Einsamkeit - die unerkannte Krankheit - Manfred Spitzer - E-Book
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Einsamkeit - die unerkannte Krankheit E-Book

Manfred Spitzer

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Beschreibung

Ein neuer verstörender Weckruf von Sachbuch-Bestseller-Autor Manfred Spitzer: Einsamkeit ist eine Krankheit mit fatalen Folgen für Körper und Seele. Ein neuer verstörender Weckruf von Sachbuch-Bestseller-Autor Manfred Spitzer: Einsamkeit ist eine Krankheit mit fatalen Folgen für Körper und Seele. Wer einsam ist, erkrankt häufiger als andere an Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, Depressionen und Demenz. Einsamkeit ist zudem ansteckend und breitet sich wie eine Epidemie aus – nicht nur Singles und Alleinstehende sind davon betroffen, sondern auch Verheiratete! Einsamkeit ist die Todesursache Nummer eins in den westlichen Ländern, so Manfred Spitzer. Diese alarmierende Botschaft wird mittlerweile weltweit von zahllosen wissenschaftlichen Studien bestätigt. Manfred Spitzer beschreibt in seinem neuen Buch erstmals, wie krankmachende Einsamkeit aussieht und welch gravierenden Einfluss sie auf Körper und Seele der Betroffenen hat. Der streitbare Psychiater will damit eine Gesellschaft aufrütteln, die Einsamkeit immer noch als erstrebenswertes Wellnessangebot für gestresste Zeitgenossen betrachtet. "Manfred Spitzer versteht sich nicht nur als Wissenschaftler, sondern in erster Linie als Arzt, der sofort helfen will." aerzteblatt.de

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Seitenzahl: 386

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Manfred Spitzer

Einsamkeit Die unerkannte Krankheit

SCHMERZHAFT ANSTECKEND TÖDLICH

Knaur e-books

Über dieses Buch

Einsamkeit kann jeden befallen: Jung und Alt, Mann und Frau, Arm und Reich. Und wer einsam ist, erkrankt häufiger als andere an Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, Depressionen und Demenz – zu diesem Ergebnis kommen zahlreiche wissenschaftliche Studien. Sie alle sagen: Einsamkeit ist tödlich!

Manfred Spitzer hat die neuesten Forschungsergebnisse ausgewertet und beschreibt, wie Einsamkeit heute aussieht und welchen gravierenden Einfluss sie auf Körper und Seele hat. Sein Buch ist ein überfälliger Weckruf an eine Gesellschaft, in der die Vereinzelung des Menschen immer weiter voranschreitet.

Inhaltsübersicht

WidmungVorwort1 Megatrend und KrankheitEinsamkeit in DeutschlandEinsam im AlterEinsam in der JugendGeneration IchSubjektives Erleben versus objektive TatsacheWie misst man soziale Isolation und EinsamkeitMiteinander gegen Einsamkeit: MitgefühlNarzissmus statt EmpathieSoziales Kapital im AnthropozänFassen wir zusammen2 Einsamkeit tut wehBallspielen im ScannerNeuro-Hype?Gibt es Schmerzen? – Zahnweh und RealitätSchmerzen im GehirnNeurofeedback: Therapie im ScannerSchmerzen und Einsamkeit – verschieden und doch sehr ähnlichMedizin der EinsamkeitFassen wir zusammen3 Soziale AnsteckungAnsteckung von Verhalten, Gedanken und GefühlenAnsteckende AngstAutomatisches Mit-FühlenWie funktioniert der »Dialog«?Netzwerke im Mikrokosmos einer KleinstadtWer steckt wen wie stark an?Fassen wir zusammen4 Einsamkeit löst Stress ausVom Notfall zum NormalfallChronischer Stress, Krankheit und TodWenn die Kontrolle fehltStress bei der ArbeitWenn der Chef einen alleinlässtGemeinsam gegen StressFrühe Traumatisierung und langfristiger StressFassen wir zusammen5 Online (gem)einsam?Vermittelt versus unvermitteltMitgefühl lernenFacebook-Depression …… und Twitter-ScheidungSoziale Onlinemedien: gemeinsam einsamEmotionale Ansteckung durch FacebookSmartphone-VertrauenskriseFassen wir zusammen6 Einsamkeit als KrankheitsrisikoSchnupfen durch Einsamkeit?BluthochdruckHerzinfarkt und SchlaganfallKrebsSeelische KrankheitenFassen wir zusammen7 Todesursache Nummer einsMortalität – was ist das?Die Mortalität von EinsamkeitFaktische soziale Isolation oder erlebte Einsamkeit?Einsamkeit bei Kindern, Erwachsenen und älteren MenschenFassen wir zusammen8 »Du machst mich krank!«Nicht jede Beziehung ist eine gute BeziehungPaarbeziehung und GesundheitZuckerkrankheit, Demenz und BluthochdruckMänner sind stärker auf Unterstützung angewiesen als FrauenTrennung ist nicht die Lösung!Fassen wir zusammen9 Was tun?Aufklärung – der erste SchrittTherapieGebenGlück und GemeinschaftHelfenHelfen mit und ohne StressMusizieren, Singen und TanzenFassen wir zusammen10 Einsamkeit suchenNaturWaldbadenEhrfurcht und EmpathieIntrinsische versus extrinsische MotiveSpiritualität versus MaterialismusFassen wir zusammenDankLiteraturverzeichnis
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Meinen guten Freunden

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Vorwort

Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Krankheit, die hierzulande ­ immer häufiger auftritt und chronische Schmerzen verursacht – eine ansteckende, von der medizinischen Wissenschaft noch kaum erforschte Krankheit, die sich schneller ausbreitet, als die Immunität gegen sie aufgebaut werden kann, und die als eine der häufigsten Todesursachen in der zivilisierten westlichen Welt eingestuft wird. Eine Krankheit, die das Aufkommen anderer Leiden begünstigt, von Erkältungen über Depressionen und Demenz bis hin zu Herzinfarkten, Schlaganfällen und Krebs. Diese Krankheit wäre mithin ein bedeutender Risikofaktor für andere häufige und tödliche Krankheiten. Zugleich wäre sie tückisch, denn viele Betroffene wüssten gar nicht, dass sie an ihr leiden. Diese Krankheit gibt es tatsächlich. Ihr Name: Einsamkeit.

Das Leiden an Einsamkeit ist seit Langem in der Seelenheilkunde – meinem medizinischen Fachgebiet – bekannt und wurde meist als Symptom anderer psychischer Störungen aufgefasst. Wie neue Erkenntnisse aus der Epidemiologie, der Psychologie, der empirischen Sozialforschung, der Gehirnforschung und nicht zuletzt auch der Seelenheilkunde (der Psychiatrie) selbst zeigen, kann und muss man dieses Leiden jedoch als eigenständigen Sachverhalt in den Blick nehmen. Einfach gesagt: Einsamkeit ist nicht »nur« ein Symptom, d.h. ein Krankheitszeichen, sondern sie ist selbst eine Krankheit!

Erst durch die Betrachtung der Einsamkeit als Erleben von sozialer Isolation, das sich aus vielerlei Gründen einstellen kann, eine Eigendynamik bekommt (man spricht auch von Teufelskreis) und dann selbst zum Hauptproblem wird, lässt sich ein differenziertes Bild gewinnen. Das damit mögliche bessere Verständnis der Ursachen und Auswirkungen von Einsamkeit hat durchaus neue und bedeutsame Konsequenzen, wie in diesem Buch aufgezeigt wird. Dies geschieht auf der Grundlage vieler wissenschaftlicher Erkenntnisse aus Beobachtungsstudien und Experimenten, von der Grundlagenforschung bis zur angewandten Medizin und Psychologie.

