Eiskalte, tödliche Zeiten - Siegmund Reithmair - E-Book

Eiskalte, tödliche Zeiten E-Book

Siegmund Reithmair

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Beschreibung

Die 14-Jährige Juliane, die auf einem Einödhof in Niederbayern lebt, bekommt 1906, was zu dieser Zeit sensationell erscheint, die Chance Lehrerin zu werden. Sie tritt die Ausbildung zu ihrem Traumberuf in einem nahegelegenen Internat an. Doch nach einigen Monaten ziehen schnell und unbarmherzig dunkle Wolken auf, das Schicksal fordert sein Recht. Der Ortspfarrer will ihren Traum jäh zerstören. Dann überschlagen sich die Ereignisse. In ihrem weiteren langen Leben, das übersät ist von vielen unglaublichen Schicksalsschlägen wird sie erkennen, dass sie meist machtlos und deprimiert die Katastrophen hinnehmen muss. Doch das Leben hält für sie auch sonnige Tage bereit. Wird Juliane diese Berg- und Talfahrt der Gefühle meistern?

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„Wer seine Geschichte vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“.

(George Santayana)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 66

Kapitel 67

Vorwort

Die Liebe ist eigentlich ein weiterer Sinn, ein Organ, dass die anderen Sinne sogar dominiert. Wer verlernt hat, aus verschiedenen Gründen, mag es Bitterkeit, Enttäuschung, Fatalismus oder Verachtung der Menschen und des Lebens sein, der kann nicht mehr fühlen, er kann nicht mehr richtig hören oder sehen, denn nur das Herz ist fähig, die Sinneseindrücke in Gefühle zu verwandeln. Wobei es scheint, dass dieser sechste Sinn nicht dem Herzen angedichtet werden kann, sondern eher dem Gehirn, der Hypophyse. Nur über Gedanken, Vorstellungen, Phantasie und Wünsche kann der Prozess der Liebe in Gang gesetzt werden. Und jeder der dazu bereit ist das zu fühlen wird auch in erster Linie das Gute im Menschen sehen. Kommt der Sinn abhanden, wird der Mensch reduziert zu einer Ansammlung von Zellen, Muskeln und stoische arbeitenden Organen und das Leben erscheint nicht mehr lebenswert.

Wenn wir einmal nicht mehr sind, nicht mehr körperlich anwesend auf dieser Erde, leben wir in den Erinnerungen weiter, in Erinnerungen, die unsere geliebten Menschen, unsere Freunde und Bekannten an uns haben. Wenn auch sie gestorben sind, verblassen auch diese Erinnerungen sehr schnell. Nur was festgehalten werden kann, was niedergeschrieben wurde über uns überdauert diese Zeiten und bleibt für immer lebendig.

Für meine geliebte Frau, die nie hinter mir gestanden ist, sondern immer neben mir steht, für meine lieben und geschätzten Söhne, auf die ich so unsagbar stolz bin, die mir die Erkenntnis liefern, wie unvorstellbar wichtig Kinder sind, für meine lieben Schwiegertöchter und besonders für meine quirligen und neugierigen Enkelkinder, die diese Zeiten nur aus den Geschichtsbüchern kennen.

1

Juliane

Schon während des ganzen kalten Vormittags hatte mir der unbarmherzige Nordostwind zu dieser schweren Arbeit ein eisiges Lied gesungen. Da stehe ich nun auf dem Misthaufen inmitten des elterlichen Gehöfts in Heidhof, genau da, wo mich der feine Herr Pfarrer haben wollte. Wie sollte jetzt mein Leben weitergehen. Diese Arbeit kann und will ich nicht mein Leben lang erledigen.

Ein unangenehmes Gefühl breitet sich in meinem Innersten aus und obwohl ich durch die harte Arbeit ständig ins Schwitzen komme, kriecht etwas eiskalt in meinem Körper hoch und lässt mich erschaudern, lässt mich wütend werden. Was kann ich von der Zukunft erwarten, als gute Tante mich am Hof bis ans Lebensende abrackern oder vielleicht sogar einen reichen Bauern heiraten. Das wäre noch das geringste Übel! Ich bin verärgert, ja richtig böse auf den Menschen, der für mich diese Entscheidung getroffen hat und fast im gleichen Augenblick fühle ich eine bedrückende Angst, eine schwere Sünde zu begehen. Ich werde sehr streng katholisch erzogen und deswegen kommen schon Gewissensbisse auf, als ich die ganze Sache kritisch bedenke. Wie wunderbar hatte doch dieses Jahr begonnen und wie dramatisch schlecht sah es jetzt im Dezember aus. Ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht drückt meine Stimmung und ich versuche auf andere Gedanken zu kommen.

Haidhof liegt als Einzelhof umgeben von Feldern, Wiesen und Wald rund 1,5 km von der Gemeinde Waltrershofen entfernt. Dieser Ort mit ca. 350 Einwohner, einem Bürgermeister, einem Pfarrer, einer Werktagsschule und einer Feiertagsschule, liegt idyllisch in einem weiten Talkessel an einem kleinen Bach. Das Dorf prägen die landwirtschaftlichen Betriebe, die ausnahmslos Ackerbau und Viehzucht betrieben. Die Hierarchie in dieser Gemeinschaft war klar geregelt. Alle Einwohner hatten sich der Meinung und den Anordnungen des katholischen Pfarrers zu fügen. Viele taten dies, weil sie es nicht anders kannten, aber die Mehrheit fürchtete aufgrund der strengen Erziehung um ihr Seelenheil, wenn sie dem Herrn Pfarrer widersprechen würden. Ja von Kindesbeinen an wurde in dem Ort, wie natürlich auch in allen anderen katholischen Landesteilen Bayerns, den Menschen eingebläut, dass sie in der Hölle schmoren müssten, wenn sie sich gegen die christliche Weltordnung auflehnen würden. Die Angst vor der Hölle oder auch vor dem Fegefeuer, der christlichen Reinigungsanstalt, war ständig präsent, wurde immer wieder geschürt und dann mit schrecklichen Bildern über das Jüngste Gericht veranschaulicht. Ja man könnte fast von einer andauernden Gehirnwäsche bei diesen Vorgängen reden. Und deswegen respektiert oder macht man unbesehen alles, was durch den Vertreter Gottes auf Erden angeordnet wird.

An zweiter Stelle der Hierarchie stand der Bürgermeister, der aber weit weniger zu sagen hatte als der Herr Pfarrer. Der gewählte Dorfvertreter war Ansprechpartner bei rechtlichen Fragen, er vertrat im Endeffekt den bayerischen König und hatte auch bei Streitigkeiten im Dorf eine wichtige Funktion zu erfüllen. Damals standen die Großbauern an der nächsten Stufe der Leiter, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke viel im Dorfleben zu bestimmen hatten. Es folgten die Handwerker, der Bäcker, der Schmid, der Wagner und noch weitere Zunftmitglieder anderer Handwerksberufe. Am Schluss standen die Häusler, arme Knechte, die heiraten durften und sehr bescheiden in kleinen Häusern hausten, aber auch Söldner, altgediente Soldaten, die von wenig Einkommen leben mussten. Der Dorflehrer erschien vielen Bewohnern eher als Randfigur. Er verdiente sehr wenig und musste sich nebenbei durch behördliche Schreibarbeiten und diverse Dienstleistungen etwas hinzuverdienen. Ohne seinen großen Garten, in dem Kartoffeln, Kraut, Pastinaken und noch vielerlei andere Gemüse- und Salatsorten wuchsen, hätte er kaum seinen Lebensunterhalt bestreiten können. In den langen und schneereichen Wintern war er sehr dankbar, wenn die Kinder der großen Bauern, aber auch die Häuslkinder ihm kleine Geschenke in Form von Naturalien, Brot, Geräuchertem oder den einen oder anderen Karpfen brachten und wenn Schlachttag war, bekam er auch mal ein Stück Fleisch ab. In die Werktagsschule, von Montag bis Samstag, gingen die Kinder bis zum 10. Lebensjahr und lernten dort lesen, rechnen und schreiben. Neben dem Religionsunterricht gab es auch eine Singstunde, die eigentlich bei den meisten Schülern immer gut ankam und eine schöne Abwechslung darstellte. Die 11-13 jährigen Kinder besuchten die Feiertagsschule, die sonntags nach dem Gottesdienst zu besuchen war. Diese zwei Schulen hatte Juliane, wie alle Kinder auf dem Lande absolviert und das mit viel Fleiß und auch mit einer große Portion Intelligenz, wie ihr der Herr Lehrer bescheinigte. Es gab ja auch damals schon ein Zeugnis, wenngleich der Aussagewert nicht besonders hoch war. Juliane hatte hier immer sehr gut abgeschnitten, konnte fehlerlos schreiben und beherrschte die vier Grundrechenarten immer sehr gut. Ihre besondere Gabe entdeckte sie im Lesen, wobei es stets schwieriger wurde anspruchsvolle Texte zu bekommen. Zuhause wurde ihre Vorliebe zwar toleriert, aber doch manchmal belächelt und ihr Vater schimpfte dann oft, wenn sie abends bei unzureichendem Licht in der Ecke der Küche ihre bescheidene Lektüre verschlang. Trotz alle dem war Vater sehr stolz, wenn er ihr hervorragendes Zeugnis begutachten konnte. Es gab auch negative Beispiele, die zur damaligen Zeit nicht gerade von hoher pädagogischer Feinfühligkeit zeugten. Der Franz vom Blaimerhof, der immer einen Teil seines Schulweges mit Juliane ging, ließ ihr sein Zeugnis lesen in dem stand als Bemerkung folgendes: " Er ist sehr dumm, aber er mag Pferde“. Da musste sie schmunzeln, aber dem Franz war das egal, er würde einmal der Bauer auf dem Blaimerhof werden und eine gesicherte Zukunft vor sich haben.

