Eins, Zwei ... hörst du ihren Schrei? - Andrea Reinhardt - E-Book

Eins, Zwei ... hörst du ihren Schrei? E-Book

Andrea Reinhardt

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Beschreibung

Die Puppe weint, das Kind vergeht,
in Dunkelheit der Schmerz besteht …
Das Internet liebt es, wenn “Puppe Madeleine” für die Zuschauer tanzt und sich in ihren knappen Kleidchen präsentiert. Das Mädchen unter dem Make-up erfährt aber nicht nur Bewunderung in ihrem Umfeld. Im Streit zwischen ihrer Mutter und dem Jugendamt verschwindet sie plötzlich.
Kommissar Matthias Kron wird Jahre später nicht über Akten in seinen nächsten Fall gezogen, sondern ist gleich mitten im Geschehen. Bei einem eigentlich entspannten Tag mit seinen Kindern im Park taucht ein Mädchen auf, das alle um sie herum erstarren lässt. Sie trägt übertriebenes Make-up, ist gekleidet wie eine Puppe und hinterlässt blutige Fußabdrücke auf dem Asphalt.
Sie ist eines von einer ganzen Reihe an jungen Mädchen, die vermisst werden. Alle kehren auf mysteriöse Weise verändert zurück – und erst, nachdem Blut geflossen ist. Doch wer hält in diesem perfiden Spiel die Fäden in der Hand?

Ein moderner Psychothriller von Bestsellerautorin Andrea Reinhardt über Taten, die uns vor und hinter der Kamera erschüttern.

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EINS, ZWEI … HÖRST DU IHREN SCHREI?

TICK, TOCK … TOT.

BUCH 4

ANDREA REINHARDT

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

_____________________

Texte: Andrea Reinhardt

Cover: MT-Design

Satz: Zeilenfluss

Korrektorat: Dr. Andreas Fischer, Johannes Eickhorst

_____________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

_____________________

ISBN: 978-3-96714-492-5

Für all die Menschen, die mit Akzeptanz,

Liebe und Respekt durchs Leben gehen.

1

27. MÄRZ 2023

Mathias saß auf einer Parkbank in der Koblenzer Innenstadt und beobachtete lächelnd seine Kinder, die gerade ein Eis schleckten. Es war Zeit, die sehr kostbar war, weil sie oftmals viel zu wenig davon hatten.

Julian hatte sich die Hälfte seiner Schokoladenkugel um den Mund geschmiert und umkreiste seine Lippen ständig mit der Zunge, was das Eis nur noch mehr verbreitete.

Mia hingegen nahm sich immer nur ein wenig Eis mit der Zungenspitze, sodass sie ewig brauchte, um eine Kugel zu essen.

Es waren die ersten Sonnenstrahlen des Jahres, die Mathias’ Stimmung nur langsam hoben. Was nach den harten Wintermonaten Zeit wurde. Der Fall, der sich zu Weihnachten in Koblenz zugetragen hatte, steckte ihm noch immer in den Knochen, die schrecklichen Bilder der getöteten Familien tauchten nachts weiterhin in seinen Träumen auf. Er wusste nicht, ob die für gewöhnlich besinnliche Zeit das Verbrechen so viel schlimmer gemacht hatte, das erste Weihnachten ohne seine Frau Sara ihn hatte sentimentaler werden lassen oder ob er wirklich keinen anderen Fall als so furchtbar empfunden hatte wie diesen.

Jemand rüttelte an seinem Bein, was ihn aus den düsteren Gedanken riss.

»Papa, gehen wir auf den Spielplatz?«, fragte Julian.

»Klar, wenn ihr wollt. Ich habe heute einen freien Tag und versprochen, dass ihr entscheiden dürft, was wir machen. Das Wetter soll sich auch halten, also spricht nichts dagegen. Was meinst du, Mia?«

Seine Tochter schaute an sich hinunter. »Hmm, ich habe aber ein schönes Kleid an, das auf der Rutsche oder im Sand schmutzig wird. Ich möchte lieber nach Hause gehen.«

»Nö«, antwortete Julian bockig und biss theatralisch in seine Waffel. »Ich will aber auf den Spielplatz.«

Mathias beobachtete seine Tochter, die auf den Gehweg starrte und vorsichtig ihr Eis naschte. »Es ist doch gar nicht schlimm, wenn das Kleid schmutzig wird, das können wir wieder waschen. Spaß geht immer vor.«

Mia schüttelte den Kopf. »Lieber nicht.«

Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen.

»Was hast du, mein Schatz? Belastet dich etwas?« Er rückte näher an seine Tochter.

Sie zuckte nur mit den Schultern.

»Du weißt, dass du mit mir reden kannst. Ich bin dein Papa und würde alles tun, damit es dir gutgeht.«

»Ich möchte nur nicht, dass du wegen mir zu viel Stress hast«, sagte Mia. Ihr Kinn zitterte. Eine dicke Krokodilsträne tropfte auf den Boden.

Mathias riss die Augenbrauen hoch und fragte sich, wie seine gerade erst sechs gewordene Tochter auf solche Gedanken kam. »Niemals würde mich etwas stressen, was mit euch zu tun hat. Warum glaubst du denn so was?«

Mia zog eine Schnute. »Ich habe gestern aus Versehen einen Film geguckt, bei dem der Mann gesagt hat, dass er zu viel Stress hat und dann bald einen Herzinfarkt haben und sterben wird. Julian und ich haben immer unsere Sachen schmutzig gemacht und die Zimmer nicht aufgeräumt. Und wir haben oft geschrien. Vielleicht hatte Mama wegen uns Stress und ist deshalb krank geworden.«

Mathias’ Herz krampfte. Er nahm seine Tochter auf den Schoß. »Meine süße Kleine, so was darfst du gar nicht denken. Ihr seid doch nicht schuld an Mamas Tod. Für sie wart ihr kein Stress. Sie hat alles gern getan. Es ist völlig normal, dass Kinder ihre Kleidung schmutzig machen oder laut sind. Jede Mama muss da durch. Deshalb wird man nicht krank. Bitte rede dir das nicht ein. Das, was du in dem Film gesehen hast, ist anders gemeint. Manchmal erzählen Erwachsene Dinge, die sie aber gar nicht so meinen, wie sie es sagen. So wie man es auch von Redewendungen kennt. Verstehst du, was ich damit meine?«

»Nein«, antworte Mia.

