Einfach. Liebe. - Tammara Webber - E-Book

Einfach. Liebe. E-Book

Tammara Webber

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Beschreibung

Manchmal ist Liebe einfach. Und manchmal ist es einfach Liebe.

Als Jacqueline sich von einer Party davonstiehlt, ahnt sie nicht, dass die Ereignisse der Nacht ihr Leben für immer verändern werden. Kaum versucht ein Verehrer, der ihr gefolgt ist, sie zu bedrängen, liegt er schon am Boden. Ihr Retter? Ausgerechnet Lucas, der stille Einzelgänger, der nicht nur sehr sexy und geheimnisvoll, sondern auch vollkommen unnahbar ist. Und während Jacqueline versucht, sich auf ihre Abschlussprüfungen vorzubereiten, taucht Lucas plötzlich überall dort auf, wo sie auch ist. Er scheint etwas zu verbergen. Doch sein Blick brennt sich in ihr Herz …

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Seitenzahl: 434

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Buch

Jacqueline hatte sich ihre Zeit am College anders vorgestellt: Ihr Freund verlässt sie, um seine Freiheit zu genießen. Es wirft Jacqueline so aus der Bahn, dass sie bald kurz davorsteht, bei ihren Abschlussprüfungen durchzufallen. Und dann wird sie nachts auf dem Heimweg von einer Party auch noch von einem Betrunkenen bedrängt … Doch ein geheimnisvoller Unbekannter rettet Jacqueline beim nächtlichen Übergriff. Plötzlich begegnet er ihr ständig auf dem Campus – und geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Und dann ist da noch ihr Tutor. Er unterstützt sie bei der Vorbereitung ihrer Prüfungen – und scheint sie besser zu verstehen als jeder andere. Bald ist er ihr so nahe, dass sie meint, er könne direkt in ihr Herz blicken – und dabei kennen sie sich nur über E-Mail …

Autorin

Tammara Webber liebt Kaffee und Ohrringe – weil sie auch dann passen, wenn man mal eine Kleidergröße mehr braucht. Vor allem aber liebt sie Happy Ends, von denen es im wahren Leben einfach nie genug gibt. Die Publikationsgeschichte ihres New-York-Times-Bestsellers Einfach. Liebe. hat allerdings ein Happy End: Tammara Webber veröffentlichte den Roman zunächst selbst im Internet. Zehntausende begeisterter Leser machten Verlage in den USA und anderen Ländern darauf aufmerksam, die sich prompt die Rechte sicherten.

Tammara Webber

Einfach. Liebe.

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Veronika Dünninger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die englische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Easy«
bei Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München. Copyright © der Originalausgabe 2012 by Tammara Webber Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. »Hardliners« von Holcombe Waller Copyright © 2011 by HolWal Music (ASCAP). Lyrics reprinted by permission. All rights reserved. – www.hwaller.com Umschlaggestaltung und -motiv: bürosüd, München Redaktion: Ivana Marinovic ES · Herstellung: sam Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-10952-3V003
www.blanvalet.de

1

Vor jenem Abend war mir Lucas noch nie aufgefallen. Es war, als würde er gar nicht existieren, und dann auf einmal war er überall.

Ich hatte mich eben von der Halloweenparty abgesetzt, die hinter mir noch immer in vollem Gange war. Während ich mich zwischen den Autos hindurchschlängelte, die dicht an dicht auf dem Parkplatz hinter dem Haus der Studentenverbindung meines Ex standen, tippte ich eine SMS an meine Mitbewohnerin. Die Luft war klar und mild – eine typische Spätsommernacht in den Südstaaten. Aus den weit geöffneten Fenstern des Hauses dröhnte Musik über den Asphalt, durchsetzt von gelegentlichem Gelächter, betrunkenem Gegröle und den Rufen nach noch mehr Shots.

Als offizielle Fahrerin an diesem Abend war ich dafür zuständig, Erin heil und ganz zurück zu unserem Wohnheim auf der anderen Seite des Campus zu bringen, egal, ob ich die Party noch eine Minute länger ertragen konnte oder nicht. In meiner Nachricht bat ich sie, anzurufen oder eine SMS zu schicken, sobald sie bereit zum Aufbruch sei. Nach der Dirty-Dancing-Nummer zu urteilen, die sie und ihr Freund Chaz im Tequilarausch hingelegt hatten, bevor sie Händchen haltend die Treppe zu seinem Zimmer hochstolperten, würde sie mich womöglich nicht vor morgen früh anrufen. Ich kicherte bei dem Gedanken an den kurzen Weg der Schande, den sie in diesem Fall vom Hauseingang bis zu meinem Truck zurücklegen müssen würde.

Ich drückte auf Senden, während ich in meiner Handtasche nach den Schlüsseln kramte. Der Mond war wolkenverhangen und die hell erleuchteten Fenster des Hauses zu weit entfernt, um genug Licht bis zum hinteren Ende des Parkplatzes zu werfen. Ich musste mich auf meinen Tastsinn verlassen. Ich fluchte, als sich ein Druckbleistift in meine Fingerspitze bohrte, und stampfte mit meinem Stilettoabsatz auf den Boden. Bestimmt blutete ich. Sobald ich die Schlüssel in der Hand hielt, saugte ich an dem Finger. Der leicht metallische Geschmack verriet mir, dass ich die Haut durchpiekst hatte. »Na toll«, murmelte ich, während ich den Truck aufsperrte.

In den ersten Sekunden, die dann folgten, war ich zu verwirrt, um zu begreifen, was eigentlich los war. Eben noch hatte ich die Wagentür geöffnet, und im nächsten Moment lag ich schon mit dem Gesicht nach unten quer über dem Sitz, atemlos und unbeweglich. Ich versuchte mich hochzustemmen, aber ich schaffte es nicht, weil das Gewicht auf mir zu schwer war.

»Dieses kleine Teufelskostüm steht dir gut, Jackie.« Die Stimme war lallend, aber vertraut.

Mein erster Gedanke war Nenn mich nicht so, doch dieser Einwand wich rasch blankem Entsetzen, als ich spürte, wie eine Hand meinen ohnehin schon kurzen Rock noch höher schob. Mein rechter Arm, eingeklemmt zwischen meinem Körper und dem Sitz, war zu nichts zu gebrauchen. Ich krallte meine linke Hand neben meinem Gesicht in den Sitz, versuchte noch einmal mich hochzustemmen, aber die Hand auf der nackten Haut meines Oberschenkels schnellte hoch und packte mein Handgelenk. Ich schrie auf, als er mir den Arm auf den Rücken riss und mit der anderen Hand fest umklammerte. Sein Unterarm presste sich in meinen Rücken. Ich konnte mich nicht bewegen.

»Buck, lass mich los. Hör auf.« Meine Stimme schwankte, aber ich versuchte, meinem Befehl so viel Autorität wie möglich zu verleihen. Ich konnte das Bier in seinem Atem riechen und irgendetwas Strengeres in seinem Schweiß, eine Welle von Übelkeit schwappte durch meinen Magen.

Seine freie Hand lag wieder auf meinem linken Oberschenkel, während er sich mit seinem ganzen Gewicht auf meine rechte Seite drückte. Meine Füße baumelten aus der noch immer offenen Tür des Trucks. Ich versuchte, das Knie anzuziehen, um es unter meinen Körper zu schieben, aber er lachte nur über meine kläglichen Bemühungen. Als er seine Hand zwischen meine gespreizten Beine schob, schrie ich auf und riss mein Bein zu spät wieder nach unten. Ich wand mich keuchend unter ihm, dachte zuerst, ich könnte ihn wegstoßen, und dann, als mir klar wurde, dass ich es mit seiner Größe nicht aufnehmen konnte, begann ich zu flehen.