Wie in meinen anderen Büchern auch mute ich dem Leser damit allerhand Details zu. Aber mir ist es wichtig, nicht nur zu schreiben, was man weiß, sondern auch, warum man es weiß und wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse gewonnen wurden. Denn nur dies erlaubt die Einschätzung und das Einordnen von Befunden in größere Zusammenhänge, und nur durch ein solches tieferes Verständnis ist es im gegenwärtigen »postfaktischen Zeitalter« überhaupt noch möglich, die tatsächlichen Fakten von »alternativen Fakten« zu unterscheiden.[1]

Und wenn erst einmal die Dinge geklärt sind, dann ist der Blick frei und klar für die Lösungen von Problemen, die sich aus den Fakten ergeben. Dass es hier keineswegs um ein paar »Tipps« oder gar um die »sieben guten Ratschläge« gegen steinerne Herzen gehen kann, wird in den letzten Kapiteln des Buches deutlich. Denn Einsamkeit ist zwar – wie etwa eine Lungenentzündung und viele andere Krankheiten auch – schmerzhaft, ansteckend und potenziell tödlich, aber sie gehört auch zum Menschen, etwa so, wie auch das Altern zum Menschen gehört. Irgendwann wird jedem Menschen seine eigene Endlichkeit klar, in jungen Jahren zunächst eher »theoretisch« und mit zunehmendem Alter immer »praktischer«.

Daher betrifft Einsamkeit nicht nur mein Fachgebiet, sondern auch mich selbst. Wie (nahezu) jeder andere Mensch bin auch ich gelegentlich einsam. Mein ganzes Leben lang war ich Teil einer Familie, erst das dritte von fünf Kindern, die mit Eltern und zwei Großmüttern eine immerhin neunköpfige Gemeinschaft unter einem Dach bildeten. Da war es selbstverständlich, dass immer jemand da war, und zudem gab es ja auch noch die anderen Kinder in der Nachbarschaft des kleinen Dorfes Lengfeld im Odenwald, das ganz selbstverständlich meine Heimat war und wo ich mich auskannte. Mit 25 gründete ich dann meine eigene Familie, wieder wurden es fünf Kinder, und wieder war das alles ganz normal: Ich war wieder Teil einer (nach heutigen Standards) großen Familie. Dass solche Familien keine Erfindung der Neuzeit sind, sondern seit Jahrtausenden in Europa den »Kern« menschlicher Gemeinschaften bildeten, wissen wir beispielsweise aus den vielen Gräbern, in denen Menschen schon vor Jahrtausenden begraben wurden, die man heute dank der modernen wissenschaftlichen Untersuchungstechniken als Vater, Mutter und Kinder identifizieren kann.[2] Familien sind kein »Konstrukt«. Es gibt sie wirklich!

Nun sind meine Kinder aus dem Haus, und mittlerweile lebe ich allein. Damit bin ich zumindest gelegentlich auch »Betroffener« und mache mir Gedanken, wie ich ganz konkret mit dieser Situation für »den Rest meiner Tage«, das »dritte Drittel«, die »goldenen Jahre« – egal, wie man es nennt – umgehen sollte. Beim Schreiben dieses Buches wurde mir klar, wie einschneidend das Problem ist und dass man es nicht auf die lange Bank schieben darf.

Generell gilt, dass die Anwendung von allgemeinem Wissen auf den Einzelfall kein Gegenstand der – allgemeingültigen – Wissenschaft ist. Aus der (allgemeinen) Physik folgt nicht, wie ein konkretes Haus gebaut werden soll (wenn man auch kein Haus gegen die Physik bauen kann). Das konkrete Haus ist durch die Physik allein unterdeterminiert – es braucht vielmehr die Kunst des Architekten. Nicht anders ist das in der Medizin: Das medizinische Wissen ist allgemein (sonst wäre es nicht lehr- und lernbar), aber dessen Anwendung auf den einzelnen »Fall« ist keine Wissenschaft, sondern wird mit Recht als »ärztliche Kunst« bezeichnet.

Und genau aus diesem Grund ist das in diesem Buch zusammengetragene Wissen zwar beim Nachdenken über die eigene Einsamkeit sehr hilfreich, löst aber nicht »wie von selbst« mein Problem. Das gilt selbstverständlich auch für den Leser. So wie alles medizinische Wissen dieser Welt noch nicht automatisch zu Gesundheit führt, schafft das hier zusammengetragene Wissen über Einsamkeit bei niemandem automatisch dessen Einsamkeit ab. Aber andererseits gilt: Ohne medizinische Kenntnisse ist man beim Heilen auf ziemlich verlorenem Posten. Und wer sich gelegentlich einsam fühlt und sein Leben diesbezüglich ändern möchte, für den ist dieses Buch kein schlechter Anfang, gerade weil es keine einfachen Rezepte oder Ratschläge enthält. (Zum Vergleich: »Wenn du krank bist, nimm Aspirin« – das wäre zwar in manchen Fällen nicht falsch, ist aber ganz sicher kein guter medizinischer Rat; es hängt eben vom Einzelfall ab!)

Man muss eine Krankheit (allgemein) erkennen und ihre Manifestation im konkreten Einzelfall verstehen. Erst dann kann man für den jeweiligen Fall die richtigen Schlüsse ziehen. Insofern nimmt dieses Buch jedem viel Arbeit ab, denn die Güte eines bestimmten Buches lässt sich danach bemessen, wie viel man nicht mehr lesen braucht, wenn man (nur) dieses eine Buch gelesen hat. Im vorliegenden Fall wird dem Leser das aufwendige Studium einiger Hundert wissenschaftlicher Arbeiten erspart. Das sich daran anschließende Nachdenken über die jeweils eigene konkrete Situation – was genau jetzt und hier zu tun ist – kann das Buch nicht ersetzen. Aber deutlich erleichtern. Deshalb habe ich es geschrieben.

 

Ulm, an den Tagen der Reformation und der Allerheiligen

Manfred Spitzer

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1Megatrend und Krankheit

Menschen sind unter den Säugetieren eigentlich diejenige Art, die ganz besonders auf ein Leben in der Gemeinschaft ausgerichtet ist. Nicht ohne Grund bezeichnete schon Aristoteles den Menschen als »Gemeinschaftstier« (Zoon politikon). Und wie Untersuchungen des Ökonomie-Nobelpreisträgers Daniel Kahneman zeigten, verbringen die Menschen auch heute etwa 80 Prozent ihrer Wachzeit zusammen mit anderen Menschen.[3] Die meisten Menschen sind lieber in Gemeinschaft als allein.

Vor diesem Hintergrund ist der Trend zu einem Leben im Singular – als Einzelner – sonderbar, zumal er sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche unseres Lebens zieht: Nahrungsmittel werden in immer kleineren Packungen angeboten, weil vermehrt Einzelpersonen für sich kochen und allein essen. Unsere Haushalte werden kleiner, weswegen langfristig mehr kleinere Wohnungen (für Singles) gebaut werden. Wer sich früher unterhalten wollte, ging in die Kneipe; heute setzt man sich eher – meist allein – vor den Fernseher. Der Trend zum Alleinsein ist jedoch keineswegs auf die Nahrungsmittelindustrie oder das Bau- und Gaststättengewerbe beschränkt, sondern hat längst auch Einzug bis in unsere Seelen gefunden. Insofern betrifft er auch die Seelenheilkunde, ein Fachgebiet der Medizin. Einen Trend, der Immobilien, Nahrung, Kommunikation und die Medizin und damit unsere Gesundheit betrifft, kann und darf man Megatrend nennen.

