, wenn Grace nicht allein über meinen Körper begriff, was ich von ihr wollte, ein wenig geschnalzt. Die freien Tage hatte sie auf der Weide verbracht, ab und zu waren wir ausgeritten, um uns gemeinsam zu erholen.

Die nächste Reitstunde verlief ähnlich wie die erste. Mit dem Unterschied, dass ich noch weniger Hilfen geben sollte.

»Grace scheint mir sensibel genug, sie braucht nicht viel«, hatte Hubertus Zedtwitz gesagt, nachdem er diesmal erst sie und dann mich begrüßt hatte.

Wieder übten wir ausschließlich Übergänge vom Trab zum Schritt, auf dem Zirkel und an der langen Seite des Dressurvierecks. Die Freuden der Götter entstehen aus Wiederholungen. Sein ›Immer-Weniger!‹ forderte nicht nur die Feinabstimmung zwischen Grace und mir, sondern vor allem meine volle Konzentration. Mein Körper sollte locker und entspannt bleiben. Verlor ich diese positive Spannung, gelangen die Übergänge nicht. Konnte ich sie halten, übertrug sie sich auf Grace. Dann drehte sie mir eines ihrer Ohren zu wie eine sich zum Licht ausrichtende Blüte und trabte locker und entspannt an. Am Ende unsere Stunde sogar dann, wenn ich nur einatmete. Für mich war es wie ein Wunder, für Zedtwitz ein erster Vorbote dessen, was noch möglich sein sollte.

Diesmal stieg ich glücklich vom Pferd und nahm mir nach der Stunde viel Zeit, in der Sattelkammer Trense und Sattel zu putzen. Hubertus hatte etwas gesagt, über das ich noch nachdenken wollte. Wir waren während der Stunde ohne viel Aufhebens vom Sie zum reiterlichen Du gewechselt, Grace war am hingegebenen Zügel mit entspanntem Hals im gemächlichen Schritt dahingeschlendert.

»Loretta, du kennst den Begriff der reiterlichen Hilfen.«

»Ja, natürlich.«

Mit Hilfen bezeichnen Reiter die körperlichen Signale, die vor allem vom Kreuz ausgehen, also vom unteren Rücken, außerdem den Schenkeldruck sowie die Hände der Reiter, mit denen sie dem Pferd zeigen, was sie von ihm möchten. Mit meinen Schenkeln signalisierte ich Grace, ob sie vorwärts oder seitwärts gehen und ob sie das schnell oder langsam tun sollte. Das Kreuz richtet mich im Sattel aus, bestimmt, wie ich sitze: wie schwer, wie leicht, ob ich mittig sitze oder leicht nach rechts oder links gelehnt bin. Grace ging zum Beispiel nach rechts, wenn ich meine rechte Gesäßhälfte belastete, weil sie unter meinen Schwerpunkt treten wollte, um den ihren zu wahren.

»Die Hilfen sind das nonverbale Vokabular der Sprache, die du mit Grace sprichst. Mit dem Satz: ›Der Reiter gibt Hilfen, das Pferd nimmt die Hilfen an‹ wird das Gespräch zwischen euch beiden umschrieben. Im Moment sprecht ihr noch Umgangssprache. Aber der Austausch zwischen Grace und dir wird im Laufe der Zeit zum vertrauten Flüstern werden. Du wirst sehen.« Hubertus’ Stimme war immer leiser geworden, fast hatte er selbst geflüstert, bevor er hinzufügt hatte: »Dem Postulat des Leisen widerspricht nicht, dass das einzelne Wort, die einzelne Hilfe so präzise wie möglich gegeben wird. Alles andere, das Hingeschluderte, das Ungenaue macht dein Pferd unglücklich, weil es nicht genau weiß, was es tun soll, und unsicher wird. Es liegt in unserer Verantwortung, mit dem Pferd klar zu kommunizieren.« Seine Hände unterstrichen die einzelnen Worte. »Doch was beinhaltet der Begriff noch?«, hatte er mich dann gefragt und mich offen angeblickt. »Es ist doch interessant: Die Reiter sagen nicht: Ich befehle dem Pferd, ich kommandiere. Oder: Ich zeige ihm etwas. Sondern sie sagen: Ich gebe eine Hilfe, ich helfe dem Pferd. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied!«

Seine eigene Frage hatte er nicht beantwortet, sondern sie mit einem Augenzwinkern, das ich noch nicht deuten konnte, im Raum stehen lassen. »Sonst reden wir nur und reiten nicht. Aber darüber kannst du ja mal zu Hause nachdenken.«

Meine inneren Landschaften, auf die sich seine Gedanken gelegt hatten, waren nun so wach und frisch wie nach einem Sommerregen. Solch eine sprachliche Genauigkeit hatte ich im Reitunterricht bisher noch nicht erlebt. Mit dem Schwamm in der Hand und dem Geruch des feuchten Trensenleders in der Nase begann ich, den Formulierungen Raum zu geben, wiederholte langsam den Satz Der Reiter gibt Hilfen, das Pferd nimmt die Hilfen an, vereinzelte die Worte und horchte ihnen nach wie einem Echo. Wie viel weicher als ›Kommando‹ oder ›Befehl‹ klang das Wort ›Hilfe‹, fast zärtlich. Anders als bei einem Kommando oder Befehl entscheidet mein Gegenüber, ob es die angebotene Hilfe annehmen möchte. Ich begann zu begreifen: Die reiterliche Formulierung der ›Hilfen‹ hebt das Pferd auf Augenhöhe mit seinem Reiter. Erst die Offenheit meines Pferdes, sein Annehmenwollen, sein Annehmenkönnen lässt die Hilfe durchkommen und damit auch zu einem Geschenk des Pferdes an seinen Reiter werden. Eine solche innere Haltung, die sich in der äußeren spiegelt, lässt Pferd und Reiter Hand in Hand gehen. War es das, worauf Hubertus hinausgewollt hatte?

