Eisenkeller - John Heimbers - E-Book

Eisenkeller E-Book

John Heimbers

4,8

Beschreibung

Mark ist Anfang 30 und steht mit beiden Beinen fest im Leben: fester Job, feste Beziehung, langjährige Freundschaften. Doch die höchste Priorität in seinem Leben hat seine physische Erscheinung. Er hält sich an einen strengen Ernährungsplan und geht mehrmals in der Woche ins Fitness-Studio, vorzugsweise mit seinem besten Freund und Trainingspartner Andi. Als sein fest strukturierter Alltag plötzlich aus den Fugen gerät, muss er sein Leben neu überdenken und sich außerdem mit sozialen Netzwerken, dem anderen Geschlecht und seiner eigenen Psyche auseinandersetzen. Dabei ist doch eigentlich alles, was er will, in der Muckibude Eisen zu pumpen. Nun aber muss er sich der Frage stellen, was für ihn wirklich wichtig ist. "Du kannst deinen Kumpels, deiner Familie, deinen Feinden, deiner Freundin, wem auch immer erzählen, du wärst der Geilste, der Größte, der Stärkste. Das Eisen kannst du nicht belügen. 100 kg wiegen 100 kg. Die musst du hochdrücken, rumlabern hilft dir nicht. Und wenn du an der Klimmzugstange hängst, hängst du an der Klimmzugstange. Vom Dummes-Zeug-Reden überwindest du die Schwerkraft nicht. Und davon wachsen dir auch keine Muskeln."

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„No pain, no gain.“

(Bodybuilding-Weisheit)

„Sieh, wie wir den Schmerz ertragen

bis die Muskeln uns versagen.

Blut pumpt kraftvoll durch die Adern

wenn wir mit dem Eisen hadern.“

(Bodybuilding-Poesie)

Inhalt:

Kapitel 1 Eisen

Kapitel 2 Erholung

Kapitel 3 Stammtisch

Kapitel 4 Pappnasen

Kapitel 5 Frauen

Kapitel 6 Punk

Kapitel 7 Supplements

Kapitel 8 Boxen

Kapitel 9 Abstand

Kapitel 10 Single

Kapitel 11 Dates

Kapitel 12 Programmänderung

Nachwort

Anhang

Kapitel 1 Eisen

„Andi!... Andi!“ Mark rief mit verstellter, hoher Stimme nach seinem Trainingspartner. Der beendete sein Gespräch mit Volker und näherte sich mit halb amüsiertem, halb fragendem Gesichtsausdruck. „Das Eisen hat dich gerufen“, erklärte Mark grinsend und war ein wenig stolz auf seinen albernen Scherz, der seine Wirkung auf Andi jedoch zu verfehlen schien. „Soso“, murmelte dieser nur, und dann: „Dann woll’n wir mal.“

Er legte sich auf die Flachbank und positionierte seine Hände an der Hantelstange. Vielleicht hat Andi keinen Sinn für Albernheiten, dachte Mark. Oder er hatte den Scherz als das verstanden, was er auch war: eine Ermahnung, mit dem Quatschen aufzuhören und weiter zu trainieren. Mark mochte keine Leute, die beim Training zu viel quatschten. Wenn man quatschen wollte, sollte man sich mit anderen Tratschtanten zu Kaffee und Kuchen treffen. Wenn man trainieren wollte, sollte man in den Eisenkeller kommen und Gewichte stemmen. Gegen eine kleine Plauderei nach Beendigung aller Sätze einer Übung vor der nächsten Übung war nichts einzuwenden, er selbst wechselte während der Trainingszeit auch schon mal ein paar Worte mit Volker oder Flo oder wer vom „harten Kern“ sonst gerade da war, natürlich auch mit Andi, aber die Pausen zwischen den Sätzen selber sollte man schon streng einhalten, sonst erholte sich der Muskel zu gut und es kam einem der Pump abhanden oder die Vorerschöpfung war dahin und der vorangegangene Satz war so gut wie umsonst gewesen. Er sah Andi ja eine Menge nach, aber die Ausdehnung der Pausen war einfach ärgerlich und nervig, zumal sich, wenn man zu zweit trainierte, der gesamte Ablauf verzögerte, so dass auch er als Trainingspartner im Endeffekt zwangsweise auf längere Pausenzeiten kam. Immerhin gehörte Andi nicht zu den Leuten, die sich zwischen den Sätzen mit ihrem Smartphone beschäftigten. Für diese Typen, von denen es seit einiger Zeit einige und zunehmend mehr gab, hatte Mark auch einen Rat parat: Bleibt zu Hause und surft oder chattet oder was auch immer ihr da tut, aber blockiert nicht die Geräte im Studio! Naja, Andi hatte durch sein Plauderstündchen seine Pause nur geringfügig überzogen, es war nicht wirklich tragisch und Mark war nicht wirklich verstimmt, im Gegenteil: Er grinste weiterhin über seine kleine Schelmerei mit dem rufenden Eisen.

„Eins, zwei, drei!“ Auf Andis Kommando zog er die Langhantel nach oben, während Andi von unten drückte und gemeinsam wuchteten sie die 90 Kilo aus den Halterungen und in die Ausgangsposition. Konzentriert verfolgte er, wie sein Trainingspartner die Hantelstange wiederholt zur Brust absenkte und wieder nach oben drückte, die Hände griffbereit zum Eingreifen, falls Andis Kräfte überraschend nachlassen würden oder die Hantel aus dem Gleichgewicht geraten sollte. Bei der sechsten Wiederholung tat sich Andi schon merklich schwer.

Er keuchte, als die Stange den obersten Punkt der Bewegung erreicht hatte und streckte die Arme ganz durch, so dass die Muskelspannung reduziert wurde und das Gewicht für einen Moment hauptsächlich auf den Gelenken lastete. Andi atmete tief durch und Mark legte seine Hände an die Hantel, um die nächste Wiederholung zu begleiten. Eigentlich hatte das keinen Einfluss auf die Bewegungsausführung, das wusste er und das wusste auch Andi, aber der psychologische Effekt war nicht zu unterschätzen. Der Partner wusste, dass die Ausführung gesichert war, und das gab ihm das Vertrauen, die Hantel noch einmal tief abzusenken. Und er wusste, dass er unterstützt werden würde, sollte er die Last nicht mehr alleine bewältigen können. Schon das Wissen um Hilfe alleine veranlasste dazu, die letzten eigenen Kräfte zu mobilisieren. Oft reichte es aus, wenn man die Hantel nur berührte, um einen weiteren Kraftschub des Trainingspartners zu provozieren. Als Andi im unteren Drittel des Bewegungsablaufes tatsächlich ins Stocken kam, zog Mark behutsam, nur mit dem nötigsten Kraftaufwand, an der Stange und Andi kämpfte sich weiter auf seinem Weg nach oben.

„Einen noch“, presste er hervor. Mark begleitete das Absenken des Gewichts mit um die Stange gelegten Händen, jedoch ohne etwas von der Last zu nehmen. Auf dem Weg nach oben musste er diesmal allerdings ein bisschen mehr helfen, als noch bei der Wiederholung davor.

„Drücken, drücken, drücken!“, spornte er Andi an, während dieser mit hochrotem Kopf die 90 Kilo ein letztes Mal nach oben stemmte. Scheppernd knallte die Stange in die Halterung zurück. „Jawoll!“, lobte Mark und meinte es so, denn für den vierten Satz war das eine gute Leistung gewesen. Jedenfalls für ihre Verhältnisse. Und Mark wusste genau, in welchem Rahmen sich ihr Leistungsvermögen bewegte. Andi und er trainierten schon seit über zwei Jahren zusammen. Zwar arbeitete Andi in Schichtdiensten, weshalb sie eigentlich nur jede zweite Woche wirklich gemeinsam trainieren konnten, aber es gab ja auch noch das Wochenende, das sie meistens beide als Trainingstage nutzten und auch wenn es Tage gab, an denen sie nicht dasselbe Trainingsprogramm durchführten, so machten sie doch zumindest die eine oder andere Übung zusammen und halfen sich, wenn sie an unterschiedlichen Stationen zugange waren, sei es in Form von dummen, aber motivierenden Sprüchen oder tatsächlicher Hilfestellung bei der Arbeit mit schwerem Gewicht.