»Zum Beispiel erinnerst du dich doch bestimmt, dass Mama immer gesagt hat, es wird höchste Eisenbahn, wenn sie es eilig hatte. Die Redewendung bedeutet, dass es an der Zeit ist, loszugehen, sonst verspätet man sich. Und wir nehmen deshalb aber trotzdem keinen Zug. Und so ist die Bedeutung von dem, was der Mann gesagt hat, auch nur ein übertragener Sinn. Nicht jeder der Stress hat, stirbt an einem Herzinfarkt. Darüber musst du dir also keine Gedanken machen.«

Mia schmiegte den Kopf an seine Schulter. »Aber warum ist sie dann gestorben?«

»Leider ist das Leben so. Das Schicksal hat entschieden, dass Mama in den Himmel kommt. Manche Menschen sterben jung und andere erst, wenn sie älter sind. Daran können wir nichts ändern, nur jede Minute nutzen und glücklich sein. Auch wenn es manchmal schwerfällt.«

»Sterben auch Kinder, Papa?«, fragte Julian und starrte ihn mit seinem schokoladenverschmierten Mund an.

Mathias gefiel die Richtung des Gesprächs gar nicht. Es war noch kein Jahr her, dass Sara gestorben war. Seine Kinder hatten lange gelitten. Doch er hatte bisher das Gefühl gehabt, dass sie auf einem guten Weg waren. Er nahm auch Julian auf seinen Schoß und entschied ehrlich mit dem Thema umzugehen, schließlich haben sie selbst erlebt, dass es solche traurigen Schicksale gab. »Leider müssen Kinder ebenso manchmal sterben. Aber wir beten jeden Tag, dass wir drei noch ganz lange glücklich sein können.«

»Hmhm«, antwortete Julian, wirkte jedoch gar nicht bei der Sache. »Und dieses Mädchen dort drüben? Muss das auch bald sterben? Es sieht so krank aus.« Sein Sohn zeigte in Richtung der Liebfrauenkirche. »Sie ist ein bisschen gruselig.«

Mathias stockte der Atem.

Ein Mädchen schlich den Weg hinunter. Das Aussehen war bizarr. Es sah aus wie eine lebensgroße Puppe und trug ein weißes Kleid, das von einer Barbie stammen könnte. Es war mit Blutflecken besprenkelt. Das Kind ging barfuß, die nackten Fersen hinterließen blutige Abdrücke auf dem Asphalt.

Mathias’ Herz setzte einen Schlag aus, als er die Szene beobachtete.

Plötzlich wurde ihm die Sicht versperrt. Eine Schar neugieriger Menschen drängte sich um das Mädchen.

»Ihr bleibt bitte hier sitzen«, sagte Mathias eindringlich. »Mia, es ist wichtig, dass du auf Julian aufpasst. Ihr lauft nicht weg, verstanden? Ich schaue, ob es dem Kind gutgeht.«

Seine Tochter nickte, ihre Augen waren weit aufgerissen.

»Keine Sorge, ich glaube, es ist nur ein Kostüm. Ich gucke trotzdem einmal nach, okay?«

Wieder nickte Mia und nahm die Hand ihres Bruders fest in ihre eigene. »Ich passe auf.«

Mathias eilte zu dem Mädchen, das mittlerweile von den Schaulustigen belagert wurde.

»Lassen Sie mich bitte durch. Ich bin von der Kriminalpolizei«, rief er mit angespannter Stimme.

»Das ist echtes Blut«, schrie ein Passant panisch.

»So wie das aussieht, hat die Kleine jemanden getötet«, sagte eine Frau mit zitternder Stimme.

Mathias hatte Mühe, sich durch die aufgebrachte Menge zu bewegen, die Worte der Leute machten ihn aber ganz nervös.

»Lassen Sie mich jetzt durch«, rief er lauter.

»Hey, drängeln Sie nicht so«, plärrte ihn ein Mann an und schubste ihn leicht zur Seite. »Seien Sie nicht so neugierig.«

Fast hätte Mathias laut losgelacht, doch er beherrschte sich, seine Wut im Zaum zu halten. Er zog seinen Dienstausweis heraus. »Kripo Koblenz. Was haben Sie gesagt?«

Der Mann lief rot an. »Ähm, nichts. Schon in Ordnung.«

Dann ging er weg.

Endlich erreichte er das Mädchen. Er betrachtete es genauer.

Die schmalen Schultern zitterten. Das Gesicht war blass und die Augen starrten leer in die Ferne, so als würde das Kind etwas Unheimliches beobachten. Schätzungsweise war es zehn bis zwölf Jahre alt. Es steckte in einem hautengen weißen Kleid mit Spitzen an den Ärmeln und am Rock. Dieser war sehr kurz, sodass er nur ganz knapp die Scham überdeckte. Die Beine waren nackt. Ihr blondes Haar war zu zwei hohen geflochtenen Seitenzöpfen gebunden, und darin trug sie rote Schleifen. Das Gesicht war weiß geschminkt. Die Wangen jeweils mit einem knallroten großen Kreis bemalt. Die Lippen leuchteten in gleicher Farbe, nur entsprachen die aufgezeichneten Lippen nicht den echten des Mädchens. Sie waren eher spitz nach oben gezogen und kürzer. An den Augen waren dünne schwarze Striche nach oben und unten aufgemalt, was aussah wie übergroße Wimpern.