»Buck, hör auf. Bitte – du bist nur betrunken, und morgen wirst du das hier bereuen. Oh mein Gott …«

Er zwängte sein Knie zwischen meine Beine, und ein Luftstoß streifte meine nackte Hüfte. Ich hörte das unverkennbare Geräusch eines Reißverschlusses, und er lachte mir ins Ohr, als mein Appell an seine Vernunft in ein Wimmern überging. »Nein-nein-nein-nein …« Unter seinem Gewicht bekam ich nicht genug Luft, um zu schreien, mein Mund wurde so in den Sitz gedrückt, dass jeder Widerspruch im Keim erstickt wurde. Während ich mich vergeblich zur Wehr setzte, konnte ich kaum glauben, dass dieser Typ, den ich seit über einem Jahr kannte, der mich in der ganzen Zeit, die ich mit Kennedy zusammen war, nicht ein einziges Mal respektlos behandelt hatte, in meinem eigenen Wagen auf dem Wohnheimsparkplatz über mich herfiel.

Er zerrte meinen Slip bis zu den Knien herunter, und zwischen seinen Versuchen, ihn mir ganz auszuziehen, und meinem erneuten Versuch zu entkommen, hörte ich, wie der empfindliche Stoff riss. »Scheiße, Jackie. Ich wusste ja schon immer, dass du einen geilen Arsch hast, aber großer Gott, Mädchen.« Als er seine Hand wieder zwischen meine Beine stieß, hob sich sein Gewicht für einen Sekundenbruchteil – lange genug für mich, um Luft zu holen und laut aufzuschreien. Er ließ mein Handgelenk los, schlug mir mit der Hand auf den Hinterkopf und presste mein Gesicht in den Ledersitz, bis ich kaum noch Luft bekam und verstummte.

Selbst jetzt, wo mein linker Arm befreit war, war er zu nichts zu gebrauchen. Ich stützte mich mit der Hand auf dem Boden des Führerhauses ab, um mich hochzustemmmen, aber meine verzerrten und schmerzenden Muskeln wollten mir nicht gehorchen. Ich schluchzte in das Sitzpolster, während sich Tränen und Speichel unter meiner Wange vermischten. »Bitte nicht, bitte nicht, oh Gott, hör-auf-hör-auf-hör-auf …« Ich hasste den weinerlichen Ton meiner eigenen ohnmächtigen Stimme.

Sein Gewicht hob sich wieder für einen kurzen Moment – er hatte es sich anders überlegt, oder er verlagerte seine Haltung – ich wartete nicht ab, um herauszufinden, was von beidem. Ich verrenkte meine Beine, zog sie an und spürte, wie meine spitzen Absätze in das weiche Leder stachen, als ich zum anderen Ende der Sitzbank hechtete und panisch nach dem Türgriff tastete. Das Blut rauschte in meinen Ohren, während mein Körper sich mit aller Kraft für einen Kampf oder eine Flucht wappnete. Und dann hielt ich auf einmal inne, denn Buck war gar nicht mehr in dem Truck.

Im ersten Moment kapierte ich nicht, warum er einfach nur dastand, hinter der Tür, mit dem Rücken zu mir. Und dann schnellte sein Kopf nach hinten. Zweimal. Er schlug wie wild nach irgendetwas, aber seine Fäuste trafen ins Leere. Erst als er rücklings gegen meinen Wagen taumelte, sah ich, womit – oder mit wem – er kämpfte.

Der Typ wandte den Blick nicht von Buck ab, während er ihm noch zweimal hart mit der Faust ins Gesicht schlug. Er wich zur Seite aus, während sie sich umkreisten und Buck, dem jetzt das Blut aus der Nase quoll, vergeblich versuchte, selbst ein paar Fausthiebe zu landen. Schließlich zog Buck den Kopf ein, um wie ein Bulle auf seinen Gegner loszugehen, aber dieser Versuch besiegelte sein Schicksal, da der Fremde ihm mühelos einen Aufwärtshaken gegen den Kiefer verpasste. Als Bucks Kopf hochschnellte, rammte sich ein Ellenbogen mit einem ekelhaft dumpfen Schlag in seine Schläfe. Er taumelte wieder gegen den Truck, stieß sich ab und ging erneut auf den Fremden los. Als wäre der ganze Kampf durchchoreografiert, packte der andere Buck bei den Schultern, riss ihn hart nach vorn und rammte ihm ein Knie unters Kinn. Buck ging zu Boden, wo er sich stöhnend wand.

Der Fremde starrte auf ihn hinunter, mit geballten Fäusten, die Ellenbogen leicht angewinkelt, drauf und dran, ihm noch einen Schlag zu verpassen, falls nötig. Aber das brauchte es nicht. Buck war kaum noch bei Bewusstsein. An die Tür auf der anderen Seite gekauert, rollte ich mich keuchend zu einer Kugel zusammen, während ein Gefühl von Schock an die Stelle der Panik trat. Ich muss gewimmert haben, denn auf einmal schnellte sein Blick zu mir. Er rollte Buck mit einem Stiefeltritt zur Seite, trat an die Tür und spähte hinein.

»Geht’s dir gut?« Sein Ton war leise, beruhigend. Ich wollte sagen, ja. Ich wollte nicken. Aber ich konnte nicht. Es ging mir alles andere als gut. »Ich wähle den Notruf. Brauchst du ärztliche Hilfe oder nur die Polizei?«

Ich stellte mir vor, wie die Campuspolizei am Tatort anrückte, wie die Partygäste aus dem Haus strömen würden, wenn sie die Sirenen hörten. Erin und Chaz waren nur zwei der vielen Freunde, die ich dort drinnen hatte – von denen über die Hälfte minderjährig war und völlig alkoholisiert. Es würde meine Schuld sein, wenn die Polizei die Party stürmte. Ich würde eine Aussätzige sein.

Ich schüttelte den Kopf. »Ruf niemanden«, brachte ich mit heiserer Stimme hervor.

»Ich soll keinen Krankenwagen rufen?«

Ich räusperte mich und schüttelte noch einmal den Kopf. »Ruf niemanden. Ruf nicht die Polizei.«

Er starrte mit offenem Mund über die Sitzbank. »Täusche ich mich, oder hat dieser Typ eben versucht, dich zu vergewaltigen …?« Ich zuckte zusammen bei dem hässlichen Wort. »Und du sagst mir, ich soll nicht die Polizei rufen?« Er klappte den Mund zu, schüttelte kurz den Kopf und beäugte mich wieder. »Oder habe ich bei irgendetwas gestört, wobei ich nicht hätte stören sollen?«

Mir blieb die Luft weg, während sich meine Augen mit Tränen füllten. »N…nein. Aber ich will einfach nur nach Hause.«

Buck rollte sich stöhnend auf den Rücken. »Scheeeiiiße«, jaulte er, ohne die Augen aufzuschlagen, von denen eines vermutlich ohnehin zugeschwollen war.

Mein Retter starrte auf ihn hinunter, während sein Kiefer mahlte. Er rollte den Kopf zur Seite und wieder zurück, ließ die Schultern kreisen. »Na schön. Ich fahre dich.«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte nicht vor, einem Überfall zu entkommen, nur um gleich darauf so dumm zu sein, zu einem Fremden ins Auto zu steigen. »Ich kann selbst fahren«, krächzte ich. Mein Blick huschte zu meiner Handtasche, die neben der Konsole eingekeilt war, ihr Inhalt auf der Fahrerseite auf dem Boden verstreut. Er sah nach unten, beugte sich vor, um meine Schlüssel zwischen meinen persönlichen Habseligkeiten herauszufischen.

»Ich glaube, nach denen hast du vorhin schon gesucht.« Er ließ sie von seinen Fingern baumeln, und mir wurde bewusst, dass ich mich noch immer keinen Zentimeter auf ihn zubewegt hatte.

Als ich mir über die Lippen leckte, schmeckte ich zum zweiten Mal an diesem Abend Blut. Ich robbte vor in den schwachen Schimmer des kleinen Deckenlämpchens, wobei ich achtgab, dass mein Rock nicht wieder hochrutschte. Ein Schwindelanfall überkam mich, als mir gänzlich bewusst wurde, was um ein Haar passiert wäre, und meine Hand zitterte, als ich nach meinen Schlüsseln greifen wollte.

