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Kate Conger und Ryan Mac erzählen die wahre Geschichte hinter der Übernahme von Twitter durch Elon Musk! Der Kauf von Twitter für 44 Milliarden Dollar durch den reichsten Mensch der Welt ist anders als alles, was in der Wirtschaft oder den Medien bisher geschehen ist. Ein streitbarer, launischer CEO entschied nach der Übernahme 2022 darüber, was unter freie Meinungsäußerung fiel – und was nicht. Es ist ein unvergleichlicher Fall von Machtkonzentration und ein Beleg dafür, welchen Einfluss Vermögen auf unsere Demokratie hat. Basierend auf Hunderten von Interviews mit (ehemaligen) Mitarbeitenden von Twitter, mit großem Insiderwissen und cineastischer Dramaturgie schildern Kate Conger und Ryan Mac die Details der umstrittenen Übernahme, die Massenentlassungen, die Auflösung des Content-Moderation-Teams sowie die unglückliche Umbenennung in X und Musks umstrittenes Geschäftsmodell. «Elon Musk und die Zerstörung von Twitter» ist nicht nur eine einmalige investigative Reportage, zugleich ist es auch eine Diskussion über die Grenzen der Meinungsfreiheit und ein Abgesang auf den Traum des Silicon Valley, das Internet zu einem utopischen Ort zu machen, der Menschen weltweit verbindet und vereint
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Seitenzahl: 833
Kate Conger • Ryan Mac
Die Inside-Story
Kate Conger und Ryan Mac erzählen die wahre Geschichte hinter der Übernahme von Twitter durch Elon Musk!
Der Kauf von Twitter für 44 Milliarden Dollar durch den reichsten Mensch der Welt ist anders als alles, was in der Wirtschaft oder den Medien bisher geschehen ist. Ein streitbarer, launischer CEO entschied nach der Übernahme 2022 darüber, was unter freie Meinungsäußerung fiel – und was nicht. Es ist ein unvergleichlicher Fall von Machtkonzentration und ein Beleg dafür, welchen Einfluss Vermögen auf unsere Demokratie hat.
Basierend auf Hunderten von Interviews mit (ehemaligen) Mitarbeitenden von Twitter, viel Detailreichtum und cineastischer Dramaturgie schildern Kate Conger und Ryan Mac die Details der umstrittenen Übernahme, die Massenentlassungen, die Auflösung der Content Moderation und deren erratische Wiedereinführung, sowie die unglückliche Umbenennung in X und Musks umstrittenes Geschäftsmodell.
«Elon Musk und die Zerstörung von Twitter» ist nicht nur eine einmalige investigative Reportage, zugleich ist es auch eine Diskussion über die Grenzen der Meinungsfreiheit und ein Abgesang auf den Traum des Silicon Valley, das Internet zu einem utopischen Ort zu machen, der Menschen weltweit verbindet und vereint.
Kate Conger ist als Journalistin bei der New York Times auf Tech-Themen und die Berichterstattung zu Twitter spezialisiert. Sie unterhält enge Kontakte zu den Executives und vielen Mitarbeitern des Unternehmens und hat vieldiskutierte Artikel zu Twitter veröffentlicht, etwa zum Ende von Jack Dorsey. Zuvor arbeitet sie für die SF Weekly, TechCrunch und Gizmodo.
Ryan Mac hat viele Artikel zu Twitter gemeinsam mit Kate Conger in der New York Times veröffentlicht. Er gilt als Insider im Silicon Valley und schrieb zuvor für das Forbes Magazine und BuzzFeedNews.
Hans-Peter Remmler, Jahrgang 1957, übersetzt aus dem Englischen und Spanischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Bill Gates, Ronan Farrow, Carol Leonnig, Maria Ressa und Bob Woodward.
Karsten Petersen, Jahrgang 1957, studierte Elektrotechnik an der University of Delaware (USA). Er übersetzt in erster Linie Bücher aus den Bereichen Biografien und Sachbuch aus dem Englischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Bill Gates, Frances Haugen, Ayaan Hirsi Ali, Parag Khanna, Adam Kucharski, Jaron Lanier, Dan McCrum und Adam Tooze.
Marlene Fleißig, Jahrgang 1992, übersetzt Sachbücher aus dem Englischen und Spanischen. Zu den von ihr übersetzten Autor:innen gehören Sheera Frenkel, Carol Leonnig und Esther Paniagua.
Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «Character Limit: How Elon Musk Destroyed Twitter» bei Penguin Press
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2024
Copyright der deutschen Erstausgabe © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Character Limit. How Elon Musk destroyed Twitter» Copyright ©2024 by Kate Conger, Ryan Mac
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Rebecca Cook / REUTERS / picture alliance
ISBN 978-3-644-01910-2
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Kim Mac und Marie Aro
The Golden Sir
@screaminbutcalm
Me sowing: Haha fuck yeah!!! Yes!!
Me reaping: Well this fucking sucks. What the fuck.
2:14PM Mar 12, 2019
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Nach fast vier Stunden Warterei wurde der leitende Informatiker allmählich unruhig. Er hatte nicht vorgehabt, überhaupt bei Twitter im Büro zu sein. Es war Veterans Day, und die meisten seiner Kollegen hatten sich abgemeldet. Er dagegen saß nun vor einem Konferenzraum im zehnten Stock der Firmenzentrale in San Francisco herum und wartete darauf, vom neuen Twitter-Eigentümer vorgeladen zu werden.
Elon Musk war in seinem Element. Der 51-jährige Milliardär liebte es, die eigene Ausdauer auf die Probe zu stellen. Er war ganz fasziniert von seinem eigenen Durchhaltevermögen, wenn er in der Tesla-Fabrik in einem Konferenzraum auf der Couch schlief oder sich bei SpaceX die Nacht um die Ohren schlug, um letzte Hand an die Vorbereitungen für einen Raketenstart zu legen. Und jetzt legte er sich mit Twitter an. Nach der 44 Milliarden Dollar teuren Übernahme des sozialen Netzwerks testete er dessen Grenzen aus. Wie schnell würde er es seinem Willen unterwerfen können?
Der Informatiker, ein schlaksiger Mann mit rotbraunem Wuschelkopf und stechend blauen Augen, hatte erst ein Jahr zuvor bei Twitter angefangen. Seine Kollegen hatten in ihm schon bald einen tiefgründigen Denker erkannt, der von der Vernetzung der Menschen im Internet fasziniert war – von den guten wie den schlechten Seiten, die sich daraus ergaben. Nach fünf Jahren bei Facebook hatte er sein Talent geschärft, die riesige Landschaft der sozialen Medien zu verdaulichen O-Tönen zu verdichten. Dort hatte er sich in Unmengen von Nutzerdaten vertieft und heikle Themen wie Hassrede und Falschinformationen untersucht, die ihren Teil zu dem Aufstand vor dem (und im) US-Kapitol am 6. Januar 2021 beigetragen hatten.[1] Als überzeugter Wissenschaftler kritisierte der Informatiker die Fehler seines Arbeitgebers oft mit einer Offenheit, die Führungskräfte nur selten von anderen Mitarbeitern zu hören bekamen.
Als Musk in jenem April den Kauf von Twitter angekündigt hatte, war der Informatiker durchaus optimistisch. Musk hatte es immerhin geschafft, zwei Branchen zu revolutionieren: Er hatte den Massenmarkt für Elektroautos auf den Weg gebracht und die Weltraumforschung privatisiert. Vielleicht war er ja tatsächlich der Visionär, der dem Social-Media-Unternehmen die dringend benötigten neuen Impulse verleihen konnte.
In den zurückliegenden zwei Wochen jedoch hatte Musk die Hälfte der Kolleginnen und Kollegen des IT-Fachmanns gefeuert. Ein Plan dahinter war nicht zu erkennen, und über seine Vision erfuhr man herzlich wenig. Musk hatte Werbekunden vergrault und damit die Geschäftsgrundlage von Twitter untergraben. Und er war auf eine himmelschreiende Verschwörungstheorie eingestiegen: Per Twitter hatte er eine falsche Geschichte über den Ehemann von Nancy Pelosi, der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, weiterverbreitet, in der behauptet wurde, dieser hätte etwas mit einem geistig verwirrten Mann, der ihn in seinem Haus angegriffen hatte. Es war die Art von absurder Fiktion, die nur jemand mit einem verqueren Geist glauben konnte, radikalisiert durch tägliches und stundenlanges Verweilen in der eigenen Social-Media-Filterblase. Der Informatiker war entsetzt. Offenbar war auch Musk selbst einer jener leichtgläubigen Verschwörungstheoretiker, mit denen er sich in seinen Untersuchungen beschäftigt hatte.