Ja, und Juliane wusste jetzt wirklich nicht, wie es weiter gehen sollte. Ihre dunkelgraue Jacke scheuerte auch schon hartnäckig am Hals, wie sah sie denn jetzt wieder aus. Sie trug einen abgenutzten grauen Rock, der ihr viel zu lange war. Ihre Schwester Martina hatte ihn getragen. Über dem vergilbten Hemd zog sie am Morgen diese uralte Jacke an, die sehr stark abgetragen war und deshalb immer wieder kratze. Über dieser Kleidung trug sie die obligatorische Schürze, die den gröbsten Schmutz und Geruch auffangen sollte. Ein Kopftuch schützte einigermaßen vor Kälte und Wind. Wenn sie jetzt nachdachte, wie gut sie in der neuen Schule in Riedenburg gekleidet war, bekam sie ein beklemmendes Gefühl und sie war sehr traurig, dass diese Zeit so schnell und abrupt zu Ende ging. „ Ich will wieder in die Schule gehen,“ schreie ich ganz spontan und zornig in den kalten Nachmittagshimmel. Ich blicke von meiner Arbeit auf dem Mist auf und sehe, dass sich der Himmel zu einer wundervollen Stimmung aufmacht. Die wenigen Wolken färben sich blutrot und die dunkelrote Scheibe der Sonne glitzert in der kalten Abenddämmerung. Mit diesem herrlichen Naturschauspiel steigt auch meine Stimmung und ich denke, es wird sicher alles wieder gut werden und vielleicht hat das Schicksal oder auch Gott etwas anderes mit mir vor. Mit neuer Hoffnung und viel Zuversicht beende ich meine Arbeit im Stall und auf dem Mist. Ich stapfe in das alte Bauernhaus, das sicher schon einige unglaubliche Geschichten erzählen könnte, wasche mir am Hausbrunnen Gesicht und Hände, entledige mich endlich der alten, kratzenden Jacke und der Arbeitsschürze und ziehe eine dunkelgraue selbstgestrickte Weste über. Nach und nach versammeln sich dann alle Familienmitglieder und die Knechte und Mägde in der Küche und in der guten Stube. Auf dem Hof leben zwei Knechte, eine Hausmagd, eine Schweinemagd, ein Knecht, der hauptsächlich für den Pferdestall zuständig ist und ein Schweizer, zu dessen Arbeitsgebiet überwiegend der Kuhstall gehört.

Meine Familie besteht jetzt aus neun Mitgliedern, meinen Eltern, der lieben Oma Martina , zu der ich ein inniges Verhältnis pflegte, meinen Brüdern Paul und Michael und meinen Schwestern Martina, Maria und Franziska. Leider war mein Opa zu früh gestorben, ich hatte ihn kaum gekannt. Mit meinen Geschwistern komme ich immer gut zurecht, lediglich Martina zeigte sich doch sehr eifersüchtig, als ich die Erlaubnis bekam eine weiterführende Schule zu besuchen. Unsere Küche, geführt von meiner Mutter und der Hausmagd Rita brachte auf den Tisch, was in unserem Hausgarten und auf dem Feld wuchs.

Fleisch oder Geräuchertes gab es nur einmal pro Woche, aber wir waren damit zufrieden und keiner musste wirklich hungern, was auf einige Bewohner des Dorfes leider nicht zutraf. Nach dem Abendessen saßen wir noch gemütlich in der warmen Stube, ich fühlte mich wohl, der Holzofen knisterte und es wurde mir warm am ganzen Körper und die Wangen röteten sich. Zufrieden blickte ich auf die Mühen des Tages zurück und als mein Vater noch eine wahre Geschichte über den Märchenkönig Ludwig II. erzählte, horchten wir alle erwartungsvoll zu. Es schien doch alles in Ordnung zu sein dachte ich mir und genoss die heitere und interessante Geschichte. Die Müdigkeit schlich schnell ein in unsere gute Stube. Angesichts der harten Arbeit und auch der Kälte, die anfangs Dezember herrschte, war das verständlich. Früh gingen wir zu Bett, um am nächsten Morgen wieder ausgeruht unser Tagewerk zu beginnen. Ich bewohne mit meinen drei Schwestern gemeinsam ein Zimmer. Ein kleiner Holzofen mit einem langen Ofenrohr wärmt das Zimmer ganz behaglich.

Martina, die sich mit mir das Bett teilt, fängt noch zu reden an: „Es tut mir schon leid, dass du die Schule in Riedenburg wieder verlassen musstest.“ „Ja jetzt kannst du das ruhig sagen, aber du hast es mir doch den ganzen Sommer über nicht gegönnt“, entgegne ich trotzig. „So schlimm war das doch auch nicht“, entschuldigt sich Martina. „Du hast mich ganz böse verspottet. Geh doch zu deinen Nonnen, vielleicht wirst du dann auch so ein Pinguin und ich bin froh, wenn ich dich nicht mehr sehen muss, außerdem habe ich dann endlich das Bett für mich allein“, beschwere ich mich. “Ja, stimmt Jule, ich war ganz schön böse zu dir, ich schäme mich jetzt sehr dafür, was ich damals zu dir gesagt habe“, sagt sie nun. In ihrem Innersten fühlte sie wieder das große Unrecht, das sie ihrer Schwester angetan hatte, sie war einfach voll enttäuscht, sie hätte auch gefragt werden müssen, ob sie in eine weiterführende Schule gehen will. „Das tut mir schon sehr leid, ich habe dich beneidet, vielleicht wollte ich auch eine solche Chance. Und jetzt kann ich so richtig begreifen, wie du dich fühlst. Dafür habe ich ja auch Verständnis“, entgegnete Jule“. „Ich bin jetzt seit zwei Wochen wieder zu Hause und immer noch so wütend, dass alles so gekommen ist, aber ich bin dir nicht mehr böse, nur sehr traurig“, antworte ich. Mir rollen die Tränen über das Gesicht und ihr geht es genauso, wir umarmen uns innig und ich kann nicht anders als ihr zu verzeihen. Der kleine Holzofen verrichtet noch immer knisternd und funkelnd seine Arbeit. Meine Schwestern sind eingeschlafen, nur ich liege noch wach, bin wieder sehr aufgewühlt und beginne nochmal die ganze Situation in Gedanken abzurollen. Der Wind kommt wieder auf und singt um die Hausecken und durch die undichten Fensterläden, schwere Regentropfen klopfen an die Fensterscheibe zum Rhythmus meines Herzschlages. Langsam beruhige ich mich wieder, auch der Regen lässt nach und der Wind schläft endlich ein. Doch, was war das? Ich höre draußen ein knarrendes Geräusch, so, wie wenn vorsichtig eine Türe geöffnete würde. Nachdem alle Hausbewohner längst im Bett liegen und fest schlafen, kommt mir das sehr verdächtig vor. Schon wieder ächzt etwas, das kann nur eine Türe sein, es ist bestimmt ein Einbrecher. Angst kriecht mir hoch bis zum Hals, ich bin unfähig mich zu bewegen, traue mich nicht aus dem Fenster zu sehen, mein Herz rast. Gerade in der dunklen Jahreszeit sind ja viele Ganoven unterwegs, das weiß ich und jetzt rappelt es schon wieder. Ich muss aufstehen und alle vor dem Einbrecher warnen, schießt es mir durch den Kopf.

Ich versuche endlich wieder klar zu denken, ich atme tief ein. Schweiß steht mir schon auf der Stirn. Immer noch liege ich wie gelähmt da und traue mich nicht zu bewegen. Meine Gedanken fahren Karussell, ich konzentriere mich, versuche meine Gedanken zu ordnen. Und jetzt habe ich einen rettenden Gedanken, der aufmerksame Hofhund Barri, ein Berner Sennenhund mit einer Schulterhöhe von 1,10m, hatte noch keinen Laut von sich gegeben. An ihm kann doch kein Einbrecher vorbeikommen. Die Geräusche scheinen eine andere Ursache zu haben. Schnell nehme ich meinen Mut zusammen, stehe ganz leise auf und mit gemischten Gefühlen, unhörbar auf Zehenspitzen, schleiche ich zum Fenster, öffne ganz sacht einen Flügel und blicke vorsichtig hinaus. Was ich nun sehe beruhigt mich doch sehr schnell und lässt mich vor Erleichterung schmunzeln. Der wieder auflebende Wind hat die Türe zum Kuhstall aufgerissen und schlägt sie hin und wieder zu. Schnell laufe ich runter, stapfte aus dem Haus und schließe die Stalltüre wieder fest zu. Barri hebt sofort den Kopf als er mich kommen sieht, ja er ist ein gutmütiger, aufmerksamer und sehr lieber Wachhund. Eigentlich hätte ich jetzt beruhigt einschlafen können, doch meine angespannte Situation lies das leider nicht zu.