Stirnrunzelnd schloss er die Faust um die Schlüssel und ließ den Arm an der Seite sinken. »Ich kann dich nicht fahren lassen.« Nach seiner Miene zu urteilen, war mein Gesicht eine Katastrophe.

Ich blinzelte, die Hand noch immer nach den Schlüsseln ausgestreckt, die er eben beschlagnahmt hatte. »Was? Warum denn nicht?«

Er zählte drei Gründe an den Fingern ab. »Du zitterst, was vermutlich eine Nachwirkung des Übergriffs ist. Ich habe keine Ahnung, ob du nicht verletzt bist. Und du hast vermutlich getrunken.«

»Habe ich nicht«, fauchte ich. »Ich bin heute Abend die offizielle Fahrerin.«

Er zog eine Augenbraue hoch und sah sich um. »Und wen genau sollst du fahren? Wenn jemand bei dir gewesen wäre, dann wärst du, nebenbei bemerkt, heute Abend vielleicht in Sicherheit gewesen. Stattdessen bist du auf einen dunklen Parkplatz hinausgegangen, allein, und hast absolut nicht auf deine Umgebung geachtet. Sehr verantwortungsbewusst.«

Auf einmal war ich mehr als wütend. Wütend auf Kennedy, der mir vor zwei Wochen das Herz gebrochen hatte und heute Abend nicht bei mir gewesen war, um mich sicher zu meinem Wagen zu begleiten. Wütend auf Erin, die mich überredet hatte, auf diese dämliche Party zu gehen, und noch wütender auf mich selbst, weil ich mich hatte breitschlagen lassen. Stocksauer auf diesen halb bewusstlosen Scheißkerl, der sabbernd und blutend ein paar Schritte weiter auf dem Asphalt lag. Und fuchsteufelswild auf diesen Fremden, der meine Schlüssel beschlagnahmt hatte, während er mich beschuldigte, hirnlos und leichtsinnig zu sein.

»Soll das heißen, es ist mein Fehler, dass er mich überfallen hat?« Meine Kehle war wund, aber ich ignorierte den Schmerz. »Es ist also meine Schuld, dass ich nicht mal von einem Haus zum Auto gehen kann, ohne dass einer von euch versucht, mich zu vergewaltigen?« Ich schleuderte ihm das Wort entgegen, um ihm zu zeigen, dass ich es verkraften konnte.

»›Einer von euch‹? Du wirfst mich mit diesem Stück Scheiße in einen Topf?« Er wies auf Buck, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Ich bin alles andere als er.« Das war der Augenblick, als ich den dünnen Silberring links in seiner Unterlippe bemerkte.

Na toll. Ich war allein auf einem Parkplatz mit einem beleidigten, im Gesicht gepiercten Fremden, der noch immer meine Schlüssel in der Hand hielt. Ich konnte heute Abend nicht noch mehr ertragen. Ein Schluchzer entfuhr meiner Kehle, während ich mich bemühte, nicht die Fassung zu verlieren. »Darf ich bitte meine Schlüssel haben?« Ich streckte die Hand aus, beschwor sie, mit dem Zittern aufzuhören.

Er schluckte, während er mich ansah, und ich starrte zurück in seine hellen Augen. In dem schwachen Licht konnte ich ihre Farbe nicht erkennen, aber sie standen in einem auffälligen Kontrast zu seinen dunklen Haaren. Seine Stimme war jetzt sanfter, weniger streng. »Wohnst du auf dem Campus? Dann lass dich von mir heimbringen. Ich kann danach zu Fuß hierher zurückkommen und nach Hause fahren.«

Mein Kampfgeist war erloschen. Ich nickte und räumte meine Handtasche weg, um ihm Platz zu machen. Er half mir, Lipgloss, Brieftasche, Tampons, Haargummis, Kugelschreiber und Bleistifte, die alle auf dem Boden verstreut lagen, einzusammeln und wieder in meine Tasche zu stopfen. Der letzte Gegenstand, den er aufhob, war eine Kondompackung. Er räusperte sich und hielt sie mir hin. »Die ist nicht von mir«, sagte ich angewidert.

Er runzelte die Stirn. »Bist du sicher?«

Ich presste den Kiefer zusammen, versuchte, nicht schon wieder wütend zu werden. »Ganz sicher.«

Er warf einen Blick auf Buck. »Dieser Dreckskerl. Er wollte vermutlich …« Er sah mir in die Augen und dann grimmig zurück zu Buck. »Äh … keine Beweisspuren hinterlassen.«

Allein schon die Vorstellung war mir unerträglich. Er stopfte das quadratische Päckchen in seine Jeanstasche. »Ich werde es wegwerfen – er bekommt es mit Sicherheit nicht zurück.« Die Stirn noch immer in Falten gelegt, wandte er den Blick wieder zu mir, während er einstieg und den Motor anließ. »Bist du sicher, dass ich nicht die Polizei rufen soll?«

Gelächter hallte von der Hintertür des Gebäudes herüber, und ich nickte. Mitten im Rahmen eines der großen Fenster tanzte Kennedy, die Arme um ein Mädchen gelegt, das ein hauchzartes weißes Kostüm, Flügel und einen Heiligenschein trug. Perfekt. Einfach perfekt.

Irgendwann im Verlauf meines Kampfes mit Buck hatte ich den Haarreif mit den Teufelshörnern verloren, den Erin mir auf den Kopf gesetzt hatte, während ich auf dem Bett saß und jammerte, ich wolle nicht auf eine dämliche Kostümparty gehen. Ohne dieses Accessoire war ich nur ein Mädchen in einem knappen, mit roten Pailletten besetzten Kleid, in dem ich mich sonst nie im Leben blicken lassen würde.

»Ganz sicher.«

Die Scheinwerfer strahlten Buck an, als wir rückwärts aus der Parklücke fuhren. Er hielt sich eine Hand vor die Augen, während er versuchte, sich aufzurappeln. Ich konnte seine aufgeplatzte Lippe, die verformte Nase und das geschwollene Auge selbst aus dieser Entfernung erkennen.

Es war ein Glück, dass ich nicht am Steuer saß. Vermutlich hätte ich ihn glatt überfahren.

Ich nannte den Namen meines Wohnheims, als ich danach gefragt wurde, und starrte dann aus dem Beifahrerfenster, außerstande, noch ein weiteres Wort zu sprechen, während wir uns über das Campusgelände schlängelten. Ich hielt meine Arme fest umklammert, um mir die Schauder nicht anmerken zu lassen, die mich alle paar Sekunden durchfuhren. Ich wollte nicht, dass er es sah, aber ich konnte es auch nicht unterdrücken.

Der Parkplatz vor dem Wohnheim war fast voll, und in der Nähe des Eingangs war alles belegt. Er lenkte den Truck in eine der hinteren Parklücken, sprang heraus und kam auf meine Seite herum, während ich vom Beifahrersitz meines eigenen Wagens glitt. Mit den Nerven völlig am Ende, nahm ich, nachdem er die Türverriegelung aktiviert hatte, die Schlüssel von ihm entgegen und folgte ihm zum Wohnheim.

»Dein Ausweis?«, fragte er, als wir die Tür erreichten.

Meine Hände zitterten, als ich meine Handtasche aufschnappen ließ und die Karte herauszog. Als er sie mir aus den Fingern nahm, bemerkte ich das Blut an seinen Knöcheln und stöhnte auf. »Oh Gott. Du blutest ja.«

Er blickte auf seine Hand und schüttelte kurz den Kopf. »Nein. Ist hauptsächlich sein Blut.« Er presste die Lippen zusammen und wandte sich ab, um die Karte durch den Türöffner zu ziehen, und ich fragte mich, ob er vorhatte, mir ins Haus zu folgen. Ich glaubte nicht, dass ich mich noch viel länger zusammenreißen konnte.

Nachdem er die Tür aufgezogen hatte, reichte er mir meinen Ausweis. Im Licht des Eingangsbereichs konnte ich seine Augen deutlicher sehen – ein helles Graublau unter seinen gesenkten Brauen. »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, fragte er zum zweiten Mal, und ich spürte, wie ich das Gesicht verzog.