»Geht es dir gut?« Blöde Frage, offensichtlich ging es das nicht. Mathias kniete sich vor ihr nieder, versuchte, den Hauch einer Reaktion in ihrem Blick zu finden.

Doch das Mädchen blieb stumm und wirkte als sei sie in einer anderen Welt gefangen. Ihre Lippen bebten leicht.

Mathias’ Blick wanderte über die Blutflecken auf dem Kleid und den Armen.

»Wo bist du verletzt?«, fragte er sanft.

Wieder bekam er keine Antwort.

Die Menge rückte dichter heran, ihre neugierigen Augen brannten in Mathias’ Rücken.

»Ich brauche Platz«, sagte er streng und hob seinen Dienstausweis. »Kripo Koblenz. Gehen Sie bitte weiter und lassen Sie dem Mädchen doch etwas Raum.«

Aus einer Ecke dröhnte lautes Gelächter.

»Das ist so gruselig, damit gehen wir viral«, sagte ein Junge aus einer Gruppe Jugendlicher, die ihre Handys auf das Mädchen gerichtet hatten.

Mathias stellte sich vor die Kameras. »Sofort einstellen. Es ist verboten, andere Menschen ungefragt zu filmen.«

»Glauben Sie, nur weil Sie Bulle sind, muss ich auf Sie hören?«, sagte einer der Jungen.

»Ja, ganz richtig, das meinte ich damit. Du siehst aus wie mindestens vierzehn, sprich, du bist strafmündig. Gern kann ich dich jetzt mit aufs Präsidium nehmen und eine Anzeige schreiben. Interesse?« Mathias brodelte innerlich über so viel Respektlosigkeit, doch nach außen blieb er ruhig.

»Chill mal. Ich habe nichts gemacht.« Der Junge hob seine Hände.

»Ihr löscht auf der Stelle die Videos. Ich möchte es sehen.« Mathias nahm sein Handy und forderte zur Unterstützung einen Streifenwagen zur Liebfrauenkirche an, nicht ohne die Jugendlichen aus den Augen zu lassen. Allein würde er die Meute nicht in den Griff bekommen. Außerdem musste er sich dringend um das Mädchen kümmern.

Nachdem er sich versichert hatte, dass die Jungs die Aufnahmen gelöscht hatten, schickte er sie weg und drehte sich zu dem Kind. Er musste irgendwie einen Draht zu ihr finden, um zu schauen, ob sie irgendwo verletzt war.

»Ich bin Mathias«, sagte er behutsam, hockte sich vor sie und betrachtete dabei die rote Farbe an ihren Armen und dem Kleid. Es sah tatsächlich aus wie echtes Blut. »Bist du irgendwo verletzt? Ich kann dir helfen.«

Das Mädchen hielt die Hände auf dem Rücken und starrte mit leeren Augen durch Mathias hindurch. Sie reagierte nicht auf seine Frage.

»Sagst du mir, wie du heißt?«, fragte er trotzdem weiter, doch auch darauf erhielt er keine Antwort. Vorsichtig griff er nach dem Arm und zog ihn nach vorn, weil er schauen wollte, wo sie verletzt war. Sein Herz blieb fast stehen, als er das blutige Messer in der Hand der Kleinen entdeckte.

»Oh, das ist gefährlich. Bitte gib es mir.« Er hielt ihr Handgelenk fest, damit sie keine falsche Bewegung machen konnte, und nahm ihr mit der anderen Hand das Messer ab.

Das Mädchen keuchte.

»Schon gut, ich tue dir nichts. Ich bin Polizist und passe auf dich auf, okay. Dir wird nichts passieren.« Mathias atmete erleichtert aus, als er endlich seine Kollegen anfahren sah.

Eine Polizistin stieg von der Beifahrerseite aus und kam auf Mathias zugeeilt.

Er kannte sie nicht. Deshalb stellte er sich vor und zeigte seinen Dienstausweis. »Sie ist hier in diesem Zustand aufgetaucht, wie aus dem Nichts. Bisher habe ich noch nichts aus ihr herausbekommen. Wir brauchen eine Tüte, um das Messer zu sichern, es sind meine Fingerabdrücke drauf, weil ich es ihr abgenommen habe. Ich gebe später direkt eine Vergleichsprobe ab. Ruf bitte auch einen Krankenwagen, sie scheint verletzt zu sein und steht unter Schock.«

Die Polizistin nickte und informierte die Leitstelle.

Der Kollege, der am Steuer des Dienstwagens gesessen hatte, beschäftigte sich mit den Leuten und scheuchte sie weiter.

Mathias widmete sich wieder dem Mädchen. »Bitte habe keine Angst, ich möchte einmal schauen, ob du verletzt bist, okay? Es wäre toll, wenn du vielleicht nicken oder mit dem Kopf schütteln könntest, wenn ich dich etwas frage. Tut dir etwas weh?«

Doch das Kind reagierte weiterhin nicht. Es stand einfach wie erstarrt da, so als wäre sie nur eine Puppe.

Mathias ging einmal um sie herum. An einem Knopf in ihrem Rücken entdeckte er einen Zettel, der mit einer Stecknadel befestigt war.

»Ich brauche hier bitte einmal Handschuhe«, rief er seinen Kollegen zu.

Die Beamtin brachte ihm welche und stellte sich neben ihn.

