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Merwürdige Dinge passieren in der Jugendherberge am Starnberger See. Sind das Feuer, die Überschwemmung und die Entführung eines Gastes nur Zufall oder steckt Sabotage dahinter? Antonias Familie droht der Verlust ihres Zuhauses - eine Gefahr, die sie und ihre Freunde Emma, Jaron und Franky alarmiert. Und welche Rolle spielt Franz Josef von Beilstein, der behauptet, die Seeburg gehöre ihm? Die vier vom See ermitteln und müssen herausfinden, welches Geheimnis sich in der Geschichte der Reihmanns verbirgt.
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Seitenzahl: 313
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SCM ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-417-27119-5 (E-Book)
ISBN 978-3-417-28103-3 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2024 SCM Verlag in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-verlag.de; E-Mail: [email protected]
Umschlaggestaltung: Patrick Horlacher, Stuttgart
Titelbild und Illustrationen: Clara Vath, vath-art.de
Satz: Burkhard Lieverkus, Wuppertal
Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de
Die 4 vom See – das sind …
Kapitel I: Die Begegnung
Kapitel 1: Im Büro des Direktors
Kapitel 2: Die neue Klassenlehrerin
Kapitel 3: Auf dem Schulhof
Kapitel 4: Der Zusammenstoß
Kapitel 5: Seltsame Ähnlichkeit
Kapitel 6: Begegnung am Löwensteg
Kapitel 7: Diebstahl
Kapitel II: Das neue Zuhause der Familie Reihmann
Kapitel III: Besuch aus der Vergangenheit
Kapitel 8: Der Elternabend
Kapitel 9: Feuer!
Kapitel 10: Die Entstehung der Seeburg
Kapitel 11: Franz Josef von Beilstein
Kapitel 12: Der Streit
Kapitel 13: Bloß weg!
Kapitel 14: BFFs
Kapitel IV: Erinnerungen
Kapitel V: Auf der Suche
Kapitel VI: Der alte Polizist
Kapitel VII: Ludwig von Beilstein
Kapitel VIII: Mitarbeiterinnen für die Seeburg
Kapitel IX: Eine gefährliche Fahrt
Kapitel 15: Polizei-Einsatz
Kapitel 16: In der Fischerhütte
Kapitel 17: Überschwemmung
Kapitel 18: Im Gefängnis
Kapitel 19: Der Verdacht
Kapitel 20: Die Seuche
Kapitel X: Seltsame Vorfälle
Kapitel XI: Der Fischer
Kapitel XII: Immer was zu tun
Kapitel XIII: Ein schwerer Tag für die Burgbewohner
Kapitel XIV: Die Beerdigung
Kapitel 21: Besuch im Internat
Kapitel 22: Noch ein Rätsel
Kapitel 23: Ein Bericht, der alles verändert
Kapitel 24: Noch eine Sorge
Kapitel 25: Rettung kann nicht warten
Kapitel 26: Waffeln und Kakao
Kapitel 27: Der Brief
Kapitel XV: Der Kasten
Antonia wohnt, seit sie denken kann, in der großen Burg direkt am Ufer des Starnberger Sees, mitten zwischen den Villen der Reichen und Schönen – ein Zuhause, um das sie viele beneiden. Ihre Eltern Andreas und Gitti Reihmann sind die Herbergseltern der Jugendherberge, die in dem Gebäude untergebracht ist, deshalb wohnt die Familie in dem historischen Gemäuer. Wenn Antonia morgens aufwacht, kann sie ans Fenster treten und auf den See hinausblicken – wenn sie dabei nicht über ihr Kletterzeug stolpert, das meistens irgendwo im Zimmer auf dem Boden liegt. Klettern ist Antonias größtes Hobby, sehr ordentlich ist sie aber nicht. Wenn sie nicht in einer Felswand hängt, liest sie gerne Informationen über Geschichte und Archäologie. Ihr Wissen hat den vier Freunden bei ihren Entdeckungen schon oft geholfen.
Antonia hat zwei jüngere Geschwister, die siebenjährigen Zwillinge Sina und Luca. Zu ihrer Familie gehört außerdem Opa Hans, ein alter Fischer, der nicht weit entfernt von der Seeburg in einer Fischerhütte direkt am See lebt und über die Jahre zu ihrem Ersatzopa geworden ist. Von seinen Ratschlägen und vor allem seinem festen Glauben hat Antonia schon viel gelernt.
Die Familie Reihmann besucht eine evangelische Freikirche in Starnberg. Für Antonia gehört der Glaube ganz selbstverständlich zum Alltag dazu, und dass sie sich auf Jesus verlassen kann, hat sie schon oft erfahren. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch einige Dinge in ihrem Leben gibt, die sie richtig ärgern oder nerven. Beispielsweise leidet Antonia seit dem Kindergartenalter an Diabetes. Sie muss ständig eine Insulinpumpe tragen, die das lebensnotwendige Insulin in ihren Körper abgibt. Meistens hat Antonia ihre Krankheit gut im Griff, doch manchmal sackt ihr Blutzucker plötzlich ab, und dann wird es gefährlich für sie, wenn sie nicht sofort etwas Zuckerhaltiges isst oder trinkt. Zum Glück wissen ihre Freunde Bescheid, besonders ihre beste Freundin Emma, und können ihr im Notfall helfen.
Antonia hasst es, schwach zu sein. Sie regt sich schnell auf, wenn ihr jemand unterstellt, dass sie etwas nicht kann, und wird richtig wütend. Ihre Kraft und Entschlossenheit machen sie zu derjenigen, die bei den vier vom See oft die Initiative ergreift.
Emma ist da etwas zurückhaltender. Sie denkt eher zweimal nach, bevor sie etwas unternimmt, ist dafür aber gründlich und plant voraus. Ihre Stärke liegt vor allem in der Planung – und in der Recherche. Emma ist eine talentierte Forscherin, Naturwissenschaften sind ihre Leidenschaft. Außerdem reitet sie, ihr Pferd Firestorm ist ihr Ein und Alles.