Mit gesenktem Kinn steckte ich die Karte wieder ein und nickte sinnloserweise. »Ja. Es geht mir gut«, log ich.

Er stieß einen ungläubigen Seufzer aus, während er sich mit einer Hand durchs Haar fuhr. »Kann ich jemanden für dich anrufen?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich musste in mein Zimmer, damit ich endlich zusammenbrechen konnte. »Danke, nicht nötig.« Ich schlüpfte an ihm vorbei, wobei ich achtgab, ihn nicht zu streifen, und steuerte auf die Treppe zu.

»Jackie?«, rief er leise, ohne sich vom Türrahmen zu entfernen. Ich sah zu ihm zurück, das Geländer mit einer Hand umklammernd, und unsere Blicke trafen sich. »Es war nicht deine Schuld.«

Ich biss mir fest auf die Lippen und nickte kurz, bevor ich mich umdrehte und die Treppe hochrannte. Meine Schuhe klapperten auf den Betonstufen. Auf dem zweiten Treppenabsatz blieb ich unvermittelt stehen und wandte mich um, um noch einmal zur Tür zu sehen. Er war verschwunden.

Ich wusste seinen Namen nicht, und ich konnte mich nicht erinnern, ihn je zuvor gesehen, geschweige denn getroffen zu haben. An diese ungewöhnlich hellen Augen hätte ich mich mit Sicherheit erinnert. Ich hatte keine Ahnung, wer er war … und doch hatte er mich eben bei meinem Namen genannt. Nicht bei dem Namen auf meinem Ausweis – Jacqueline –, sondern Jackie, dem Spitznamen, unter dem ich bekannt war, seit Kennedy mich in unserem vorletzten Highschooljahr so genannt hatte.

Zwei Wochen zuvor

»Willst du noch mit hochkommen? Oder über Nacht bleiben? Erin ist das Wochenende bei Chaz …«, raunte ich mit einem spielerischen Unterton. »Sein Mitbewohner ist verreist. Was heißt, dass ich ganz allein sein werde …«

Kennedy und ich standen einen Monat vor unserem dritten Jahrestag. Es gab keinen Grund, sich zu zieren. Erin hatte in letzter Zeit angefangen, uns ein altes Ehepaar zu nennen. Worauf ich immer entgegnete: »Eifersüchtig?« Woraufhin sie mir wiederum den Mittelfinger zeigte.

»Ähm, ja, ich komme noch kurz mit hoch.« Er rieb seinen Nacken, während er auf den Wohnheimparkplatz einbog und nach einer Parklücke suchte, mit unergründlicher Miene.

Ein unangenehmes Kribbeln machte sich in meiner Brust breit, und ich musste schlucken. »Alles in Ordnung?« Das Nackenreiben war ein typisches Stresssignal bei ihm.

Sein Blick huschte kurz zu mir herüber. »Ja, na klar.« Er fuhr in die erste freie Lücke, manövrierte seinen BMW zwischen zwei Pick-ups. Er zwängte seinen kostbaren Import nie, aber auch nie in enge Parklücken. Türkratzer machten ihn rasend. Irgendetwas stimmte nicht. Ich wusste, dass er sich wegen der bevorstehenden Zwischenprüfungen Sorgen machte, vor allem in Algebra. Und seine Studentenverbindung schmiss am nächsten Abend eine Kennenlernparty, was am Wochenende vor den Prüfungen einfach nur idiotisch war.

Ich ließ uns mit meiner Karte ins Wohnheim, und wir betraten das hintere Treppenhaus, das ich immer ein bisschen unheimlich fand, wenn ich allein unterwegs war. Mit Kennedy hinter mir nahm ich nur die schmuddeligen, mit Kaugummi verzierten Wände und den schalen, fast säuerlichen Geruch wahr. Ich sprintete den letzten Treppenabsatz hoch, und wir traten in den Flur.

Ich blickte mich zu ihm um, während ich meine Tür aufsperrte. Ich schüttelte den Kopf über das charmante Porträt eines Penis, das irgendjemand auf die weiße Kunststofftafel gekritzelt hatte, auf der Erin und ich uns Nachrichten füreinander und die Stockwerksnachbarn hinterließen. In gemischten Wohnheimen waren die Leute oft weniger reif als auf College-Webseiten dargestellt. Manchmal war es, als würde man mit einem Haufen Zwölfjähriger zusammenleben.

»Du könntest dich morgen Abend krankmelden, weißt du.« Ich legte ihm eine Hand auf den Arm. »Bleib hier bei mir – wir werden uns verkriechen und uns Essen ins Haus kommen lassen und das ganze restliche Wochenende mit Lernen verbringen … und mit diversen anderen stressmindernden Aktivitäten …« Ich grinste unanständig. Er starrte auf seine Schuhe.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, und auf einmal wurde mir am ganzen Körper warm. Irgendetwas stimmte eindeutig nicht. Ich wollte, dass er es ausspuckte, was immer es war, denn mein Verstand beschwor nichts als besorgniserregende Möglichkeiten herauf. Es war so lange her, seit wir ein Problem oder einen echten Konflikt gehabt hatten, dass ich mich wie vor den Kopf gestoßen fühlte.

Er ging in mein Zimmer und setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl – nicht mein Bett.

Ich trat auf ihn zu, bis unsere Knie sich berührten. Ich wollte hören, dass er nur schlecht gelaunt oder gestresst wegen seiner bevorstehenden Prüfungen war. Mein Herz pochte wie wild. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Kennedy?«

»Jackie, wir müssen reden.«

Das Rauschen in meinen Ohren schwoll an, und meine Hand glitt von seiner Schulter. Ich hielt sie mit der anderen Hand fest und setzte mich aufs Bett. Mein Mund war so ausgedörrt, dass ich nicht schlucken, geschweige denn sprechen konnte.

Er schwieg und wich meinem Blick ein paar Minuten aus, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen. Schließlich hob er den Blick und sah mich traurig an. Oh Gott. Ohgottohgottohgott.

»Ich habe in letzter Zeit … ein paar … Probleme. Mit anderen Mädchen.«

Ich kniff die Augen zusammen, froh, dass ich saß. Meine Beine wären unter mir weggeknickt, und ich wäre auf dem Boden gelandet, wenn ich gestanden hätte. »Was meinst du damit?«, stieß ich krächzend hervor. »Was meinst du mit ›Probleme‹ und ›andere Mädchen‹?«

Er seufzte tief. »Nicht das, nicht wirklich. Ich meine, ich habe nichts getan.« Er wandte den Blick ab und seufzte wieder. »Aber ich glaube, ich will.«

Was zur Hölle?

»Ich verstehe nicht ganz.« Mein Gehirn versuchte panisch, das Bestmögliche aus dieser Situation zu machen, aber jede auch nur annähernd denkbare Alternative war zum Heulen.

Er stand auf und durchquerte zweimal das Zimmer, bevor er sich auf die Stuhlkante setzte, vorgebeugt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, seine Hände ringend. »Du weißt, wie wichtig es mir ist, eine Karriere in Justiz und Politik einzuschlagen.«

Ich nickte, noch immer zu geschockt, um etwas zu sagen, während ich mich bemühte, ihm zu folgen.

»Kennst du unsere Studentinnenverbindung?«

Ich nickte wieder, hörte genau das, worüber ich mir Sorgen gemacht hatte, als er in das Verbindungshaus eingezogen war. Offenbar hatte ich mir nicht genug Sorgen gemacht.