»Es ist erledigt«, las er laut vor, nachdem er das Stück Papier entfernt hatte. Dann steckte er auch das in einen Beweisbeutel. »Das hier ist wirklich sehr merkwürdig.«

Das Martinshorn des Krankenwagens ertönte einmal, als dieser versuchte, an der Menge der Schaulustigen vorbeizufahren.

»Da kommen jetzt Sanitäter, die dir helfen«, sagte Mathias zu dem Mädchen. »Sie wollen nur sehen, ob du gesund bist.«

Die Sanitäter und ein Notarzt eilten auf sie zu und übernahmen das Mädchen.

Mathias gab ihnen die Informationen, die er hatte und schaute dann nach seinen Kindern, die immer noch auf der Bank saßen. Da er wusste, dass er sowieso auf dem Präsidium eine Aussage machen musste, rief er seine Schwiegermutter an, um sie in die Stadt zu bestellen.

»Hallo Supercop«, sagte sie nach dem Abnehmen. »Alles gut bei euch?«

Mathias bekam noch immer eine Gänsehaut bei der Nennung seines Spitznamens. Gisela nannte ihn so, weil es Sara immer so gemacht hatte. »Es tut mir leid, dass ich dich schon wieder in Anspruch nehmen muss. Ich bin mit den Kleinen gerade in der Stadt, und hier ist ein Notfall. Ich müsste eine Zeugenaussage machen. Ist es dir möglich, Mia und Julian abzuholen, damit ich sie nicht mit aufs Präsidium nehmen muss?«

»Natürlich, ich komme. Ich wollte morgen eh in die Stadt, dann erledige ich das einfach heute schon. Wo seid ihr gerade?«

»Wir sind an der Liebfrauenkirche vor der Eisdiele.«

»Okay, ich bin in fünfzehn Minuten da.« Gisela legte auf. Sie war nicht genervt oder sauer, weil er sie schon wieder brauchte. Sie war froh, dass sie ihm helfen konnte, das hatte sie ihm immer wieder versichert.

Mathias musste sich eingestehen, dass er ohne seine Schwiegermutter aufgeschmissen wäre und das nicht nur, weil sie immer wieder auf die beiden aufpasste, wenn er länger arbeiten musste. Sie unterstützte ihn auch in Erziehungs- und Alltagsfragen. Sara hatte das Meiste übernommen, was die Kinder anging, da er in seinem Job gefordert war. Dadurch hatte er nicht immer mitbekommen, wie sie die Kinder getröstet hatte, welche Kleidung die passende war, wer ihre Freunde waren, wie viele Süßigkeiten sie essen durften oder wenn es um Kindergartengespräche ging. Er kannte noch nicht einmal alle Betreuer der Kita. Gisela wusste das alles. Mittlerweile fuchste er sich auch langsam daran, es wurde immer besser.

»Entschuldigen Sie.«

Mathias erschrak, als jemand ihn von hinten antippte. Er drehte sich um.

Es war der Notarzt. »Wir nehmen das Kind jetzt mit in die Kinderklinik. Sie scheint äußerlich erst einmal nicht verletzt zu sein. Wir haben nichts gesehen. Wo das viele Blut herkommt, können wir deshalb nicht sagen. Allerdings hat sie geweitete Pupillen, was mir etwas Sorge bereitet. Es könnte sein, dass sie unter Drogen steht.«

»Okay. Sagen Sie bitte in der Klinik, dass der Fall als mögliches Verbrechen eingestuft wird, sie sollen dann also alles Nötige veranlassen, um Spuren zu sichern. Bitte auch gynäkologisch untersuchen und die Rechtsmedizin in Mainz informieren.«

»Das gebe ich so weiter«, antwortete der Notarzt.

»Hat das Mädchen in der Zwischenzeit etwas gesagt? Ihren Namen?«

»Nein, sie spricht nicht.«

Mathias war frustriert. Das Mädchen brauchte dringend ihre Eltern beziehungsweise eine Bezugsperson, sollte sie Opfer eines Verbrechens geworden sein. Doch ohne Namen war es schwer, etwas über sie herauszufinden. »Es kommen dann gleich Kollegen in die Klinik. Auch von der Spurensicherung. Ich hoffe, wir finden ihre Eltern schnell, damit die Kleine nicht allein ist.«

Der Notarzt nickte und verabschiedete sich.

Mathias warf einen Blick auf das Mädchen, und noch immer entsetzte ihr Erscheinungsbild ihn. Sie stand völlig unter Schock, und er wollte gar nicht wissen, was sie hatte durchmachen müssen.

Ein lauter Schrei riss ihn aus den Gedanken, und keine Sekunde später hing das Mädchen an ihm. Sie umklammerte seinen Arm und starrte ihn aus flehenden Augen an.

Der Notarzt und eine Sanitäterin kamen auf sie zu.

Die Sanitäterin hockte sich zu dem Kind hinunter. »Wir wollen dir nichts tun, nur mit dir ins Krankenhaus fahren, damit die Ärzte schauen können, ob alles in Ordnung ist. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Das Mädchen reagierte nicht und hielt ihren Blick stur auf Mathias gerichtet.

»Möchtest du, dass ich dich begleite?«

Endlich kam eine Reaktion. Sie hatte genickt und krallte sich noch fester an seinen Arm.

Mathias wollte das Vertrauen, dass das Kind zu ihm zeigte, nutzen, um eventuell doch noch mehr aus ihr herauszubekommen. »Das mache ich. Ich sage nur schnell meinen Kindern Bescheid, damit sie nicht alleine sitzen. Auch noch der Polizistin dort.« Er zeigte auf die Beamtin. »Dann komme ich sofort mit dir.«

Das Mädchen schaute in die Richtung seiner Kinder, dann lockerte sie den festen Griff.