Trotz aller Veränderungen, die Musk bei Twitter bereits auf den Weg gebracht hatte, hatte der Milliardär erkennen lassen, dass er an diesem Freitag nicht ruhen würde. Am frühen Morgen schickte er eine E-Mail an seine Mitarbeiter, in der er sich bei denen bedankte, «die mit mir dort waren».
«Ich bin heute wieder im Büro», schrieb Musk. «Kommt im 10. Stock vorbei, wenn ihr darüber sprechen wollt, wie wir Twitter auf die nächste Stufe heben. Die Priorität liegt auf kurzfristigen Maßnahmen.»
Der Informatiker beschloss, die Herausforderung anzunehmen. Im neblig-düsteren Winterwetter San Franciscos wanderte er die Market Street hinauf bis zur Twitter-Zentrale, einem imposanten Art-déco-Bau. Kurz nach 10 Uhr schlug er sein Lager an einer Reihe von Schreibtischen vor dem Caracara auf, einem Konferenzsaal mit herrlichem Blick auf Downtown und die glitzernde Kuppel der City Hall. Die Glaswände erlaubten den Leuten im Vorübergehen einen Blick auf die Führungsetage – fast wie auf die Löwen im Zoo. Die Hauptattraktion war Musk, und die Mitarbeiter, die draußen auf ein Treffen mit ihm warteten, unterhielten sich flüsternd darüber, was sie dem neuen Boss mitzuteilen hofften. Der Informatiker feilte auf seinem Laptop an zwei Memos, die er Musk vorlegen wollte, und belauschte nebenher die Gespräche. Einige der Kolleginnen und Kollegen waren offenbar besorgt, weil sich so wenige Kunden für das neue Abo-Produkt von Twitter angemeldet hatten. Andere tauschten Tipps aus, wie sie am besten mit dem neuen Chef kommunizieren könnten.
Behnam Rezaei, ein freundlicher Mann mit runder Hornbrille, der über fünf Jahre lang Technikteams bei Twitter geleitet hatte, wandte sich an den Informatiker und bot seine Hilfe an. Rezaei hatte sich auf der Karriereleiter hochgearbeitet und Musks Gunst erlangt. So war es ihm im Gegensatz zu vielen seiner Managerkollegen gelungen, einer Entlassung zu entgehen – er war sogar bis zum Posten eines Vizepräsidenten aufgestiegen. Rezaei schätzte den IT-Experten sehr und hatte einen Teil seines neu gewonnenen politischen Kapitals eingesetzt, um ihm einen persönlichen Termin bei Musk zu verschaffen.
«Elon will nur positive Dinge hören», ließ Rezaei ihn wissen. «Erzählen Sie ihm nicht, was wir nicht können, und versuchen Sie nicht, den Status quo zu rechtfertigen. Elon will einfach nur das tun, was für die Menschheit von Nutzen ist.»
Was Rezaei nicht wusste: Der Informatiker hatte bereits beschlossen zu kündigen. Als er Musks E-Mail am frühen Freitagmorgen sah, verschob er seinen Abgang um einen Tag, um persönlich mit dem neuen Besitzer sprechen zu können. Er glaubte noch immer an Twitter und an die Macht großer sozialer Netzwerke, und er hoffte, Musk würde auf ihn hören. Vielleicht hatte sich ja dessen Riege von Jasagern, die nach der Übernahme ins Unternehmen gekommen waren, ihm einfach nicht zu sagen getraut, was er da für einen Mist baute.
Während der Wartezeit stellte der Informatiker zwei Dokumente fertig, die er für das Treffen vorbereitet hatte. Das erste war eine Liste mit Ideen, wie man Twitter effektiver betreiben könnte. Im zweiten und kühneren Dokument legte er dar, warum Musks Pläne, nennenswerte Einnahmen aus Abonnements zu generieren und die Axt an die Richtlinien zur Content-Moderation zu legen, nicht funktionieren würden und inwiefern seine Paranoia und Unbeständigkeit dem Unternehmen schaden würden.
Die Stunden vergingen, und er kramte in einer Mitarbeiterküche in der Nähe nach den letzten Snacks. Sein Herz schlug heftig, als er in Gedanken noch einmal durchging, was er Musk sagen wollte. Endlich, es war kurz nach 14 Uhr, trat Musks Sekretärin auf ihn zu. Musk sei sehr beschäftigt, sagte sie. Er habe nur fünf Minuten.