Emmas Eltern sind geschieden. Ihre Mutter Karin und ihr Stiefvater Peter sind nach Berlin gezogen, und so wohnt Emma bei ihrem Vater Jörg und seiner Frau Manuela. Jörg ist Chemiker und betreibt ein Analyse- und Forschungslabor in der Villa am See. Manuela ist Innenarchitektin und engagiert sich stark in sozialen Projekten. Zusammen haben sie noch eine Tochter, Emmas jüngere Halbschwester Mia.
Emma leidet unter der Zerrissenheit, darunter, sich immer zwischen ihren Eltern entscheiden zu müssen. Meistens versucht sie, nicht weiter darüber nachzudenken, aber manchmal gelingt ihr das nicht.
Emma hat sich im Versteck der vier vom See, einem alten Zirkuswagen auf dem Gelände der Seeburg, ein kleines Labor eingerichtet. Hier verbringt sie viele Stunden mit Experimenten. Außerdem ist sie häufig auf der Seeburg bei ihrer besten Freundin Antonia. So häufig, dass sie dort eine Zahnbürste im Bad stehen hat und einen festen Sitzplatz in der Küche. Sie fühlt sich bei Antonias Familie sehr wohl und genießt die gemeinsamen Abendessen am großen Familientisch.
Während der Trennungsphase ihrer Eltern musste Emma lernen, die Stimmungen anderer Menschen schnell zu erfassen. Sie ist deshalb sehr sensibel und hoch empathisch, außerdem scheut sie Konflikte. Bei den teilweise abenteuerlichen Unternehmungen der vier Freunde ist sie oft diejenige, die die anderen bremsen möchte.
Frankys Zuhause liegt direkt am Sportplatz von Allmannshausen – nicht das Reihenhaus seiner Familie, das befindet sich ein paar Straßenzüge weiter, sondern das Restaurant seiner Eltern, in dem die Familie die meiste Zeit verbringt. Frankys Vater Germano und seine Mutter Elvira sind aus Italien nach Deutschland gezogen und betreiben die Pizzeria schon seit vielen Jahren. Sie backen die beste Pizza in der gesamten Umgebung und so treffen sich bei »La Ruota« Nachbarn, Freunde und Sportvereine. Franky liebt auf der einen Seite Pizza über alles (wie fast jedes italienische Gericht), auf der anderen Seite hasst er es, im Restaurant mit anpacken zu müssen.
Neben der Zubereitung italienischer Gerichte kennt sich Frankys Vater vor allem mit einem aus: Fußball. Er trainiert die Jugendmannschaft des TV Berg und war selbst in seiner Jugend ein richtig guter Spieler. Sehr zum Leidwesen von Franky hat er seinen Ehrgeiz nie ganz abgelegt und ihn auf seinen Sohn übertragen, bei dem er sofort ein großes Talent für Fußball erkannt hat. Franky spielt gerne und gut Fußball, doch es ist nicht seine erste Leidenschaft und die Pläne, die sein Vater für ihn hat, sind ihm zu viel. Deshalb hat er vor einiger Zeit mit dem Training aufgehört und widmet sich nun dem Hobby, das ihn wirklich begeistert: Programmieren.
Franky ist der Computerexperte der vier Freunde. Er ist in der Lage, sich schnell mit jedem fremden System vertraut zu machen, und hat seine Hackerkünste schon manchmal eingesetzt, um Dinge herauszufinden, die sonst nicht zugänglich gewesen wären. Aber er achtet streng darauf, keinen Schaden anzurichten.
Emma, Antonia und Franky kennen sich schon seit der Grundschule. Gemeinsam haben sie vor ein paar Jahren einen alten Zirkuswagen auf dem Gelände der Seeburg zu einem gemütlichen Versteck gemacht, in dem sie sich treffen, reden und Pläne schmieden. Franky ist gerne dort. Mit dem Glauben hat er nicht so viel am Hut. Seine Familie ist zwar in einer katholischen Kirchengemeinde und Franky hat an der Kommunion teilgenommen, aber sie gehen eigentlich nur an den hohen Feiertagen in den Gottesdienst und der Glaube spielt in ihrem Alltag kaum eine Rolle.
Jaron ist erst vor Kurzem zu den anderen drei gestoßen. Er ist zusammen mit seiner Mutter von Köln an den Starnberger See gezogen, als diese eine Arbeit als Sekretärin auf der Seeburg angenommen hat. Angelika Rahn und Gitti Reihmann sind alte Schulfreundinnen und haben immer Kontakt gehalten. Jarons Vater lebt nicht mehr, er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Jaron vier Jahre alt war. Der Unfall hat Jarons Leben überschattet, lange hat er geglaubt, er wäre schuld am Tod seines Vaters. Erst vor wenigen Monaten hat er erkannt, dass das falsch war und er sich lange grundlos gequält hat. Seitdem weiß er, wie viel Kraft man aus Vergebung ziehen kann.
Jaron interessiert sich für Flugzeuge, trainiert leidenschaftlich Kung-Fu und liebt Sport aller Art – am Starnberger See hat er zum Beispiel das Surfen für sich entdeckt. Jaron liebt den See. Wann immer er Zeit hat, geht er schwimmen oder sitzt am Seeufer und flitscht Steine über die Oberfläche. Der historische Löwensteg der Seeburg ist dafür der perfekte Ort. Die wechselnden Wetterlagen über dem See faszinieren ihn und er bekommt nicht genug davon.
Jaron und seine Mutter Angelika gehen in die gleiche Gemeinde wie Antonia und ihre Eltern. Sie waren in Köln schon in einer freien Gemeinde und haben sich in Starnberg gleich zu Hause gefühlt. Dazu trägt auch bei, dass Jaron nach dem Umzug endlich einen besten Freund gefunden hat – Franky. Nicht nur sind die beiden unzertrennlich, Jaron liebt außerdem die Pizza, die Frankys Vater backt.
Als die Steine auf den Boden prasselten, zuckte die alte Dame zusammen. Irritiert beobachtete sie den großen Lastwagen, der nun ein Stück vorwärts rückte, um auch die restlichen Brocken von der schräg gestellten Ladefläche gleiten zu lassen. Der Berg aus grauen Mauersteinen versperrte den Eingang zur Seeburg fast vollständig.