Mathias ging zu Mia und Julian und hockte sich vor sie.

Sein Sohn zog eine Schnute. »Sie ist ganz schön gruselig. Wird sie sterben?«

»Nein.« Schnell überlegte er sich etwas, um ihn zu beruhigen. »Das ist nur ein Kostüm, wie zu Halloween. Da sehen auch immer alle furchteinflößend aus.«

»Aber wir haben kein Halloween.«

»Ich weiß, mein Schatz. Deswegen möchte ich auch gern herausfinden, warum sie so aussieht. Ich habe Oma angerufen, die wird euch gleich abholen. Die nette Polizistin wartet so lange hier, bis sie da ist. Ich hole euch dann später bei euren Großeltern ab. Es tut mir leid, dass der Tag so endet, aber den Spielplatz holen wir nach, das verspreche ich euch.«

»Schon okay, Papa.« Mia legte ihren Arm auf seine Schulter. »Wenn das Mädchen deine Hilfe braucht, hat sie Glück. Denn du bist der beste Polizist der Welt. Das hat Mama immer gesagt.«

Wieder bohrte sich der kleine Stachel, den er seit Monaten in seinem Herzen trug, ein Stück tiefer. »Ich beeile mich, versprochen.«

Er gab jedem je einen Kuss auf die Stirn und besprach alles mit der Kollegin. Dann lief er zum Krankenwagen.

Erst als er da war, ließ sich das Mädchen auf die Liege schnallen. Mathias setzte sich neben sie. Sofort ergriff sie seine Hand. Der Druck verriet, dass sie große Angst hatte und alles daransetzen würde, dass er an ihrer Seite blieb.

Mit der anderen Hand holte er sein Handy heraus. Er schrieb Gisela die Information, dass eine Polizistin bei den Kindern wartete. Anschließend wählte er die Nummer des Präsidiums, um die Kollegen dazu zurufen.

»Mathias, du hast heute frei«, sagte Romy ohne eine Begrüßung. Es hatte fast vorwurfsvoll geklungen.

»Ich weiß, trotzdem bringe ich Arbeit.« Er schilderte seiner Kollegin kurz, was sich in der Stadt ereignet hatte, bat sie in die Klinik zu kommen und die Spurensicherung zu informieren.

»Natürlich, ich fahre direkt los. Hast du schon etwas zur Überprüfung?«

»Nicht viel, sie spricht nicht. Man kann auch nicht wirklich was von ihrem Gesicht erkennen, es ist total mit Schminke zugekleistert. Ich schätze sie ungefähr auf zehn Jahre, vielleicht auch zwölf. Lässt sich schwer erraten. Ihr Haar ist blond und lang. Augenfarbe Blau. Schlanke Figur. Mehr habe ich nicht. Ich schicke dir noch ein Foto.«

»Ich lasse Norman die aktuellsten Vermisstenmeldungen schon einmal durchgehen, vielleicht haben wir schnell einen Treffer.«

»Danke, bis gleich.« Mathias legte auf und betrachtete das Mädchen.

Sie hatte sich zurücklehnt, auch der Händedruck war schwächer. Die Augen hatte sie geschlossen, ihr Atem ging ruhig.

»Was ist nur mit diesem armen Ding passiert?«, fragte die Sanitäterin, die die Vitalwerte des Mädchens kontrollierte. »Sie ist völlig verstört.«

Mathias seufzte. Er ahnte bereits, dass hinter dieser Geschichte offenbar wieder ein scheußliches Verbrechen lag. Doch er würde sich wünschen, dass er sich täuschte. »Vielleicht hat sie sich nur verlaufen und ist deshalb verängstigt. Ich hoffe irgendwie, dass es eine harmlose Erklärung gibt.«

Die Sanitäterin zog die Augenbrauen hoch. »Das ist eine Menge Blut. Echtes. Ich glaube nicht, dass es sich um etwas Harmloses handelt.«

Mathias ging nicht darauf ein, der Sanitäterin stand auch nicht zu, Mutmaßungen anzustellen, sie sollte sich um die Gesundheit des Mädchens kümmern. Herauszufinden, was dem Kind zugestoßen war, war seine Aufgabe.

2

2008

»Jetzt halt verdammt noch einmal still«, platzte Mama mich an. Sie riss an meinen Armen, sogar so fest, dass es in meiner linken Schulter knackte. »Ich mache das, damit ich dir deinen Luxus finanzieren kann. Es wäre schön, wenn du ein bisschen mehr Enthusiasmus zeigen würdest.« Mama tupfte mir die weiße Farbe ins Gesicht. Dabei nahm sie keine Rücksicht darauf, dass sie mein Auge getroffen hatte und es nun wie Feuer brannte.

Ich wischte die Tränen ab, die mir aufgrund des Schmerzes in die Augen schossen.

Mama boxte mich gegen die Schulter. »Du nervst mich. Wenn du so weitermachst, tausche ich dich aus. Ich hole mir ein Kind aus einem armen Land, das glücklich wäre, wenn ich das alles für es machen würde. Und du kannst einmal sehen, wie es ist, arm zu sein. Wenn du das nicht willst, dann stell dich nicht an wie ein Baby.«

»Ich brauche nur kurz eine Pause. Du hast mein Auge mit der Farbe getroffen, deshalb tränt es. Darf ich es auswaschen?«

»Auf keinen Fall.« Mama sah mich entsetzt an. »Ich schminke dich seit einer Stunde. Das ist viel Arbeit, die du jetzt vernichten willst? Wir gehen in einer Stunde live, meine Fans warten schon. Reiß dich zusammen.«

Ich nickte nur, wischte noch einmal über mein Auge und atmete tief durch. Meine Unterlippe schmeckte blutig, weil ich darauf gebissen hatte. Auch deshalb würde Mama gleich mit mir schimpfen, denn die Lippen mussten noch rot bemalt werden. Es würde stören, wenn es dann blutete.