Wer glaubt, dieser Trend beträfe nur eine Handvoll hoch entwickelter Länder, der irrt. Psychologen der Arizona State University untersuchten individualistische Praktiken und Werte in 78 Ländern während der letzten 51 Jahre.[4] In der großen Mehrheit der Länder zeigte sich dabei eine Zunahme des Individualismus – sowohl bei der gelebten Praxis als auch im Hinblick auf die Werte –, die sich zumindest teilweise auf die sozioökonomische Entwicklung zurückführen ließ: Je besser es den Menschen wirtschaftlich geht, desto eigenständiger und damit auch individualistischer sind sie. Dass damit ihr Risiko der Einsamkeit ebenfalls steigt, dürfte den wenigsten klar sein.

Einsamkeit in Deutschland

In Deutschland ist dieser Trend seit Jahren ungebrochen. Im Jahr 2015 lag die Zahl der Haushalte in Deutschland bei knapp 41 Millionen, wovon knapp 17 Millionen Singlehaushalte waren (siehe Grafik 1.1). Zwar leben noch immer etwa 50 Prozent der Menschen in Deutschland in einer klassischen Familie (Eltern mit einem oder mehreren Kindern), der Anteil war jedoch früher höher und nimmt seit Jahrzehnten ab. Die Anzahl der Haushalte in Deutschland nimmt viel stärker zu als die Einwohnerzahl, entsprechend nimmt also die Anzahl der Menschen pro Haushalt ab.

1.1: Die in den Jahren 2000 bis 2015 zunehmende Zahl der Einpersonenhaushalte und die zugleich abnehmende Zahl der Haushalte mit drei und mehr Personen – sprich: Familien – machen den Trend zum Singledasein in Deutschland deutlich. Die Zahl der Zweipersonenhaushalte hat in diesem Zeitraum von 12720000 (im Jahr 2000) auf 13956000 (2015) leicht zugenommen; die Durchschnittsgröße eines deutschen Haushalts liegt derzeit bei 2,0 Personen.[5]

(© Computerkartographie Carrle nach Manfred Spitzer)

Hinzu kommt: Unsere Gesetzgebung und unsere Sozialpolitik machen es möglich, dass Paare entweder gar nicht mehr heiraten oder sich leichter wieder trennen können: 1950 wurde hierzulande nur jede zehnte Ehe geschieden, heute ist es jede dritte. Da sich auch Paare mit Kindern viel öfter trennen als früher, wachsen viel mehr Kinder nur mit einem Elternteil auf und werden so schon in jungen Jahren an das Singledasein gewöhnt. Die Einkindfamilie – bei im Mittel 1,5 Kindern pro Frau – ist ohnehin der Normalfall.

Es ist auch bemerkenswert, dass während des gesamten Lebens eines Menschen Einsamkeit nicht im gleichen Maß auftritt;[6] es gibt vielmehr zwei Phasen, in denen sie besonders häufig auftritt – in der Jugend und im Alter, mit jeweils anderen Ursachen und Folgen.

Einsam im Alter

Der Stellenwert von Ehe und Familie hat während der vergangenen Jahrzehnte abgenommen, und entsprechend hat die Einsamkeit der Menschen zugenommen. Hinzu kommt: Es gibt immer mehr ältere Menschen, und sie werden im Mittel immer älter. Da Männer durchschnittlich etwa sechs Jahre früher sterben als Frauen (und zudem schon bei der Eheschließung ein bis zwei Jahre älter sind), gibt es insbesondere sehr viele einsame ältere Frauen. Dieses Phänomen kennen wir bereits aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (man sprach von »Kriegswitwen«); der Trend zu einer »Feminisierung des Alters« ist jedoch auch über 70 Jahre nach dem Krieg steigend. »Derzeit beträgt der Frauenanteil bei den 60-Jährigen und Älteren über 60 Prozent. Mit zunehmendem Alter wächst dieser Anteil noch weiter an«, kann man hierzu im Handbuch Sozialplanung für Senioren nachlesen.[7]

Zwar ist der Zweipersonenhaushalt mit knapp 50 Prozent aller Haushalte derzeit noch die häufigste Wohnform im Alter, aber das erwähnte Handbuch konstatiert weiter: »Immer mehr Menschen leben im Alter allein. Dies trifft bundesweit auf etwa 40 Prozent der Bevölkerung ab 65 Jahre zu, in Großstädten liegt der Anteil noch höher. Davon sind 85 Prozent Frauen. Ein Grund dafür sind die weiterhin höheren Sterbeziffern bei Männern. Zunehmend bestimmen aber auch älter werdende Singles (Ledige, Geschiedene bzw. getrennt Lebende) den Trend zur Singularisierung des Alters, darunter überdurchschnittlich häufig Männer.« Die (wenigen übrig bleibenden) Männer machen es also den Frauen nach und erleben vermehrt Vereinzelung und Vereinsamung.

Fragt man die Leute danach, warum ältere Menschen Single sind, liefern Männer und Frauen teilweise unterschiedliche Antworten: 28,7 Prozent der Männer geben als Hauptgrund an: »Ich bin zu schüchtern und lerne wenig Menschen kennen« (Frauen sagen dies nur zu 16,1 Prozent). Demgegenüber nennen 30,2 Prozent der Frauen als häufigsten Grund: »Meine Ansprüche an einen Partner sind zu hoch« (Männer: 25,5 Prozent). Fast doppelt so viele Frauen (9,7 Prozent) halten sich für zu alt (Männer 5,9 Prozent), und mehr als doppelt so viele Frauen (12,4 Prozent) wie Männer (5,9 Prozent) meinen, sie würden andere einschüchtern.

Kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt es hingegen im Hinblick auf das Bedürfnis nach Unabhängigkeit (»Ich möchte meine Unabhängigkeit noch nicht aufgeben«: Männer 27,7 Prozent, Frauen 26,6 Prozent), eine enttäuschte Liebe (»Ich bin unglücklich verliebt«: Männer 10,7 Prozent, Frauen 10,4 Prozent) oder die Bedeutung der beruflichen Tätigkeit (»Mir ist mein Beruf zurzeit wichtiger«: Männer 15,4 Prozent, Frauen 15,6 Prozent).[8] In etwa der Hälfte aller Fälle scheint das Singledasein älterer Menschen nach dieser Statistik eher selbst gewählt zu sein.

Wer aus den bislang genannten Fakten ableitet, die Singularisierung sei ein Trend des Alters, der irrt. Der Trend betrifft zwar zahlenmäßig (noch) mehr ältere als jüngere Menschen, er ist jedoch bei jungen Menschen stärker ausgeprägt; die Entwicklung läuft hier also rascher.

Einsam in der Jugend

Dass auch Jüngere betroffen sind, liegt nicht zuletzt an zwei weiteren großen Trends: der Urbanisierung und Mediatisierung unseres Lebens. Im Jahr 1900 lebten 13 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, heute sind es etwa 50 Prozent, und im Jahr 2050 werden es 70 Prozent sein. Die zunehmende Urbanisierung bewirkt vor allem in den Entwicklungsländern einen starken Einbruch der Geburtenraten. So liegt die Fertilitätsrate in Addis Abeba, Äthiopien, oder in vielen vietnamesischen Städten bei 1,4 und damit sogar noch unter der durchschnittlichen, bekanntermaßen geringen, Fertilitätsrate von 1,5 im (hoch entwickelten) Deutschland. In der iranischen Hauptstadt Teheran bekommen die Frauen durchschnittlich noch weniger Kinder – nämlich durchschnittlich nur 1,3 je Frau. Hierzulande bedeutet Urbanisierung vor allem mehr Anonymität und Vereinzelung, was nicht zwingend so sein müsste.