Der Informatiker betrat den Besprechungsraum. Musk saß hinter einem großen Eichentisch und zwängte seine massigen 1,87 Meter in einen Bürostuhl von Herman Miller. Der IT-Experte stellte sich kurz vor und begann sogleich mit seiner Präsentation. Er trug seine Ideen zum Wachstum, zur Verifizierung von Nutzern und zur Mitarbeitermotivation vor. Musk hörte aufmerksam zu. Anschließend skizzierte der Informatiker eine Vision für eine Content-Moderation, bei der die Entscheidungsbefugnis in Händen einer Organisation außerhalb der unmittelbaren Kontrolle durch den Twitter-Eigentümer angesiedelt war.
«Zeitungen und Zeitschriften sind redaktionell unabhängig, das heißt, die Eigentümer können am Ende nicht darüber entscheiden, was gedruckt wird und was rausfliegt», erläuterte der Informatiker. «Social-Media-Unternehmen sollten ähnlich strukturiert sein.»
Musk war wenig beeindruckt. «Oder auch nicht», brummte er.
Musks Sekretärin lugte herein und erinnerte den Chef an den nächsten Termin. «Wollen Sie zum Abschluss noch etwas loswerden?» fragte sie.
«Ja, eines will ich noch sagen.» Der Informatiker holte tief Luft und wandte sich an Musk.
«Ich kündige heute. Ich hatte mich über die Übernahme gefreut, aber Ihr Tweet über Paul Pelosi hat mich tief enttäuscht. Das sind wirklich so offensichtlich parteiische Falschinformationen, dass ich mir Sorgen um Sie mache und darum, von was für Freunden Sie Ihre Informationen beziehen. Allenfalls ein Zehntel der erwachsenen Bevölkerung ist leichtgläubig genug, um auf so etwas hereinzufallen.»
Aus Musks ohnehin blassem Gesicht wich noch die letzte Farbe. Er beugte sich in seinem Sessel nach vorne. So durfte niemand mit ihm reden. Und niemand, schon gar nicht jemand, der für ihn arbeitete, würde es wagen, seinen Intellekt oder seine Tweets infrage zu stellen. Eine Sekunde lang fixierte er mit blitzenden Augen den Informatiker.
«Sie können mich mal!», knurrte Musk.
Der Informatiker wurde immer mutiger. Er neigte nicht zu Streit oder Beleidigungen, aber Musks Reaktion bestärkte ihn in seiner Überzeugung, dass der Milliardär vollkommen ungeeignet war, ein Unternehmen zu führen, das für den weltweiten Online-Diskurs von so entscheidender Bedeutung war. Er blieb gefasst, sagte dann aber etwas, das zu sagen er eigentlich nicht vorgehabt hatte.
«Ich hoffe, Sie gehen in Konkurs und überlassen die Führung der Firma jemand anderem.»
«Okay, Kündigung akzeptiert», blaffte Musk.
Der Informatiker machte sich auf in Richtung Ausgang.
«Ich nehme Ihren Laptop», sagte Musks Sekretärin kleinlaut. Er übergab ihr den Rechner und ging hinaus.
Auf dem Rückweg zum Schreibtisch, wo er seine Sachen gelassen hatte, hörte der Informatiker bereits die Schritte von zwei Wachleuten Musks, die ihm eilig auf den Fersen waren. Er fragte sich, ob sie ihn bedrängen oder gar verprügeln wollten, aber sie passten lediglich auf, während er seine Sachen packte, und eskortierten ihn dann zu den Aufzügen. Alle drei betraten gemeinsam einen Lift und fuhren hinunter ins Erdgeschoss, da wandte sich einer der Gorillas mit einem Lächeln an ihn.
«Was haben Sie zu ihm gesagt?», wollte er wissen.
«Ich habe ihm ein paar Dinge gesagt, die ihm nicht gepasst haben», antwortete der Informatiker.
«Das muss ein gutes Gefühl gewesen sein.»
«Stimmt, war es. Um ehrlich zu sein, das, was ich ihm gesagt habe, sagen alle hinter seinem Rücken. Aber keiner sagt es ihm offen ins Gesicht.» Dann trat er aus dem Aufzug, gab seinen Firmenausweis ab und verließ zum letzten Mal das Twitter-Hauptquartier.