Andi hatte also acht Wiederholungen vorgelegt, nun musste er nachziehen. Er glitt auf die Bank und die Rollen waren vertauscht: Er stemmte, Andi sicherte. Bei der sechsten Wiederholung hatte er einen kleinen Hänger, er hatte sich irgendwie veratmet, als die Hantelstange den untersten Punkt erreicht hatte, und Andi musste ihm durch die untere Hälfte der Bewegung hindurch helfen. Die siebte Wiederholung schaffte er ohne Hilfe, allerdings arbeitete er nicht ganz sauber, sondern nahm ordentlich Schwung, ließ die Stange also eigentlich zu schnell ab und auf seiner Brust hochfedern und schob sie in einem wieder in die Höhe, ohne am untersten Punkt verharrt zu haben. Dafür verharrte er nun am obersten Punkt, indem er ebenfalls die Arme durchstreckte und seine Muskeln damit kurz entlastete. Für die achte Wiederholung spürte er eigentlich keinerlei Kraftreserven mehr. Aber erstens hatte Andi acht vorgelegt, zweitens wusste er aus Erfahrung, dass er auch die achte und letzte Wiederholung des Satzes irgendwie und mit Andis Unterstützung schaffen würde und drittens und wichtigstens setzten erst diese erzwungenen, schmerzhaften Wiederholungen die wahren Wachstumsreize. Bis hierhin hatte er halt seine Brustmuskeln aktiviert, ferner Trizeps und die vorderen Schultermuskeln. Ab jetzt führte er seine Muskulatur nicht nur an ihre Grenze, sondern darüber hinaus. Alles, was jetzt noch kam, überforderte seinen schmerzenden pectoralis und mahnte diesen gleichzeitig, an Masse und Dichte zuzulegen, um für das nächste Mal besser gerüstet zu sein. Und auch wenn alles in ihm danach verlangte, die Last endlich ablegen zu dürfen; diese letzte Wiederholung musste noch sein. Man durfte nicht den Körper bestimmen lassen, wann Schluss war. Der Körper hatte sich unterzuordnen. Man musste ihm zeigen, wo es lang ging. Also los! Er schaffte es noch, die Stange kontrolliert abzusenken, aber die Aufwärtsbewegung war zu viel.

„Komm, komm! Drücken! Weiter drücken!“, rief Andi und zog mäßig an der Hantel nach oben, so dass sie sich langsam, wenn auch stockend bewegte. Mark drückte so hart er konnte, hatte aber dennoch das Gefühl, er hinge kraftlos an der Stange, die von Andi langsam nach oben gezogen würde, obgleich er natürlich wusste, dass das nicht der Fall war und er weiterhin den Hauptteil der Last bewältigte, auch wenn ihm das nicht so vorkam. Die letzte Wiederholung wollte gar kein Ende mehr nehmen, schließlich konnte Mark die Hantelstange aber doch noch, mit letzter Kraft wie ihm schien, in die Halterung ablassen.

„Respekt! Die 90 meistert ihr jetzt aber“, stellte Volker, der die letzten Wiederholungen beobachtet hatte, anerkennend fest. „Naja, geht so“, wiegelte Mark ab. Ein Lob von Volker war schmeichelhaft, hatte aber gleichzeitig eine Art mitleidigen oder irgendwie pädagogischen Beigeschmack, denn Volker benutzte die 90 Kilo bestenfalls, um sich aufzuwärmen.

„Was machst du denn mittlerweile auf der Bank“, wollte Andi von Volker wissen; anscheinend wollte er sich wohlig gruseln. „Im Moment gar nichts“, erwiderte Volker überraschenderweise. „Die Schulter macht wieder Probleme. Schrägbank geht einigermaßen, aber Flachbank lass ich schon seit Wochen weg.“ – „Weißt du denn, was es genau ist?“, hakte Andi nach, „warst du beim Arzt oder so?“

„Nö, hab kein Bock, deshalb zum Arzt zu gehen“, erklärte Volker lapidar, „Wahrscheinlich wieder die Bizepssehne, hatte ich schon mal, vor ein paar Jahren. Ich geb der Sache noch zwei Wochen, dann muss es gut sein. Was dann noch übrig ist, wird gnadenlos wegtrainiert“. Volker grinste und zwinkerte auch noch dabei.

Wenn einer von ihnen beim Arzt war, waren alle gespannt auf die Diagnose. Um sie 1:1 auf sich selbst anzuwenden, denn sie hatten normalerweise alle mehr oder weniger dieselben Symptome: Schmerzen im Schulter- oder Ellbogengelenk, manchmal auch was im Rücken, verklebte oder verrutschte Wirbel oder so. Die meisten – Mark inbegriffen – trauten sich aber nicht zum Arzt, nicht nur, weil es als unmännlich galt, sondern vor allem aus Angst vor einer niederschmetternden Diagnose, die mit einem mehrwöchigen oder – Gott bewahre! – mehrmonatigem Trainingsverbot verbunden war. Außerdem: Bis jetzt waren bei Mark alle Verletzungen und Wehwehchen irgendwann wieder abgeheilt, auch ohne ärztliche Behandlung. Dann ließ man die Übung, bei der es am heftigsten schmerzte, eben für ein paar Wochen weg, dazu morgens und abends Salbe auf die Stelle, dann ging das meistens schon. Es war also in jedem Fall besser, man ging gar nicht erst zum Arzt. Das war der sicherste Weg, einer verheerenden Diagnose aus dem Weg zu gehen.

Wobei Andis Orthopäde, den er kürzlich wegen einer Sehnenentzündung in der Schulter aufgesucht hatte, sogar dazu geraten hatte, weiterhin Sport zu treiben, da es kontraproduktiv sei, die Schulter während des Ausheilens vollkommen ruhig zu stellen. Andi hatte Medikamente gegen die Entzündung bekommen (und gegen die Schmerzen, schließlich musste er ja täglich körperlich arbeiten) und die Auflage, leicht weiterzutrainieren, wie er ihnen stolz und sehr erleichtert erzählt hatte. Und bis wohin leichtes Training ging und wo schweres erst anfing, das war schließlich Auslegungssache.

Mark musterte seinen Freund, der nun wieder seine Position auf der Bank für den fünften Satz eingenommen hatte. Hatte Andi noch mal zugelegt? Schwer zu sagen, er war aber auf jeden Fall gut dabei. Er selber war aber auch ganz gut im Training, momentan, und ein paar sichere Kilos von der gefürchteten 80-Kilo-Marke entfernt. Andi und er hatten sich dieses Jahr bei rund 85 Kilogramm (Am Morgen gewogen, nüchtern, mit entleertem Darm) eingependelt, mal eins mehr, mal eins weniger. Damit waren sie ganz zufrieden. Sie hatten aber auch durchgehend und intensiv trainiert in den letzten Monaten. Doch schon eine kleine Erkältung konnte einem den Erfolg von monatelangem Training zunichte machen: Musste man wegen hartnäckigen Hustens zwei Wochen lang mit dem Training aussetzen, schlug einem dazu die Krankheit noch auf den Appetit, hatte man schneller ein paar Kilogramm Körpergewicht eingebüßt als man Pumping Iron sagen konnte.

Mark fühlte sich in so einem Fall extrem unwohl und kam sich regelrecht abgemagert vor. Arbeitskollegen oder sogar seiner Freundin fiel der Gewichtsverlust überhaupt nicht auf, er selber kam sich so vor, als stakten seine Knochen fast durch die Haut und als müssten sich Passanten auf der Straße zusammenreißen, um ihm nicht mitleidig ein paar belegte Brote zuzustecken. Fühlte man sich dann endlich wieder fit genug, um das Training wieder aufzunehmen und stiefelte hoch motiviert ins Studio, stand einem das Schlimmste erst bevor: Das erste Training nach einer Trainingspause. Es war erstaunlich, wie schnell die über Jahre aufgebaute Kraft wieder abnahm, forderte man nicht regelmäßig Höchstleistungen von seiner Muskulatur. Man ermüdete schneller, die Muskeln schmerzten von der ersten bis zur letzten Wiederholung und von den gewohnten Gewichten konnte man sich erst mal verabschieden. Das war das Brutale an diesem Sport: die Gewichte logen nicht. Legte man sich – so wie Mark und Andi seit ein paar Wochen – regelmäßig 90 Kilo auf der Flachbank auf, konnte man das nach einer längeren Trainingspause total vergessen.