»Was für ein Aufwand!«, murmelte sie bei sich. Ihre Tochter, die neben ihr hinter dem Busch kauerte, nickte. Stumm blickten die beiden den Hang hinunter auf das graue Gebäude mit den vielen Türmen, das über dem Starnberger See thronte. Wieder rumpelte es. Die Ladefläche war nun leer. Bauarbeiter mit Schubkarren kamen aus dem Burgtor. Die beiden Frauen konnten sie lachen und reden hören.
»Weißt du, was die vorhaben?«, fragte die jüngere.
»Die Seeburg ist wohl endlich verpachtet worden«, erwiderte ihre Mutter. »In der Zeitung stand, dass dort eine Jugendherberge einziehen wird. Dafür scheinen sie einiges verändern zu wollen.«
»Eine Jugendherberge?«, fragte die Tochter. »Wie schön, wenn hier bald junge Leute den See genießen können. Das alte Gemäuer hat genug Leid gesehen, da kann es ein wenig Trubel und Fröhlichkeit gut vertragen.«
»Schon. Der Gedanke ist nur etwas ungewohnt.« Die alte Dame seufzte. »Aber wahrscheinlich hast du recht. Und wenn es eine Jugendherberge ist, können wir der Burg auch einfach einen Besuch abstatten, ohne dass sich jemand etwas dabei denkt.«
In diesem Moment fuhr ein hellblauer Opel Rekord auf den Parkplatz. Der Fahrer stieg aus und winkte lächelnd dem Lastwagenfahrer, der gerade losfuhr und zurückwinkte. Der Mann ging um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür. Eine Frau stieg mühsam aus und hielt sich ihren schwangeren Bauch.
Neugierig sah sie die hohen Mauern der Burg hinauf, als sähe sie die Seeburg zum ersten Mal. Der Mann sagte etwas zu ihr. Lächelnd nickte sie. Er zeigte mit dem Arm auf die Fenster über dem Burgtor und schien etwas zu erklären, was die beiden Frauen in ihrem Versteck nicht verstehen konnten. Dann legte er den Arm um die Schultern der Frau. Für einen Moment standen die beiden da und sahen sich um.
»Das sind vielleicht die neuen Burgherren«, meinte die Tochter schließlich, »die Herbergseltern. Sehen nett aus.«
Die Mutter nickte. »Ja das tun sie. Ein schönes Paar. Und sie bekommen ein Kind. Da wird die alte Burg wieder Kinderlachen hören, so wie damals.« Sie verstummte für einen Augenblick und atmete tief ein. Dann fuhr sie fort: »Nun gut, ich wünsche ihnen, dass sie …«
Sie stockte. Die beiden hinteren Türen des Opels hatten sich geöffnet und zwei weitere Personen waren ausgestiegen: ein etwa zwölfjähriger Junge und ein älterer Mann. Der Mann hatte weißes volles Haar, ein rundes Gesicht, freundliche Augen und hielt sich sehr gerade. Er nahm den Jungen an die Hand und gemeinsam gesellten sie sich zu dem Paar. Die alte Frau sog scharf die Luft ein.
Ihre Tochter sah sie an. »Ist etwas?«, fragte sie. Doch ihre Mutter antwortete nicht. Die Tochter blickte wieder den alten Mann an. Dann dämmerte es ihr und sie öffnete überrascht ihren Mund. »Aber … was …«, stammelte sie, »Ist das nicht …«
Die alte Frau nickte langsam und flüsterte: »Ja. Das ist er. Was um alles in der Welt tut er hier?«
Für einen Moment war es still. Dann fügte die alte Dame mit brechender Stimme hinzu: »Warum musste er an diesen Ort zurückkommen? Er wird hier sterben.«
Das Herz des Mädchens schlug ihr bis zum Hals. Sie wischte sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht und sah sich um: Vor ihr stand ein großer Schreibtisch, dahinter ein schwerer Lederstuhl. Am anderen Ende des holzgetäfelten Raums konnte sie ein antikes Sofa mit geschwungenen Lehnen sehen und darüber das große Porträt des Direktors.
Für einen Moment starrte das Mädchen das Bild an. Der Mann auf dem Ölgemälde starrte zurück. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie wusste, dass sie nur wenig Zeit hatte. Sie schlich zum Schreibtisch und durchsuchte die Schubladen, aber außer ein paar Stiften und einer Kiste Zigarren fand sie nichts.
»Mist«, murmelte sie, »wo kann es nur sein?« In dem Raum befanden sich neben dem Schreibtisch und dem Sofa keine anderen Möbel, also auch keine weiteren Möglichkeiten, etwas zu verstecken.
Das Porträt schien sie mit Blicken zu durchbohren. Sie kniff die Augen zusammen und flüsterte: »Versteckst du es etwa?« Sie kniete sich auf das Sofa, hob das Bild leicht von der Wand und lugte dahinter. Tatsächlich! In der Holzvertäfelung saß ein Tresor.
Sie hob das Gemälde von der Wand und stellte es vorsichtig am Boden ab. Dann zog sie am Griff des Tresors, doch der rührte sich nicht. Sie drehte am Rädchen des Zahlenschlosses, doch ohne die Kombination hatte sie keine Chance. Und was jetzt?, dachte sie enttäuscht. Sie setzte sich auf das Sofa und stützte das Kinn in eine Hand.
Plötzlich hallten Schritte im Gang vor dem Zimmer. Sie sprang auf und lauschte. Als die Schritte immer näher kamen, packte sie hektisch das Gemälde und hängte es an den Haken. Panisch blickte sie sich um. Keine Zeit mehr, sich aus dem Zimmer zu schleichen. Ihr Blick fiel auf die schweren Samtvorhänge am Fenster. Sie hatte sich gerade hinter einem von ihnen versteckt, als die Tür mit Schwung geöffnet wurde. Vorsichtig lugte sie hinter dem Stoff hervor.