Bewegt hängte ich die Trense an den Haken und ging zurück ins Haus. Ich schloss die Tür meines kleinen, lindgrün gestrichenen Arbeitszimmers in der Hoffnung, dass meine vier Kinder mich nicht stören würden. Während die beiden Großen mit ihren vierzehn und zwölf Jahren sich schon selbst beschäftigten, verstanden die zwei Jüngeren nicht immer, wann ich Ruhe brauchte. Ich war froh, sie im Garten und damit beschäftigt zu wissen, und setzte mich an meinen Schreibtisch, der Ort, an dem ich auch dann Ordnung finde, wenn ich die Dinge nicht nur gedanklich, sondern auch emotional sortieren muss.

Ich fragte mich: Wenn wir von Hilfen sprechen – wobei helfen wir unseren Pferden eigentlich? Und: Brauchen Pferde unsere Hilfe überhaupt? Ginge es ihnen nicht besser, wenn wir sie sich selbst überließen? Bis heute leben Wildpferde in den Amerikanischen Plains, in Australien, in Zentralasien – und auch in Deutschland gibt es die Dülmener Wildpferde. Auf der anderen Seite ist auch der vom Wolf abstammende Hund Lebensgefährte des Menschen geworden. Wir leben in einer Welt vieler Lebensgemeinschaften von Mensch und Tier. Und die Erfahrungen mit dem Wolf zeigen, wie komplex die Rückeinführung vermeintlich natürlicher Formen in unsere Kulturlandschaften ist.

Aus meinem Bücherregal zog ich einige Bücher, die ich von meinem ebenfalls reitenden, vor Jahren verstorbenen Großvater geerbt hatte. Unter anderem einen blauen, etwas verblassten und abgegriffenen Leinenband, der nun vor mir lag und auf dessen Einband noch immer die Prägung der mittlerweile ausgebrochenen Golddruckbuchstaben Das Gymnasium des Pferdes zu lesen war. Von Gustav Steinbrecht, einem der großen Meister der Reiterei im 19. Jahrhundert geschrieben, zählt es bis heute zu den hippologischen Standardwerken. Ich las: »Die richtige Dressur ist eine naturgemäße Gymnastik für das Pferd, durch die seine Kräfte gestählt werden. Durch sie werden die kräftigen Teile zugunsten der schwächeren zu größerer Tätigkeit angehalten, diese durch allmähliche Übung gestärkt, und verborgene Kräfte hervorgerufen.«

Zu demselben Thema stieß ich in einem anderen, erst vor wenigen Jahren von Anja Beran veröffentlichten Buch Aus Respekt! Reiten zum Wohle des Pferdes auf ein Zitat eines Oberst Hader: »Ein Pferd, das durch die Ausbildung nicht schöner in seiner Körperform, stolzer in seiner Haltung, aufmerksamer in seinem Gehabe wird, ein Pferd, dem man nicht die Freude über sein eigenes Können am Spiel der Ohren und im Ausdruck der Augen ansieht, wurde dressiert und nicht im klassischen Sinne ausgebildet.«

Ich dachte zurück an das Ohrenspiel von Grace während des Unterrichts am Morgen, sie hatte am Ende der Stunde fröhlich ausgesehen. Dann schaute ich zum Fenster. Davor ein Blumenstrauß mit Kornblumen und Schafgarbe, auf der Fensterbank einige Erinnerungsstücke von Reisen, ein indischer Elefantengott, ein ägyptischer Mistkäfer, die Abbildung einer frühchristlichen Ikone. Im Garten sah ich die Kinder im Sandkasten spielen. Dieser Satz, dieses »ein Pferd, dem man nicht die Freude über sein eigenes Können ansieht«, galt genauso gut für sie. Ich klappte das Buch zu, legte es zur Seite und ging zu ihnen hinaus.

3

Als ich Grace am nächsten Morgen von der Weide holte, bemerkte ich, dass ich ihr nach diesen Gedanken vom Vortag anders begegnete. In der Nacht hatte es geregnet, der Boden war feucht und die Luft schwer. Hellgraue Wolken hingen fast unbeweglich am Sommerhimmel.

»Grace! Wie geht es dir?«, rief ich ihr zu.

Sie war gerade damit beschäftigt, die kleinen Shettys vom Heuballen wegzuscheuchen, damit auch Ziezo, das Pony der Kinder, mit dem sie seit vielen Jahren gemeinsam auf der Weide steht, etwas vom trocknen Grün des letzten Jahres abbekam. Ich trat einen Schritt zurück, wandte mich etwas zur Seite und ließ sie ihre Aufgabe zu Ende führen. Sobald Ziezo in Ruhe fressen konnte, kam sie von sich aus auf mich zu. Dann erst legte ich ihr das Halfter an und hängte den Strick ein. Gemeinsam liefen wir hinüber zum Reitplatz, wo ich sie an den Holzbalken vor der Sattelkammer band.

Unsere Sattelkammer ist ein kleines Häuschen aus dicken, ineinandergesteckten Holzstämmen, die die Behaglichkeit von hundert Jahren verströmen. Sein Dach überspannt den kleinen Innenraum und einen ebenso kleinen, von einem Geländer umgebenen Freisitz, auf