Klar, er bekäme die 90 Kilo auch nach einem Monat Pause noch gestemmt, aber nur unter Schmerzen, nur circa halb so oft und unter hoher Verletzungsgefahr. Dazu kam die Demütigung. Man wusste ja, dass man die 90 mal im Griff gehabt hatte, dann aber lasteten sie plötzlich unvorstellbar schwer auf den Gelenken und verhöhnten einen mit ihrem scheinbar verdoppelten Gewicht. Es war zum Heulen. Aber es gab kein Entkommen. Wollte man wieder dahin, wo man schon mal war, musste man sich zwei bis drei Wochen lang durchbeißen, durfte es dabei aber auch nicht übertreiben und übereifrig werden und mehr als sonst auf ausreichend Regenerationszeit und Ernährung achten, sonst war man schnell im Übertraining angekommen und folglich kündigte sich schon die nächste Erkältung an.

Während Mark noch schaudernd über ungewollte Trainingspausen und ihre furchtbaren Konsequenzen nachdachte, hatte Andi die beladene Langhantel bereits fünf Mal nach oben bewegt. Mark machte sich bereit zum Unterstützen und ließ seine Hände in Nähe der Stange schweben, während Andi sie ein letztes Mal abließ und schwer ausatmend wieder nach oben presste.

„Reicht“, stellte er klar, als er das Eisen in die Halterung scheppern ließ. Mark nickte verständnisvoll. Sie hatten schon vier harte Sätze hinter sich gebracht, da musste der fünfte nicht auch noch unbedingt über das Muskelversagen hinaus gehen. Bankdrücken war heute ihre erste Übung, mindestens eine weitere Übung für die Brust sollte noch folgen. Mark nahm Andis Platz ein und machte ebenfalls sechs Wiederholungen ohne Hilfe seines Partners. Eine siebte Wiederholung hätte er vielleicht auch noch geschafft, aber nicht ohne Andis Hilfe oder ohne ins Hohlkreuz zu gehen und aus dem Rücken raus zu drücken.

„Komm, noch einen letzten mit 80“, schlug er Andi vor, bevor der sich wieder zum Plauderstündchen verdrücken konnte. Sie nahmen auf jeder Seite eine 10-Kilo-Scheibe ab und ersetzten sie je durch eine 5-Kilo-Scheibe. „Ich brauch aber noch kurz Pause vorher“, erklärte Andi und bewegte sich nun doch Richtung Theke, die sich ziemlich genau in der Mitte des Studios befand und an der Volker und ein paar andere gerade eine Art Kaffeekränzchen abhielten. Mark zuckte die Schultern. Er würde die Pause vor dem letzten Satz nicht maßlos ausdehnen. Den letzten Satz würde er auch ohne Hilfestellung bewältigen können. Er wollte den vollen Bewegungsspielraum der Übung noch einmal bewusst ausreizen und durch schnellere Bewegungen mit dem leichteren Gewicht abschließend ordentlich Blut in seine Brust pumpen. Als auf seiner Digitaluhr exakt eine Minute dreißig seit Beendigung seines letzten Satzes vergangen waren, legte er sich wieder auf die Bank. Andi hatte noch keine Anstalten gemacht, sich herzubewegen. Er hielt nun sogar tatsächlich eine Tasse Kaffee in der Hand, bemerkte Mark noch, bevor er sich ganz auf das Eisen konzentrierte. Letzter Satz. Das war geradezu ein Spaß. Hoch damit und los ging’s.

Acht Mal schaffte er die 80 Kilo zügig und problemlos, bei der neunten Wiederholung wurde es doch kritisch. Als er sie bewältigt hatte, hängte er das Gewicht kurz ein und atmete zweimal tief durch. Dann ergriff er erneut die Stange, diesmal etwas breiter, hob sie aus der Halterung und machte zwei letzte, tiefe, saubere Wiederholungen. Befriedigt legte er das Gewicht ab. Als er sich aufsetzte, stand Andi schon neben der Bank. „Ich muss auch noch einen, ne?“, versicherte er sich. „Yo, letzter“, gab Mark zurück. „Zehn Minimum“, fügte er grinsend hinzu. „Alles klar“, knurrte Andi und machte sich ans Werk. Er drückte die zehn Wiederholungen tatsächlich in einem durch, hatte ja auch eine längere Pause gehabt. „Sauber“, lobte Mark und Andi knurrte erneut ein „Alles klar“.

„Was jetzt?“, fragte Mark. Dass eine zweite Brustübung auf dem Programm stand, war klar, welche genau das sein sollte, hatten sie sich offen gehalten. Mark vermied es sogar ganz bewusst, sich in seinen Trainingsplänen auf bestimmte Übungen festzulegen. Der Körper gewöhnte sich zu schnell an immer wiederkehrende Bewegungsabläufe und reagierte dann nicht mehr mit der gewünschten Erschöpfung. „Ich mach auf jeden Fall noch Überzüge“, verriet Andi.

„Mmh“, machte Mark und überlegte, was er stattdessen trainieren sollte. Überzüge brachten ihm nichts, er mochte die Übung nicht und hielt sie für Zeitverschwendung. Aber ein und dieselbe Übung konnte auf jeden anders wirken und für Andi mochten Überzüge funktionieren. „Vielleicht mach ich Schrägbankdrücken mit Kurzhanteln“, überlegte Mark, „Schulterdrücken machen wir heute sowieso nicht, oder?“

Würde Schulterdrücken auf dem Programm stehen, würde Mark seine vorderen Schultermuskeln durch das Schrägbankdrücken übermäßig vorbelasten, was kontraproduktiv wäre.

„Nee“, versicherte Andi, „Schulter mach ich höchstens am Schluss noch kurz.“ – „Alles klar“, resümierte Mark und schlug in Andis dargebotene Hand ein. „Nachher dann zusammen Trizeps?“, fragte Andi. Mark nickte und nutzte die Gelegenheit, in der sie, die Hände immer noch im Daumengriff miteinander verschränkt, nah beieinander standen, und schlug seinem Trainingspartner mit der hohlen linken Hand auf die runden Schultern, um sie dann klopfend und tastend an Andis Oberkörper abwärts zu bewegen. „Bist gut dabei“, schmeichelte Mark, „wieviel wiegst du?“ – „Danke“, erwiderte Andi erfreut, „85 genau heute Morgen.“

„Also alles im Max Schmeling-Bereich“, grinste Mark. Mit einem „So isses“ beendete Andi ihren kleinen Plausch und begab sich mit einem glückseligen Lächeln in die Richtung der schweren Kurzhanteln, um seine geliebten Überzüge in Angriff zu nehmen.

Der „Max Schmeling-Bereich“ war ein Insider zwischen ihnen, den ihnen Roland geliefert hatte. Roland studierte Philosophie und verdiente sich als Thekenaufsicht und Übungsleiter im Eisenkeller ein kleines Zubrot. Die Betonung lag auf klein, denn die Stundenlöhne, die Hotte, der Betreiber des Eisenkellers, seinen meist studentischen Aushilfskräften zahlte, waren immer wieder Ziel spöttischer Witze. Dafür durften die Mitarbeiter allerdings auch nicht umsonst trainieren und schon gar nicht während ihrer eigenen Arbeitszeiten. Es hielt sich allerdings kaum jemand daran. Hotte schmiss den Laden von morgens zehn bis nachmittags um fünf selbst. Wenn er sich dann um 17 Uhr in den Feierabend verabschiedete und den Eisenkeller seinen Angestellten überließ, warteten diese eine Anstandsviertelstunde und dann legten sie los. Roland war hier eine Ausnahme. Mark hatte ihn noch nie während seiner Thekenaufsicht trainieren sehen. Entweder trainierte er tatsächlich brav außerhalb seiner Arbeitszeiten, gestützt auf Kants Verständnis eines ordentlichen Vertrags, oder Mark hatte ihn nur noch nie dabei erwischt. Mark konnte sich allerdings nicht daran erinnern, Roland überhaupt jemals beim Training gesehen zu haben, weder in noch außerhalb seiner Arbeitszeit. Dass er trainierte, stand außer Frage: Er war zwar eher drahtig als massig, insbesondere seine Brust trat kaum hervor, aber aus seinem T-Shirt guckten durchtrainierte Arme hervor und auch seine Schultern waren breit und gewölbt. Wenn Roland den Trainierenden nicht gerade Vorträge über moralische Dilemmata oder Gottesbeweise hielt, verwickelte er sie gerne in äußerst einseitige Gespräche zum Thema Profiboxen. Anekdoten über Muhammed Ali waren seine Spezialität, aber er schien in den Biografien sämtlicher Schwergewichts-Champions aller Zeiten bewandert zu sein.