Der große, stämmige Mann schlug die Tür hinter sich zu und setzte sich mit dem Rücken zu ihr an den Schreibtisch. Sie schluckte trocken. Der Mann fluchte leise vor sich hin. Er legte sein Handy auf die Tischplatte, öffnete eine Schreibtischschublade, nahm eine Zigarre heraus, schnitt die Spitze ab und zündete sie an. Er zog an der Zigarre und stieß eine große Wolke Qualm in die Luft.
Der Lederstuhl knarrte, als er aufstand. Schnell zog sie ihren Kopf hinter den Vorhang zurück. Sie konnte spüren, wie er ans Fenster trat. Er stand jetzt nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. Der Qualm seiner Zigarre waberte in Schwaden in ihr Versteck und kitzelte sie in der Nase. Sie hielt den Atem an.
Plötzlich hörte sie seine rauchige Stimme: »Na, wen haben wir denn da?«
Sie schloss die Augen. Er hatte sie entdeckt.
Doch statt den Vorhang zurückzuziehen, öffnete er das Fenster und schrie: »Hey, ihr da unten! Was macht ihr da draußen? Geht sofort in euer Klassenzimmer!«
Das Fenster schlug wieder zu. Er murmelte vor sich hin: »Diese Dreckskinder! Na ja, wenigstens habe ich diese Bande nicht mehr lange am Hals!«
Sie hörte, wie er sich vom Fenster entfernte. Erleichtert atmete sie aus. Vorsichtig lugte sie wieder hinter dem Vorhang hervor und beobachtete, wie er zu dem Gemälde ging und es von der Wand nahm. Er drehte am Rädchen und das Mädchen beobachtete, welche Zahl er einstellte. Es klickte. Sie merkte sich die Zahl und die drei weiteren, die er eingab. Dann zog sie den Kopf zurück und wiederholte in Gedanken die vierstellige Zahlenkombination. Sie hörte, wie er den Hebel drehte und den Tresor öffnete. Er nahm etwas aus seiner Tasche und legte es hinein.
Das Handy auf dem Schreibtisch schrillte und sie zuckte zusammen. Der Mann wandte sich von dem offenen Tresor ab, ging zum Schreibtisch und nahm ab. »Wolfsell … Was wollen Sie? … Ja, das hab ich Ihnen doch schon tausendmal gesagt! … Wie, jetzt? … Nein, ich habe keine Zeit! … Das gibt es doch nicht! Jaja, ich komme!«
»Verdammt«, fluchte er und legte auf. Rasch schlug er die Tresortür zu, drehte das Rad zurück und hängte wieder das Bild davor. Das Mädchen hörte, wie er aus dem Zimmer stapfte und die Tür hinter sich abschloss. Schritte entfernten sich.
»Puh!«, seufzte sie. »Das war knapp.«
Schnell ging sie zu dem Tresor. Sie nahm das Bild ab, drehte an dem Rad und murmelte dabei: »3 – 6 – 4 – 7.« Erleichtert hörte sie, wie es klickte. Sie öffnete die Tür. Im Tresor lagen zwei große Briefumschläge und darunter eine Luftpolstertasche. Sie nahm die Umschläge und öffnete den ersten. Darin waren ein paar Geldscheine. Sie nahm das Geld mit einem zufriedenen Grinsen und öffnete den nächsten.
»Ja!« Triumphierend sah sie das große Bündel 100-Euro-Scheine an. Sie stopfte das Kuvert zusammen mit den anderen Scheinen in ihre Tasche. Kurz überlegte sie und nahm dann auch noch die Luftpolstertasche, die dick mit Klebeband zugeklebt war.
Und was jetzt?, überlegte sie. Sie ging zum Fenster und öffnete es. Das Büro lag im zweiten Stock, doch neben dem Fenster rankte wilder Wein an einem Gitter empor, das ziemlich stabil aussah. Im Hof war niemand mehr zu sehen.
Sie steckte die Luftpolstertasche in ihren Hosenbund und kletterte auf den Sims vor dem Fenster. Vorsichtig zog sie den Fensterflügel zu und begann, das Gitter hinunterzuklettern.
In der Eile bemerkte sie nicht, dass einer ihrer Ohrringe fehlte.
»Na, und wo wart ihr in den Sommerferien?«, säuselte Isabelle und blitzte Antonia an. »Ach ja, ich hatte vergessen, dass ihr immer nur in der Jugendherberge seid.« Sie lachte, als hätte sie den größten Witz gerissen. Neben ihr stand Xenia, ihre Cousine. Auch sie grinste Antonia an.
»Was dagegen?«, schnaubte Antonia und schüttelte den Kopf.
Isabelle wandte sich zu einer Gruppe Mädchen hinter ihr und verkündete: »Also, ich war vier Wochen in den USA. Papa hat ein Wohnmobil gemietet und wir sind durchs ganze Land gefahren. Wir waren am Grand Canyon, in Las Vegas und in Hollywood.«
Die anderen machten große Augen. Isabelle zog ihr Handy heraus. Sie genoss es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Hier, seht mal«, sagte sie, »das bin ich auf dem Walk of Fame, und hier sind wir in den Universal Studios, und dann habe ich sogar Zendaya auf der Straße getroffen. Die ist voll nett!« Die Hälfte der Klasse drängelte sich um sie und bewunderte Isabelles Selfie mit der berühmten Schauspielerin.
»Sie hat gesagt, dass sie diesen Herbst nach München kommt. Papa hat sie eingeladen, bei uns im Hotel zu übernachten«, trumpfte Isabelle auf und sah einen nach dem anderen an. »Und sie hat gesagt, dass sie das sehr gern tun wird.«
Emma grinste, als Antonia die Augen verdrehte. Wie immer brachte Isabelle ihre beste Freundin mühelos zur Weißglut.
Doch Isabelle war noch nicht fertig. Sie drehte sich wieder zu Antonia. »Oder habt ihr Platz bei euch in der Seeburg? Vielleicht will Zendaya lieber in einem Stockbett im Sechserzimmer übernachten.«
Die anderen Mädchen lachten.