Vom zweiten oben genannten Trend einer stark zunehmenden Mediatisierung aller Bereiche unseres Lebens sind vor allem die jüngeren Menschen betroffen. Die Digitalisierung bringt Menschen nämlich nicht, wie oft behauptet wird, zusammen, sondern bewirkt eine Zunahme von Unzufriedenheit, Depression und Einsamkeit. Dies gilt insbesondere für die sozialen Online-Netzwerke wie Facebook, Twitter, WhatsApp, You­Tube, Instagram oder Snapchat. Vordergründiges Ziel dieser Netzwerke ist es, die Menschen zusammenzubringen, aber ihre eigentliche Funktion ist die Werbung – das ist ihr Geschäftsmodell! Ihr Einfluss auf die soziale Zufriedenheit ist erkennbar negativ, und ihr Einfluss auf die Demografie der Gesellschaft (mehr Paare oder mehr Scheidungen?) ist noch nicht hinreichend geklärt bzw. erforscht.

Eine Anfang des Jahres 2017 im American Journal of Preventive Medicine publizierte Studie an einer für die USA repräsentativen Stichprobe von 1787 jungen Erwachsenen ergab einen klaren Zusammenhang zwischen dem Erleben von Einsamkeit und der Nutzung von sozialen Online-Netzwerken. Nur 3,2 Prozent der Teilnehmer nutzten keinerlei Social Media, was die Bedeutung des Ergebnisses noch unterstreicht.

Neben den neuen Medien befeuert auch ein altes – das Fernsehen – die Einsamkeit junger Menschen. Der Zusammenhang von TV-Konsum und Einsamkeit ist seit Langem bekannt.[9] Hinzu kommt, dass sich die Inhalte im Fernsehen dahingehend geändert haben, dass es in den vielen Talkshows, Realityshows, Castingshows etc. immer nur um eines geht: besonders sein, der beste/schönste/verrückteste/dem meisten Ekel widerstehende Mensch zu sein und genau damit berühmt zu werden. Fernsehen fördert damit den Trend zur Selbstbezogenheit im Sinne des Modelllernens ganz ungemein. Gezeigt werden kaum noch berühmte Schauspieler, Sänger oder gar Forscher und Wissenschaftler, sondern ganz überwiegend »Leute wie du und ich«, die auf irgendeine Weise meinen, ganz besonders zu sein. Viele der heutigen »Promis« sind nicht berühmt dafür, dass sie irgendetwas wissen oder gut können; sie sind vielmehr berühmt dafür, dass sie berühmt sind (»famous for being famous«; man spricht auch vom »Paris Hilton«-Effekt).[10]

Noch bevor Kinder durch Fernsehen und Internet beeinflusst werden (man möchte fast sagen: meistens noch vorher), bereiten manche Eltern schon mit einem eher nachsichtigen oder gar nachlässigen (sogenannten »permissiven«) Erziehungsstil den Nährboden für die Entwicklung von Einsamkeit vor: Was immer die Kinder tun – sie sind »die Größten« und bekommen dies auch permanent gesagt. Was dabei herauskommt, ist mittlerweile wissenschaftlich gut untersucht:[11] selbstverliebte, wenig am Wohlergehen anderer interessierte junge Erwachsene, die glauben, ohne jegliche Eigenleistung dazu bestimmt zu sein, einen erstklassigen Arbeitsplatz zu bekommen, reich zu werden und unter den besten nur denkbaren Verhältnissen leben zu können.

Vor allem in den USA wurden bis vor wenigen Jahren die Selbstbezogenheit und der damit einhergehende Materialismus zusätzlich noch durch die Selbstverständlichkeit, mit der Banken bis zum Ausbruch der Finanzkrise Kredite vergaben, gefördert. Diese vierte Säule der Entwicklung überbordender Selbstbezogenheit – neben permissiven Eltern, Fernsehen und Smartphone/Internet[12] – ist in den USA seit 2008 weggebrochen, was sich tatsächlich in einer leichten Abnahme materialistischer Einstellungen (ausgehend von einem sehr hohen Niveau) empirisch nachweisen lässt. Wirklich gebrochen wurde der Trend zu mehr Selbstbezogenheit – und damit zu mehr Einsamkeit und weniger Gemeinschaftsorientierung – durch die Rezession in den USA allerdings nicht. Betrachten wir diesen Trend noch etwas genauer: Zu ergänzen wäre noch aus europäischer Sicht, dass solche Trends aus den USA mit 10 bis 15 Jahren Verspätung auch hierzulande – meist etwas abgemildert – zu beobachten sind. Die Finanzkrise hatte ab 2008 auch Europa erfasst, allerdings nicht mit der gleichen Intensität wie die USA.

Generation Ich

Als Angehöriger der Generation der Babyboomer (geboren Mitte der Vierziger- bis Mitte der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts) kann ich mich noch gut daran erinnern, dass der Drang nach Freiheit und Autonomie, die Ablehnung vermeintlich »verstaubter« Werte, die Kritik am »System« etc. (wer etwa in meinem Alter ist, wird schon wissen, wovon ich rede) in der damaligen Jugendkultur eine bedeutende Rolle gespielt haben. Unser Verhalten wird den damals schon etwas Älteren wahrscheinlich egozentrisch und wenig einfühlsam vorgekommen sein. Aber dennoch waren wir damals immer als Gruppe unterwegs; wir gingen gemeinsam demonstrieren (für Solidarität mit den Arbeitern, gegen den Vietnamkrieg etc., also meist für die Belange anderer) und belegten Gruppenseminare zur Selbstfindung. Niemand fand das damals paradox. Man redete miteinander nächtelang über Probleme (vor allem des Miteinanders); man studierte, wohnte und lebte zusammen. Das war wichtig.

Auf die Generation der Babyboomer folgte die Generation X. Ihr Aufkommen Mitte der Sechzigerjahre fiel mit dem Pillenknick in der gesamten westlichen Welt zusammen, also der deutlich sinkenden Zahl der Geburten aufgrund der Entwicklung der hormonellen Kontrazeptiva (Antibabypille).[13] Danach kam die Generation Y, auch Millennials genannt (geboren Anfang der Achtzigerjahre bis Anfang des neuen Jahrtausends). Die Millennials sind verglichen mit der Generation X wieder zahlenmäßig bedeutsamer, weil es in den Achtziger- und Neunzigerjahren zu einem erneuten deutlichen Anstieg der Geburtenrate gekommen war.

Die Generation der Millennials wird zuweilen mit den Babyboomern verglichen: Schon vor 40 Jahren bezeichnete man die damals jungen Babyboomer auch als die Generation Ich, »mit ihrer unerwarteten Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg: dem von Millionen ganz normaler Leute genossenen Luxus, sich mit sich selbst zu beschäftigen«, wie es der amerikanische Schriftsteller Tom Wolfe im Jahr 1976 beschrieb. Ganz nach dem Motto der erfolgreichen amerikanischen Werbefachfrau Shirley Polykoff: »Wenn ich sowieso nur ein Leben habe, möchte ich es zumindest als Blondine leben.«

Tatsächlich liegen die Dinge bei den Millennials aber völlig anders als vor 40 Jahren. Denn es ist eine Sache, Bewährtes zu hinterfragen, neue Gedanken zu denken oder gar praktisch auszuprobieren, sich selbst zu suchen oder gar neu zu erfinden; und es ist eine ganz andere Sache, in eine Welt hineingeboren zu werden, die ganz anders ist. Es ist einfach alles schon da und ganz anders. Der größte Unterschied zu früher ist die Omnipräsenz digitaler Informationstechnik, durch die Aufmerksamkeit und Kommunikation, Werte und Haltungen und vor allem das ganz normale Handeln im Alltag völlig verändert wurden. »Selfie« war bereits im Jahr 2013 vom altehrwürdigen Oxford-English Dictionary als »Wort des Jahres« ausgerufen worden. Junge Leute bewerten sich und andere nach der Anzahl ihrer Facebook-Freunde und der Likes oder Follower auf Twitter. So entstand für die Generation der Millennials wiederum die Bezeichnung »Generation Me«[14], für die auch die Bezeichnungen »Look At Me«-Generation[15] oder »Generation Me Me Me«[16] verwendet wurden (siehe Abb. 1.2).