Als Mark und Andi sich mal wieder über ihr Gewicht unterhalten hatten, hatte Roland sich eingeschaltet, nachdem zum wiederholten Male die Zahl 85 gefallen war, die Kilogrammzahl, von der sie damals noch einige Kilos entfernt waren und die zum damaligen Zeitpunkt das Ziel in Sachen Körpergewicht repräsentiert hatte. „85 Kilo wiegt ihr?“, hatte Roland interessiert gefragt. „Schön wär’s“, hatte Mark gemurmelt, und gut hörbar hinzugefügt: „Da soll es hingehen! Ziel für’s nächste Jahr.“ – „Ah, ja“, hatte Roland sich nachdenklich gegeben. „Ihr seid aber unter eins neunzig?“, war er mutmaßend fortgefahren. „Ja, so eins fünfundachtzig“ hatte Mark für sie beide geantwortet, denn Andi und er waren ziemlich genau gleich groß. Dabei hatte er überlegt, worauf Roland hinaus wollte. War das eine von Hotte angeleierte Body-Index-Studie?

Hotte war extrem auf seine Körpermaße fixiert, noch krasser als Mark und Andi, die sich jeden Tag mindestens einmal wogen. Hotte hatte einen genauen Kalorien- und Ernährungsplan, an den er sich akribisch hielt, Gerüchte besagten, auf der Liste der erlaubten Süßigkeiten stehe einzig und allein ein Snickers. Eins pro Woche, versteht sich! Der Konsum desselben sei laut Ernährungsplan auf drei Tage verteilt vorgesehen: Freitag, Samstag und Sonntag. Mark wusste nicht, ob das wirklich stimmte, vorstellen konnte er es sich schon. Hotte trainierte jedenfalls peinlich genau mit Trainingsplan und Stoppuhr, hielt die Pausen zwischen den Sätzen auf die Sekunde genau ein und nahm nach dem Ende seines Trainings immer eine höchst seltsame und genau bemessene Mahlzeit ein: 150 Milliliter Cola und 500 Gramm Magerquark. Letzteren schaufelte er ohne Anzeichen dafür, dass es ihm schmeckte, mit einem großen Esslöffel in sich rein. Seinen Körperfettgehalt bestimmte er jeden Sonntag bei sich zu Hause zur selben Uhrzeit mit einem speziellen Messgerät, die Ergebnisse trug er in sein Trainingstagebuch ein. Das Trainingstagebuch samt Vermerke hatte Mark schon mehrere Male gesehen; es existierte also tatsächlich und zumindest die Körperfettgehalteintragungen waren kein Gerücht. Der Wert verblieb übrigens stets im einstelligen Bereich, was bemerkenswert war, zumal Hotte schon ein paar Jährchen jenseits der 50 war.

Mark kontrollierte seinen eigenen Körperfettgehalt nur sporadisch zu Hause auf seiner Digitalwaage, die über diese Funktion verfügte. Diese zeigte ihm Werte an, die um die zehn Prozent herum lagen. Wie genau seine nur 100 Euro teure Waage bei der Messung war, blieb allerdings fraglich. Daher war sein Hauptkontrollinstrument der Spiegel. Solange seine Bauchmuskeln deutlich hervortraten, und zwar alle sechs Segmente, war er zufrieden. Und das taten sie immer. Das hatten sie schon getan, bevor er mit dem Muskeltraining begonnen und gerade mal 70 Kilo gewogen hatte. Und das taten sie auch jetzt, als seine Waage morgens regelmäßig 85 Kilo anzeigte. 85 Kilo, der Max Schmeling-Bereich.

„Wenn ihr euer Ziel erreicht habt, dann gebt mir Bescheid“, hatte sich Roland weiterhin kryptisch gegeben, bevor er zur großen Auflösung gekommen war: „Dann habt ihr die Maße von Max Schmeling erreicht.“ – „War der Schmeling nicht Schwergewicht?“, hatte sich Andi zweifelnd geäußert. „Nach den damaligen Gewichtsklassen schon“, hatte Roland begonnen, sich in Fahrt zu reden, „damals gab es das Cruisergewicht noch nicht; mit 80 Kilo warst du damals schon Schwergewicht. Und – zumindest laut boxrec-Datenbank, ich war ja leider nicht selber beim Wiegen dabei, damals in den 30er Jahren – hat Max Schmeling bei seinen Weltmeisterschaftskämpfen um die 85 Kilo gewogen, bei eins fünfundachtzig Körpergröße.“ Mark hatte nicht gewusst, was er dazu sagen sollte und stattdessen mit großen Augen genickt und gehofft, dass das Gespräch damit beendet wäre.

„Ich weiß, was ihr jetzt denkt“, war Roland jedoch fortgefahren, „gegen Klitschko hätte Schmeling gar nicht antreten brauchen. Er wäre schon vom Luftzug von Wladimirs Jab ins Taumeln geraten – aber hey: man ist halt immer nur der Größte in seiner eigenen Zeit und das ist unbezweifelbar und unverrückbar anerkennenswert. Ali wog auch nur um die 100 Kilo, so gesehen. Die Schwergewichtler von heute sind rein physisch ‘ne ganz andere Liga, aber Ali gilt als der Größte, weil er eben der Größte seiner Zeit war.“

Das war nicht ganz, was Mark gedacht hatte. Er hatte sich eher vorgestellt, wie Roland eine Zeitmaschine erfindet und dann als allererstes in die 30er Jahre zurückreist, nur um zuzusehen, wie Max Schmeling in Unterhose auf eine Waage steigt. „Also, Max Schmeling“, hatte sich Andi eingeschaltet und Mark die Hand zum Einschlagen hingehalten, eine blöde und eindeutig inflationär benutzte Angewohnheit von Andi, die sich Mark mittlerweile auch schon angewöhnt hatte. „Da geht es hin!“, hatte Andi verkündet. „Max Schmeling!“, hatte Mark feierlich geantwortet, in der Hoffnung, dass die Boxgeschichtsstunde damit beendet wäre, und mit Andi eingeschlagen. Die Boxgeschichtsstunde war beendet gewesen, Roland hatte zufrieden gelächelt und Andis und Marks Trainingsziel hatte ein Gesicht erhalten: das von Max Schmeling.