Antonia lächelte Isabelle süßlich an. »Das wäre kein Problem«, konterte sie, »sie ist immer willkommen.«
»Na ja, wenn ihr die Seeburg dann noch habt«, fuhr Isabelle beiläufig fort.
»Was meinst du damit?«
»Tja, wer weiß, was noch so alles kommt«, antwortete Isabelle, drehte sich wieder ihrem Fanclub zu und würdigte Antonia keines Blickes mehr.
»Jetzt hab ich die sechs Wochen nicht gesehen und schon am ersten Tag geht sie mir so was auf die Nerven!« Bockig setzte sich Antonia neben Emma auf eine Bank im Schulhof.
»Ach Antonia, du kennst sie doch.« Emma rückte ihre Brille zurecht. »Sie ist halt, wie sie ist.«
»Ja genau. Eine dumme, eingebildete Tusse!«, maulte Antonia. Sie nahm ihr Handy, tat so, als wische sie über ein paar Fotos und äffte Isabelle nach: »Oh, sieh mal, hier bin ich an der Strandpromenade in Starnberg und hier habe ich ein Selfie mit Erna, der Kuh von Bauer Sepp, gemacht, wow, ich bin soooo toll!«
Emma musste lachen.
»Echt? Du bist toll? Zeig mal«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Emma drehte sich um. Hinter ihnen war Franky aufgetaucht. Sie erklärte ihm: »Antonia äfft Isabelle nach, die allen ihre Urlaubsfotos zeigt, ob sie sie sehen wollen oder nicht.«
Franky grinste. »Also alles beim Alten«, witzelte er.
In dem Moment läutete die Schulglocke. Gemeinsam schlenderten die drei Freunde ins Klassenzimmer. Dort standen ihre Klassenkameraden noch herum, keiner machte Anstalten, sich hinzusetzen. Alle waren im Sommerferienmodus.
Emma schaute sich um. »Wo ist Jaron?«, fragte sie.
»Keine Ahnung«, antwortete Antonia, »Angelika und er sind gestern Abend ziemlich spät aus dem Urlaub zurückgekommen. Heute Morgen habe ich auf ihn gewartet, doch er ist nicht aufgetaucht, und so bin ich alleine gefahren.«
»Komisch. Vielleicht ist er krank?«, fragte Emma.
Franky zuckte mit den Schultern.
Sie wurden unterbrochen, als die Tür zum Klassenzimmer aufging und die Schulleiterin hereinkam. Schnell setzten sich alle auf ihre Plätze, denn jeder wusste, dass Frau Nitsche-Dieterle fair war, aber auch sehr streng sein konnte.
Hinter ihr betrat eine etwa 25-jährige Frau mit langen blonden Haaren den Raum. Sie trug Jeans und eine weiße Bluse und lächelte freundlich. Über ihrer rechten Schulter hing lässig ein Rucksack, und in der Hand hielt sie eine Kaffeetasse.
»Wer ist das denn?«, flüsterte Emma Antonia zu.
»Keine Ahnung, bestimmt eine neue Referendarin«, flüsterte Antonia zurück.
Gerade als die Schulleiterin etwas sagen wollte, flog die Tür auf. Jaron stürmte ins Klassenzimmer und rannte in die junge Frau. Ihr Arm mit der Kaffeetasse in der Hand flog nach oben und der Kaffee floss über ihre Bluse. Die ganze Klasse kicherte. Emma hielt sich die Hand vor den Mund.
Jaron wurde knallrot. »Oh, das wollte ich nicht!«, stotterte er.
»Junger Mann, das gibt es doch nicht!«, blaffte Frau Nitsche-Dieterle.
»Sorry, echt, tut mir voll leid. Ich werde Ihnen die Reinigung bezahlen«, sagte Jaron im Versuch, die für ihn äußerst peinliche Situation zu retten.
»Hey, schon gut«, meinte die junge Frau, »das kann doch mal passieren.« Sie lächelte ihn freundlich an, während sie versuchte, den Kaffee mit einem Taschentuch abzutupfen.
»Warum kommst du erst jetzt?«, fragte die Schulleiterin.
»Ich, äh, ich habe verschlafen«, stotterte Jaron wieder und sah auf den Boden.
Er tat Emma leid. Normalerweise war Jaron zuverlässig und pünktlich.
»Wir sind gestern ziemlich spät aus dem Urlaub zurückgekommen«, fuhr er fort.
»Soso. Na gut.« Frau Nitsche-Dieterle schüttelte den Kopf. »Aber das passiert nicht noch einmal, haben wir uns verstanden?«
Jaron nickte stumm.
Der strenge Blick der Schulleiterin wurde freundlicher. »Dann setz dich. Und mit Frau Rahn regelst du die Reinigung.« Jaron warf der jungen Frau einen verwunderten Blick zu, nickte dann und setzte sich.
»Rahn?«, wiederholte Emma flüsternd und sah Antonia an. »Die hat den gleichen Nachnamen wie Jaron.«
»Ja, anscheinend. Aber das ist doch nicht so ungewöhnlich, oder?«, antwortete Antonia leise.
Emma musterte die junge Frau. »Die sieht auch irgendwie aus wie Jaron.«
»Hä?« Antonia blickte Frau Rahn verwundert an.
»Ja, guck doch mal, die Gesichtszüge. Das könnte voll die Schwester von Jaron sein«, beharrte Emma.
Antonia überlegte und meinte dann: »Ja, stimmt irgendwie.«
»Bitte hört auf zu flüstern.« Das war wieder die Schulleiterin. »Ich möchte euch Frau Rahn vorstellen. Sie wird ab diesem Jahr eure Klasse übernehmen.«
»Wo ist denn Frau Richter?«, fragte Isabelle, die nicht sehr begeistert schien, dass sie eine neue Lehrerin bekamen.
»Oh, die Lieblingsschülerin der Richter sieht ihre Felle davonschwimmen«, zischte Antonia.
»Frau Richter hat aus privaten Gründen die Schule gewechselt«, erklärte Frau Nitsche-Dieterle.
»Und warum erfahren wir das erst am ersten Schultag?«, fragte Isabelle schnippisch.