Elon Musk hielt bei Twitter Einzug wie ein Held und Eroberer, der er in den Augen vieler auch war – nicht zuletzt in seinen eigenen. Umgeben von einer Schar ergebener Gefolgsleute, die ihn zu vielen waghalsigen Manövern – wie etwa dem Kauf des Unternehmens selbst – befähigten, wurde er von Millionen von Online-Anhängern angefeuert, die jeden seiner Schritte likten und eifrig per Retweet weiterverbreiteten. Er zog ihm gewogene Investoren mit, als er die Kontrolle über einen der weltweit führenden Online-Räume für politischen und kulturellen Diskurs an sich riss und versuchte, ihn seinem Willen zu unterwerfen. Mit seiner erfolgreichen und sündhaft teuren Übernahme hatte Musk scheinbar die ganze sonstige Elite der Tech-Branche an Reichtum, Macht und Ruhm überflügelt. Er war unangreifbar.
Vorkommnisse wie der Abgang des streitbaren Informatikers hinterließen gleichwohl ihre Spuren. Musk hatte, ob er sich damals darüber im Klaren war oder nicht, seinen Ruf und Milliarden von Dollar mit dem leichtfertigen Erwerb seines Lieblingsspielzeugs aufs Spiel gesetzt.
Die Unternehmensführung und auch viele Nutzer waren von der Übernahme alles andere als begeistert gewesen, aber Twitter hatte sich durch jahrelanges Missmanagement quasi selbst zur Versteigerung ausgeschrieben. Jack Dorsey, der verbitterte Firmengründer, hatte den Dienst in der Endphase seiner Zeit als Geschäftsführer vernachlässigt. Irgendwann kam Dorsey zu der Überzeugung, die Firma, die ihm einst so am Herzen gelegen hatte, sollte überhaupt kein Unternehmen sein – doch als er die Gewinnspannen von Twitter einfach ignorierte, stürzten sich die Investoren auf das Objekt, um herauszuquetschen, was eben zu holen war. Als er 2021 zurücktrat, startete das Unternehmen eine hektische Aufräumaktion, um die Wall Street zu beruhigen.
Niemand war jedoch auf Musks hyperaggressiven Feldzug vorbereitet, und niemand konnte ihn aufhalten. Er sah in Twitter nicht bloß ein Geschäft, sondern ein ideologisches Werkzeug, eine Waffe, die Liberale in San Francisco dazu nutzten, Ansichten zu unterdrücken, die auf seiner Linie lagen. Die Richtlinien von Twitter gaben in der Debatte über angemessene Online-Sprache den Ton für andere Social-Media-Unternehmen vor, und Musk wollte eine ganze Reihe neuer Umgangsformen ins Spiel bringen.
Die Tatsache, dass er überhaupt über genügend Geld verfügte, war wirklich außergewöhnlich, ein anormales Merkmal des Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Anfang April 2022 besaß Musk ein Nettovermögen von fast 270 Milliarden Dollar. Nachdem die Hauptquelle seines Reichtums, die Tesla-Aktie, neue Höhen erklommen und ihm einen schier unermesslichen finanziellen Spielraum verschafft hatte, konzentrierte er sich auf seine einzige wahre Leidenschaft. Die meisten Tech-Milliardäre hätten das Geld für Megajachten, Profiteams im Sport, Medienpublikationen oder entlegene Inseln ausgegeben, aber Musk wollte für sich ein Megafon, eine Website, auf der er seine Stimme direkt Hunderten von Millionen Menschen zu Gehör bringen konnte. Er wollte Twitter.
Zu Musks blitzkriegartiger Übernahme gab es keinen kulturellen oder gesellschaftlichen Präzedenzfall. Es war undenkbar, dass eine einzelne Person eine derartige Transaktion durchziehen konnte. Wenn überhaupt, kauften Konzerne oder Private-Equity-Firmen Unternehmen dieser Größe, aber doch kein Einzelner. Aber Musk hatte einen Reichtum angehäuft, den nur eine Handvoll Titanen jemals auch nur annähernd erreicht hatten, und da galten die Regeln der traditionellen Wirtschaft eben nicht mehr.
Musks Liebe zu Twitter war schlicht, nachvollziehbar, ja, fast schon menschlich. Er verbrachte täglich Stunden damit, die Website zu durchforsten, Posts zu lesen, über Memes zu lachen und spontane Eingebungen abzufeuern – wie jeder andere normale Nutzer auch. Er berauschte sich an dem Engagement, das ihm entgegengebracht wurde, und wie für so viele andere Hardcore-Twitterer wurde die Plattform auch für ihn regelrecht zur Sucht. Der Unterschied zwischen ihm und den anderen Online-Junkies, die dem ständigen Dopaminrausch von Twitter hinterherjagten, bestand jedoch darin, dass er die Mittel hatte, seine Sucht einzufangen, und den Wunsch, sie nach seinem eigenen Bild zu formen.