Zu aufgewühlt bin ich wieder und voller Gedanken. Wir schrieben das Jahr 1906, ich bin 14 Jahre alt und habe in diesem Jahr schon mal die Höhen und Tiefen, die das Leben mit sich bringt, auskosten können. Viel war passiert in diesem Jahr, Bayern feierte das 100-jährige Bestehen des Königreiches, San Francisco wurde durch eine großes Erdbeben völlig zerstört, Albert Einstein veröffentlichte im letzten Jahr seine Theorie über die „spezielle Relativitätstheorie“, die sich mit der Struktur von Raum und Zeit befasste, München feierte die Grundsteinlegung zum Deutschen Museum und Wilhelm Voigt besetzte das Rathaus von Köpenik. Ich habe auch in den alten Zeitungen des Jahres gelesen, dass jetzt die Kinder unter 10 Jahren ab dem 1. Juli in Familienbetrieben arbeiten dürfen. Da bin ich schon etwas verwundert, denn Kinderarbeit auf dem Bauernhof gab es schon immer und niemand hatte sich darum gekümmert, es war also jetzt sogar gesetzlich erlaubt. Dieses Jahr begann sehr vielversprechend. An einem warmen Frühlingstag im März kam nach der Feiertagsschule der Dorflehrer auf den Haidhof, um mit meinen Eltern zu sprechen. Aufgeregt schreite ich im Hof hin und her, denn ich weiß den Grund des Besuches, wie werden meine Eltern zum Vorschlag des Lehrers entscheiden? „Darf ich als Mädchen überhaupt eine weiterführend Schule besuchen, können meine Eltern sich das leisten, bin ich denn begabt genug um das zu schaffen, habe ich überhaupt die nötige Kleidung dazu?“, das geht mit spontan durch den Kopf. Der Dorflehrer, ein junger, schlanker, freundlicher Mann, immer gut aufgelegt und verständnisvoll, förderte mich, versorgte mich mit Lesestoff und forderte mich immer wieder auf, auch schwierigere Aufgaben zu lösen. Ich war begeistert, sog alles Neue in mich hinein, auch naturkundliche Themen interessierten mich genauso wie mathematische Rätsel. Ich verstand mich sehr gut mit meinem Lehrer, er war ein Vorbild für mich, ja ich liebte ihn wie einen großen Bruder, der mir stets beistand, der es gut mit mir meinte und dem ich grenzenlos vertraute. Und dann beauftragte er mich in der Schule in Nebenraum mit schwächeren Schülern Rechnen und Schreiben zu üben. Stolz und voller Enthusiasmus ging ich an meine Arbeit, ich konnte alles gut erklären, hatte Geduld und spornte die Schüler an, die in meiner Obhut waren. Überraschend hörten die Schüler auf mich, auch die Jungs, die anfangs nicht begeistert waren merkten, dass ich, ein Mädchen, ihnen etwas beibringen konnte und sie fügten sich in diese Nachhilfestunden ein. Mitte Februar kommt unser Lehrer Herr Huber nach dem Unterricht auf mich zu, um mit mir zu sprechen. „Hab ich heute etwas falsch gemacht, darf ich vielleicht keine Nachhilfe mehr geben, warum macht er so ein ernstes Gesicht?“. Diese Gedanken schleichen sich schnell in mein Gehirn ein und beunruhigen mich, ich beginne leicht zu schwitzen und bin sehr aufgeregt.

„Juliane“, beginnt er, „ich habe dich in den letzten Wochen bei deiner Arbeit hier in der Schule beobachtet. Ich habe festgestellt, dass du deine Sache sehr gut erfüllst, ja ich denke du wärst eine gute Lehrerin. Was sagst du dazu?“. Im ersten Moment bin ich sprachlos, jetzt wird mir wirklich warm und die Schweißperlen stehen mit trotz der Kälte vor dem Schulhaus auf der Stirn.

Stotternd bringe ich nur hervor: „Ja... das wäre wunderschön!“ „Wenn du das selber auch wirklich willst, dann werde ich dir helfen und deine Eltern davon überzeugen. In Riedenburg gibt es im Kloster St. Anna eine Ausbildungsstätte für Lehrerinnen, angeschlossen ist ein Internat, indem du dann leben würdest, in den Ferien darfst du dann natürlich nach Hause. Du müsstest eine dreijähriges Präporandi ( Vorbereitungszeit ) absolvieren und anschließend das zweijährige Seminar für Junglehrerinnen besuchen“, führt er aus „Das wäre ein Traum, kann der in Erfüllung gehen und schaffe ich das überhaupt?“, zweifle ich. „Ich bin mir sicher, dass du das schaffst, ich kann mit deinen Eltern reden und du könntest schon im September beginnen“, beruhigt er mich. „Oh Gott, ich bin begeistert von dieser Idee“, bringe ich nur heraus. Auf dem Heimweg klopft mein Herz wie wild, obwohl ich nicht besonders in Eile bin. Ich kann Lehrerin werden, das wäre zu schön. Von meinen Zeitungslektüre fallen mir noch einige Artikel ein, die ich mit besonderem Interesse gelesen habe.

Seit 1892 durften auch Frauen Abitur machen, ab 1900 wurden sie auch zu einem Studium zugelassen. Wenn man bedenkt, dass die Frauen im Deutschen Reich wenig Rechte besaßen, war das schon ein enormer Fortschritt. Die Frauen hatten keine Vorteile in der Ehe. Ein Heiratsverbot, bzw. eine Heiratserlaubnis regelte damals die Geburtenrate. Eheliche Beziehungen waren für Frauen bei Strafe verboten, bei Männern wurde dies toleriert. Ein uneheliches Kind war eine Schande für eine Frau, nicht für den Mann. Starke Frauen, wie Anita Augspurg und Luise Otto-Peters setzten sich für die Rechte der Frauen ein und erreichten eine Menge. Auch ich kann jetzt davon profitieren. Und jetzt schlürfe ich mit hängendem Kopf im Hof auf und ab und kann es kaum erwarten, wie das Gespräch im Wohnzimmer ausgeht, denn Herr Huber ist aus dem Dorf auf den Hof gekommen um mit meinen Eltern zu reden. Wie nach einer Ewigkeit öffnet sich plötzlich die Haustüre und meine Mutter winkt mich herbei. Sie wirkt sehr ernst, leichte Falten bilden sich auf ihrer Stirn, ich kann nicht ablesen ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist.

Ich will fragen wie entschieden wurde. Sie legt nur den Zeigefinger auf den Mund und bittet mich herein. Mein Vater sitzt ganz entspannt und ruhig mit verschränkten Armen am Wohnzimmertisch, daneben Herr Huber, dessen Mund ein vorsichtiges Lächeln umspielt. In diesem Augenblick weiß ich, das kann ich den beiden Männern an ihrer Haltung ablesen, dass ich auf die höhere Schule gehen werde. Mein Vater eröffnet mir mit Stolz, dass ich nach Riedenburg zur Schule gehen kann. Ich atme tief durch, geben einen Jubelruf von mir und bedanke mich überschwänglich bei meinem Vater und bei meinem Förderer. Schnell sind dann auch die weiteren Modalitäten des Schulbesuches geklärt. Am Abend war das dann die beherrschende Neuigkeit in der Familie, die fast alle mit Staunen und mit guten Wünschen bedachten.

Nur meine ältere Schwester nahm die Nachricht nicht besonders froh gestimmt auf. Nach einigen Disputen mit ihr legte sich nach und nach die erste Aufregung wieder. Der Frühling kam unaufhaltsam in unser schönes niederbayerisches Land, überzog die Wiesen und Felder mit hellgrünen Farben. Der Hopfen forderte seine Arbeiten, Haidhof lag nämlich mitten in der überaus hügeligen Hallertau, dem wohl größten zusammenhängenden Hopfenanbaugebiet der Welt und überhaupt gab es auf dem Bauernhof noch mehr Arbeit als im Winter. Mir war das sehr recht, denn die Zeit bis zum September sollte natürlich so schnell wie möglich vergehen. Die Kühe werden nun mit viel Lärm zum ersten Mal wieder auf die Weide gelassen. Nur der bullige und tonnenschwere Hofstier will natürlich auch auf die Weide und reißt sich von seiner Kette los. Große Aufregung herrscht jetzt. Schnell laufe ich in die Scheune und informiere meinen Vater und meinen Bruder. Die Mägde rennen furchtsam über den Hof und bringen sich in Sicherheit. Mit diesem Muskelprotz ist nicht zu spaßen. Ich will den Mägden hinterher und stolpere über einen kleines Holzstück, das am Boden liegt, falle platschend auf den glitschigen Untergrund. Ich muss schnell weg, aber der wilde Kerl hat mich schon gewittert, kommt schnaubend angerannt, ich rapple mich hoch, rutsche im Morast wieder aus, mein Knöchel schmerzt. Mit verzerrtem Gesicht sehe ich entsetzt, dass der Unhold nicht mehr weit von mir entfernt ist. Mein Vater stellt sich mutig zwischen mir und dem Stier in Position und will versuchen, den aufgeregten Bullen zu beruhigen. Dieser ist aber sehr wütend und geht in Angriffsstellung, scharrt mit einem Vorderhuf und wird sicher gleich losrennen. Flink und ziemlich gelassen springt mein großer Bruder in diese Situation hinein, ja fast heldenhaft. In der linken Hand trägt er einen kleinen Büschel Heu und mit der rechten versteckt er die Führstange hinter seinem Rücken.