Mark zog konzentriert vier Sätze Schrägbankdrücken mit Kurzhanteln durch und ließ sich in den mittleren Sätzen von Alex helfen, der direkt neben ihm Klimmzüge machte. Alex war mal die unbestritten „größte Kante“ des Eisenkellers gewesen. Seit er selbständiger Unternehmer und Familienvater war, hatte Volker ihm diesen Rang in kurzer Zeit abgelaufen. Die Zeit für seine legendären, an Supersätzen reichen Trainingseinheiten war einfach nicht mehr da. Doch Alex‘ Disziplin blieb bewundernswert: Er kam oft nach der Arbeit auf dem Nachhauseweg für eine halbe Stunde vorbei und absolvierte eine konzentrierte Rücken- oder Brusteinheit. Zur allgemeinen Belustigung ging er an einem Rückentag – so wie heute – ohne weitere Umschweife, also auch, ohne sich umzuziehen oder aufzuwärmen, direkt zur Klimmzugstange, fasste sie mit breitem Obergriff und zog in recht zügigem Tempo mindestens ein Dutzend Klimmzüge, abwechselnd zur Brust und in den Nacken. Dann erst begrüßte er die Anwesenden mit Handschlag, vorher hatte er bestenfalls ein paar vage Begrüßungsfloskeln in den Raum gemurmelt. Dann schnallte er sich den Gewichtsgürtel mit zehn, fünfzehn oder auch mal zwanzig Kilo Zusatzgewicht um und zog weiter unbeirrt seine Klimmzüge. Die Pausen zwischen den Sätzen nutzte er nur, um das Zusatzgewicht zu variieren, heute auch, um Mark bei den letzten kritischen Wiederholungen auf der Schrägbank durch leichtes Drücken unter die Ellbogen zu unterstützen. Nach ein paar Sätzen an der Rudermaschine ging es zum Abschluss dann noch mal an die Stange, wo er – nun wieder ohne Zusatzgewicht – noch mal seine breiten Klimmzüge zur Brust und zum Nacken zog. Auch bei diesem letzten Satz waren es immer mindestens zehn. Auf dem Weg zum Ausgang wurde nur noch Leuten die Hand gegeben, deren Weg er zufällig kreuzte, ansonsten beließ er es wieder bei an die Allgemeinheit gerichteten vor sich hin gemurmelten Floskeln, bevor er hastig die Treppe hinauf und nach Hause stiefelte, um im Idealfall noch miterleben zu können, wie seine Kinder ins Bett gingen und er sie auf diese Weise wenigstens für einen Augenblick lang in wachem Zustand erlebte. Am Wochenende sah man ihn nicht mehr im Eisenkeller. Samstags arbeitete er durch und der Sonntag gehörte der Familie.

Mark hatte sich von Alex‘ flottem Tempo anstecken lassen und konnte so sogar noch drei Sätze Seitheben einschieben, bevor Andi mit seinen Überzügen fertig war. Während Andi die SZ-Hantel für die Trizepsübung belud, machte Mark noch einen vierten und letzten Satz Seitheben, wobei er sehr sauber und ohne Schwung arbeitete und jedes Mal zu leichteren Kurzhanteln griff, wenn er am Punkt des Muskelversagens angelangt war, was hart war und Willen kostete, jedoch vom Gefühl herrlich brennender äußerer Deltas belohnt wurde.

Das Trizepstraining absolvierten sie fokussiert, zügig und weitgehend schweigend. Sie assistierten sich gegenseitig: standen am Kopfende, während der andere die Stange zur Stirn abließ und kontrolliert wieder nach oben drückte und gaben sich zum Ende des Satzes Hilfestellung. Die gesprochenen Worte beschränkten sich darauf, dass Andi während Marks letztem Satz seine – nicht übermäßig spektakulären – Pläne für’s Wochenende zusammenfasste (zu den Höhepunkten gehörte Ausschlafen und Käsekuchenessen bei seiner Mutter) und dass Mark während Andis letztem Satz dessen Armhaltung mit den Worten „Ellbogen enger!“ korrigierte.

Ihre gezielte Arbeitsweise schien einem jungen Türken Respekt abzuverlangen, der sich auf einer der Bänke neben ihnen aufhielt und zusammen mit seinen Kumpels Bizeps-Curls ausführte. Seine Kumpels veranstalteten derweil das glatte Gegenteil einer konzentrierten Übungsausführung. Sie alberten und hampelten rum und trainierten auf’s Ärgerlichste uneffektiv, weil auch der Magerste genauso viel Gewicht verwenden wollte wie der Kräftigste von ihnen. Das passte wiederum dem nicht, so dass er sich eine noch schwerere Hantel nahm und im Endeffekt hatten sie alle viel zu schwere Hanteln und schaukelten die Gewichte mehr mit Schwung nach oben, als dass sie sie kraft ihrer Bizepskontraktion bewegten. Mark schüttelte dezent den Kopf, als sie sich von der Gruppe entfernten, um zum Abschluss des Trizepstrainings noch ein paar Sätze Dips an den Holmen zu machen. Bei dieser Trainingsweise könnten sie genauso gut gar nicht trainieren, dachte er, anstatt anderen Leuten durch ihr Geschrei auch noch auf die Nerven zu gehen. Aber es war Donnerstagabend, anscheinend wollten sie sich noch mal aufpumpen, bevor sie sich in ihre gerippten Hemden zwängten und in die Disco aufbrachen.

Mark hatte kein Verständnis mehr für solche Typen, sie nervten ihn höchstens. Glücklicherweise waren ihre Trainingsbesuche fast nie von Dauer. Er hatte schon oft ähnliche Gruppen erlebt, die sich gemeinsam angemeldet hatten und offensichtlich dachten, sie kämen ein paar Mal her und gingen nach ein paar Wochen als Dwayne „The Rock“ Johnson wieder raus. Anfangs hatte er sich die jungen Leute – sie waren meistens erst siebzehn oder achtzehn – interessiert angeschaut und oft in ihrem Körperbau ehrliches Potential entdeckt. Aber meistens trainierten sie dann ähnlich sinnlos wie die Gruppe hier gerade und wenn sich mal jemand ein Herz fasste – z.B. Hotte oder Roland – und sie an vernünftiges Training heranführen wollte, hatten sie immer eine Ausrede parat, warum sie gerade heute keine Kniebeuge, keine Doppelsätze, keine saubere Übungsausführung machen konnten. Dann hatten sie angeborene Bewegungseinschränkungen, einen Kater vom Wochenende, Ramadan, irgendwas hatten sie immer. Und es dauerte auch nie lange, dann kamen sie gar nicht mehr. Oder wechselten zu McFit. Oder fingen an, Steroide zu nehmen und flogen raus. War auch schon vorgekommen: Hotte hatte mal sechs Leute auf einmal erwischt, als sie sich in der Umkleide gegenseitig irgendwelche Spritzen in die Schultern gejagt hatten. Aufmerksam geworden war er durch lautes Geschrei und Gejohle. Nicht mal beim Dopen konnten sie sich zusammenreißen.

Ab und zu aber blieb einer aus einer solchen Horde übrig. Einer, der es geschnallt hatte. Erstaunlicherweise waren diese Typen dann ruhig und umgänglich und plötzlich zu normalen Gesprächen in normalem Deutsch imstande. So gesehen hatte der Eisenkeller durchaus einen guten Einfluss, fand Mark. So wie vielleicht die Arbeit mit dem Eisen allgemein: Du kannst deinen Kumpels, deiner Familie, deinen Feinden, deiner Freundin, wem auch immer erzählen, du wärst der Geilste, der Größte, der Stärkste. Das Eisen kannst du nicht belügen. 100 kg wiegen 100 kg. Die musst du hochdrücken, rumlabern hilft dir nicht. Und wenn du an der Klimmzugstange hängst, hängst du an der Klimmzugstange. Vom Dummes-Zeug-Reden überwindest du die Schwerkraft nicht. Und davon wachsen dir auch keine Muskeln.

„Hey, Mark, willst du auch ‘n Käffchen?“, rief Thorsten Mark auf seinem Weg zu den Holmen zu, „ich hab noch ‘ne Kanne gemacht, die soll leer werden.“ Thorsten machte heute Abend, wie jeden Donnerstag, die Theke im Eisenkeller. Mark wusste nicht, ob Thorsten damit kokettierte, schwul zu sein, ob er wirklich schwul war oder ob er einfach nicht aus seiner Haut konnte, wenn er sich auf eine Art durch den Eisenkeller bewegte, die man nur als „tuntig“ bezeichnen konnte und daher sprach, als säße er in der Jury einer Model-Casting-Show. Er schätzte aber in jedem Fall seine Art zu trainieren. Thorsten arbeitete stets sauber und quälte sich in jedem Satz. Nennenswerte Muskelmasse baute er allerdings nicht auf, er war und blieb äußerst schlank, um nicht zu sagen dünn, wenn auch extrem definiert, was ihm, in Verbindung mit seinen stets verwuschelten Haaren, starke Ähnlichkeit mit einer Manga-Figur einbrachte. Mark mochte Thorsten und er mochte Kaffee, aber nicht so spät am Abend, also winkte er ab, woraufhin Andi selbstlos anbot, noch eine Tasse zu nehmen, wenn der Kaffee denn unbedingt wegmüsse.

Während Andi an seinem Kaffee nippte, schnallte Mark sich schon mal das 15 kg-Zusatzgewicht für den ersten Satz um. Er würde das Gewicht im Laufe der Sätze immer weiter reduzieren und im letzten Satz dann nur noch sein eigenes Körpergewicht hochdrücken, so oft es ging, bis zum Muskelversagen.