»Es gibt da ein Mädchen … ein paar Mädchen, um genau zu sein, die … na ja.«

Ich versuchte, mit vernünftiger, gefasster Stimme zu sprechen. »Kennedy, das ergibt doch alles keinen Sinn. Du sagst nicht, dass du es getan hast oder dass du es willst …«

Er blickte mir in die Augen, damit es kein Missverständnis gab. »Aber ich will es.«

Im Ernst, er hätte mir genauso gut mit der Faust in den Magen schlagen können, denn mein Gehirn weigerte sich, die Worte zu begreifen, die er sagte. Einen körperlichen Angriff, den hätte es vielleicht verstanden. »Du willst es? Was zum Teufel meinst du damit, du willst es?«

Er sprang von seinem Stuhl auf, ging zur Tür und wieder zurück – eine Strecke von einem Dutzend Schritte. »Was glaubst du denn, dass ich damit meine? Mein Gott. Zwing mich doch nicht, es zu sagen.«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Warum denn nicht? Warum sagst du es nicht? Wenn du dir vorstellen kannst, es zu tun – warum zum Teufel sagst du es dann nicht? Und was hat das alles überhaupt mit deinen Karriereplänen zu tun …«

»Darauf wollte ich eben zu sprechen kommen. Sieh mal, jeder weiß doch, dass mit das Schlimmste, was einem politischen Kandidaten oder gewählten Abgeordneten passieren kann, eine Verstrickung in irgendeinen Sexskandal ist.« Sein Blick verharrte mit einem Ausdruck auf mir, den ich als seine Debattiermiene erkannte. »Ich bin auch nur ein Mensch, Jackie, und wenn ich dieses Verlangen, mir die Hörner oder was auch immer abzustoßen, verspüre und es unterdrücke, dann werde ich dasselbe Verlangen später vermutlich wieder verspüren, nur noch schlimmer. Und ihm dann nachzugeben wäre ein Karrierekiller.« Er breitete ohnmächtig die Hände aus. »Ich habe keine andere Wahl, als mich davon zu befreien, solange ich es noch kann, ohne mein künftiges berufliches Ansehen zu ruinieren.«

Ich sagte mir: Das kann nicht wahr sein. Mein Freund, mit dem ich seit drei Jahren zusammen war, machte nicht mit mir Schluss, damit er hemmungslos andere Studentinnen vögeln konnte. Ich kniff die Augen fest zusammen und versuchte, tief Luft zu holen, aber ich schaffte es nicht. Im Zimmer war kein Sauerstoff. Ich funkelte ihn schweigend an.

Er presste die Kiefer zusammen. »Okay, ich nehme an, es war keine gute Idee, es dir auf die leichte Art …«

»Das ist deine Vorstellung von leicht? Mit mir Schluss zu machen, damit du andere Mädchen bumsen kannst? Ohne ein schlechtes Gewissen zu haben? Meinst du das ernst?«

»So ernst wie ein Herzinfarkt.«

Mein letzter Gedanke, bevor ich mein Wirtschaftslehrbuch nahm und nach ihm schleuderte, war: Wie kann er in einem Augenblick wie diesem auf einen so abgelutschten Scheißspruch kommen?

2

Erins Stimme weckte mich. »Jacqueline Wallace, beweg deinen Arsch aus diesem Bett und geh deinen Notendurchschnitt retten. Du lieber Gott, wenn ich mich von jedem Typen so aus meiner akademischen Laufbahn werfen lassen würde, wäre ich schon längst am Ende.«

Ich machte ein verächtliches Geräusch unter der Bettdecke, bevor ich darunter hervoräugte. »Was für eine akademische Laufbahn denn?«

Die Hände in die Hüften gestemmt, frisch aus der Dusche, stand sie in ein Handtuch gewickelt vor mir. »Haha. Sehr witzig. Steh schon auf!«

Ich schniefte, ohne mich vom Fleck zu rühren. »Ich bin in all meinen anderen Kursen gut. Kann ich da nicht in diesem einen durchfallen?«

Erin schnaubte. »Hörst du dir eigentlich je selbst zu?«

Ich hörte mir selbst zu. Und ich war in jeder Hinsicht mindestens genauso angekotzt von meiner Feigheit wie Erin – wenn nicht sogar mehr. Aber die Vorstellung, drei Tage die Woche in einer einstündigen Vorlesung neben Kennedy zu sitzen, war einfach unerträglich. Ich hatte keine Ahnung, ob und wie er seinen Status als frisch gebackener Single schamlos zum Flirten und Anbaggern nutzen würde, aber ich wollte nichts davon mit eigenen Augen ansehen müssen. Mir die Details auszumalen war schon schlimm genug.

Hätte ich ihn bloß nicht gedrängt, in diesem Semester einen Kurs mit mir zu belegen. Als wir uns für die Herbstveranstaltungen einschrieben, fragte er mich, warum ich Wirtschaft belegen wollte – kein Pflichtfach für meinen Abschluss in Musikerziehung. Ich fragte mich, ob er vielleicht schon damals gespürt hatte, dass das mit uns so enden würde. Oder ob er es gewusst hatte.

»Ich kann nicht.«

»Du kannst und du wirst.« Sie riss mir die Bettdecke weg. »Jetzt steh endlich auf, und ab mit dir unter die Dusche. Ich muss pünktlich zu Französisch kommen, sonst wird mich Monsieur Bidot gnadenlos über das passé composé ausquetschen. Ich kann die Vergangenheitsform ja kaum auf Englisch. Und weiß Gott, um diese unchristliche Uhrzeit kann ich sie en français schon gar nicht.«

Ich erreichte den Hörsaal um Punkt neun Uhr in dem Wissen, dass Kennedy, der gewohnheitsmäßig pünktlich war, bereits da sein würde. Der Saal war groß und abgestuft. Als ich zur Hintertür hereinschlüpfte, entdeckte ich ihn, sechste Reihe, Mitte. Der Platz rechts neben ihm war leer – mein Platz. Dr. Heller hatte in der zweiten Kurswoche einen Sitzplan herumgereicht, den er verwendete, um seine Anwesenheitsliste zu führen und Punkte für die Teilnahme zu vergeben. Ich würde nach der Vorlesung mit ihm reden müssen, denn es kam nicht infrage, dass ich mich je wieder dort hinsetzen würde.

Meine Augen suchten die hinteren Reihen ab. Dort gab es zwei freie Plätze. Einer befand sich in der drittletzten Reihe zwischen einem Typen, der, auf seine Hand gestützt, fast schlief, und einem Mädchen, das an einem Venti-irgendwas-Becher Kaffee nippte und nonstop auf seine Nachbarin einquasselte. Der andere freie Platz war in der letzten Reihe neben einem Typen, der irgendetwas an den Rand seines Lehrbuchs zu kritzeln schien. In seine Richtung wandte ich mich in demselben Augenblick, in dem mein Professor unten durch eine Seitentür eintrat, und der Künstler hob den Kopf, um den vorderen Bereich des Saals zu überfliegen. Ich erstarrte, als ich meinen Retter von vorgestern Abend erkannte. Wenn ich mich hätte rühren können, hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht und den Raum fluchtartig verlassen.

Die Erinnerung an den Überfall kehrte schlagartig zurück. Die Hilflosigkeit. Die Angst. Die Demütigung. Ich hatte mich auf meinem Bett zusammengerollt und die ganze Nacht geheult, dankbar für Erins SMS, in der sie mir schrieb, dass sie bei Chaz übernachten würde. Ich hatte ihr nicht erzählt, was Buck getan hatte. Zum Teil, weil ich wusste, dass sie sich dafür verantwortlich fühlen würde, weil sie mich zu der Party überredet und mich dann allein von dort hatte weggehen lassen. Und zum Teil, weil ich vergessen wollte, dass es überhaupt passiert war.

»Wenn dann alle Platz nehmen würden, könnten wir anfangen.« Die Stimme des Professors riss mich aus meinem benommenen Zustand – ich war die einzige Studentin, die noch stand. Ich stürzte zu dem freien Platz zwischen der Quasselstrippe und der Schlafmütze.

Sie sah mich kurz an, ohne in ihrer Beichte innezuhalten, wie tief und wo und mit wem sie am Wochenende abgestürzt war. Der Typ hob die Augenlider gerade weit genug, um zu sehen, wie ich auf den am Boden verschraubten Stuhl zwischen den beiden rutschte, aber ansonsten rührte er sich nicht.

»Ist dieser Platz schon besetzt?«, flüsterte ich ihm zu.

Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Er war es. Aber sie hat abgebrochen. Oder sie kommt nicht mehr. Irgendwas.«

Erleichtert zog ich einen Spiralblock aus meiner Tasche. Ich versuchte, nicht zu Kennedy zu schauen, aber aufgrund der schrägen Anordnung der Sitze erwies sich das als echte Herausforderung. Sein perfekt gestyltes dunkelblondes Haar und das vertraute faltenfreie Hemd lenkten meine Blicke jedes Mal auf ihn, wenn er sich bewegte. Ich kannte die Wirkung dieses grünen Vichystoffs neben seinen auffallend grünen Augen. Ich kannte Kennedy seit der neunten Klasse. Ich hatte zugesehen, wie er seinen Stil verändert hatte, wie er von einem Jungen, der jeden Tag Mesh-Shorts und Sneaker trug, zu einem Mann gereift war, der seine maßgeschneiderten Hemden zum Bügeln in die Reinigung gab, nie einen Kratzer auf seinen Schuhen hatte und immer aussah, als sei er eben dem Titelbild einer Zeitschrift entsprungen. Ich hatte mehr als eine Lehrerin dabei ertappt, wie sie sich nach ihm umdrehte, wenn er vorbeiging, bevor sie sich vom Anblick seines vollkommenen, verbotenen Körpers losriss.

In unserem vorletzten Schuljahr saßen wir zusammen im Englisch-Leistungskurs. Er richtete sein Augenmerk vom ersten Unterrichtstag an auf mich, warf sein Grübchenlächeln in meine Richtung, bevor er seinen Platz einnahm, lud mich zu seiner Lerngruppe ein, erkundigte sich nach meinen Wochenendplänen – und machte sich schließlich selbst zu einem Teil davon. Ich war noch nie so selbstbewusst umworben worden. Als Stufensprecher war er allen bekannt, und er bemühte sich nach Kräften, mit allen bekannt zu werden. Als Sportler machte er dem Baseballteam alle Ehre. Als Schüler zählte er mit seiner herausragenden Leistung zu den besten zehn Prozent. Als Mitglied des Debattierteams war er für schlagende Argumente und einen ungebrochenen Rekord bekannt.

Als Freund war er geduldig und aufmerksam, drängte mich nie zu weit oder zu schnell. Vergaß nie einen Geburtstag oder ein Jubiläum. Ließ mich nie an seinen Absichten für uns zweifeln. Sobald wir offiziell zusammen waren, änderte er meinen Namen – und alle folgten seinem Beispiel, mich selbst eingeschlossen. »Du bist meine Jackie«, sagte er in Anspielung auf die Ehefrau von John F. Kennedy, seinem Namensvetter und persönlichen Idol.

Er war nicht mit ihm verwandt. Seine Eltern waren nur auf eine schräge Weise politisch – und dabei untereinander geteilter Meinung. Er hatte eine Schwester namens Reagan und einen Bruder namens Carter.

Es war drei Jahre her, dass man mich als Jacqueline gekannt hatte, und ich kämpfte tagtäglich darum, diesen einen ursprünglichen Teil von mir zurückzuerobern, von dem ich mich ihm zuliebe losgesagt hatte. Es war nicht das Einzige, was ich aufgegeben hatte, oder das Wichtigste. Es war nur das Einzige, was ich zurückbekommen konnte.

Während der fünfzig Minuten, die ich versuchte, Kennedy nicht anzustarren, nachdem ich den Kurs zwei Wochen lang geschwänzt hatte, blieb mein Hirn matt und unkooperativ. Als die Stunde zu Ende war, merkte ich, dass ich kaum etwas von der Vorlesung mitbekommen hatte.

Ich folgte Dr. Heller zu seinem Büro, während ich in Gedanken unterschiedliche Appelle an ihn durchging, mir eine Chance zu geben, den Stoff nachzuholen. Bis zu diesem Augenblick war es mir egal gewesen, dass ich kurz davorstand durchzufallen. Jetzt war es nicht mehr nur eine vage Möglichkeit, sondern ziemlich wahrscheinlich. Mir graute entsetzlich davor. Ich war noch nie in einem Kurs durchgefallen. Was würde ich meinen Eltern und meinem Studienberater sagen? Diese Fehlleistung würde für den Rest meines Lebens auf meinem Zeugnis stehen.

»Nun, Miss Wallace.« Dr. Heller zog ein Buch und einen unordentlichen Stapel mit Unterlagen aus seiner zerknautschten Aktentasche und spazierte durch sein Büro, als wäre ich gar nicht da. »Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?«

Ich räusperte mich. »Meine Verteidigung?«

Er betrachtete mich träge über seine Brille hinweg. »Sie haben die Vorlesung zwei Wochen hintereinander versäumt – einschließlich der Zwischenprüfung –, und Sie haben die heutige Sitzung versäumt. Ich nehme an, Sie stehen hier in meinem Büro, um irgendeine Art Plädoyer vorzubringen, warum Sie in Makroökonomie nicht durchfallen sollten. Ich warte gespannt auf Ihre Erklärung.« Er seufzte, während er das Buch in ein Regal stellte. »Ich denke immer, ich habe sie alle schon gehört, aber ich bin auch offen für Überraschungen. Also schießen Sie los. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, und ich nehme an, Sie auch nicht.«

Ich schluckte. »Ich war heute in der Vorlesung. Ich habe nur auf einem anderen Platz gesessen.«

Er nickte. »Das glaube ich Ihnen sogar, da Sie mich nach dem Ende der Vorlesung angesprochen haben. Das ist wieder eine Anwesenheit zu Ihren Gunsten – was sich auf ungefähr einen Viertelpunkt beläuft. Aber Sie haben noch immer bei sechs Kursterminen gefehlt und null Punkte in einer wichtigen Prüfung.«

Oh Gott. Als hätte jemand einen Stöpsel gezogen, sprudelten die verworrenen Entschuldigungen und Erkenntnisse aus mir heraus. »Mein Freund hat sich von mir getrennt, und er sitzt in dem Kurs, und ich ertrage es nicht, ihn zu sehen, geschweige denn, neben ihm zu sitzen … Oh mein Gott, ich habe die Zwischenprüfung verpasst. Ich werde durchfallen. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie irgendwo durchgefallen.« Als wäre diese ganze Rede nicht schon demütigend genug, stiegen mir jetzt auch noch Tränen in die Augen und liefen über. Ich biss mir auf die Lippen, um nicht offen loszuschluchzen, während ich auf seinen Schreibtisch starrte, außerstande, in die angewiderte Miene zu sehen, die er, wie ich überzeugt war, aufgesetzt hatte.

Ich hörte ihn in demselben Augenblick aufseufzen, in dem ein Taschentuch in meinem Gesichtsfeld auftauchte. »Heute ist Ihr Glückstag, Miss Wallace.«

Ich nahm das Taschentuch und presste es an meine nassen Wangen, während ich ihn argwöhnisch beäugte.

»Zufälligerweise habe ich eine Tochter, die nur ein bisschen jünger ist als Sie. Sie hatte kürzlich selbst eine scheußliche kleine Trennung zu verkraften. Meine superschlaue Einserschülerin hat sich in ein emotionales Wrack verwandelt, das nur noch geweint, geschlafen und noch ein bisschen mehr geweint hat – ungefähr zwei Wochen lang. Und dann ist sie wieder zur Vernunft gekommen und hat beschlossen, dass sie sich von keinem Jungen ihr Schulzeugnis ruinieren lassen wird. Meiner Tochter zuliebe werde ich Ihnen noch eine Chance geben. Eine. Wenn Sie die vermasseln, dann werden Sie am Ende des Semesters die Note bekommen, die Sie verdient haben. Haben wir uns verstanden?«

Ich nickte, während noch mehr Tränen hervorquollen.