Der Stier hat noch nicht entschieden, ob er angreifen wird oder lieber das duftende Heu fressen soll. Mein Bruder redet ruhig auf ihn ein, geht vorsichtig, aber entschlossen langsam auf den frechen Kerl zu und bietet ihm das Heu an.

Der Bulle geht auf den Handel ein und beginnt zu fressen. Währenddessen befestigt Paul geschickt die Führstange an dem Nasenring des Tieres. Die Gefahr ist gebannt. Fromm, wie ein Lamm, lässt sich der Ausreißer von meinem tapferen Bruder an der Führstange in den Stall führen. Ich stehe jetzt schon wieder, bin schmutzig wie ein Ferkel und versuche mir den gröbsten Dreck von meiner Kleidung zu wischen. Die Mägde kichern über mein Aussehen, mein Vater, in seiner fast immer wohlwollenden Art, beruhigt mich, ist froh, dass nicht mehr passiert ist und schickt mich zum Umziehen ins Haus.

Das war natürlich eine aufregende Geschichte, die an diesem und einigen weiteren Abenden wieder und immer wieder erzählt wurde. Die Arbeitszeit vergrößerte sich jetzt bei den längeren Tagen noch mehr. Um 5.00 Uhr wurde geweckt, nach einer kurzen Gesichtswäsche, die für einen klaren Blick sorgte, ging es sofort los mit den ersten Arbeiten. Das Frühstück gab es erst zwei Stunden später. Die Tiere des Hofes mussten zuerst versorgt werden. Die Knechte holten mit dem Pferdegespann frisches Gras von den Wiesen und die Mägde und meine Geschwister kümmerten sich um die Tiere, die ja sehr zahlreich den Bauernhof bevölkerten. Da gab es vierzig bis fünfzig Hühner, viele Gänsen und Enten, eine großen Schweinestall mit mehreren Mutterschweinen, vielen Ferkeln und einem Eber. Im Kuhstall standen 26 Milchkühe und der stattliche Bulle. Diese Tiere versorgte in erster Linie der sogenannt Schweizer, der nur für das Milchvieh zuständig war. Er bekam natürlich auch noch Hilfe von den Mägden, wenn es um das Ausmisten und Melken ging. Nach dem Frühstück teilte mein Vater die Arbeit des weiteren Tages ein. Der Hof stand auf drei wirtschaftlichen Beinen: Ackerbau, Viehzucht und Hopfenbau. Besonders der Hopfen forderte im Frühjahr eine Menge Arbeit. Die Hopfenstöcke, es waren damals ca. 8000, mussten mit der Hacke einzeln freigelegt werden, ein Holzpflock wurde bei jedem Stock in den Boden getrieben und daran eine Schnur befestigt, die oben in der Hopfenanlage mit einem Hacken eingehängt wurde. Dann kam das Hopfenausputzen. Bei jedem einzelnen Stock musste man die vielen Triebe entfernen und zwei bis drei von ihnen, am besten die größten, an den kleinen Holzpflock anleiten. Auch die Felder mussten bestellt werden. Eggen, sähen und mit dem Stallmist düngen gehörten zu den wichtigsten Arbeiten. Ich bewegte mich sehr gerne im Freien, helfe aber auch im Haus meiner Mutter. Man konnte mir ansehen, wenn ich über den Hof ging und eine Liedchen trällerte oder wenn ich mit unseren Hofhund scherzte, dass ich ausgeglichen, gut aufgelegt war und mich auf den September freute. Der Juni begann mit herrlich warmen Sommerwetter. Heute war ich als Hilfe für meine Mutter eingeteilt, weil unsere Hausmagd in das Dorf geschickt wurde um einige Dinge zu besorgen. Ich muss Holz aus der Scheune holen, das für den großen Küchenofen benötigt wird. Kurz lehne ich mich an das Scheunentor und lasse mir die wärmende Sonne in mein Gesicht scheinen, es tut gut. Ich bin zufrieden mit meinem Leben, was aber sicherlich darauf zurückzuführen war, dass für meine Zukunft eine wichtige Entscheidung getroffen wurde, eine Entscheidung die ich natürlich auch sehr mitgetragen hatte. Dann gehe ich zurück in die Küche, wo mich meine Mutter schon aufgeregt erwartet und sagt: „Komm ans Fenster und schau zum Waldrand, dort schleichen drei Burschen entlang, ich denke sie wollen zum Hof.“ Ich sehe die drei dunklen Gestalten und im gleichen Moment fällt mir ein, dass ich alleine mit meiner Mutter auf dem Hof bin. Alle Männer und auch meine Brüder arbeiten im Hopfengarten, entfernen die unteren Laubansätze der Hopfenreben und sind so weit weg, dass man sie nicht rufen kann. Wir werden hektisch. Die drei Halunken biegen Richtung Hof ein, sind nur mehr etwa einhundert Meter vom Hof entfernt. Meine Mutter schaut mich ängstlich an und auch ich merke, dass die Angst mein Herz schneller schlagen lässt. Kurze Zeit stehen wir wie gebannt in der Küche, unfähig etwas zu unternehmen.

Meine Mutter fasst sich dann und flüstert. „Renne schnell ins Wohnzimmer und hole im Gewehrschrank das Zwillingsgewehr, vergiss die Munition nicht!“.

Ich renne los, ramme fast den Türstock des Wohnzimmers, stelle fest, dass der Schrank verschlossen ist, ich kann den Schlüssel nicht finden, Panik breitet sich in meinem Gehirn aus, ich denke kaum mehr klar, wo ist denn de blöde Schlüssel. Da fällt mir ein, dass er immer oben auf dem Schrank liegt. Die Sekunden vergehen wie Minuten, ich greife oben auf den Schrank und kann ihn nicht finden. Unüberlegt und panisch renne ich in die Küche zurück. Mutter ist schon verschwunden, ich höre Geräusche im Flur und schleiche sofort mit gemischten Gefühlen in die große Diele, mein Herz schlägt nicht mehr, dann pocht es wie eine alte Dampfmaschine. Von diesem Flur aus kann man in jeden Raum des Hauses gelangen. Meine Mutter steht angewurzelt wie eine Steinsäule in der Mitte, unfähig etwas zu unternehmen. Ich will gerade fragen, wo der Schlüssel sich befindet, da öffnet sich langsam, unheilvoll knarrend die große Haustüre. Jetzt bedauere ich zu tiefst, dass diese Türe während des ganzen Tages nie verriegelt wird. Ein junger, sehr ungepflegt aussehender Mann schiebt sich langsam in die Diele, dann noch einer und noch einer. Ich kann mich vor Schreck kaum bewegen, schaue auf meine rechte Hand, in der jetzt eigentlich das Gewehr sein müsste, ich habe Schuldgefühle und starre nun meine Mutter an, die wieder etwas Mut gefasst hat. „Was wollt ihr“, sagt sie mit doch fester Stimme. „Ist der Bauer da, wir suchen Arbeit?“, sagt der eine. Ich erfasse klar die Situation, sie suchen keine Arbeit und sie wissen auch bestimmt, dass mein Vater mit den anderen Männern weit weg auf den Feldern arbeitet. Der Erste hat zerlumpte Kleider an und einen alten Jägerrucksack auf dem Rücken, der Zweite sieht nicht besser aus, sein vergilbtes Hemd wurde sicher in diesem Jahr noch nicht gewaschen, dem Dritten fehlt der Daumen, auch er sieht unheimlich aus. Ein unangenehmer Geruch nach Schweiß und Urin weht durch die Diele. Ich atme vorsichtig ein, damit mir nicht schwindelig wird. Jetzt greift der erste Halunke in seine zerschlissene Jacke und macht einen entschlossenen Schritt auf uns zu. Ich ahne Schreckliches, doch im selben Moment stapft Barri, unser schlauer Hofhund, knurrend an den drei Gestalten vorbei und stellt sich mit aufgestellten Nackenhaaren, immer gefährlicher knurrend, schützend vor uns hin. Die imposante Statur und das kampfbereite Aussehen des Hundes haben eine Änderung in den Plänen der vermutlichen Räuber bewirkt. Der Anführer sagt noch kleinlaut: „ Wir gehen dann!“. Bei Losmarschieren fällt ihm ein ca. 30cm langes Brecheisen aus der Hose, im gleichen Moment hat er es auch schon wieder unter der Jacke verborgen. Und schon, noch schneller wie sie in den Flur gelangten, verschwinden sie auch wieder. Die Situation ist eigentlich entschärft, doch jetzt dreht meine Mutter durch, rennt wie eine Furie in das Wohnzimmer, kommt nach einigen Augenblicken wieder zurück, in der linken Hand umklammert sie fest das Zwillingsgewehr, schiebt die zweite Patrone in den Doppellaut und schreitet auf die Haustüre zu. „Willst du sie erschießen“, schreie ich noch, doch sie steht schon vor dem Haus, ich kann sie nicht aufhalten. Die drei Burschen sind noch nicht weit gekommen. Mutter entsichert routiniert das Gewehr, ich ahne Schlimmes, halte mir die Ohren zu, sie legt an und schießt, es knallt fürchterlich, ein zweiter Schuss fällt hinterher.