Am Morgen des 14. April 2022 wachten wir, Kate Conger und Ryan Mac, Reporter bei der New York Times, mit einem Tweet auf, der aus ganzen vier Worten bestand und den ebenso unglaublichen wie unvermeidlichen Höhepunkt zweier Storys darstellte, die wir seit einem Jahrzehnt als Journalisten im Silicon Valley verfolgt hatten: «I made an offer.» («Ich habe ein Angebot gemacht.»)
Wir stürzten uns in eine monumentale Story. Der einflussreichste Unternehmer des Silicon Valley kaufte eines der führenden Unternehmen. Wo sollte das alles enden?
Wir hatten ausführlich über die Kämpfe um die Content-Moderation in den sozialen Medien, über die Unzulänglichkeiten von Twitter als Unternehmen und über Dorsey geschrieben. Wir hatten auch über Musks Firmen und seine ständigen Grenzüberschreitungen berichtet. Urplötzlich wurden diese Geschichten zu einer – und das Ganze war viel, viel größer als die Summe seiner Teile.
Musks Entscheidung zum Kauf von Twitter schien eine Art Schnellschuss gewesen zu sein. Er war davon ausgegangen, Twitter sei einfach ein Wust aus technischen Problemen, den ein brillanter Ingenieur wie er leicht würde entwirren können, um auf diese Weise der freien Rede auf dem digitalen Marktplatz den Weg zu bereiten. Im Kern aber plagten Twitter soziale und politische Dilemmas, nicht bloß rein technische. Die Unternehmensführung schlug sich ständig mit der Frage herum, was die Leute sagen dürfen sollten, und sie brachte Regierungen, Aktivisten, Prominente und sogar die eigenen Mitarbeiter gegen sich auf. Die Fragen, mit denen sich Twitter auseinandersetzen musste, waren alles andere als einfach. Sie werden im Internet diskutiert, seit es das Internet gibt. Und vielleicht gibt es auch gar keine letztgültigen Antworten. Nicht umsonst wird Twitter von seinen treuesten Nutzern auch als «Höllenseite» bezeichnet, als ein Winkel des Internets, in dem immer irgendetwas – oder irgendjemand – in hellen Flammen steht. Die Leute stiegen aus einer Sitzung aus, scrollten sich voller Wut, Frust und Abscheu durch ihre Timelines – und konnten es trotz allem kaum erwarten, sich wieder einzuloggen. Das Unternehmen brauchte eine Führungspersönlichkeit, die sich mit Psychologie, Politik und Geschichte auskannte und über die chaotische Art und Weise Bescheid wusste, in der Menschen unmittelbar und unablässig online in Kontakt treten. Stattdessen bekam es nun jemanden, dessen Angebot für das Unternehmen – 54,20 Dollar pro Aktie – sogar mit einem Insiderwitz übers Kiffen daherkam, da «420» unter Kiffern ein Codewort für regelmäßigen Konsum ist.
Als Musk versuchte, die Herrschaft über Twitter zu übernehmen, wurden seine eigenwilligen Ambitionen für die Plattform durchkreuzt, und er war zunehmend davon überzeugt, die Mitarbeiter würden gegen ihn auf die Barrikaden gehen. Dabei müssten sie ihm doch dankbar sein – dachte er zumindest. Aus seiner Sicht besaß allein er den Mumm, 44 Milliarden Dollar für die Rettung seiner heiß geliebten Social-Media-Plattform zu riskieren. Erkannten sie denn nicht, dass er gerade die Menschheit rettete? Er beauftragte ein paar seiner Lakaien, weitere Abweichler ausfindig zu machen, um diese dann feuern zu können. Er verfügte Codesperren, um zu verhindern, dass jemand Änderungen an den Twitter-Apps oder der Website vornahm – sonst hätte ein abtrünniger Mitarbeiter die Seite vielleicht sabotieren können. Seine Leibwächter begannen, ihm bis zu den Bürotoiletten zu folgen, damit ihm in seinen heiligen privaten Momenten möglichst keine Angestellten auf die Pelle rücken konnten.