Emma lächelte, als sich der Gesichtsausdruck der Schulleiterin verfinsterte.
»Soweit ich weiß, leite ich die Schule und ich muss mich nicht rechtfertigen«, erwiderte sie.
Jetzt grinste auch Antonia. Isabelle sagte kleinlaut: »Klar. Tschuldigung.«
»Gut, dann sehen wir uns in der nächsten Stunde im Schulgottesdienst.« Frau Nitsche-Dieterle verließ das Klassenzimmer.
Frau Rahn trat an den Lehrertisch und stellte ihre nun leere Tasse und den Rucksack ab. Der Kaffeefleck auf ihrer Bluse hatte sich noch mehr ausgebreitet, doch das schien sie nicht zu bemerken. Sie lächelte die Klasse an und sagte: »Ich freue mich, eure Klassenlehrerin zu sein. Ich denke, wir werden uns gut verstehen.«
Nachdem alle ihre Vornamen genannt hatten, erzählte Frau Rahn, dass sie die Klasse in Deutsch und Geschichte unterrichten würde. Sie hatte letztes Jahr das Referendariat an einer Schule in Würzburg abgeschlossen und die 7c war ihre erste Klasse als »echte« Lehrerin.
Nach dem Schulgottesdienst trafen sich die vier vom See auf dem Pausenhof.
»Die neue Lehrerin ist voll nett«, sagte Franky, während er ein großes Stück Pizza Regina aus einer Tüte zog. Frankys Eltern gehörte die beste Pizzeria in Allmannshausen und Franky liebte Pizza Regina. »Und«, fügte er hinzu, »sie könnte echt mit dir verwandt sein, Jaron.« Er sah seinen besten Freund an.
»Findest du?«, fragte Jaron ungläubig. »Warum das denn?«
»Na, die sieht dir voll ähnlich«, stimmte Emma ein und Antonia nickte kräftig.
»Vielleicht seid ihr wirklich verwandt«, überlegte sie, »ich meine, ihr habt immerhin den gleichen Nachnamen.«
»Pfff, keine Ahnung.« Jaron zuckte mit den Schultern. »Ich kenne sie jedenfalls nicht.«
»Aber du wirst sie kennenlernen«, prustete Franky, »beim Waschen der Bluse!«
Die Mädchen lachten.
»Oh Mann, das war so megapeinlich!«, stöhnte Jaron und grinste gequält.
»Hallo ihr vier«, hörten sie eine Stimme. Ihre neue Klassenlehrerin Frau Rahn stand hinter ihnen. »Ich habe gehört, dass ihr in der Seeburg wohnt.«
»Ja, äh, also nein«, antwortete Emma. Die Frage verwirrte sie.
»Jaron und ich wohnen in der Seeburg«, ergriff Antonia das Wort.
»Ah, seid ihr Geschwister?«, fragte Frau Rahn.
»Nein. Meine Eltern sind die Herbergseltern der Jugendherberge, und Jarons Mutter arbeitet dort. Deshalb wohnt er auch da.«
»Ah, verstehe.«
»Woher wissen Sie das?«
»Was?«
»Dass wir in der Seeburg wohnen.«
»Ach, Frau Nitsche-Dieterle hat mir davon erzählt. Ich kenne die Seeburg nämlich aus meinen Recherchen.«
»Was für Recherchen?«, wollte Franky wissen.
»Ich habe meine Masterarbeit über die Burgen und Schlösser rund um den Starnberger See geschrieben. Da ist mir auch die Seeburg begegnet.«
»Cool! Haben Sie etwas Besonderes rausgefunden?«, fragte Antonia neugierig.
»Na ja, nicht wirklich. Die Seeburg ist ja keine richtige Burg. Sie ist eine Villa, die wie eine Burg aussieht. Ein reicher Kaufmann aus München hat sie vor 120 Jahren gebaut.«
»Ja, das weiß ich«, stimmte Antonia zu, »und irgendwann hat sie mein Großvater übernommen.«
»Christoph Reihmann?«, fragte die Lehrerin.
Antonia sagte verblüfft: »Äh, ja. Mein Opa hieß Christoph.«
Sie runzelte die Stirn. Es kam ihr komisch vor, dass die junge Lehrerin so viel über sie wusste.
Die bemerkte das und sagte: »Tut mir leid, dass ich dich so überrumpelt habe. Ich musste damals alle Besitzer oder Hausherren jeder Burg und jedes Schlosses am Starnberger See auflisten. Und als ich hergezogen bin, hab ich mir noch mal durchgelesen, was ich über die Seeburg geschrieben habe. Aber viel mehr weiß ich auch nicht.«
»Dann haben Sie aber ein gutes Gedächtnis«, meinte Emma beeindruckt.
»Namen kann ich mir gut merken«, stimmte Frau Rahn zu. Sie sah auf ihre Uhr. »Na dann, bis gleich. In zehn Minuten geht der Unterricht weiter. Ich muss bis dahin noch was kopieren.«
Als sie weg war, drehte sich Antonia zu ihren Freunden um. »Was geht denn hier ab?«, fragte sie. »Woher weiß sie das alles?«
»Schon komisch«, bestätigte Jaron.
»Das ist bestimmt nur Zufall. Sie hat doch gesagt, dass sie das alles für ihre Masterarbeit rausfinden musste«, sagte Emma.
»Ich weiß nicht.« Antonia gab sich nicht zufrieden. »Und dann hat sie auch noch den gleichen Nachnamen wie Jaron. Das ist doch kein Zufall!«
»Stimmt«, antwortete Franky und nickte ernst. »Sie ist wahrscheinlich eine Agentin, die der Familie Reihmann und ihrem Jugendherbergssyndikat das Handwerk legen will. Agentin 007c – unterwegs im Dienst der Krone.«
»Du bist so ein Spinner!« Antonia lachte und knuffte Franky in die Seite.
»Sollen wir uns heute Nachmittag im alten Heinrich treffen und ein wenig chillen?«, fragte Antonia nach Schulschluss, als die vier Freunde Richtung Allmannshausen radelten. Rechts von ihnen schimmerte der See und Segelschiffe zogen darauf ihre Runde.