Erleichtert sehe ich, dass Sie nur in die Luft geschossen hat. Die drei Verdächtigen rennen um Ihr Leben Richtung Wald und sind kurze Zeit später im dichten Unterholz verschwunden. „Die kommen nicht wieder, das habe ich zur Abschreckung gemacht“, sagt sie. Nach einigen Minuten kommt dann mein Bruder Paul mit einem Knecht angelaufen und erkundigen sich, warum da gerade geschossen wurde. Erleichtert erzählen wir den beiden unser gefährliches Erlebnis. Das war dann natürlich Tagesgespräch am Hof und später auch noch sehr lange Zeit im nahegelegenen Dorf. Für mich ging es aufregend und sehr abwechslungsreich weiter in der nächsten Woche, weil ich gleich zwei neue Kleider für die Schule bekommen sollte. Ein Kaufhaus gab es zu der Zeit weit und breit nicht. Aber im Dorf arbeitete eine Schneiderin. Man ging aber nicht in ihr Haus, sondern die Schneiderin ging zu uns und verrichtete hier ihre Arbeit. Sie kam eine Woche lang jeden Morgen auf unseren Hof und ging am Abend zurück. Sie nähte für mich die zwei Kleider und für die ganze Familie noch weitere Kleidungsstücke. Die nette Frau erzählte viel, ihre Geschichten waren für mich eine willkommene Abwechslung im rauen und monotonen Hofalltag. Ich freute mich jetzt schon auf die Hopfenernte, denn danach soll mein Abenteuer, meine rosige Zukunft beginnen.

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Georg

Er war ein stattlicher junger Bursche, voller Ideen, Tatkraft und Zuversicht. Es war Sommer im Jahre 1906 geworden. Er hatte schon einiges erlebt und ist durch dieses tragische Ereignis schneller als normal erwachsen geworden, ja er wusste genau was er wollte. Georg war der Hoferbe auf dem Baumeisterhof. Es war ein ungeschriebenes Gesetz in dieser Gegend, dass der Erstgeborene einmal den Hof übernehmen wird. Das größte Anwesen im Dorf Waltershofen galt nach alten Büchern, die im Pfarrhof aufbewahrt wurden, als der älteste Hof im Dorf. Bereits 1564 gab es eine Notiz im Salbuch der Pfarrei, dass Hans Sedlmayer von Waltkershova an das Schloss Ratzenhofen Abgaben geleistet hatte. Auch der Ortsname „Waltershofen“ kam, wie oft in Bayern, vom Vornamen des ersten Ansiedlers, also der Hof des Waltgers, was der „Speerwaltende“ bedeutete. Im Jahre 755 wurde der Ortsname erstmals erwähnt. In früheren Zeiten hieß der Baumeisterhof „Sedelhof“, das bedeutete Sitz auf dem Lande einer Gutsherrenschaft. Heute arbeiteten auf dem Großbauernhof viele Knechte und Mägde, denn 90 ha mussten bearbeitet werden. Zwölf stattliche Rösser, die nicht nur als Arbeitspferde benötigt wurden, sondern auch als Reittiere und zum Vorspannen für die Kutsche, standen im Pferdestall. Auch der große Kuhstall, der Schweinestall und der Hühnerstall forderten viel Zeit und Arbeit. Es lief momentan alles recht gut auf dem Hof. Georg war vor einigen Wochen 21 Jahre geworden, wobei die Hofübernahme in der Regel kam, wenn der Altbauer zwischen 65 und 70 Jahre alt war. Er hatte also noch viele Jahre bis dahin. Es war recht so, sein Vater war ein ruhiger gerechter Mann, mit dem er gut zusammenarbeitete und von dem er noch eine Menge lernen konnte. Ja, sein Vater, der traditionell auch Georg hieß, musste auch schon einige Schicksalsschläge verkraften. Es ereignete sich vor genau sechs Jahren. Meine Eltern erwarteten ihr sechstes Kind, ich war damals 15 Jahre alt. Ich hatte schon einen kleinen Bruder, mit dem ich mich sehr gut verstand und drei ältere Schwestern. Wir alle freuten uns auf einen weiteren Bruder oder eine Schwester. Ich kam gerade von der Werktagsschule nach Hause, als große Aufregung im Haus herrschte. Meine Mutter, die wie üblich trotz der Schwangerschaft ihre täglichen Arbeiten verrichtete, war die Treppe runtergestürzt. „Hol schnell den Bader, deiner Mutter geht es nicht gut!“,sagt mein Vater. Ich renne los, ja ich laufe im Höchsttempo. Es wird doch hoffentlich nicht so schlimm sein. Ich komme atemlos am Baderhaus an, klopfe wie wild an die Haustüre, keiner öffnet: „Wo ist er denn?“, rufe ich verzweifelt.

Ich höre Geräusche im Garten und spurte um das Haus, wo ich ihn dann auch finde. So schnell wie möglich gehen wir zum Hof, meist im Laufschritt. Der Bader ist schon ein älterer, aber erfahrener Herr. Ich schildere ihm kurz während des Gehens was passiert ist. Ein beklemmendes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus, ich liebe meine Mutter, die immer aufrichtig und warmherzig mit mir umgeht. Verschwitzt erreichen wir den Hof. Der Bader untersucht meine Mutter. „Kein Knochenbruch, keine großen Wunden, nur mehrere kleine Abschürfungen“, sagt er ganz ruhig. Ich atme auf, ein Stein fällt mir vom Herzen, dann kommt das „Aber“. „Sie ist auf den Bauch gefallen, mit dem Kind stimmt etwas nicht, der Rock ist voller Blut“, sagt er mit ernster Stimme, „wir brauchen die Hebamme, schnell“! Ich laufe wieder los zur Hebamme, die am Ende des Dorfes in einem kleinen Häuschen wohnt. Trotz meiner hohen Geschwindigkeit beim Laufen versuche ich zu beten, es gelingt mir nicht, wer kann dann meiner Mutter helfen, wenn nicht Gott oder die Mutter Gottes, dass doch alles gut geht. Außer Atem erreiche ich das Haus der Hebamme, renne ohne anzuklopfen in das kleine Gebäude. Zum Glück ist die Frau da. Ich berichte von dem Unfall und schon sind wir zum Hof unterwegs. Tränen rollen mir jetzt doch über die Wange. Ich bin furchtbar angespannt. Wir erreichen das Haus, die Hebamme beginnt mit ihrer Untersuchung, ich muss den Raum verlassen und höre noch die Hebamme flüstern: „Sie hat schon viel Blut verloren und der Herzschlag des Kindes ist kaum zu hören“. Verzweifelt gehe ich im Flur auf und ab und hoffe auf ein Wunder. Ich kann nichts für sie tun, das ist für mich das Schlimmste. Die Hebamme und mein Vater kommen vor die Türe des Schafzimmers, in dem meine Mutter liegt, die jetzt von unserer gewissenhaften Hausmagd versorgt wird. „Maria müsste jetzt sofort in ein Krankenhaus, um die Blutung durch eine Notoperation zu stoppen“, sagt sie mit einem unheilvollen Unterton. „Ich spann gleich die Kutsche an“, bringt mein Vater nur noch hervor. „Warte“, sagt sie ziemlich gefasst, „bis du die Kutsche anspannst und auf der holperigen Straße in die Stadt kommst vergeht mindestens eine Stunde, da ist sie längst verblutet“. „Können wir denn nichts tun“, entgegnet er. „Nein“, sagt sie, wir können jetzt nur mehr abwarten, die Chancen stehen nicht besonders gut, dass sie das überlebt. Wenn in 10-15 Minuten die Blutung nicht zum Stillstand kommt, wird sie leider sterben“. Ich höre das, eine schreckliche Angst durchfährt mein noch so junges Herz, Tränen kullern mir jetzt über die Wangen, ich atme tief ein um nicht umzufallen, setze mich auf die Bank im Flur und vergrabe mein Gesicht in beide Hände. Ich hoffe, ich bete, ich denke an die schönen Momente, die ich immer wieder mit meiner Mutter hatte. Ich merke, wie sich mein Magen verkrampft, wie ich immer unruhiger wurde. Die Minuten ziehen sich in unendliche Länge. Ich kann kaum erfassen, was um mich herum passiert. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt die Hebamme erneut aus dem Schlafzimmer, blickt meinen Vater traurig an und schüttelt nur bedeutungsvoll den Kopf. Wir dürfen ins Zimmer, um uns zu verabschieden, verabschieden für immer und ewig. Im Himmel, so hatte ich gelernt, leben wir weiter, es gibt ein Wiedersehen mit allen unseren geliebten Menschen, aber was nutzte mir das jetzt. Ich renne in unser Schlafzimmer, das ich mit meinem jüngeren Bruder teile, werfe mich auf das Bett und beginne leise zu weinen. Enttäuschung und Wut steigt in mir hoch. Hat denn da keiner helfen können, haben auch meine Gebete nichts bewirkt, liegt es vielleicht am mir, dass das geschehen ist. Wirre Gedanken durchfließen meinen Kopf, wie soll es nun weitergehen. Auch meine Schwestern haben jetzt begriffen, was da gerade geschehen ist, nur meine kleiner Bruder ist noch zu jung, um das Ganze richtig einzuordnen. „Mama schläft doch nur, sie wird schon wieder aufwachen“, meint er, aber er blickt auch traurig drein, weil wir alle weinen und verzweifelt sind. „Wir müssen das hinnehmen, es war Gottes Vorsehung“, beruhigt uns Vater, aber auch er kann sich nicht so einfach in das Schicksal fügen und lässt dann leise, zu meiner Überraschung, einen Fluch los. Die Vorbereitungen zur Totenwache lässt uns alle etwas aus unserer tiefen Trauer und Lethargie aufwachen. Mutter wird in der Diele aufgebahrt und abwechselnd halten Familienmitglieder, Mägde und Knechte die Totenwache. Nach und nach kam das ganze Dorf, um sich von Maria zu verabschieden. Der