»Gut.« Mein Professor verlagerte unbehaglich seine Haltung und reichte mir noch ein Taschentuch. »Oh, ich bitte Sie – wie ich schon zu meiner Tochter gesagt habe, es gibt nicht einen Jungen auf diesem Planeten, der so viel Kummer wert wäre. Ich weiß es – ich war selbst einmal einer.« Er kritzelte etwas auf einen Zettel und reichte ihn mir. »Das hier ist die E-Mail-Adresse meines Kurstutors, Landon Maxfield. Falls Sie mit seinen ergänzenden Übungssitzungen nicht vertraut sind, schlage ich Ihnen vor, dass Sie sich damit vertraut machen. Sie werden zweifellos auch etwas Einzelbetreuung benötigen. Er war vor zwei Jahren ein hervorragender Student in meinem Kurs, und er arbeitet seitdem als Tutor für mich. Ich werde ihm die Einzelheiten des Projekts nennen, das ich von Ihnen erwarte, um die Note der Zwischenprüfung zu ersetzen.«

Noch ein Schluchzer entfuhr mir, als ich mich bei ihm bedankte, und ich glaubte, er würde sich vor Unbehagen am liebsten in Luft auflösen. »Ja, ja, schon gut, gern geschehen.« Er zückte seinen Sitzplan. »Zeigen Sie mir, wo Sie von jetzt an sitzen werden, damit Sie sich die Viertelpunkte für die Teilnahme verdienen können.« Ich deutete auf meinen neuen Platz, und er trug meinen Namen in das Kästchen ein.

Ich hatte meine Chance. Ich musste mich nur mit diesem Landon in Verbindung setzen und ein Projekt einreichen. Wie schwer konnte das schon sein?

Die Starbucks-Schlange im Studentenwerk war abartig lang, aber es regnete, und ich hatte keine Lust, pitschnass zu werden, um mir in dem Indie-Café hinter dem Campus meinen Schuss Koffein für die Nachmittagsseminare zu holen. Ganz abgesehen davon würde Kennedy höchstwahrscheinlich dort sein. Wir waren fast täglich nach dem Mittagessen in das Café gegangen. Er mied aus Prinzip »Monsterkonzerne« wie Starbucks, selbst wenn der Kaffee dort besser war.

»Ich werde es niemals rechtzeitig über den Campus schaffen, wenn ich mich in dieser Schlange anstelle«, maulte Erin, während sie sich vorbeugte, um nachzusehen, wie viele Leute vor uns dran waren. »Neun Leute. Neun! Und fünf davon warten auf Getränke! Wer zum Teufel sind denn diese ganzen Leute?« Der Typ vor uns sah sie über die Schulter mürrisch an. Sie sah genauso mürrisch zurück, und ich presste die Lippen zusammen, um mir das Lachen zu verkneifen.

»Koffeinjunkies wie wir?«, überlegte ich.

»Igitt«, schnaubte sie, und dann packte sie mich am Arm. »Fast hätte ich’s vergessen – hast du schon gehört, was Buck am Samstagabend passiert ist?«

Mir wurde flau im Magen. Der Abend, den ich nur noch vergessen wollte, würde mir keine Ruhe lassen. Ich schüttelte den Kopf.

»Er wurde auf dem Parkplatz hinter dem Haus überfallen. Ein paar Typen hatten es auf sein Geld abgesehen. Vermutlich Obdachlose, sagt er – so ist das eben, wenn man einen Campus mitten in der Großstadt hat. Sie haben nichts erbeutet, die Schweine, aber Bucks Gesicht ist total verwüstet.« Sie beugte sich etwas näher zu mir vor. »Ehrlich gesagt, sieht er damit sogar ein bisschen heißer aus. Wilder, wenn du verstehst, was ich meine.«

Mir wurde fast schlecht, während ich stumm dastand und Interesse heuchelte, anstatt Bucks Erklärung für die Ereignisse, die zu seinem malträtierten Gesicht geführt hatten, Lügen zu strafen.

»Ach, Scheiße. Ich muss jetzt einen Rockstar kippen, um in Politikwissenschaft nicht wegzupennen. Ich darf nicht zu spät kommen – wir haben einen Kurztest. Wir sehen uns nach der Arbeit.« Sie umarmte mich kurz und rauschte davon.

Ich rückte mit der Schlange weiter vor, während ich in Gedanken zum tausendsten Mal den Samstagabend durchging. Ich konnte nicht verdrängen, wie verletzlich ich mich noch immer fühlte. Mir war immer klar gewesen, dass Männer stärker sind. Kennedy hatte mich öfter, als ich zählen konnte, mit seinen Armen hochgehoben, hatte mich einmal sogar über seine Schulter geworfen, um einen Treppenabsatz mit mir hochzurennen, während ich mich lachend kopfüber an seinen Rücken klammerte. Er konnte problemlos Gläser öffnen, die ich nicht aufbekam, Möbel verschieben, die ich kaum bewegen konnte. Seine körperliche Überlegenheit war besonders deutlich gewesen, wenn er sich über mir abstützte und ich seine Oberarmmuskeln hart unter meinen Händen spürte.

Vor zwei Wochen hatte er mir das Herz aus dem Leib gerissen, und ich hatte mich noch nie so verletzt, so leer gefühlt.

Aber er hatte nie seine körperliche Kraft gegen mich eingesetzt.

Nein, das war alles Bucks Schuld. Buck, ein Campus-Hottie, der kein Problem damit hatte, Mädchen rumzukriegen. Ein Typ, der nie hatte erkennen lassen, dass er mir etwas antun könnte oder würde, oder dass er mich überhaupt wahrnahm, außer als Kennedys Freundin. Ich konnte dem Alkohol die Schuld geben … aber nein. Alkohol baut Hemmungen ab. Er löst keine kriminelle Gewalt aus, wo zuvor keine war.

»Nächster.«

Ich schob meine Gedanken beiseite und sah über den Tresen, bereit, meine übliche Bestellung aufzugeben – und da stand der Typ vom Samstagabend. Der Typ, neben dem zu sitzen ich heute Morgen im Wirtschaftskurs vermieden hatte. Mein Mund klappte auf, aber es kam nichts heraus. Und genau wie heute Morgen flutete die Erinnerung an den Samstagabend zurück. Ich spürte die Hitze in meinem Gesicht, als ich daran dachte, in welcher Position ich mich befunden hatte, was er gesehen haben musste, bevor er dazwischenging … und für wie dumm er mich halten musste.

Aber er hatte auch gesagt, es sei nicht meine Schuld.

Und er hatte mich bei meinem Namen genannt. Dem Namen, den ich seit sechzehn Tagen nicht mehr verwendete.

Meine kurze, inständige Bitte, er möge sich nicht an mich erinnern, blieb ungehört. Ich erwiderte seinen durchdringenden Blick, und ich konnte sehen, dass er sich an alles erinnerte. Jedes beschämende Detail. Mein Gesicht glühte.

»Willst du bestellen?« Seine Frage riss mich aus meiner Verwirrung. Seine Stimme war ruhig, aber ich spürte die Entnervtheit der unruhigen Kunden hinter mir.

»Grande Caffè Americano. Bitte.« Meine Worte kamen so genuschelt, dass ich fast erwartete, er würde mich bitten, sie zu wiederholen.

Aber er markierte nur den Becher, und in diesem Augenblick bemerkte ich die zwei, drei dünnen weißen Mullschichten um seine Knöchel. Er reichte den Becher an den Barmann weiter und tippte das Getränk in die Kasse ein, während ich ihm meine Karte reichte.

»Geht’s dir heute gut?«, fragte er. Seine Worte waren scheinbar so beiläufig – und zwischen uns doch so voller Bedeutung. Er zog meine Karte durch und gab sie mir mit dem Beleg wieder.

»Es geht mir gut.« An den linken Handknöcheln hatte er ein paar Schrammen, aber keine schlimmen Schürfwunden. Als ich die Karte und den Beleg entgegennahm, streiften seine Finger meine. Ich zog meine Hand zurück. »Danke.«

Seine Augen weiteten sich, aber er sagte nichts mehr.

»Ich nehme einen Venti Caramel Macchiato – fettfreie Milch, ohne Sahne.« Das ungeduldige Mädchen hinter mir gab über meine Schulter ihre Bestellung auf. Sie berührte mich zwar nicht, klebte aber näher an mir, als mir angenehm war.