1.2: Titelseite zur »Generation Me« mit Bezug auf die Babyboomer (Titelseite des New York Magazine vom 23.8.1976).

(© New York Magazine, Foto Harold Krieger)

Der amerikanische Publizist Christopher Orlet kommentierte im Jahr 2007 kritisch: »Ich selbst war nicht Teil der Generation der Millennials, die mit einer Überdosis an Selbstüberschätzung und Technologie zur Eigenwerbung aufwuchs, was in der Kombination einen perfekten Sturm des Narzissmus entfesselt hat.«[17] Ihm zufolge ließen im Jahr 2007 zwei Drittel der College-Studenten überdurchschnittliche Anzeichen von Selbstverherrlichung erkennen – 30 Prozent mehr als 25 Jahre zuvor. Die Millennials seien zwar zuversichtlicher, selbstbewusster und Hals über Kopf in sich selbst verliebt, hätten hierzu jedoch überhaupt keinen Grund, beklagt der Autor und meint damit explizit ihre geringere Bildung, die ausgeprägtere Oberflächlichkeit, die »jämmerliche Armseligkeit« (wörtlich!) und geringere emotionale Reife.

Ist das nicht einfach nur romantisch verklärter Kulturpessimismus? Sind die jungen Menschen und ihre Kultur im Laufe der letzten Jahrzehnte tatsächlich zunehmend von Einsamkeit geprägt? Nicht wenige, zumeist ältere Menschen haben heutzutage den Eindruck, dass die Jüngeren egoistischer und weniger sozial eingestellt sind als früher. Aber war nicht schon immer früher alles besser? Waren nicht schon immer – aus der Sicht der Älteren – die jungen Leute faul, vorlaut, selbstbezogen und oberflächlich?

»Ich habe keine Hoffnung mehr für die Zukunft unseres Volkes, wenn diese von der leichtfertigen Jugend von heute abhängig sein sollte. Denn die Jugend ist ohne Zweifel unerträglich, rücksichtslos und altklug. Als ich noch jung war, lehrte man uns gutes Benehmen und Respekt vor den Eltern. Aber die Jugend von heute will alles besser wissen.« Dieses Zitat findet sich in vielfacher (und immer genau der gleichen) Form im Internet und wird dort dem griechischen Dichter Hesiod zugeschrieben, der vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren lebte (vor 700 v. Chr.). Ein ganz ähnliches Zitat findet sich dort ebenfalls, das dem 250 Jahre späteren Sokrates (um 469–399 v. Chr.) zugeschrieben wird: »Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.«

Diese beiden Zitate scheinen zu belegen, dass »die Alten« sich schon immer über »die Jungen« beschwerten, ohne dass da irgendetwas dran ist. Man kann also trefflich darüber streiten: Kommt übertriebene Selbstbezogenheit und damit geringeres Interesse an Gemeinschaft heute tatsächlich häufiger vor als früher?

Für die einen steht fest: »Früher war das Gemeinschaftsgefühl einfach besser.« – »Man traf sich früher viel öfter für einen kurzen Plausch.« – »Der soziale Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Menschen waren früher ausgeprägter.« – »Die Menschen waren früher nicht so selbstverliebt wie heute.«

Andere entgegnen: »Ach, das meinst du nur!« – »Früher war nichts besser – diese Ansicht ist ein Produkt der rosa Brille für die Vergangenheit.« – »Immer die schimpfenden Alten mit ihren Gedächtnislücken.« Wer hat nun recht? Wie kommt man hier weiter?

Subjektives Erleben versus objektive Tatsache

Einsamkeit ist nicht das Gleiche wie soziale Isolation, sondern deren psychologischer Aspekt. Mit Einsamkeit wird ein subjektives Erleben bezeichnet – man fühlt sich einsam –, wohingegen soziale Isolation objektiv gemessen werden kann (wie einsam ist man?). Wer allein lebt (Singlehaushalt), wenige Sozialkontakte hat oder nur ein kleines Netzwerk von sozialen Beziehungen aufrechterhält, weist eine größere soziale Isolation auf als jemand, der viele Freunde und Bekannte hat und mit anderen zusammenlebt. Ob dieser Mensch sich deswegen einsam fühlt, ist dennoch offen. Ein an Depression erkrankter Mensch kann in einer intakten Familie leben, sehr viele Freunde und Bekannte haben und sich dennoch sehr einsam fühlen. Manchmal suchen Menschen die Einsamkeit gezielt auf (meist nur für einen gewissen Zeitraum; vgl. hierzu das letzte Kapitel in diesem Buch) und fühlen sich dabei sehr wohl. Die Zusammenhänge sind also nicht einfach, sondern kompliziert!

Erlebte Einsamkeit und tatsächliche soziale Isolation sind nicht dasselbe. Sie hängen nicht einmal so stark zusammen, wie man zunächst annehmen könnte (siehe Grafik 1.3). So fanden Caitlin Coyle und Elizabeth Dugan[18] in einer Studie mit 11825 Personen nur eine Korrelation von 0,2 zwischen Einsamkeit und tatsächlicher sozialer Isolation.

1.3: Einsamkeit und soziale Isolation sind nicht dasselbe: Jemand kann sich einsam fühlen, obwohl er nicht sozial isoliert ist. Umgekehrt kann jemand sozial isoliert sein, ohne sich einsam zu fühlen. Der Anteil der Menschen, bei denen beides zutrifft, ist gemäß wissenschaftlichen Studien kleiner, als man erwarten würde.

(© Computerkartographie Carrle nach Manfred Spitzer)

Methodisch werden Einsamkeit und soziale Isolation mit unterschiedlichen Skalen erfasst (vgl. die Tabellen 1.1 und 1.2).[19] Dabei macht es durchaus einen Unterschied, wie man hier im Einzelnen vorgeht. Wenn man die soziale Unterstützung, die ein Mensch erlebt, mehrfach konkret abfragt, kann man damit dessen Einsamkeit besser erfassen, als wenn man nur einmal fragt.[20]

Ganz ähnlich ist es bei der sozialen Isolation: Man kann einfach nur fragen, ob jemand allein lebt oder nicht. Man kann aber auch sein soziales Umfeld sehr genau erfassen, wobei man im Allgemeinen zwischen engstem Freundeskreis, dem Kreis der (guten) Freunde und dem Bekanntenkreis unterscheidet (siehe Grafik 1.4).[21] Beste Freunde (gemäß Definition kann und würde man sie um Hilfe bitten, wenn man Hilfe braucht) haben wir im Schnitt etwa eine Handvoll, gute Freunde (gemäß Definition würde deren Tod uns sehr nahegehen) 12 bis 15, Bekannte etwa 150.

1.4: Aufbau des sozialen Netzes eines Menschen.[22] Die Darstellung entspricht unserem Sprachgebrauch: Jeder hat einen »engsten Freundeskreis«, einen »Freundeskreis« und einen »Bekanntenkreis«. Sie sind unterschiedlich groß und ineinandergeschachtelt. Die genaue Zahl (Größe der Kreise) variiert von Mensch zu Mensch erheblich.