Ich hasste es so sehr. Am Anfang war es noch spaßig gewesen, mit Mama Videos zu drehen. Es kam nur ab und zu vor, dass sie mich gefilmt und es dann in den sozialen Medien hochgeladen hatte. Es waren meist witzige Szenen, zumindest empfanden das Mamas Follower so. Ich fand es nicht lustig, weil es manchmal Situationen waren, in denen ich gar nicht gefilmt werden wollte. Aber es war okay, ich fand es schön, wie Mama sich darüber freute und es war ja nicht oft.

Doch irgendwann wollte sie immer mehr Videos machen. Ich musste fast jeden Tag mit ihr drehen. Hinzu kam, dass sie eines Tages zu mir sagte, sie hätte eine tolle Idee, bei der sie viel Geld verdienen würde.

Von diesem Tag an war mein Leben ein Albtraum, weil unsere Beziehung nur noch aus Filmen und bloßstellen bestand. Dabei hatte ich Mama doch so sehr lieb.

Ihre Idee war, mich in dieses übergroße Puppenkostüm zu stecken. Mittlerweile habe ich zehn verschiedene Kleider, die aussahen, als stammten sie von Barbie höchstpersönlich. Der Stoff kratzte auf meiner Haut, manchmal hatte ich sogar blutige Striemen. Jedes Mal musste ich mich in ein enges Korsett zwängen, das mir die Luft zum Atmen nahm. Dann wurde ich stundenlang geschminkt, worauf ich immer aussah wie eine Mischung aus einer traurigen Puppe und einem Clown. Im Livestream sollte ich dann zu diversen Musikstücken tanzen. Und manchmal stellte mich Mama bloß.

Ich wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht, weil mir bei dem Gedanken an mein Leben erneut die Tränen kamen.

Mama verdrehte die Augen und stöhnte. »Was ist denn nun schon wieder? Warum stellst du dich nur so dumm an?«

Ich nahm all meinen Mut zusammen, ich wollte es schon lange einmal aussprechen, hatte mich bisher aber nie getraut. Mama tat das alles schließlich nur für mich, damit ich später viel Geld hatte und mir um nichts Gedanken machen musste. Doch nun wollte ich endlich sagen, dass es mir nicht gut damit ging. »Eigentlich möchte ich das alles gar nicht, Mama. Ich habe keinen Spaß an diesen sozialen Medien.«

Mein Herz pochte so laut in meiner Brust, dass jeder Schlag meine Angst noch verstärkte. Jeder Muskel in mir war angespannt, während ich voller Angst auf ihre Reaktion wartete, die wie ein drohendes Gewitter in der Luft hing.

Mama starrte mich an. Ihre Augen waren ganz weit. »Willst du mich gerade veräppeln? Ich reiße mir seit zwei Jahren den Hintern auf, damit ich viel Geld für uns erwirtschafte. Dein Versager von Vater steuert ja nichts bei. Ich muss dich allein großziehen, muss dir Essen und Klamotten besorgen. Findest du es nicht richtig, dass du mir dabei ein wenig hilfst?«

»Doch, ich möchte dich ja unterstützen. Aber es ist mir echt peinlich in diesen Kleidern und mit dieser Schminke im Internet zu tanzen. Ich könnte doch auch meine Bilder zeigen, vielleicht werden wir damit auch Geld verdienen.«

Mama schminkte mich ungerührt weiter. »Wir müssen uns von allen abheben. Was Besonderes sein. Mit Kinderbildern, einem normalen Tanzcontent oder Mama-Blog kommen wir nicht weit, das gibt es doch schon hunderte Male. Wir sind anders. Die Fans lieben uns. Und wenn wir ganz ehrlich sind, irgendein Talent hast du ja nicht, das wir nutzen könnten.«

Die letzten Worte trafen mich. Ich hatte Talent, doch Mama wollte das nicht sehen. Ich konnte gut zeichnen und war gut in Sport. »Ich finde das trotzdem nicht schön. Ich möchte das nicht machen. Könnten wir es wenigstens reduzieren?«

»Nein!«, sagte sie entschieden. »Regelmäßiges Zeigen ist wichtig, damit wir genügend Aufrufe bekommen, die wir wiederum benötigen, um Reichweite zu erlangen. Wir haben das große Glück, dass wir die Plattform ZonePulse schon ziemlich seit ihrem Anfang genutzt haben, ehe andere wie Unkraut aus dem Boden gesprossen sind. Dadurch hatten wir noch nicht so eine nennenswerte Konkurrenz. Aber wir müssen aktuell bleiben, denn es werden sich viele Menschen zeigen wollen, werden sich genau das wünschen, was wir haben. Und wenn wir dann nicht dranbleiben, sind wir schnell weg vom Fenster. Also hör jetzt auf zu jammern. Und halte still, damit wir endlich fertig werden.«

Ich traute mich nicht, noch mehr zu sagen. Ich konnte Mama nicht umstimmen, aber ich würde es nach dem Videodreh noch einmal versuchen.