Im Laufe der Übernahme verstärkte sich Musks Paranoia, und die ihm nahestehenden Leute machten sich Sorgen um seinen zunehmend fragilen Gemütszustand. Die chaotische Natur der Plattform und die Auswirkungen seines Handelns sollten seine Grenzen aufzeigen. Je mehr er sich mühte, Twitter seinen Willen aufzuzwingen, desto mehr schien es sich seiner Kontrolle zu entziehen – und umso mehr steigerte er sich in seine Besessenheit hinein. In den Fähigkeiten eines Unternehmers, der für viele als einer der erfolgreichsten Wirtschaftsführer der Menschheit galt, begannen sich Lücken aufzutun.
Zu dem Zeitpunkt, da wir dieses Buch schreiben, ist die Geschichte von Musks Eroberungsfeldzug noch nicht zu Ende. Sie kann mit einem großen Knall oder einem kläglichen Wimmern enden – oder mit einem Erfolg, was eher unwahrscheinlich ist. Klar ist aber schon jetzt, dass Musk die Plattform zerstört hat. Was er besitzt, ist nicht mehr Twitter – nicht dem Namen nach, aber auch nicht der Substanz oder dem Geist nach. Die Menschen, die das Unternehmen in einer Zeit aufgebaut haben, in der die utopischen Versprechen des Silicon Valley viel leichter zu glauben waren, sind nicht mehr da, und auch die Unternehmenskultur, die von Diskussion, Gleichberechtigung und Idealismus geprägt war, ist längst dahin. Was das für eine Welt bedeutet, in der nicht nur die Nachrichtenmedien in ständiger existenzieller Gefahr schweben, sondern die Demokratie selbst auf dem Spiel steht, bleibt abzuwarten. Die ersten Anzeichen sind jedenfalls alles andere als günstig.
Aus den Trümmern von Twitter errichtet Musk nun X, ein neues, toxischeres und viel zynischeres Social-Media-Unternehmen. Damit läutet er eine neue Ära ein – eine Ära der Meinungsäußerung im Internet, in der alles erlaubt ist, und auch eine Ära der Unternehmensführung nach seiner eigenen Lust und Laune. Versprechungen gab es zur Genüge. Musk hat versichert, X zur weltweit dominierenden «Everything App» zu machen, in der die Leute nicht bloß ihre Gedanken posten, sondern auch Rechnungen bezahlen, telefonieren oder Filme ansehen können. Finanzstarke Investoren haben viele Milliarden Dollar darauf gesetzt, dass er am Ende recht behalten wird.
Diese hochfliegenden Versprechen sind allerdings bislang genau das geblieben – Versprechen. Für die Nutzer, die bei der Stange geblieben sind, ist einer der wichtigsten globalen Kommunikationswege inzwischen praktisch nicht mehr wiederzuerkennen, X dient heute den Interessen eines einzigen Mannes. Was einst als der digitale Marktplatz bezeichnet wurde, wird immer mehr zum Spiegel des Elon Musk.
Endlich war Jack Dorseys Zeit gekommen. Am 11. Juni 2015 verfolgte er in der Cafeteria der Twitter-Zentrale in der Market Street in San Francisco gespannt, wie Dick Costolo, ein ehemaliger Unternehmer, der vier Jahre zuvor eingestellt worden war, um Twitter aus den Turbulenzen herauszuführen, auf der regelmäßigen Betriebsversammlung eine unerwartete Botschaft an Hunderte von Twitter-Mitarbeitern richtete: Costolo verkündete seinen Rücktritt als CEO. Seit Anfang des Jahres hatte er Freunden insgeheim anvertraut, mit seiner Rolle bei Twitter zu hadern und bereit zu sein, seinen Posten zu räumen. Und die Person, die ihn zumindest übergangsweise ersetzen sollte, war just der Mann, der neben ihm stand und mit dem alles begonnen hatte: @jack.
Dorsey hatte jahrelang strategisch die Fäden gezogen, um eine Rückkehr à la Steve Jobs in die Wege zu leiten. Er war 2008 kurzerhand als Twitter-Chef entlassen worden und hatte seitdem seinen Weg zurück an die Spitze geplant: Er schmiedete Allianzen mit Leuten aus dem Board und konstruierte für die Medien ein Narrativ, das ihn als einzigen Visionär hinter der Social-Media-Plattform darstellte. Sein Comeback sollte zu einem Triumphzug werden – endlich war die treibende kreative Kraft hinter den früheren Erfolgen von Twitter wieder an Bord –, genau wie es bei der Rückkehr von Jobs zu Apple der Fall gewesen war.