Der alte Heinrich war ein ehemaliger Zirkuswagen direkt vor der Seeburg. Die vier Freunde hatten sich dort ein gemütliches Bandenquartier eingerichtet mit einem Sofa und einem kleinen Labortisch für Emma.
»Würde ich ja gerne, aber ich kann nicht«, antwortete Emma traurig, »ich muss heute Nachmittag auf Mia aufpassen. Manuela hat irgendeinen komischen Termin und Papa ist im Labor.« Emmas Eltern waren geschieden, und seitdem ihre Mutter mit ihrem neuen Mann nach Berlin gezogen war, wohnte sie bei ihrem Vater, seiner Frau Manuela und ihrer Halbschwester Mia. Emmas Vater war Chemiker und in der Villa der Familie lag auch sein Labor.
»Ich kann auch nicht, bevor ich zum Kung-Fu gehe, mähe ich noch den Rasen bei Frau von Beilstein«, sagte Jaron.
»Du mähst Rasen bei wem?« Antonia sah ihn erstaunt an.
»Bei der alten Frau von Beilstein aus dem Jägerhaus«, antwortete Jaron.
Frau von Beilstein war eine entfernte Verwandte von Isabelle, aber sehr nett und nicht so eingebildet wie ihre Verwandten im Schlosshotel Unterallmannshausen.
»Echt? Seit wann das denn?«, wollte Antonia wissen.
»Hab es vor unserem Urlaub zum ersten Mal gemacht.«
»Cool, wie bist du denn an den Job gekommen?«, wollte Emma wissen.
»Ach, Mama ist irgendwie mit der Dame ins Gespräch gekommen und da erwähnte sie, dass sie jemanden braucht, der Rasen mäht und so …«
»Kann das nicht der Hausmeister vom Schlosshotel machen? Der muss doch sowieso für Zendaya aufräumen!«, spottete Antonia.
Alle lachten.
»Ich bin ganz froh, dass ich das machen kann. Ich kriege 50 Euro im Monat dafür«, erwiderte Jaron, »und außerdem darf ich auf das Boot.«
»Welches Boot?«, fragte Emma interessiert.
»Das Segelboot an der Boje vor dem Löwensteg. Das gehört ihrer Tochter.«
»Ich wusste gar nicht, dass Frau von Beilstein eine Tochter hat«, meinte Antonia verwundert.
»Hat sie. Die wohnt in Hamburg und ist nur manchmal da«, erklärte Jaron.
»Und du darfst mit dem Boot auf dem See rumfahren?«, wollte Franky wissen. Seine Augen blitzten abenteuerlustig.
»Nein, alleine nicht. Ich darf hinrudern und dort abhängen. Dabei soll ich ab und zu mal nachsehen, ob alles in Ordnung ist«, antwortete Jaron, »aber mit einem Erwachsenen zusammen dürften wir auch segeln gehen, meinte sie. Einer, der einen Segelschein hat.«
»Cool, das sollten wir mal machen«, rief Emma. »Papa hat einen.«
»Echt?«, fragte Jaron erfreut. »Das wusste ich gar nicht. Dann können wir das ja wirklich mal machen.«
An der Seeburg trennten sich ihre Wege. Franky radelte weiter nach Allmannshausen zur Pizzeria und Emma fuhr an der Seestraße entlang nach Ammerland zur Villa, in der ihre Familie wohnte.
Ein paar Tage später saß Antonia in ihrem Zimmer über den Hausaufgaben, als es klopfte und die Tür aufging. Ihre Mutter Gitti steckte den Kopf ins Zimmer. »Antonia, bringst du bitte den Müll nach draußen?«, forderte sie ihre Tochter auf.
»Ach Mama, die Zwillinge sind dran«, maulte Antonia.
»Ich weiß, aber die sind nicht da. Also bist du dran.«
»Aber Emma kommt gleich!«, protestierte Antonia.
»Meine Güte, das dauert fünf Minuten!«, rügte Gitti. »Die Zeit wirst du ja wohl noch haben.«
Antonia schnaubte genervt, stand aber auf und folgte ihrer Mutter in die Küche. »Vergiss den Biomüll nicht«, ermahnte sie diese.
»Jaja«, murmelte Antonia. Sie riss Bio- und Restmüllbeutel aus ihren Eimern und stapfte aus der Wohnung.
Als sie im Erdgeschoss um die Ecke bog, kam ihr ein Mädchen entgegengerannt. Keine der beiden konnte rechtzeitig bremsen und sie knallten zusammen. Durch den Aufprall riss der Biomüllbeutel und der Inhalt verteilte sich auf dem Fußboden.
»Mann, kannst du nicht aufpassen!«, schrie Antonia das Mädchen an. Es war etwa so alt wie sie, mit schwarzen Haaren, einer Jeans mit Löchern und einer schwarzen Lederjacke. Um den Hals trug sie einige Ketten und um das Handgelenk mehrere Nietenarmbänder.
»Hey, was willst du!?«, raunzte das Mädchen zurück. »Du bist ja wohl diejenige, die aufpassen sollte.«
»Wie bitte?«, antwortete Antonia empört. »Du rennst rum wie ’ne Irre und jetzt liegt hier der ganze Müll rum!«
Das Mädchen lachte nur und meinte: »Na, dann heb ihn mal schön auf.« Sie hob einen Fuß und rührte damit im Müll, sodass sich der Haufen noch mehr verteilte.
»Sag mal, spinnst du?!«, rief Antonia fassungslos.
»Was hast du gesagt?«, zischte das Mädchen.
»Du spinnst!«, wiederholte Antonia. Das Mädchen zog die Augenbrauen zusammen und kam drohend auf sie zu.
Die war überrumpelt von der aggressiven Reaktion der Unbekannten, aber fest entschlossen, nicht einzuknicken. Langsam stellte sie den Restmüll, den sie immer noch in der Hand hielt, auf den Boden.
Das Mädchen baute sich vor ihr auf. »Nimm das sofort zurück oder du bereust es!«
Antonia sah sie wütend an.