Es dauerte noch ein paar Minuten, bis Mama mir die übergroßen Wimpern aufgemalt und den erdbeerroten Mund geschminkt hatte, der aussah, als spitzte ich meine Lippen. Dabei waren es nicht meine eigenen. Als sie fertig war, stellte sie sich weiter weg und betrachtete mich. »Es ist erledigt. Sie werden es lieben. Kannst du deine Choreografie?«

Auch bei dem Gedanken, so zu tanzen, wurde mir ganz schlecht. Oft schrieben dann irgendwelche Männer eklige Sachen, obwohl ich erst elf war. Dinge wie, dass mein Po sexy wäre, dass meine schlanken langen Beine sie anmachten oder dass sie mich gern mal nackt sehen wollten. Mama sagte immer nur, dass es Trolle seien und ich keine Angst haben brauche, weil es alles nur Schlappschwänze wären, die außer Reden nichts machen würden. Aber ich hatte trotzdem welche.

Mama stieß mich an. »Beantwortest du meine Frage!«

»Ja, ich kann die Tanzschritte. Ich habe sie gut geübt.« Das hatte ich wirklich und dafür das Treffen mit der Klasse ausfallen lassen, auf das ich so gern gegangen wäre. Dabei hänselten die mich sowieso schon, weil ich nie mit dabei war.

»Gut, dann starte ich jetzt den Livestream.« Mama schaltete den Computer ein, öffnete ZonePulse und richtete alles ein. Dann positionierte sie die Kamera.

Ich stand reglos im Wohnzimmer und betrachtete meine Mutter, die sich seit Monaten sehr verändert hatte. Hatte es vielleicht daran gelegen, dass sie erst vierzehn gewesen war, als sie mich bekommen hatte? Sie hatte es schwer mit mir gehabt, weil sie doch selbst noch ein Kind gewesen war, aber meine Oma und mein Opa hatten ihr geholfen. Ich erinnerte mich an die Zeit, in der wir so glücklich waren. Zusammen gespielt hatten. Ich sah, wie wir bei Opa hinterm Haus über die große saftig grüne Wiese gerannt waren. Wie Mamas blondes langes Haar im Wind durcheinandergewirbelt war. Wie sie sich mit ihrer schlanken Figur über den Rasen gerollt hatte. Wie sie mich immer wieder gedrückt und geküsst hatte.

Und dann hatte sich plötzlich alles verändert. Als wir von meinen Großeltern weggezogen waren, wurden ihre Launen immer schlimmer. Sie sagte, sie hätte ihre ganze Jugendzeit wegen mir verpasst. Dabei konnte ich doch gar nichts dafür. Wir haben nicht mehr gespielt oder getobt, kaum noch zusammen gelacht. Bis dann ihre Idee kam, diese Videos zu drehen.

Nun stand ich da, eingeschnürt in dem engen Korsett dieses grauenhaften Puppenkleides, geschminkt, sodass ich gar nicht ich selbst war, und wartete darauf, ein weiteres Mal im Internet zum Gespött gemacht zu werden. Ich hasste dieses Leben.

3

27. MÄRZ 2023

Das Mädchen schlief seit einer halben Stunde und hatte dabei Matthias’ Hand nicht losgelassen. Die Ärzte hatten ihr zur Beruhigung ein leichtes Medikament geben müssen, damit sie das Kind überhaupt ansehen konnten.

Mathias betrachtete die Kleine. »Wer bist du nur?«

Er hoffte, dass Romy bald auftauchen würde, und noch mehr, dass sie eine Vermisstenmeldung entdeckt hatte, die passte, damit sie schnell Angehörige ausfindig machen konnten.

Es klopfte an die Tür. Kurz darauf trat der Oberarzt ein, der die Untersuchungen an dem Kind durchgeführt hatte.

Mathias erhob sich und stellte sich auf die Seite, weil er dachte, der Arzt wollte noch eine weitere Kontrolle durchführen.

»Bleiben Sie ruhig sitzen.« Der Arzt stellte sich vor Mathias und warf dem Kind einen mitleidigen Blick zu. Auf seiner Stirn standen Sorgenfalten. »Haben Sie bereits die Eltern gefunden?«

»Ich habe noch nichts gehört«, antwortete Mathias. »Meine Partnerin ist aber bereits auf dem Weg zu uns. Wenn es zu der Kleinen eine Vermisstenmeldung gibt, wissen wir gleich, wer das Mädchen ist.«

Der Arzt nickte nachdenklich. »Werden Sie dann bei dem Kind bleiben?«

Mathias runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«

»Ich weiß, dass ich mich hier nicht einmischen sollte. Meine Aufgabe als Arzt ist es, Untersuchungen durchzuführen und bei Auffälligkeiten die Polizei und das Jugendamt hinzuzurufen. Aber das geht mir nah. Ich kann es nicht steuern, doch ich denke die ganze Zeit darüber nach, was ist, wenn die Eltern dafür verantwortlich sind. Niemand weiß, was geschehen ist.«

»Ich verstehe Sie. Aber seien Sie beruhigt, wir ermitteln immer in alle Richtungen. Da können Sie sich sicher sein. Und so lange wir nicht wissen, was passiert ist und wer dafür verantwortlich ist, bekommt das Kind Polizeischutz. Das wird mit Sicherheit alles schon organisiert.«

Der Arzt atmete erleichtert auf. »Das beruhigt mich.«

Es klopfte erneut an die Tür.

»Herein«, forderte der Oberarzt auf.