Dorfpfarrer, der natürlich sofort nach dem Tode meiner Mutter gerufen wurde, sprach auch noch tröstende Worte, die uns aber nicht den Schmerz nehmen konnten. Zwei Tage später fand dann unter Teilnahme von vielen Menschen aus der ganzen Umgebung die Beerdigung und der Leichentrunk statt. Ich trauerte sehr lange um meine geliebte Mutter und hatte das Gefühl, dass diese Trauer niemals enden wird. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass Maria nicht meine leibliche Mutter war. Meine Mutter Theresia starb schon im September 1896, damals war ich etwas über ein Jahr alt. Mein Vater hat dann 1897 die Maria Gebendorfer geheiratet. Ich liebte Maria, wie meine eigene Mutter und konnte noch immer nicht ganz begreifen, dass sie nicht meine wirkliche Mutter war. Ja, auf unsrem Hof hatte man sich schnell auf das „sterben müssen“ einzustellen. Von den sieben Kindern, die unser Vater gemeinsam mit meiner Mutter Theresia geschenkt bekam, mussten drei in Kindesalter bis zu drei Jahren die Welt verlassen, ohne richtig Fuß zu fassen, zwei davon wurden nur wenige Tage alt. Darunter befand sich auch der Erstgeborene Georg, der 1879 auf die Welt kam und nach wenigenTagen bereits starb. Deshalb erhielt ich wiederum den Namen Georg. Meine Stiefmutter, die für mich „meine Mutter“ war, gebar neun Kinder, von denen nur drei überlebten. Als die letzten drei Geschwister im frühen Kindesalter sterben mussten, erlebte ich das schon sehr bewusst. Tote Kinder standen leider auf der Tagesordnung. Ein Fluch lag auf dem Namen Kreszenzia. Es war ja üblich, dass die neugeborenen Kinder in der Familie wieder die Namen der verstorbenen Kinder bekamen. Der Name Kreszenzia wurde bei den Insgesamt 16 Kindern, die mein Vater mit beiden Frauen zeugte, viermal vergeben und auch die vierte Kreszenzia verstarb im Alter von nur neun Monaten. Die Kinder- und Säuglingssterblichkeit ging um, wie ein Räuber, der das ganze Land heimsuchte. Die ländliche Gegend litt besonders unter der katastrophalen medizinischen Versorgung. In den Dörfern konnte man sich nur Hilfe beim Bader oder bei der Hebamme erhoffen. Leider konnten diese Leute nur auf eine halbherzige, oberflächliche Ausbildung zurückgreifen. So zählten alte Hausmittel, wie verschiedene Kräuter und Essenzen als wichtige Verbündete, um die verschiedenen Krankheiten, die immer wieder kursierten, zu bekämpfen. Erschwerend kam noch dazu, dass viel zu wenig auf eine ordentliche Hygiene geachtet wurde. Einen weiteren Grund für die vielen Krankheiten und die hohe Kindersterblichkeit konnte man auch in der einseitigen Ernährung erkennen. Es fehlte an Ausgewogenheit, an Gemüse und Obst und oft bei den ärmeren Schichten schlicht und einfach an einem ausreichenden Essensangebot. Besonders die Kinder litten kurz gesagt an Unterernährung. Diese Dinge müsste man doch ändern können, dachte ich voller Traurigkeit. Doch der Alltag holte uns dann wieder schnell ein und die umfangreiche Arbeit auf dem Hof brachte mich auch nach und nach auf andere Gedanken. Heute, nach sechs Jahren, denke ich noch immer mit gemischten Gefühlen an diese schlimme Zeit zurück. Auch meinem Vater ist anzusehen, dass er noch leidet, er sieht jetzt älter aus, nicht mehr so ausgeglichen, besucht seine zwei Frauen und die vielen Kinder jeden Sonntag nach dem Kirchgang auf dem Friedhof. Ich habe jetzt viel zu erledigen, habe neue Ideen, die ich meinem Vater in vielen Gesprächen näherbringe. Er lässt mir überwiegend freie Hand. Nach den wirtschaftlichen Erlösen des Hofes in den letzten Jahren ist mit klar geworden, dass Änderungen dringen erforderlich sind. Das wirtschaftliche Einkommen mit dem Hopfen unterlag sehr großen Schwankungen. Es gab gute Erntejahre, aber auch niederschmetternde Katastrophen, wobei z.B. durch Sturm und Überschwemmungen ein großer Teil der Hopfenanlagen und der Hopfenreben zerstört wurden. Und wenn wetterbedingt alles sehr gut lief, dann fiel manchmal der Hopfenpreis unendlich tief, so dass es kaum rentabel war, den Hopfen zu ernten. Der Zentnerpreis für den Hopfen war einem unberechenbaren Zyklus unterworfen, der alle Bauern in der Hallertau vor große Probleme stellte. Der Preis für den Verkauf von Getreide, Fleisch, Milch, Eier und Geflügel war stabil, ja zu stabil, er bewegte sich kaum nach oben, wobei alle anderen Dinge, die auf dem Hof benötigt wurden ständig im Preis stiegen. Also musste man versuchen die Produktivität auf dem Hof zu steigern. Georg hatte gehört, dass man durch Kunstdünger wesentlich bessere Ernten erzielen kann, als wenn man nur mit Stallmist düngt, dass es verbessertes Saatgut auf dem Markt gibt und die Höfe in Bayern rationeller arbeiten müssten. Auch erfuhr er, dass bestimmte Futtermittel für die Kühe die Milchproduktion erheblich steigern konnten.

Sogar für die Bearbeitung der Felder gab es neue Möglichkeiten und bessere Geräte. Die Ausgaben werden steigen, jedoch wird man dann spürbar bessere Ernten erzielen und die ganze Arbeit würde sich besser rentieren. Er wollte auch alles versuchen, um die ärztliche Versorgung auf dem Lande zu verbessern. Dies versuchte er im nächsten Jahr anzugehen und sein Vater hatte zugesagt, ihn tatkräftig dabei zu unterstützen. In diesem Jahr gab es eine recht gute Hopfenernte, das Getreide war sicher in die Scheune gebracht worden und auch sonst konnte man mit dem Jahr zufrieden sein. Im Lande Bayern regierte Prinzregent Luitpold. Er war auch der oberste Befehlshaber der bayerischen Armee. Georg leistete vor vier Jahren im Königlich Bayerischen Infanterie-Leibregiment in Ingolstadt seinen Wehrdienst ab. Prinzregent Luitpold lenkte die Geschicke Bayerns, weil der Märchenkönig König Ludwig der II. 1886 entmündigt wurde. Sein Nachfolger wäre dann Otto der I. gewesen, dieser galt aber durch seine Geistesschwäche als regierungsunfähig. Also übernahm Prinzregent Luitpold von Bayern die Regierungsgeschäfte. Der Wehrdienst im Infanterie-Leibregiment war keine leichte Sache. Die strenge Ausbildung und der unsinnige Drill gingen Georg schon etwas auf die Nerven. Die ständige Unterordnung, das Gebrüll der Offiziere und Unteroffiziere und das Ausführen von manchmal sinnlosen Befehlen störten ihn besonders. Aber er fügte sich, wollte das ganze ordentlich hinter sich bringen und war dann auch froh, als er zur Getreideernte und zur Hopfenernte Sonderurlaub vom Regiment erhielt. Beeindruckt und beängstigt war er von der Wirkung der neuen Gewehre und vom schonungslosen Einsatz des Bajonetts im Nahkampf, den sie immer wieder trainieren mussten. Noch gefährlicher und tödlicher schienen die neuen Maschinengewehre zu sein, die immer wieder auf den Schießständen getestet wurden. Er hoffte, dass er niemals in die Lage käme, diese Waffen gegen einen Menschen einzusetzen. Das alles war jetzt vier Jahre her und er verdrängte mit jugendlichem Optimismus nach und nach die unschönen Dinge, die er dort über das Töten erfahren hatte. Bevor nun der Winter nach Bayern seinen Einzug hielt, mussten noch umfangreiche Arbeiten auf den Feldern, im Hopfengarten und am Hof erledigt werden. Der erste, sehr starke und unangenehmen Herbststurm brachte einige Hopfensäulen zu Fall.