(© Computerkartographie Carrle nach Manfred Spitzer)

Diese unterschiedlichen Netzwerke – beste Freunde, gute Freunde und Bekannte – bedingen einander in ihrer Größe: Wer viele beste Freunde hat, hat auch eher viele gute Freunde und viele Bekannte. Weil Frauen bekanntermaßen sozial kompetenter als Männer sind (dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern gehört übrigens zu den wenigen, an denen wirklich etwas dran ist), haben sie im Durchschnitt auch etwas größere soziale Netzwerke als Männer. Man weiß auch, dass in diesen Netzwerken mehr gleichgeschlechtliche Menschen vorkommen (Männer haben mehr Männer als Freunde, Frauen mehr Frauen), dass sich die Menschen stark hinsichtlich der Größe ihrer sozialen Netzwerke unterscheiden. Die meisten Menschen sind erstaunt darüber, dass diese Unterschiede teilweise erblich bedingt sind.[23]

Manche Persönlichkeitsmerkmale wie beispielsweise Schüchternheit oder Neugierde haben kaum eine Auswirkung auf die Größe der sozialen Netzwerke einer Person.[24] Andere hingegen schon: Besonders das Einfühlungsvermögen einer Person und ihre Selbstbezogenheit (Narzissmus) haben einen großen Einfluss auf ihre sozialen Netzwerke. Zudem gilt, was gerne vergessen wird: Wer ein besseres Gedächtnis hat, hat mehr gute Freunde. Zugleich gilt auch: Wer mehr Einfühlungsvermögen hat, hat mehr beste Freunde![25] Das verwundert nicht: Man hat mehr gute Freunde als beste Freunde, die Zahl der guten Freunde hängt somit eher davon ab, wie gut man sich etwas merken kann. Die Zahl der besten Freunde hingegen ist ohnehin klein, sodass das Gedächtnis keine Rolle spielt.

Menschen mit ausgeprägterem Mitgefühl für andere Menschen haben mehr beste Freunde als Menschen, die »gefühlskalt« bzw. egoistisch wirken. Das ist wichtig, denn die Zahl der besten Freunde bestimmt ganz wesentlich, wie einsam sich jemand fühlt. Da die Ausmaße der Kreise jedoch miteinander in Beziehung stehen, haben gemeinschaftsorientierte Menschen im Allgemeinen nicht nur mehr beste Freunde, sondern auch mehr gute Freunde sowie mehr Bekannte.

Wichtiger als die Quantität unserer sozialen Bindungen ist deren Qualität: Ein Freund, der mit einem durch dick und dünn geht, ist wichtiger als 500 virtuelle Bekannte in einem Online-Netzwerk. Das leuchtet unmittelbar ein.

Neben den Freunden und Bekannten spielt nicht zuletzt die Familie eine große Rolle hinsichtlich der Quantität und Qualität von Sozialkontakten: Im Hinblick auf die Qualität gibt es alles, von völlig zerstrittenen und sich aus dem Wege gehenden Geschwistern, Eltern und Kindern bis hin zu über Generationen gewachsenen sehr tragfähigen Verbindungen, in denen sich der Einzelne besser aufgehoben fühlt als irgendwo sonst. Und schließlich macht es einen Unterschied, ob jemand mehr oder weniger regelmäßig mit einem Partner intime Zärtlichkeiten austauscht oder nicht: Mehr oder weniger regelmäßiger (»verlässlicher«) Körperkontakt reduziert einerseits Angst und Stress und fördert das Wohlbefinden eines Menschen in ganz besonderem Maße.[26]

Wie misst man soziale Isolation und Einsamkeit

All dies ist wichtig, wenn man ermitteln will, wie einsam sich jemand fühlt bzw. wie sozial isoliert ein Mensch ist. Mancher lebt zwar allein (also in einem Singlehaushalt), ist aber dauernd mit Freunden zusammen, wohingegen andere z.B. als Paar im fortwährenden Rosenkrieg zusammenleben und nur selten mit anderen Kontakt haben.[27] In der Forschungspraxis haben sich im Lichte dieser Überlegungen mittlerweile eine Reihe kurzer Fragebögen etabliert, die man verwendet, um soziale Isolation oder Einsamkeit zu erfassen. Bei diesen Verfahren geht es immer um einen Kompromiss zwischen Länge (bzw. Kürze!) und Aussagekraft: Die eine Frage »Leben Sie allein?« bringt weniger Genauigkeit als eine Reihe von Fragen, deren Antworten man dann zu einem Summenscore zusammenfasst, auch wenn man dabei dann Äpfel, Birnen und Orangen miteinander verrechnet und sich fragen muss, mit welchem Recht man dies tun darf. Aber ebenso, wie man die Frage »Wie viel Obst essen Sie?« im Kontext der Ernährung durchaus genauer beantworten wird, wenn man Obstsorten abfragt und dann addiert, kann auch die Addition von Onkeln, Enkeln und besten Freundinnen sinnvoll sein – nicht zuletzt, weil Einsamkeit sich wie die Ernährung auch auf die Gesundheit auswirkt. Und da sollte man sich auf verlässliche Erkenntnisse stützen können.

Wenn Sie wissen wollen, wie es um den Grad Ihrer sozialen Isolation steht, gehen Sie die fünf Items in Tabelle 1.1 durch und geben Sie sich für jedes mit »Ja« beantwortete Item einen Punkt. Wenn Sie einen Wert von 0 oder 1 haben, würden Sie von den Machern des Fragebogens als gering oder durchschnittlich sozial isoliert eingestuft werden, bei einem Wert von 2 oder mehr hingegen als hochgradig sozial isoliert.[28]

Tabelle 1.1: Die Messung von sozialer Isolation aufgrund von fünf Items, was in einem Summenscore von 0 bis 5 resultiert, der die Ausgeprägtheit der sozialen Isolation angibt.[29]

Mit Fragebögen kann man nicht nur objektive Sachverhalte, sondern auch subjektives Erleben erfassen. So wird Einsamkeit seit 1980 in sehr vielen Studien mit einem an der University of California, Los Angeles (UCLA) entwickelten Fragebogen erfasst. Die sogenannte UCLA Loneliness Scale besteht aus 20 Fragen, die jeweils vierstufig zu beantworten sind (»nie«, »selten«, »manchmal«, »oft«).[31] Ordnet man diesen Antworten die Zahlen von 1 bis 4 zu, dann ergeben sich ein Minimalwert von 20 und ein Maximalwert von 80. Zwischen diesen Werten kann also der Einsamkeitsgrad von befragten Personen variieren. Praktikabler (weil kürzer) und daher auch in jüngerer Zeit häufiger eingesetzt ist die Three-Item Loneliness Scale (Tabelle 1.2), die im Jahr 2004 von der amerikanischen Sozialpsychologin Mary Elizabeth Hughes und Mitarbeitern erarbeitet wurde.

Wenn Sie also wissen wollen, in welchem Maß Sie Einsamkeit erleben, dann gehen Sie die drei Items in Tabelle 1.2 einzeln durch und fragen Sie sich jeweils, ob dies für Sie oft (2 Punkte), manchmal (1 Punkt) oder selten (0 Punkte) zutrifft. Wenn Sie einen Wert von 0 bis 2 haben, würden Sie von den Machern des Fragebogens als geringfügig oder durchschnittlich einsam eingeschätzt, bei einem Wert von 3 oder mehr hingegen als hochgradig einsam.[32]

Tabelle 1.2: Drei Fragen zur Einsamkeit (Three-Item Loneliness Scale;[33] die Übersetzung der Items ins Deutsche ist schwierig, weswegen sie auch im Original wiedergegeben sind). Zu Beginn des Tests werden der Person der Einführungssatz und die Fragen vorgelesen. »Die nächsten Fragen zielen darauf ab, wie Sie sich im Hinblick auf verschiedene Aspekte Ihres Lebens fühlen. Sagen Sie mir bitte bei jeder einzelnen Frage, wie oft Sie sich so fühlen.« Die drei Fragen sind jeweils dreistufig (»selten« – »manchmal« – »oft«) zu beantworten. Ordnet man den drei Stufen die Werte 0, 1 und 2 zu, ergeben sich Gesamtwerte von 0 (nicht einsam) bis 6 (sehr einsam).