Romy trat vorsichtig in das Zimmer. »Hallo.« Sie stellte sich dem Oberarzt vor und zeigte Ihren Dienstausweis. Dann sah sie zu Mathias. »Du bist jetzt offiziell im Dienst. Wir beide sollen an dem Fall arbeiten. Deine Aussage nehmen wir nachher im Präsidium auf.«

Mathias war ganz froh darüber, denn schon in der Altstadt hatte er sich geschworen, dass er herausfinden würde, was dem Kind zugestoßen war. Er hätte wahrscheinlich sowieso ständig nach dem Stand der Dinge gefragt. »Habt ihr etwas herausgefunden?«

Romy holte ihr Handy aus ihrer Gesäßtasche. »Also, wir haben Übereinstimmungen, die auf das Mädchen zutreffen könnten. Vielleicht haben wir sogar eine heiße Spur zu einem alten Fall. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber die Kollegen Schweißer und Malter hatten vor einigen Monaten die SoKo Mädchenspur gegründet. Von Januar bis März 2022 verschwanden vier Mädchen im Alter von sieben bis zwölf Jahren. Eine aktuelle Vermisstenanzeige liegt nicht vor, zumindest keine in unserem Gebiet. Ich habe aber Norman schon beauftragt, dass er eine bundeslandweite Anfrage stellt. Mit Marcel Schweißer habe ich gesprochen. Der ist derzeit nicht im Dienst. Er hat uns gebeten, an der SoKo teilzunehmen und alles Weitere mit Kollege Malter zu besprechen.« Romy schaute zu dem Mädchen. »Ich habe zwar hier die Bilder der vier vermissten Kinder, aber so erkennen wir nichts.«

Mathias setzte sich wieder neben die Kleine. »Sie musste ruhiggestellt werden, weil die Untersuchungen nicht möglich gewesen wären. Sie ließ sich von niemanden anfassen. Vielleicht können wir die Gelegenheit des Schlafs nutzen und ihr Gesicht jetzt säubern.«

Er sah den Arzt an.

Dieser nickte. »Ich hole eine Krankenschwester, die sich darum kümmern kann.«

»Könnten Sie mir erst mitteilen, was wir an Ergebnissen der Untersuchungen haben?«, fragte Romy.

Der Arzt schaute Mathias mit fragendem Blick an.

Mathias hatte bisher keine Informationen bekommen, da er noch nicht offiziell im Dienst gewesen war. »Ich bin jetzt für den Fall eingeteilt, Sie können reden.«

»Okay. Äußerlich sichtbare Verletzungen gibt es keine. Keine Misshandlungspuren, keine Fesselspuren. Der Rechtsmediziner aus Mainz hat dies ebenso bestätigt. Das Kind leidet lediglich unter einem erheblichen Vitamin-D-Mangel. Zusammen mit der extremen Blässe der Haut, könnte es sein, dass sie über einen längeren Zeitraum kaum Sonnenlicht gesehen hat.«

»Das spräche dafür, dass sie irgendwo eingesperrt war«, mutmaßte Mathias, konzentrierte sich dann wieder auf die Ergebnisse. »Also wissen wir nicht, woher das ganze Blut kam?«, hakte er nach.

»Von ihr scheint es nicht zu kommen, es gibt keine Verletzung, die so viel Blut hätte erklären können. Der Rechtsmediziner hat aber eine Probe entnommen, die er dem LKA für einen DNA-Abgleich übermitteln will.«

Mathias hatte große Sorge, wo das Blut herkam. Wenn eine Person verletzt war, bedeutete das bei der Menge, dass sich diese in Lebensgefahr befinden könnte. Möglicherweise hatte das Mädchen sich mit dem Messer aus einer misslichen Lage befreit. »Vielleicht hat sie sich gewehrt? Sie hatte das Messer in der Hand, und ich gehe schwer davon aus, dass das Blut darauf die gleiche DNA hat wie das an ihren Händen und Sachen.«

»Du meinst, dass sie mit diesem Messer jemanden verletzt hat?«

Mathias zuckte mit den Schultern. »Eventuell ihren Angreifer. Diese puppenhafte Aufmachung ist ja schon ziemlich auffällig«, sagte er und zeigte Romy ein Bild, das er von dem Kleid gemacht hatte, ehe die Ärzte es ausgezogen hatten. »Da muss ja etwas dahinterstecken. Ich glaube nicht, dass sie sich schon so schminken kann und sich solch ein Kleid kauft. Möglich könnte sein, dass sie zu etwas gezwungen wurde und sich mit einem Messer gewehrt hat.« Er wandte sich an den Arzt. »Gab es Hinweise auf ein Sexualverbrechen?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Zumindest gab es keine Penetration. Auch keinerlei Verletzungen im Intimbereich.«

»Es scheint also, dass sie nicht körperlich misshandelt wurde«, sagte Romy.

»Fragt sich nur, wie stark die seelischen Wunden sind«, erwiderte der Arzt. »Unsere Sozialarbeiterin ist informiert. Wir arbeiten mit Frau Vogel zusammen, sie ist nicht im Haus angestellt, für uns aber immer erreichbar. Sie arbeitet freiberuflich mit der Psychologin Dr. Heiter zusammen. Sobald das Kind ansprechbar ist, werden wir die beiden herrufen.«

»In Ordnung. Dann kümmern wir uns nun erst einmal darum, dass wir in Erfahrung bringen, wer das Kind ist«, sagte Mathias.

Der Arzt verließ das Zimmer.

Während Mathias und Romy warteten, sah er sich die Fotos der Mädchen an, die seit über einem Jahr vermisst wurden. Auf dem einen Bild war ein blondes Mädchen zu sehen. Sie trug zwei geflochtene Seitenzöpfe und grinste fröhlich in die Kamera. Die anderen Mädchen waren nicht blond. Mathias zeigte auf das blonde Kind. »Sie könnte es von der Haarfarbe und vom Alter her sein. Augenfarbe passt auch. Nur kann man das Gesicht halt echt nicht bestätigen. Das Mädchen auf dem Bild ist etwas kräftiger, aber wenn sie seit einem Jahr verschwunden ist und eingesperrt war, könnte sie natürlich an Gewicht verloren haben.«