Sie sollten möglichst bald ausgetauscht werden. Es war für Ende Oktober ein recht warmer und sonniger Vormittag, als zwei Knechte, mein Vater und ich uns an die Arbeit in diesem Hopfengarten machten. Die laue Luft aber auch die Vorfreude auf den kommenden Winter, der ja immer beschaulicher und mit deutlich weniger Arbeit einher ging, ließ uns recht froh an die Arbeit gehen. Ich dachte an die vielen entspannten Abende, wenn wir mit der Familie, aber auch mit den Mägden und Knechten zusammen saßen. Das winterliche Nähen der Mädchen in den langen Winternächten, das Brotbacken, das Butter herstellen und das Krauteintreten gestalteten sich immer besonders lustig. Für die Männer am Hof war das Schlachten, das Räuchern von Speck und das Bierbrauen besondere Aufgaben, die immer in die Wintermonate fiel. Hier begannen auch oft Zuneigungen und Liebschaften zwischen den Knechten und den Mägden, wobei es gesellschaftlich unmöglich war, dass ein Jungbauer mit einer Magd aus kleinen Verhältnissen eine Liebesbeziehung unterhielt. Es gab klare ungeschriebene gesellschaftliche Regeln zwischen den Schichten.

Großbauern, Kleinbauern, Handwerker, Häusler, Oberknechte, Unterknechte und Mägde, aber auch arm und reich, Mann und Frau, so stellte sich die Hierarchie dar. Es konnte schon sein, dass jemand von einer unteren Stufe aufstieg, aber umgekehrt war das selten der Fall. Geheiratet wurde nur innerhalb der Schicht, weil die Mitgift eine zentrale Rolle spielte. Georg hatte auch ehrliche Gefühle, geheime Wünsche und Sehsüchte, die ihn oft in den langen Winternächten heimsuchten. Er stellte sich oft vor eine hübsche junge Frau zu heiraten, mit ihr Kinder zu bekommen und glücklich auf dem Hof zu leben. Aber an eine Heirat war noch nicht zu denken, er musste abwarten, bis er an der Reihe war. Diese gesellschaftlichen Zwänge, auch in den Dörfern, störten ihn doch gewaltig und auch hier, dachte er, sollte man die alten Traditionen, ähnlich wie beim Ackerbau und der Viehzucht über Bord werfen und neue moderne Ansichten verwirklichen. Er war ein Typ, der gerne etwas Neues, vielleicht Besseres ausprobieren wollte, einer der nicht, wie in allen Dörfern über Jahrhunderte hinweg immer das gleiche machen wollte. Er konnte auch schon gewisse sexuelle Erfahrungen machen, wobei die Sexualität ein absolutes Tabuthema war. Bestimmte Dinge wurden einfach totgeschwiegen, ja die Angst ging immer um, eine Todsünde zu begehen. Die Kirche zeigte sich allgegenwärtig, im täglichen Handeln, im Einhalten der zehn Gebote. Ja schon der Gedanke an sogenannte sündhafte Dinge konnten das Seelenheil und vielleicht den ersehnten Einzug in den Himmel verhindern. Ein Geschlechtsverkehr vor der Ehe galt als größte Todsünde und gesellschaftlich nicht akzeptabel. Er hätte Gelegenheiten gehabt, jedoch am Ende scheute er sich den letzten Schritt zu tun. Die Hausmagd Traudl war so eine nette Person, er sah sie gerne und auch sie himmelte ihn an. Sie stammte aus einer kleinen Handwerkerfamilie aus dem Nachbardorf. Im vergangenen Sommer, so erinnerte er sich, kam er ihr das erste Mal sehr nahe. Ich muss heute noch Heu vom oberen Stock in der Scheuen nach unten werfen, die Traudl wird mir helfen. Ich freue mich auf die relativ leichte Arbeit, aber noch mehr freue ich, dass mir Traudl helfen wird. Sie versteckt wie immer ihre leuchtendes, kastanienbraunes Haar unter einem Kopftuch, das bei allen Mägden auf dem Hof obligatorisch ist. Ich rufe sie, sie lacht schon, ihr weicher Mund und die Wärme in ihrer Stimme gefallen mir besonders. Traudel ist begeistert von der Aufgabe, vielleicht doch auch von mir und wir beide gehen in die Scheune, klettern nach oben und beginnen mit unserer Arbeit. Ich sehe sie an, sage, dass mir ihre Harre heute besonders gefallen. Sie blickt mich verlegen an, errötet, lacht aber dann wieder und wirft mit einen Heubüschel zu. „Ich würde gerne einmal mit dir tanzen“, flüstert sie ganz bescheiden. „Ja das wäre gut, vielleicht an Kirchweih“, sage ich. Doch ich muss schon wieder an die gesellschaftlichen Zwänge denken. Wir werfen einen Büschel nach dem anderen hinunter auf die Tenne, die Zeit vergeht wie im Fluge, es macht Spaß mit ihr zu arbeiten. Wir sind mit der Arbeit fertig, ich springe gewandt hinunter auf den Heuhaufen, blicke nach oben und fordere sie mit einer Kopfbewegung auf auch zu springen, sie zögert und ist ängstlich. Ich verspreche ihr eine Belohnung, wenn sie springt. Jetzt springt sie und landet ohne Probleme im weichen Heu neben mir. „Was ist mit der Belohnung?“, fragt sie fordernd. Ich blicke ihr in die Augen, ganz langsam bewegen sich unsere Gesichter aufeinander zu, ich sehe nur mehr sie, ich zögere kurz, möchte jetzt nicht an etwas anderes denken und küsse sie. Sie wirkt überrascht und löst sich langsam wieder aus meiner Umarmung. Wir klettern dann wieder aus dem Heu, sehen uns um, es wird schon niemand beobachtet haben. Wir trennen uns und jeder geht wieder seiner weiteren Arbeit nach. Ich habe schon Gefühle für Traudl, kann sie aber nicht richtig einordnen. Es war ein schönes Erlebnis, an mehr kann ich momentan nicht denken. So ähnlich verhielt es sich auch mit Elisabeth, die ich auf der Hochzeit meines Freundes im Dorf näher kennenlernte. Sie war die Tochter des Huberbauern im Dorf. Bei der Feier tanzte ich mehrmals mit ihr.

Sie sah mit ihren dunklen, welligen Haaren, die zu einem Zopf gebunden waren und im grau glänzenden Dirndl unheimlich hübsch aus. Ihr spontanes Lachen, ihre Unbekümmertheit zog mich an. Ich suchte ihre Nähe und hatte beim Tanzen viel Spaß mit ihr. Mein Vater bemerkte das natürlich und war davon angetan, wie er mir zwei Tage später erzählte. „Das wäre doch eine gute Frau für dich, die Eltern sind mit uns befreundet und du magst sie doch“, erklärte er mir. Ja, er hatte Recht, ich mochte sie, mir gefiel ihre Unbekümmertheit, ihre schlanke, eher zierliche Gestalt und ihr gewinnendes Lächeln, wenngleich sie mir manchmal doch etwas hochnäsig erschien. Ich erkannte jedoch, dass eine Verbindung zwischen den beiden Höfen genau den engen gesellschaftlichen Erwartungen entsprach, die damals vorherrschten. Der Huberhof gehörte zu den Großbauern im Dorf, genau wie unser Hof, deshalb wäre es für beide Familien wunderbar, wenn ich sie heiraten würde. Wobei ich dann schon wusste, dass mein Vater sich eine fortschrittlichere Ansicht von der Heiratspolitik auf dem Dorf zurechtlegte hatte. Bei vielen solchen „idealen“ Hochzeiten wurde die Heirat zwischen den Eltern vereinbart. Die Betroffenen stellte man vor vollendete Tatsachen, wobei als Druckmittel das Erbe benutzt wurde. Viele Tage ging mir die ganze Sache nicht aus dem Kopf. Immer wieder stellte ich mir eine wunderschöne Hochzeit vor, aber auch das Leben danach, andererseits wusste ich, dass ich noch mehrere Jahre darauf warten musste. Alle diese Gedankengänge endeten aber immer wieder bei Traudl, sie hatte sich eisern in meinem Kopf festgesetzt und wenn ich die beiden jungen Mädchen verglich, musste ich feststellen, dass ich der warmherzigen Traudl mehr zugeneigt war. Auf der anderen Seite stand die Tatsache, dass ich mein Umfeld durch eine Verbindung mit Elisabeth sehr zufrieden stellen würde, mit Traudl müsste ich viele Vorurteile aus dem Weg räumen, wenn es überhaupt wirklich werden sollte. Aber konnte ich mir vorstellen, dass ich mit einer der beiden Frauen bis an das Ende meines Lebens zusammen bin? Ganz real wollte mir das nicht gelingen. Meine Gefühle konnte ich damals noch nicht richtig deuten, nicht klar einordnen, ich hatte ja keine Erfahrung in dieser Beziehung.