Als Andi und Mark ihre Dips beendet hatten, stellte Mark mit Blick auf die Uhr fest, dass sie schon seit einer guten Stunde trainierten. Lange würde er seine Konzentration nicht mehr auf höchstem Level halten können. Auf seinem Programm stand aber auf jeden Fall noch Bauchtraining.

„Ich mach bald Schluss“, kündigte er Andi an, „eine Übung noch und nachher noch mein Bauchzirkel, dann muss ich los.“ – „Ok, also eine Übung noch. Dann bin ich auch weg“, entgegnete Andi, der sein Bauchtraining meistens ausfallen ließ. Sie einigten sich auf Kreuzheben, da bekamen alle Körperpartien am Ende noch was zu tun. „Oberer Rücken und Bizeps mach ich morgen“, plante Andi, „vielleicht auch Beine, mal sehen.“ Die Beine waren neben dem Bauch Andis zweites Stiefkind. Im Gegensatz zu Andis Bauch, der sich durchaus sehen ließ, obwohl er das gezielte Bauchtraining ziemlich vernachlässigte, war es mit Andis Beinmuskulatur nicht weit her. Mark stand auch nicht so auf Beintraining, seine Beine waren auch nicht gerade dick, aber er sah zu, dass er einmal die Woche einen leg-day einlegte, vor allem, um Kniebeugen zu machen, weil dabei mit Gesäß, Oberschenkeln und unterem Rücken die größten Muskeln des Körpers beteiligt waren und so das Muskelwachstum allgemein angeregt wurde.

„Kreuzheben heute, dann kannst du dir die Kniebeugen morgen sparen“, ermunterte Mark seinen Trainingspartner. „Morgen komm ich nicht, aber Samstag wieder“, fügte er an. „Dann Samstag wieder Brust zusammen?“, fragte Andi, bevor er wiedermal seine Weisheit zum Thema Beintraining zum Besten gab: „Beine sind eh überbewertet. Wenn du dich mit ‘ner Frau triffst, hast du doch sowieso ‘ne Hose an. Und wenn die Hose erst mal aus ist, wird keine dir sagen: ,Öh, zieh dich wieder an; deine Beine sind mir zu dünn!‘“

„Dann pass nur auf, dass du nie aus Versehen in kurzer Hose zum Date gehst“, wandte Volker ein, der sich in ihrer Nähe in Lauerstellung begeben hatte, weil er es auf die beladene Langhantel, die sie für’s Kreuzheben verwendeten, abgesehen hatte, „denn sonst kann es passieren, dass du zu hören kriegst: Nichts gegen deine Beine, aber Spargel gehört in die Dose!“ Mark grinste breit, obwohl er auch diesen Spruch nicht zum ersten Mal hörte. Andi auch nicht, dennoch lachte er und nötigte Volker, mit ihm einzuschlagen.

Das Kreuzheben powerte sie richtig schön aus. Dennoch zwang sich Mark am Schluss noch zu seinem Bauchzirkel, nachdem Andi sich verabschiedet hatte. Beim Bauch musste er dran bleiben. Verglichen mit den anderen Trainierenden war er in keiner Muskelpartie überlegen und es gab einige, die deutlich mehr Gewicht bewältigten als er. Aber wenn es ums Sixpack ging, machte ihm keiner was vor. Das war der Vorteil, wenn man von Natur aus schlank und mit langen Gliedmaßen ausgestattet war. Man drückte vielleicht nicht so viel auf der Bank, es platzten einem auch nicht gerade die Ärmel auf, aber die Definition stimmte. Und die Definition seiner Körpermitte war ausgezeichnet und das sollte auch so bleiben.

Der Bauchzirkel war kurz und hart. So hatte Mark ihn konzipiert. Er gehörte nicht zu denen, die endlos Sit-ups oder Crunches machten. Er forderte seine Bauchmuskeln meistens wie alle anderen Muskeln auch durch kurze, harte Sätzen mit eher niedrigen Wiederholungszahlen um die 12. Sein Zirkel sah vier verschiedene Übungen vor, die ohne Pause unmittelbar hintereinander durchgeführt wurden, wobei die Wiederholungszahl in jedem Durchgang abnahm. Das war ein psychologischer Trick, der es Mark ermöglichte, durchzuhalten und jeden neuen Durchgang zuversichtlich zu beginnen, in dem Wissen, dass er hier weniger leisten musste, als im Durchgang zuvor. Auf diese Art und Weise konnte er an seine Grenzen gehen und im letzten Satz absolvierte er nur noch vier Wiederholungen pro Übung und zwar mit letzter Kraft.

Auf der Fahrt mit der Straßenbahn nach Hause versorgte er seinen Körper bereits mit einem Eiweiß-Shake. Als er zur Wohnungstür hereinkam, konnte er hören und auch riechen, dass seine Freundin schon dabei war zu kochen. Perfektes Timing.

Kapitel 2 Erholung

Seine Freundin hatte sich etwas Reis dazu gekocht, so wie meistens. Manchmal kochte sie für sich auch Nudeln oder Kartoffeln. Mark verzichtete abends normalerweise auf Kohlenhydrate. Die wenigen nach dem Training benötigten, schnellen Kohlenhydrate waren in seinem Protein-Shake enthalten, weitere, etwa in Form von Nudeln oder Brot führte er sich abends nicht zu. Es sei denn, er war krank, dann durfte es sogar ausnahmsweise mal eine Pizza sein, denn in dem Fall galt es, alles dafür zu tun, einigermaßen bei Kräften zu bleiben. Heute Abend gab es für ihn, wie so oft, Putensteaks und Gemüse. No carb. Seine Freundin hielt es wiederum andersrum: für sie gab es Reis mit Gemüse. Fleisch aß sie seltener.

Die unterschiedlichen Essgewohnheiten störten sie aber nicht, im Gegenteil, er ließ halt das eine, sie das andere weg, trotzdem konnten sie zusammen kochen, was sie auch oft und gerne taten. Sie wohnten schon seit ein paar Jahren zusammen und nicht nur die Essensroutine lief reibungslos, fand Mark. Sie mochten dieselben Sachen im Fernsehen, auch dieselben Serien auf DVD und hielten sich glücklicherweise beide nicht gern mit Putzen auf. Wenn sie es dann doch mal taten, machten sie auch das gemeinsam und wie eigentlich alles, was sie gemeinsam taten, fand Mark auch ihre Putzaktionen ganz schön. Sie ließen dann laut Musik laufen und alberten ziemlich kindisch herum. Aber nachher waren die Zimmer sauber und sie gut gelaunt.

Sein Bruder hatte ihn damals noch vor dem Zusammenziehen warnen wollen, mit der Begründung, es schleiche sich zu schnell eine unromantische Routine ein, außerdem sei automatisch immer der andere Schuld, wenn etwas weg sei, aber Mark hatte das Zusammenwohnen nie bereut. Verschwundene Gegenstände hatten noch nie einen Streit zwischen ihm und seiner Freundin ausgelöst und was die Routine betraf, war das eine Sache, die ihm sogar sehr gut gefiel.

Sein Training plante er sehr strukturiert, da kam ihm ein gut strukturierter, routinierter Alltag durchaus entgegen. Er ging für gewöhnlich jeden zweiten Tag ins Fitness-Studio, also in der einen Woche Montag, Mittwoch, Freitag und Sonntag, in der nächsten dann Dienstag, Donnerstag und Samstag. Die Abende, an denen er nicht trainierte, verbrachte er ruhig zu Hause mit seiner Freundin. Weil das die Tage waren, an denen sein Körper regenerierte, ließ er sich manchmal sogar zu Nudeln überreden, die sie dann auf der Couch zum Fernsehen oder einer Serie aßen. Und Mark fand das gut, denn diese Abende beinhalteten die für seine Muskeln notwendige Erholung und zugleich gemütliche Stunden mit seiner Freundin. Mark mochte diese Abläufe, er wusste allerdings auch, dass seine Freundin manchmal ein bisschen mehr wollte, als nur das. Daher machten sie am Wochenende ab und zu gemeinsame Ausflüge, etwa eine Radtour irgendwohin oder sie gingen auch mal zusammen zum Schwimmen.