Durch diese Art der Befragung fand man beispielsweise heraus, dass Menschen über ihr gesamtes Leben hinweg betrachtet in unterschiedlichem Ausmaß zum Erleben von Einsamkeit neigen, je nachdem, wie alt sie gerade sind. Wie eingangs bereits festgestellt, wird Einsamkeit vor allem von jüngeren und von älteren Menschen erlebt, wohingegen Menschen im mittleren Alter zwischen etwa 25 und 55 Jahren eher davon verschont sind. Im Hinblick auf das Geschlecht gibt es eine Wechselwirkung mit dem Familienstand: Am einsamsten sind unverheiratete Männer, gefolgt von unverheirateten Frauen und, mit einem gewissen Abstand, verheirateten Frauen. Am wenigsten einsam fühlen sich verheiratete Männer.[35]

Miteinander gegen Einsamkeit: Mitgefühl

Empathie hat heute meist eine andere Bedeutung. Empathisch sind wir, wenn wir um einen Menschen angesichts der besonderen Umstände, in denen er sich befindet, besorgt sind. Es ist eine Form der aktiven Zuwendung, die bewusst erfolgt, und nicht eine »Ansteckung« mit dem gleichen Gefühl eines anderen Menschen. Wir sorgen uns um einen leidenden Mitmenschen, und unser Handeln ist geleitet vom Wunsch nach Abhilfe seiner Qualen. Dies setzt erstens voraus, dass die »Umstände« (der Kontext) als solche erkannt und bewertet werden können, und zweitens, dass die eigenen Emotionen von denen eines anderen unterschieden werden können. Beides sind – verglichen mit einfachem Mitgefühl – höhere geistige Leistungen; man spricht deshalb auch von kognitiver Empathie (cognitive empathy; eine weitere Bezeichnung wäre empathic concern).

Diese Form des Mitgefühls äußert sich beispielsweise im Spenden von Trost und Umarmen oder Streicheln eines Artgenossen, der gerade im Kampf unterlegen war bzw. verletzt wurde. Dachte man früher, dass nur Menschen zu derart komplexen Affekten fähig seien, so ist heute nachgewiesen, dass auch Menschenaffen (sowohl in Gefangenschaft als auch frei lebend) häufig Trost spenden. Während andere Affenarten dieses Verhalten nur selten oder gar nicht an den Tag legen, lässt es sich auch bei Delfinen, Elefanten und einigen Vogelarten (Raben und Krähen, die teilweise Schimpansen in ihrem intelligenten Verhalten übertreffen)[40] beobachten. Dies sind Tierarten, die in Gemeinschaften leben und zu »höheren« geistigen Leistungen (wie Werkzeuggebrauch und/oder dem Erkennen des eigenen Spiegelbilds) fähig sind. Wer hätte noch vor 20 Jahren gedacht, dass auch Saatkrähen Trost spenden können, dass Schimpansen dies recht häufig tun und Menschen sich in dieser Hinsicht beispielsweise nach Raubüberfällen ganz ähnlich verhalten wie nichtmenschliche Primaten nach aggressiven Handlungen: Unbeteiligte nähern sich dem Opfer und spenden Trost.[41]

Eine noch komplexere Form der Empathie ist die Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen, seine Perspektive einzunehmen und ihm daraufhin zielgerichtet zu helfen (empathic perspective taking). In der Psychologie spricht man von der Fähigkeit zur Theory of Mind und bezeichnet damit das Vermögen, gewissermaßen »in die Haut« eines anderen zu schlüpfen, um die Welt mit »dessen Augen zu sehen«. Menschenaffen können dies bis zu einem gewissen Grad, beim Menschen ist die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme jedoch ungleich differenzierter und wesentlich stärker ausgeprägt als bei allen anderen Lebewesen. Menschen haben oft komplexe Gedanken (»Was wäre, wenn Hans dächte, dass Lisa dächte, ich würde mit Lucy befreundet sein?«), die je nach Kontext (Wer mag wen? Wer ist hier »ich«?) ganz unterschiedliche Emotionen und Handlungen bewirken.

Die hier dargestellte Sicht der Empathie als komplexes mehrschichtiges Phänomen hat Konsequenzen, von denen drei hervorzuheben sind.

1) Die komplizierteren Formen der Empathie funktionieren nur »auf dem Rücken« der einfacheren: Wenn ich die Perspektive meines Feindes einnehme, um ihn besser töten zu können (also ohne mitzufühlen), sprechen wir nicht von Empathie.

2) Die evolutionäre Sicht macht deutlich, dass es sich bei Empathie nicht um eine kulturell gelernte Fähigkeit handelt (wie beispielsweise das Essen mit Messer und Gabel), sondern um eine tief in der Biologie des Menschen verwurzelte Funktion (wie beispielsweise die Nahrungsaufnahme oder die Ausscheidung). Wie fast alles, was die Menschen ausmacht oder was sie tun, ist auch unsere Biologie stark kulturell beeinflusst, überformt oder geprägt (wir benutzen Essbesteck und die Toilette). Dies darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass die grundlegenden Funktionen selbst nicht Teil unserer Kultur, sondern unserer Biologie sind. Diese Feststellung ist an dieser Stelle deswegen so wichtig, weil das »Wesen« des Menschen häufig als grundsätzlich böse eingestuft wird. Der englische Philosoph Thomas Hobbes prägte den Satz »Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf« – dies ist die Formel für die Annahme, dass eine biologisch fest verankerte Tendenz zu Egoismus, Narzissmus und Aggressivität das menschliche Handeln ganz wesentlich bestimmen würde. Daraus wurde und wird nicht selten abgeleitet, dass nur durch drastische kulturelle Maßnahmen – je nach Ideologie: Erziehung, Dressur, Unterweisung, Modelllernen, Einsicht – unsere »böse Natur« gezähmt werden könne und müsse und nur so unsere Gemeinschaft überhaupt möglich sei. Diese Sicht der Dinge ist zu einfach![42] Menschen sind biologisch weder gut noch böse, sie tragen vielmehr Anlagen für beides in sich. Wie die Entwicklung dieser Anlagen im Laufe eines individuellen Lebens erfolgt, ist offen und wird stark durch den jeweiligen kulturellen Kontext beeinflusst. Kein Mensch erzieht sich selbst. Und so wird verständlich, warum die Entwicklung von Mitgefühl beim Kind stark von der Kultur abhängt, in der es aufwächst.

3) Beim heranwachsenden Kind lässt sich gut beobachten, wie sich Mitgefühl aus verschiedenen Schichten zusammensetzt, die keineswegs alle zugleich auftreten. Vielmehr unterliegen schon Babys der Ansteckung – sie schreien, wenn ein anderes Baby schreit. Zwischen 14 und 18 Monaten beginnen Kleinkinder mit zielgerichtetem Helfen, und mit drei Jahren spenden sie schon Trost und handeln reziprok, d.h., sie behandeln andere abhängig davon, wie sie von ihnen behandelt wurden. Das Helfen, Spenden von Trost und Vermitteln bei Konflikten verstärkt sich zwischen fünf und sechs Jahren noch deutlich.[43] In diesem Alter verstehen Kinder auch schon, wenn einer (A) einem anderen (B) hilft, und verhalten sich nach einer solchen Beobachtung eher helfend gegenüber A – man spricht hier von indirekter Reziprozität. Im weiteren Verlauf lernen Kinder immer differenziertere, dem jeweiligen Kontext entsprechende soziale Verhaltensweisen – vermittelt durch das gelebte soziale Miteinander gemäß den Regeln des kulturellen Kontexts.