War hier auch Liebe im Spiel? War das bei einer Heirat nicht so wichtig auf dem Land, oder fühlte man etwas anderes, wenn man einen Menschen wirklich liebt? Was empfand er für beide, seine Gedanken daran erfüllten ihn schon mit Freude. Gab es mehr oder war das nur so das Gerede der Menschen? Mit Traudl, die er täglich sah, war er sehr vertraut. Er schätzte sie, achtete sie und sie war mehr als eine Bedienstete. In ihrer jugendlichen Leichtigkeit tauschten sie, wenn sie wirklich alleine waren, Zärtlichkeiten aus. Es wäre aber nämlich für ihn unmöglich gewesen ein offenes Verhältnis mit ihr zu haben. Und auch das Mädchen hätte man dann als leichtes Mädchen mit Schande vom Hof verbannt. Trotzdem fühlte er sich wohl in ihrer Nähe, ja manchmal suchte er sogar ihre Nähe. Ihr Verhältnis, das war ihm klar, konnte keine echte Liebe sein, das hatte er sich anders vorgestellt, auch wenn sie noch dazu ein gemeinsames Geheimnis hatten. Jetzt im Oktober arbeite ich in der Hopfenanlage und meine etwas verwirrte Gemütslage beruhigt sich langsam.

Die noch warme Herbstsonne steht schon ziemlich weit unten am Horizont und der laue Westwind singt zwischen den hölzernen Säulen sein launiges Abendlied. Die beiden Knechte, mein Vater und ich versuchen bis zum Abend alle Arbeiten in der Anlage zu erledigen, vielleicht hantierten wir dadurch schneller und unvorsichtiger als bei dieser Arbeit nötig ist. Dann geschieht es!

Ich stehe mit dem Rücken zu den anderen drei Männern, plötzlich kracht etwas, eine Säulenstumpf saust ächzend seitlich nieder, ich springe instinktiv in Deckung, falle dabei über die Ankerzange, die ich gerade in den Händen halte und stürze vornüber in die Ackerfurche. Ich bemerke im Blickwinkel, dass auch die anderen Männer zur Seite springen, meine rechte Schulter schmerzt, ich rapple mich hoch, versuche meinen rechten Arm zu bewegen, um die Schmerzen zu vertreiben, die zwei Knechte stehen schon wieder, nur mein Vater liegt noch jammernd neben dem herabgefallenen Säulenstumpf. Mein Herz hört eine Sekunde auf zu schlagen, ich fasse mich wieder und springe über den herabgefallen Stumpf zu ihm. Seine zerrissene Hose am Unterschenkel färbt sich rot, ich schiebe das Hosenbein vorsichtig nach oben und bemerke eine etwa acht Zentimeter lange Wunde. Ohne lange zu überlegen ziehe ich Hemd und Unterhemd aus, zerreiße das Unterhemd und versuche ihm einen festen Verband um den Schenkel zu legen, damit die Blutung aufhört. Die Wunde ist Gott sei Dank nicht sehr tief. Mit dem Pferdegespann bringen wir den Verletzten nach Hause. Der herbeigerufene Bader erklärt, dass die Wunde nicht sehr breit und tief ist und deshalb nicht genäht werden muss. Wir sind alle erleichtert und gehen wieder unserer Arbeit nach. Mein Vater kann am nächsten Tag schon wieder vernünftig gehen, hat kaum mehr Schmerzen. Obwohl der Verband jeden Tag gewechselt wird und mit Arnikatinktur desinfiziert wird kommt es nach drei Tagen zu einer Verschlechterung. Mein Vater bekommt Schüttelfrost und Fieber, fühlt sich schlapp und verliert zusehends an Vitalität. Wieder wird de Bader gerufen, der feststellt, dass die Wunde schon sehr entzündet ist, eine starke Rötung hat sich um die Wunde ausgebreitet, der Atem ist beschleunigt und mit dem Fieber ist das eindeutig eine Blutvergiftung. Mein Vater muss sofort heute noch ins Krankenhaus gebracht werden. Ich versuche ruhig zu bleiben und spanne mit einem Knecht die Pferde vor die Kutsche. Wir packen Vater in die Kutsche und fahren los. Und wieder kommen mir jetzt Gedanken, die in die Zeit vor zehn Jahren zurückführen. Angst kriecht langsam den Körper hoch, das Kutschieren läuft wie in Trance ab. Trotz der morgendlichen Frische beginne ich zu schwitzen, das Herz klopft schneller als normal, ich nehme nicht mehr wahr, was auf der Straße geschieht. Die Zügel halte ich so fest in der Hand, dass die Knöchel schon weiß werden, nur die beiden Pferde wissen zum Glück ihren Weg und trotten eilig dahin. Wir erreichen das Krankenhaus und zwei Krankenpfleger tragen meinen Vater in das Untersuchungszimmer. Der diensthabende Arzt beginnt mit der Untersuchung, während ich vor der Türe warten muss. Hoffentlich geht das gut, es reicht doch, dass ich meine Mutter vor zehn Jahren verloren habe, bitte, lieber Gott, lass das nicht zu! Die Türe zum Arztzimmer öffnet sich fast nach einer Ewigkeit. Der Arzt kommt mit einem ernsten Gesicht auf mich zu, ich ahne Schlimmes, mein Hals ist trocken und mit gebrochener Stimme kann ich gerade noch fragen, wie es ihm geht.

Der Arzt erklärt mir, dass die Blutvergiftung schon sehr weit fortgeschritten ist, sie werden alles tun, um die Vergiftung zum Stillstand zu bringen, auch eine Amputation des Unterschenkels könnte nötig werden und ich soll nach Hause fahren und abwarten. Geschockt nehme ich alles zur Kenntnis und mache mich deprimiert auf den Nachhauseweg. Es ist schon gegen Mittag, die laue Herbstsonne wärmt mich. Es herrscht reger Betrieb in der Stadt, nur mir erscheint es, wie wenn ich diese Situation schon erlebt hätte. Am Hof angekommen teile ich den Knechten und meinen Geschwistern mit, wie ernst die Lage ist. Meine kleine Schwester weint, sie hatte den Tod unserer Mutter damals noch nicht verstanden, aber jetzt leidet sie sehr unter der schlimmen Nachricht. Meine Brüder sitzen verstört in der Küche und fragen dann wie die Chancen zum Überleben stehen. „Das kann ich leider auch nicht beantworten, ich schlage vor, dass wir für ihn beten“, etwas anders fällt mir im Augenblick nicht ein. Zwei Tage vergehen zwischen Hoffen und Bangen, da kommt am Nachmittag ein Kurier aus dem Krankenhaus und überbringt uns die traurige Nachricht, dass unser Vater am Morgen an den Folgen der Blutvergiftung gestorben ist. Die traurige Nachricht macht dann schnell die Runde, der Dorfpfarrer komm ins Haus und will wissen wann die Beerdigung sein soll. Ich bin kaum fähig einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Ich bin gewohnt, dass mein Vater alle wichtigen Entscheidungen trifft, jetzt wird mir erst bewusst, dass ich nun derjenige bin, der diese Sachen zu bestimmen hat. Ich alleine war jetzt das Familienoberhaupt, verantwortlich für meine Geschwister, acht Knechte vier Mägde und für den großen Hof. Konnte ich das überhaupt schaffen ohne Vater, wie werden die Knechte und Mägde darauf reagieren, diese Gedanken gingen mir durch den Kopf. Jetzt traf ich zum ersten Mal allein die nötigen Entscheidung. Mit dem Pfarrer regelte ich dann schnell alle Angelegenheiten um die Beerdigung. Am Abend besprach ich mich mit den Knechten und Mägden. Sie zeigten sich sehr betroffen, ja verbunden und versprachen mir mitzuhelfen, dass der Hof weiter so bewirtschaftet wird wie gewohnt. Besonders unser Großknecht überzeugte mich, weil er neben den tröstenden Worten auch zusagte, dass er mir bei allen wichtigen Arbeiten und Entscheidungen tatkräftig zu Seite stehen wird. Ich und meine vier Geschwister waren also Vollwaisen, ich konnte das jetzt kaum fassen, geschweige denn verstehen.

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Die Getreideernte und die Hopfenernte auf dem Hof fielen in diesem Jahr ziemlich gut aus. Es gab nur örtliche Unwetter und so waren alle zuhause zufrieden. Ich sortierte schon Wochen vor meiner Abfahrt in die höhere Schule meine Sachen und überlegte, was ich in den kleinen Koffer packen sollte. Viele persönliche Dinge konnte ich nicht mein Eigen nennen. Das Naturkundebuch, ein Abschiedsgeschenk von meinem Lehrer, durfte nicht fehlen. Die Vorfreude war riesig. Endlich war es so weit. In aller Frühe wurden die Pferde vor die Kutsche gespannt und mein Vater, ein Knecht und ich begaben uns auf die doch lange Reise nach Riedenburg. Bei mir kam keine Langeweile auf, denn viele der kleinen Ortschaften und vor allem die Stadt Abensberg waren überaus interessante Orte. In Abensberg legten wir eine Pause ein und deshalb konnte ich diese schöne Stadt mit ihren vielen Türmen, der riesigen Kirche und dem wunderschönen Schloss bewundern. Kurze Zeit später ging es weiter.