Beides schätzte Mark sehr, denn sowohl das Radfahren als auch das Schwimmen waren eine gute Abwechslung zum Eisenstemmen. Beides durchblutete und lockerte die gesamte Muskulatur und diese stetige, leichte Belastung tat gut, gerade nach einem harten Trainingstag. Nur beim Joggen war er raus. Er fand Laufen langweilig und fühlte sich danach unangenehm ausgezehrt. Sein Ziel war es, Masse aufzubauen, da hatte er keine Kalorien zu verschenken! Schwimmen zehrte zwar auch, wenn man 50 Bahnen am Stück absolvierte, aber es verschaffte einem immerhin einen leichten Pump in den Schultern, und wenn Mark im Anschluss an den gemeinsamen Schwimmbadbesuch einen fast kohlenhydratfreien Whey-Protein-Shake trank, gab ihm das das gute Gefühl, etwas für seinen Muskelerhalt im Oberkörper und gleichzeitig etwas für die Fettverbrennung getan zu haben. Manchmal wollte seine Freundin auch ins Museum oder so, er ging dann sogar mit, noch lieber schickte er sie bei solchen Geschichten allerdings mit einer ihrer Freundinnen los. Sie hatte einen ganzen Haufen davon und war sowieso mindestens jedes zweite Wochenende mit einer davon oder gleich mehreren auf einmal unterwegs.

Mark selber traf sich regelmäßig nur mit Andi. Ziemlich genau einmal im Monat, samstags oder freitags, je nachdem, wie ihre Trainingstage lagen, gingen sie zusammen was trinken. Unregelmäßig und seltener ging er mit den anderen Jungs aus dem Studio weg. Eigentlich nur, wenn es irgendeinen Anlass gab. Und dann war da noch Kai von der Arbeit. Aber mit dem traf sich Mark nur gelegentlich, obwohl sie sich auf der Arbeit sehr gut verstanden. Und wenn, dann sahen sie sich sonntagnachmittags zum Kaffee oder sie gingen nach der Arbeit noch was essen. Mark war schon kein großer Kneipengänger, aber Kai ging abends scheinbar so gut wie nie raus. Höchstens mit seinem Freund in die Oper oder ins Theater. Marks Kneipentouren mit Andi verliefen auch überschaubar. Sie starteten meistens gegen acht und spätestens um Mitternacht war Mark eigentlich immer zu Hause. Sie machten dabei zwar in mehreren Kneipen Station, tranken im Verlauf des Abends aber nur drei bis höchstens vier Bier. Mehr erlaubten sie sich als aktive Sportler nicht und Mark hatte spätestens nach dem dritten Bier sowieso schon einen sitzen. Aber darum ging es ja auch nicht, sondern um die Gespräche. Im Eisenkeller redete Mark ja eher wenig. Andi nicht, Andi sprach eigentlich fast immer. Und mit jedem. Trotzdem war es wohl auch für Andi etwas Anderes, wenn er mit Mark alleine war und sie sich über Alltägliches, Trainingsrelevantes oder auch Persönliches unterhielten. Und an irgendeinem Punkt wurden ihre Themen eigentlich immer recht intim. Das Trinken war dabei totale Nebensache.

Das war es für Mark generell. Unter der Woche trank er sowieso nichts und am Wochenende nur, wenn er mit Andi oder, was noch seltener vorkam, mit den Jungs unterwegs war. Ab und zu gab es an einem Freitagabend, den er entspannt mit seiner Freundin zu Hause verbrachte, ein gemeinsames Glas Wein. Natürlich nur, wenn er an diesem Tag nicht trainiert hatte. Denn im Training überreizte und verletzte man seine Muskulatur schließlich, so dass sie in der folgenden Regenerationszeit „repariert“ werden musste, um im besten Fall dichter und stärker als zuvor zu werden. Und schon geringe Mengen Alkohol hemmten die Proteinsynthese. Von der dehydrierenden Wirkung und der Behinderung der Nährstoffaufnahme mal ganz zu schweigen.

Er wusste, dass seine Freundin fand, er stelle sich an und übertreibe es mit Verzicht und Ernährungskontrolle, deshalb machte er ihr zuliebe manchmal kleine Zugeständnisse, teilte sich zum Beispiel auf einer ihrer Radtouren mal ein Bier mit ihr, in Ausnahmefällen sogar ein Stück Kuchen oder sie rauchten am Wochenende eine Zigarette zusammen. Das war sowieso der Trumpf. So eine Zigarette konnte extrem zur Entspannung beitragen und ihm als Gelegenheitsraucher stieg der Konsum von Nikotin zuverlässig und sofort in den Kopf, wo er einen angenehmen Schwindel auslöste. Im Gegenzug zum Alkohol verflog die Wirkung schnell und hatte, soweit Mark wusste, keine nachteilige Wirkung auf die Proteinsynthese. Ausdauersport machte er nicht, also konnte ihm die Auswirkung auf seine konditionelle Leistung egal sein. Und seine Freundin konnte nicht sagen, er sei ein Gesundheitsfanatiker und ein Körper-Nazi. (Ungerechterweise nannte sie ihn trotzdem manchmal so.) Wenn er mit Andi unterwegs war, rauchte er auch, wenn auch nicht so viel wie Andi, der schätzungsweise mehrere Packungen pro Woche rauchte.

Mark war erst relativ spät zum Gelegenheitsraucher geworden; früher, als er in der Jugend noch Hockey gespielt hatte – Mark konnte nicht mehr sagen, wie er auf diese Idee beziehungsweise diesen Sport gekommen war, vielleicht hatte es etwas mit der hübschen Trainerin zu tun gehabt? – war das undenkbar gewesen, obwohl einige aus der Mannschaft schon geraucht hatten. Mit dem Alkohol verhielt es sich da anders: Das Biertrinken hatte er mit 16 Jahren für sich entdeckt, übrigens im Rahmen von Trainingslagerfahrten mit der Hockeymannschaft, und hatte in der folgenden Zeit schnell fast alle anderen Alkoholika durchprobiert. Mit 17 Jahren war er praktisch jedes Wochenende voll gewesen, mit 18 hatte sich sein Alkoholkonsum führerscheinbedingt plötzlich und drastisch reduziert und erst nach dem Abi, im Zivildienst, war er wieder zum Partyleben übergegangen.

Allerdings hatte er im Zivildienst auch zum ersten Mal ein Fitness-Studio besucht und schnell eingesehen, dass Party und Pumpen miteinander unvereinbar waren. Also hatte er einen Kompromiss geschlossen und unter der Woche fleißig trainiert und am Wochenende mit seinen Zivi-Kollegen fleißig gefeiert. Damals hatte er jedoch ziemlich planlos drauflostrainiert und auch von Ernährung noch keine Ahnung gehabt.

Im Studium hatte er das Muskeltraining aus den Augen verloren und sogar ein kurzes Hockey-Comeback gehabt, im Uni-Sport, diesmal ohne hübsche Trainerin, dafür mit ein paar hübschen Kommilitoninnen. Im Hobbyraum des Wohnheimkellers hatten ein paar Hanteln herumgelegen, mit denen er hin und wieder ein paar Übungen gemacht hatte, außerdem hatten gelegentliche Liegestütze und Sit-ups immer zu seinem persönlichen Wohlbefinden dazugehört, aber das war alles nur Spielerei gewesen. Richtig ernsthaft mit dem Training begonnen hatte er erst, nachdem er das Studium abgebrochen und seine Ausbildung angefangen hatte. Mit dem Arbeitsalltag hatte auch sein Trainingsprogramm feste Strukturen bekommen. Er hatte angefangen, sich über Trainingsmethoden, Ernährung und Regeneration zu informieren und zum ersten Mal vernünftig, zielgerichtet und systematisch trainiert. Nur wenig später hatte er seine Freundin kennengelernt. Seit sie ihn kannte, war der Eisenkeller also fester Bestandteil seines Lebens, richtig interessiert hatte sie dieses Hobby aber nie. Obwohl sie seine Fortschritte doch eigentlich haargenau und aus nächster Nähe hatte mitverfolgen können. Immerhin wog er jetzt 15 Kilogramm mehr als zu Beginn ihrer Beziehung. Was er damals, in seinen frühen Zwanzigern, noch für ein Hering gewesen sein musste! Unfassbar!