Betont die in einer Gesellschaft gelebte Kultur Selbstbezogenheit, Egoismus und Materialismus, so wird sich entsprechendes Verhalten bei den heranwachsenden jungen Menschen eher ausbilden. Entsprechend werden die Chancen für prosoziales Verhalten geringer und das Risiko von Einsamkeit größer. Damit kommen wir zurück zur oben gestellten Frage: Ist das wirklich so, oder meinen dies die Alten immer nur von den Jungen?

Narzissmus statt Empathie

Im Herbst 2016 war im Ruhrgebiet in einer Filiale der Deutschen Bank vor einem Geldautomaten ein 82-jähriger Rentner bewusstlos zusammengebrochen. Vier Personen stiegen nacheinander über ihn hinweg, holten Geld und gingen wieder – ohne zu helfen. Erst der fünfte Bankkunde leistete Hilfe; der Mann verstarb jedoch danach in einer Klinik.[44] »Schlägereien gab es schon immer«, sagen Polizisten, »aber heute treten die Leute auch dann noch ihrem Gegner ins Gesicht, wenn der schon regungslos am Boden liegt.« Berichte von Unfällen mit Verletzten, denen niemand hilft, die aber mit dem Smartphone schnell fotografiert werden, liest man seit einigen Jahren in den Zeitungen.[45]

Solche anekdotischen Berichte können lediglich illustrieren, was mittlerweile auch durch harte Daten belegt wurde: Das Mitgefühl der Menschen nimmt ab. Eine Metaanalyse von 72 Befragungen über drei Jahrzehnte hinweg (1979 bis 2009) mit Daten von insgesamt 13737 Studenten ergab einen deutlichen Rückgang der Empathie (empathic concern) und der Fähigkeit zur Einnahme der Perspektive anderer (perspective taking). Sonstige ebenfalls erfragte persönliche Eigenschaften wie beispielsweise das jeweilige Vorstellungsvermögen oder bekundete Probleme im Zusammenleben mit anderen waren demgegenüber während des Befragungszeitraums konstant. Ab dem Jahr 2000 war der Empathie- und Perspektivenwechselrückgang besonders deutlich ausgeprägt (siehe Grafik 1.5).

1.5: Summe der Werte für die Fähigkeiten Mitgefühl und Perspektivenwechsel über drei Jahrzehnte hinweg. Der Rückgang der Fähigkeit sowohl zur Empathie (p < 0,002) als auch zum Perspektivenwechsel (p < 0,03) war jeweils für sich statistisch bedeutsam.[46]

(© Computerkartographie Carrle nach Manfred Spitzer)

Die Autoren der Studie verweisen in ihrer Diskussion der Frage, warum die Empathiefähigkeit der Menschen abnimmt, auf parallel verlaufende Trends unter jungen Menschen; so ist beispielsweise eine zunehmende materialistische Einstellung zu verzeichnen.[47] In einer Umfrage aus dem Jahr 2006 gaben 81 Prozent der 18- bis 25-Jährigen an, dass »reich werden« eines der wichtigsten Ziele ihrer Generation sei, für 64 Prozent war es das wichtigste Ziel. Nur 30 Prozent der Befragten gaben als wichtigstes Ziel »den Hilfsbedürftigen helfen« an.[48]

Eine ganze Reihe weiterer Studien belegt, dass narzisstische Persönlichkeitszüge in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen haben.[49] Ein Beispiel: Der Aussage »Ich bin eine bedeutende Person« stimmten Anfang der Fünfzigerjahre nur 12 Prozent der 14- bis 16-Jährigen zu, Ende der Achtzigerjahre waren es 77 Prozent der Mädchen und 80 Prozent der Jungen in diesem Alter.[50]

Kurz zur Klärung der Begriffe: Unter Narzissmus versteht man die Charaktereigenschaft der maßlosen Ichbezogenheit, die sich in Selbstverliebtheit steigern kann. Die Bezeichnung geht auf den griechischen Mythos vom jungen Narziss zurück, der am eindrücklichsten von dem römischen Dichter Ovid (43 v.Chr.–17 n.Chr.) in seinen Metamorphosen überliefert wurde. Weil Narziss die Liebe einer Frau nicht erwiderte, wurde der Jüngling mit unstillbarer Selbstliebe bestraft; er starrte unentwegt auf sein Spiegelbild im Wasser (siehe Abb. 1.6) und verwandelte sich schließlich in eine schöne Blume – daher der Name »Narzisse«.

1.6: Das bekannteste Bildnis zum Mythos des Narziss ist sicherlich das Ölgemälde von Michaelangelo Merisi da Caravaggio (1571–1610) in der Nationalen Kunstgalerie in Rom.

(© picture-alliance/akg-images/Erich Lessing)

Bis heute wird Narzissmus als Charaktereigenschaft in einem kritischen Sinn gebraucht.[51] Man unterscheidet hierbei narzisstische Persönlichkeitszüge, die bei jedem Menschen mehr oder weniger stark vorhanden sind und mit entsprechenden Skalen, sogenannten Persönlichkeitsinventaren, gemessen werden können, von der narzisstischen Persönlichkeitsstörung als einer Diagnose im Bereich der Psychiatrie. Große Datensätze, die über Jahrzehnte hinweg im Rahmen wissenschaftlicher Studien an verschiedenen Orten gewonnen wurden, zeigen ein vermehrtes Aufkommen narzisstischer Persönlichkeitszüge in den letzten Jahrzehnten, im gleichen Zeitraum ist auch die Auftretenshäufigkeit (Prävalenz) der narzisstischen Persönlichkeitsstörung auf das Dreifache angestiegen.[52]

Wissenschaftliche Studien belegen ebenfalls, dass im Gegensatz zu früher junge Menschen heute weniger spenden (sie spendeten schon immer nicht gerade viel, denn sie haben ja auch noch nicht viel Geld; aber früher hatten sie noch weniger und spendeten dennoch mehr). Sie verhalten sich egoistischer, sind weniger empathisch, haben eine stärker ausgeprägte materialistische Einstellung, lügen eher, befinden sich seltener in einer festen Beziehung, lassen mehr Schönheitsoperationen an sich durchführen und neigen eher zu Aggressivität.

Manche Wissenschaftler sprechen mit Bezug auf den zunehmenden Narzissmus daher auch von einer Epidemie: »In Anbetracht der Beweislage, insbesondere der Verdreifachung der Lebenszeit-Prävalenz der narzisstischen Persönlichkeitsstörung, glauben wir nicht, dass die Verwendung des Begriffs Epidemie hier übertrieben ist.« Die Autoren der Studie zitieren Webster’s Dictionary (in der Folge kursiv) und fahren fort: »Dies trifft insbesondere im Lichte der Definition des Wortes Epidemie als Krankheit zu, die eine untypisch große Zahl von Individuen in einer Population betrifft.«[53]

Die Diskussion über die Frage, ob und wie sich »die Jugend« im Hinblick auf Selbstsucht und Solidarität geändert hat, ist damit durchaus in der Wissenschaft angekommen, verlief jedoch zunächst kontrovers: Die einen behaupteten, es gäbe eine starke Zunahme des Narzissmus,[54]