»Was ist hier los?«, rief eine Männerstimme aus Richtung Speisesaal. Antonia drehte sich um. Ein Mann um die vierzig kam auf sie zu.
»Naila, was hast du jetzt wieder angestellt?«, fragte er barsch. Er schien einer der Lehrer zu sein, die an diesem Nachmittag mit ihren Klassen angereist waren.
»Ich hab gar nichts gemacht!«, schrie Naila ihn an. »Diese dumme Kuh ist in mich reingerannt! Sie ist selbst schuld, dass der ganze Müll jetzt hier rumliegt.«
»Stimmt das?«, fragte der Lehrer Antonia.
»Nein! Die ist in mich reingerannt!« Antonia ließ nicht locker.
»Okay, wenn ihr euch nicht einigen könnt, räumt ihr das zusammen auf«, beschloss der Mann, drehte sich um und ging davon.
»Aber, das …«, rief ihm Naila hinterher, doch das hörte er schon nicht mehr.
Antonia sah sie an. »Ich hole einen neuen Beutel und dann machen wir da alles rein, okay?«, sagte sie.
»Vergiss es!«, fauchte Naila, drehte sich um und verschwand um die Ecke.
Völlig fassungslos blieb Antonia zurück. Noch nie hatte sich jemand in der Jugendherberge so aggressiv und rücksichtslos verhalten. Da sie aber keine Lust auf einen weiteren Konflikt hatte, schob sie den Müll provisorisch an die Seite und ging seufzend zurück in die Wohnung. Als sie mit einem neuen Müllbeutel, Besen und Schaufel zurückkam, öffnete gerade Emma die Haustür.
Verwundert blickte sie auf das Chaos im Flur. »Was ist denn hier los?«, fragte sie und bückte sich sofort, um zu helfen.
Während die Freundinnen den Müll zusammenklaubten und wegbrachten, erzählte Antonia ihr, was geschehen war. Emma war ebenso verblüfft wie sie über das Verhalten des fremden Mädchens.
Nachdem die Mädchen ein paar Runden Tischtennis gespielt hatten, nahm Emma gerne Gittis Einladung an, zum Abendessen zu bleiben. Sie liebte es, mit der ganzen Familie Reihmann am großen, runden Tisch in der Wohnküche zu sitzen. Das gab es bei ihr zu Hause selten.
»Und, wie ist eure neue Lehrerin?«, fragte Gitti Antonia und Emma.
»Die ist echt nett«, antwortete Emma.
»Ja, sie heißt Rahn mit Nachnamen, so wie Jaron«, erzählte Antonia.
»Und sie weiß voll viel über die Seeburg«, fuhr Emma fort, »sie hat über die Burgen und Schlösser am Starnberger See ihre Masterarbeit geschrieben.«
»Interessant«, meinte Andreas. Emma fiel auf, dass er sich bis zu diesem Punkt nicht an der Unterhaltung beteiligt hatte. Es war ungewöhnlich, dass er so still war.
»Sie wusste sogar den Namen von Opa Christoph«, fuhr Antonia fort und biss von ihrem Wurstbrot ab.
»So?«, fragte Andreas und runzelte die Stirn. »Das ist ja außergewöhnlich.«
»Na ja, schon, aber das findet man schnell raus, wenn man will«, meinte Gitti. Sie hob eine große Portion Salat in Antonias Salatschüssel, die sie entsetzt ansah.
»Mann, Mama!«, maulte sie.
»Vitamine sind gesund«, antwortete Gitti.
»Ja, und schmecken eklig«, knurrte Antonia. Sie legte ihr Brot beiseite und pikste mit der Gabel lustlos ein Salatblatt auf.
»Mama, dürfen wir heute Nacht in der Hütte schlafen, die wir uns im Wald gebaut haben?«, fragte Luca mit vollem Mund. »Das wär so cool!«
»Au ja, Mama!«, stimmte Sina begeistert zu.
Emma musste lächeln. Die jüngeren Geschwister von Antonia waren zwar oft nervig, aber manchmal eben auch süß.
»Äh … nein«, antwortete Gitti.
»Ach Mann, nie dürfen wir in Hütten schlafen«, maulte Luca.
»Ja, ich weiß, das ist gemein«, erwiderte Gitti gelassen, »aber so sind Eltern halt.«
»Da waren einige andere im Wald heute«, meinte Sina. »Und dann war da noch so ein nettes Mädchen.«
»Nettes Mädchen?«, fragte Gitti.
»Ja, die hat uns geholfen, Stöcke für unser Haus zu sammeln«, ergänzte Luca.
»Die sah nur komisch aus«, fuhr Sina fort, »die war so schwarz angezogen und hat gruselige Armbänder angehabt. Aber trotzdem war sie voll nett.«
»Ja, sie hat mit uns gespielt«, sagte ihr Zwillingsbruder.
»Das war bestimmt Naila«, warf Andreas ein.
Emma sah, wie Antonia aufschreckte.
»Naila?«, fragte Antonia. »Das ist das Mädchen, das voll in mich reingerannt ist!«
Nun wusste auch Emma, woher sie den Namen kannte.
»Das war so eine dermaßen blöde Kuh!«, schimpfte Antonia. Dann erzählte sie, was am Nachmittag passiert war.
Andreas Reihmann nickte. »Sie ist mir bei der erlebnispädagogischen Einheit heute Nachmittag sofort aufgefallen«, meinte er. »Sie ist wohl vom Jugendamt in das Internat gesteckt worden. Ihre Klasse ist gerade hier auf Klassenfahrt.«
»Ein Internat?«, fragte Emma.
Andreas nickte. »Ja, das Internat Isartal. Die siebten Klassen kommen immer am Beginn des Schuljahrs zu uns. Ich mache dann mit ihnen ein Programm, um den Klassenverbund zu stärken und soziale Kompetenzen zu trainieren.«
»Soziale was?«, fragte Antonia.
»Soziale Kompetenzen«, wiederholte Andreas, »das heißt, dass alle gut miteinander umgehen. Diese Kinder haben da einige Herausforderungen, weil es ein Hochbegabteninternat ist.«