Und jetzt saßen sie hier zusammen auf der Couch, guckten DVD und aßen Putensteaks, Reis und Gemüse. Wie schön. Mark hatte die Zeit, bis das Essen fertig war, für eine Dusche genutzt und war jetzt völlig entspannt. Er genoss diese ruhigen Abende mit seiner Freundin sehr.

Buffy und ihre Clique hatten gerade die Highschool in die Luft gejagt und den dämonischen Schlangen-Bürgermeister gleich mit. Sie standen beide auf die Serie, aber die Folge war die letzte der Staffel und sie hatten beide keine Lust, heute Abend noch die neue anzufangen. Außerdem mussten sie beide am nächsten Morgen früh aufstehen und Mark hatte gerne seine acht Stunden Schlaf. Nicht nur, weil Schlaf für die Regenerationsphase und das Muskelwachstum extrem wichtig war, sondern auch, weil er nun mal gerne schlief und lieber ausgeschlafen in den Tag startete als unausgeschlafen. Er wusste, dass das Luxus war und viele Kollegen, besonders die jungen Mütter und Väter, stöhnten über zu wenig Schlaf, aber das war ja nun mal ein Luxus, den man sich nur zu leicht leisten konnte. Man musste ganz einfach früh genug ins Bett gehen. Und sich keine Kinder oder Haustiere anschaffen, die einen zwischendurch weckten.

„Was machen wir morgen?“, fragte seine Freundin, nachdem sie den Fernseher ausgeschaltet hatten. Mark zuckte die Achseln. „Müssen wir noch einkaufen?“ – „Ja, stimmt“, sagte sie, „wartest du, bis ich von der Arbeit komme und wir gehen dann zusammen los?“ Mark zuckte wieder die Achseln. „Ok.“ – „Und danach bin ich, glaub ich, platt“, mutmaßte seine Freundin, „nach der Woche… das war vielleicht wieder eine beschissene Scheiß-Woche. Und als ob es nicht reichen würde, dass super viel zu tun ist, meinen einige Kollegen offensichtlich, sie müssten einem noch zusätzlich total auf den Sack gehen. Manche Leute stellen sich vielleicht dämlich an, kann ich dir sagen!“

Mark lächelte und legte seinen Arm um sie. Seine Freundin war noch nicht fertig: „Das machen die extra, diese Vollärsche. Stellen sich saudoof an, in der Hoffnung, man nimmt ihnen die Arbeit ab. Aber darauf können sie lange warten! Die sollen mal in die Gänge kommen! Und trotzdem nagt sowas an mir, verstehst du das? Das ist zermürbend, weil man sich doch irgendwo Gedanken macht und man ist auf ihre Zuarbeit letzten Endes ja auch angewiesen, weißt du?“

Mark nickte, er hörte derartige Beschwerden nicht zum ersten Mal. „Ich finde es lustig, dass du sie Vollärsche nennst“, sagte er, durchaus amüsiert, „das klingt wie eine Beförderung. Erst waren sie nur Ärsche, dann haben sie sich durch konstant dämliches Verhalten zu Vollärschen hochgearbeitet.“ – „Genau so ist das auch!“, rief seine Freundin aus, „Und jetzt sind das solche Vollärsche, das kannst du dir gar nicht vorstellen.“ – „Hoffentlich werden sie nicht noch weiter befördert“, scherzte Mark, „zum Superarsch oder so was.“ – „Vorher lasse ich mich befördern zum Backpfeifen-Verteiler“, sagte sie entschlossen, dann lächelte sie. „Zum Glück haben wir auch viele nette Leute da, aber manchmal regen einen die Vollärsche eben auf. Aber Vollärsche oder nicht, die Woche war hart und morgen wird auch noch mal viel und ich glaube, morgen Abend bin ich durch. Also können wir gerne hier abhängen, vielleicht ein Gläschen Wein trinken und vielleicht lässt du dich ja zu einer Lasagne überreden?“ – „Wenn wir fettarmen Mozzarella nehmen, bin ich dabei“, versprach Mark tollkühn. „Schön. Am Samstag kommt Sonja. Die ist auf der Durchreise, macht aber hier Station. Die habe ich ewig nicht mehr gesehen. Höchstens zwei, drei Mal, seit sie weggezogen ist und das ist schon fast zwei Jahre her! Wir gehen brunchen und später treffen wir uns noch mit Steffi. Mal gucken, was wir dann noch machen und wo und wie lange. Und dein Samstag?“ – „Am Samstag ist Trainingstag. Ich gehe ins Studio.“ – „Und danach?“, fragte sie. Wieder zuckte Mark die Schultern. Wenn er hart trainiert hatte, brauchte er sonst kein Programm mehr. Dann hatte er anschließend gern seine Ruhe. „Was ist mit Sonntag?“, fragte seine Freundin jetzt.

„Am Sonntag gehe ich auch ins Studio, ausnahmsweise, weil: Wir haben am Montag Fortbildungstag, das wird wieder ewig dauern und danach ist es mir zu spät für’s Training. Das heißt, ich kann erst am Dienstag wieder gehen und die Pause wird mir so zu lang. Deshalb splitte ich mein Training und arbeite Samstag und Sonntag alles durch, pausiere am Montag und gehe am Dienstag wieder.“ – „Ok“, sagte sie, „Wollen wir am Sonntag nicht noch was machen?“

Mark überlegte. „Klar“, sagte er dann, „ich trainiere ja nicht den ganzen Tag. Und ich bin dann ja sowieso in der Stadt. Wir könnten uns nach dem Training irgendwo treffen und einen Kaffee trinken.“ – „Gut.“ Mark überlegte wieder. „Ich mixe mir dann vorher schon einen Shake und nehme den mit ins Studio. Ich nehme an, im Café servieren sie keine Protein-Shakes und ob ein Stück Kuchen nach dem Training das Richtige ist…“ – „Keine Sorge“, beruhigte sie ihn, „Nach der Lasagne am Freitag werde ich dir nicht noch Kuchen am Sonntag zumuten.“ Er lächelte. „Danke.“ – „Ich werde allerdings wahrscheinlich einiges an Kuchen probieren, darauf musst du dich einstellen.“

„Kein Problem, bei dir ist mir das egal.“ – „Bei mir ist es dir egal, wenn ich fett werde?“, stichelte sie. „So war das nicht gemeint“, verteidigte er sich, „außerdem wirst du nicht fett davon, wenn du am Wochenende mal ein paar Stücke Kuchen isst.“ – „Oho!“ Sie löste sich aus seinem Arm und setzte sich auf. „Das sind ja ganz neue Töne! Weißt du, wer davon auch nicht fett würde? Du!“

Er seufzte. „Ja, klar, das weiß ich. Fett würde ich nicht, aber zu fett. Wie du sicher weißt, setzt sich Fett bei Männern oft als Erstes am Bauch an.“ Er setzte sich ebenfalls auf, um seinen nächsten Move vorzubereiten. „Und dann sieht man die hier nicht mehr!“ Mit diesen Worten zog er ruckartig sein T-Shirt hoch und entblößte seine angespannten Bauchmuskeln.

„Ja, ja“, seufzte sie und tätschelte seinen Bauch, ohne hinzugucken. „Ist schon klar.“ Sie stand von der Couch auf. „Komm, lass uns schlafen gehen.“

Kapitel 3 Stammtisch

An diesem Sonntag im Eisenkeller hatte Mark eigentlich einen ziemlich entspannten Zeitplan, denn er hatte gestern schon Brust, Rücken, Bauch und Trizeps trainiert, so dass er sich heute nur Schultern, Bizeps und die Beine vornahm. Er wollte je zwei Übungen für Schultern und Bizeps machen und dann noch mindestens zwei Übungen für die Beine, vielleicht auch einen Bein-Gerätezirkel mit drei Stationen. Anschließend war er mit seiner Freundin in der Stadt zum Kaffeetrinken verabredet. Also alles ganz easy. Allerdings musste man für’s Duschen einiges an Zeit mit einrechnen, denn die Dusche war unfassbar lahm.

Einmal hatte Hotte ein neues Mitglied des Eisenkellers