Sein Kiefer spannte sich fast unmerklich an, als er den Blick auf sie richtete. Er markierte den Becher und nannte ihr knapp den Betrag. Während ich zur Seite trat, schnellten seine Augen noch einmal zu mir hinüber. Ich wusste nicht, ob er mir danach noch hinterherschaute. Ich wartete am anderen Ende der Bar auf meinen Kaffee und eilte dann weiter, ohne meinen üblichen Schuss Milch und drei Päckchen Zucker hineinzukippen.

Wirtschaft war eine Überblicksvorlesung, daher war die Teilnehmerzahl riesig – vielleicht zweihundert Studenten. Inmitten so vieler Leute konnte ich den Blickkontakt zu zwei Jungen für die restlichen sechs Wochen des Herbstsemesters doch sicher meiden, oder?

3

Als ich nach der Uni zurück zum Wohnheim kam, schickte ich dem Wirtschaftstutor pflichtschuldig eine E-Mail und nahm dann meine Kunstgeschichte-Hausarbeit in Angriff. Während ich einen Aufsatz über einen neoklassizistischen Bildhauer und seine Einflüsse auf selbigen Stil heruntertippte, murmelte ich einen Dank an die Neurotikerin in mir, die wenigstens in den Nicht-Wirtschaftskursen den Anschluss nicht verloren hatte.

Da Erin in der Arbeit war, konnte ich mich dahinterklemmen und einen Abend lang in aller Ruhe lernen. Hier in unserem winzigen Zimmer war sie zwangsläufig eine fast permanente Ablenkung. Während ich letzte Woche versuchte, für eine Klausur zu büffeln, fand die folgende Unterhaltung statt: »Ich musste diese Pumps für meinen Job kaufen, Daddy!«, beteuerte sie in ihr Handy. »Du hast doch selbst gemeint, dass ich während meines Studiums den Wert von Arbeit lernen soll, und du sagst immer, man soll für den Erfolg gekleidet sein. Das heißt, ich versuche nur, deinen weisen Worten zu folgen.«

Als sie einen Blick in meine Richtung warf, verdrehte ich die Augen. Meine Mitbewohnerin arbeitete als Empfangsdame in einem todschicken Restaurant in der Innenstadt, eine Position, die sie oft als Ausrede benutzte, um ihr Kleiderbudget zu überschreiten. Dreihundert-Dollar-Schuhe – wirklich unerlässlich für einen Job, bei dem sie neun Dollar die Stunde verdiente? Ich verkniff mir das Lachen, als sie mir zuzwinkerte. Ihr Vater knickte jedes Mal ein, vor allem wenn sie das D-Wort verwendete – Daddy.

Ich erwartete keine schnelle Antwort von Landon Maxfield. Als Student im Abschlussjahr und Tutor für eine riesige Vorlesung wie die von Dr. Heller musste er viel um die Ohren haben. Außerdem war ich mir sicher, dass er nicht allzu begeistert davon sein würde, einer Versagerin im zweiten Studienjahr unter die Arme zu greifen, die den Kurs zwei Wochen lang geschwänzt hatte, die Zwischenprüfung hatte sausen lassen und nie zu einer seiner Tutorübungen erschienen war. Ich war entschlossen, ihm zu zeigen, dass ich hart arbeiten würde, um den Stoff aufzuholen und ihn dann möglichst schnell wieder in Ruhe zu lassen.

Eine Viertelstunde, nachdem ich ihm meine E-Mail geschickt hatte, piepte mein Posteingangsfach. Er hatte geantwortet, in demselben förmlichen Ton, in dem ich geschrieben hatte, nachdem ich hin und her überlegt hatte, ob ich bei der Anrede den Vor- oder Nachnamen wählen sollte, und mich schließlich für Mr. Maxfield entschieden hatte.

Hallo Miss Wallace,

Dr. Heller hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass Sie in Makroökonomie Stoff aufholen und eine Projektarbeit einreichen müssen, um die Note der Zwischenprüfung zu ersetzen. Da er seine Zustimmung zu diesem Projekt bereits gegeben hat, besteht keine Notwendigkeit, mir den Grund zu nennen, weshalb Sie so weit zurückgefallen sind. Ich bin als Tutor angestellt, daher fällt dies in meinen Tätigkeitsbereich.

Wir können uns auf dem Campus treffen, vorzugsweise in der Bibliothek, um das Projekt zu erörtern. Es ist detailliert und wird in einem größeren Umfang zusätzliche Recherchen Ihrerseits erfordern. Dr. Heller hat mich angewiesen, welches Maß an Unterstützung ich Ihnen dabei zukommen lassen soll. Im Grunde will er sehen, wie Sie alleine zurechtkommen. Ich werde für allgemeine Fragen selbstverständlich zur Verfügung stehen.

Meine Gruppentutorien finden montags, mittwochs und donnerstags jeweils von 13 bis 14 Uhr statt; diese behandeln jedoch den aktuellen Stoff. Ich nehme an, dass Sie etwas mehr Unterstützung benötigen werden, um sich den Stoff anzueignen, den Sie in den vergangenen zwei Wochen versäumt haben. Lassen Sie mich wissen, zu welchen Zeiten Sie für individuelle Tutorien zur Verfügung stehen, damit wir uns entsprechend abstimmen können.

LM

Mein Kiefer spannte sich an. Obwohl er rundherum höflich war, klang der Tonfall seiner E-Mail verdächtig herablassend … bis hin zu seinem Unterschriftenkürzel ganz am Ende: LM. War es freundlich oder locker gemeint – oder machte er sich lustig über meinen Versuch, wie eine ernsthafte, reife Studentin zu klingen? Ich hatte die Trennung in meiner E-Mail am Rande erwähnt, in der Hoffnung, dass er nicht nach Einzelheiten fragen würde. Jetzt kam es mir vor, als hätte er es nicht nur bewusst vermieden, die genauen Umstände zu erfahren, sondern würde noch weniger von mir halten, weil ich mir von einer Beziehungskrise meine akademische Karriere verpfuschen ließ.

Ich las seine E-Mail noch einmal – und wurde noch wütender. Er hielt mich also für zu blöd, um mir den Stoff alleine anzueignen?

Hallo Mr. Maxfield,

ich kann an Ihren Übungen nicht teilnehmen, da ich montags und mittwochs von 13 – 14:30 Uhr Kunstgeschichte habe und donnerstags nachmittags in der Mittelschule Musikstunden gebe. Ich wohne auf dem Campus und kann mich montags und mittwochs spätnachmittags sowie an den meisten Abenden mit Ihnen treffen. Außerdem bin ich an den Wochenenden frei, wenn ich keinen Privatunterricht gebe.

Ich habe begonnen, den Stoff über das BIP, den VPI und die Inflation zu lesen, und bearbeite jetzt die Wiederholungsfragen am Ende von Kapitel 9. Wenn Sie sich mit mir treffen wollen, um mir die Projektanforderungen mitzuteilen, bin ich sicher, dass ich den regulären Kursstoff allein aufholen kann.

Jacqueline

Ich drückte auf Senden und fühlte mich ungefähr zwanzig Sekunden lang überlegen. Tatsächlich hatte ich noch kaum einen Blick in Kapitel 9 geworfen. Bis jetzt sah es für mich nicht so sehr nach verständlichen Angebot-Nachfrage-Diagrammen aus, sondern eher nach irgendeinem Gekrakel aus Dollarzeichen und rätselhaften Symbolen, die scheinbar zum Spaß dazwischen eingestreut waren. Und was das BIP und den VPI betraf – na ja, ich wusste, wofür diese Akronyme standen … irgendwie.

Oh Gott. Ich hatte soeben hochnäsig dem Tutor eine Abfuhr erteilt, den mir mein Professor zur Seite gestellt hatte – der Professor, der nicht verpflichtet war, mir eine zweite Chance zu geben, es aber dennoch getan hatte.

Als mein E-Mail-Account wieder piepte, schluckte ich, bevor ich ihn anklickte. Eine neue Nachricht von Landon Maxfield stand ganz oben in meinem Posteingangsfach.

Hallo Jacqueline,