Für die Twitter-Belegschaft war Dorsey jemand, der quasi aus einem Winter in der Wildnis zurückkehrte. Er stand vor ihnen mit einem neuen Titel und einem abenteuerlichen braunen Vollbart, der sein kantiges Gesicht mit den eisblauen Augen umrahmte. Er hatte zwar jahrelang als Chef des Unternehmens fungiert und genoss den Ruf eines Mitgründers, aber nur wenige Mitarbeiter hatten ihn jemals persönlich zu Gesicht bekommen. Sie musterten das ehemalige Fotomodell und den Meditationsfan, den sie da vor sich hatten, und konnten nicht umhin, ihn mit einer gewissen Beklommenheit zu betrachten, als er mit seinem typischen, monotonen Vortragsstil über die Veränderung des Unternehmens sprach.
Twitter brauchte diesen Wandel schnell, denn das Unternehmen steckte im Schlamassel. Es gab kaum Produktinnovationen, kein Wachstum bei den Nutzerzahlen – die wichtigste Kennzahl, an der jedes bedeutende Social-Media-Unternehmen gemessen wird – und ein immer mehr um sich greifendes Gefühl, dass das ganze Unternehmen zum Scheitern verurteilt sei. Die Geschichte der Dysfunktionalität und des Verrats unter den Gründern des Unternehmens sowie das ständige Stühlerücken in der Führungsetage trugen ihren Teil zu dem Eindruck bei, Twitter würde einfach nicht vom Fleck kommen. Einige der frühen Fehltritte waren auf Dorseys Konto gegangen, und das Chaos wurde zu einem akzeptierten Teil der Unternehmenskultur. Die Mitarbeiter fragten sich deshalb nicht ohne Grund: War Jack wirklich die Lösung? Konnte er das Unternehmen wieder in die Spur bringen? Oder würde er es ein weiteres Mal in den Sand setzen?
Dorsey, geboren 1976, wuchs in St. Louis als ältester von drei Söhnen einer liberalen Mutter und eines konservativen Vaters auf. Schon als Teenager entwickelte er Interesse am Innenleben von Versanddienstleistern – ein frühes Anzeichen dafür, dass es ihn zum Aufbau komplexer Systeme für den Informationstransfer hinziehen könnte. Er ging in Missouri und New York aufs College, brach das Studium aber vorzeitig ab. Dorsey zog 1999 in die Bay Area – kurz bevor die Dotcom-Blase platzte.[2]
Das waren aufregende Zeiten in der Technologiebranche. Die Visionäre und Pioniere des Internets und des Personal Computers hatten sich von einem Ethos der Offenheit und der Zusammenarbeit leiten lassen, das sich auf einen lockeren, anarchischen Konsens in Verbindung mit jeder Menge technischem Know-how stützte. Diese demokratische Kultur gefiel Dorsey, einem Punk-Fan, der früher einmal blaue Haare hatte. Nach seiner Ankunft in der Bay Area zog er in die Sunshine Biscuit Factory, ein Lagerhaus im düsteren Osten von Oakland, bekannt als Heimstätte für Künstler und Veranstalter von Underground-Konzerten. Er tüftelte an Online-Programmen zur Disposition von Taxis, Fahrradkurieren oder sogar Rettungsdiensten.
Anders als viele der verlotterten Programmierer, die auf der Suche nach Millionengehältern ins Silicon Valley strömten, hatte Dorsey eine Ader für Ästhetik – seine eigene und die der Produkte um ihn herum. Er spielte sogar mit dem Gedanken, der Tech-Branche den Rücken zu kehren und Modedesigner zu werden. Er veränderte gerne sein Aussehen, piercte sich die Nase oder benutzte Kastilienseife, um seine Haarpracht in Dreadlocks zu verwandeln. Seine Wandlungsfähigkeit im Erscheinungsbild wie bei den Interessen zog sich durch sein ganzes Leben, sodass sich einige Menschen in seinem Umfeld fragten, ob er einfach nur nach der richtigen Nische für sich suchte.
«Das Nasen-Piercing habe ich mir nur aus einem Impuls heraus machen lassen, ich dachte, das sieht echt cool aus», erzählte Dorsey später in 60 Minutes. «Es ging dabei nicht um ein bestimmtes Statement oder so etwas.»
Nach einigen freiberuflichen Programmierjobs in der Bay Area, darunter die Entwicklung eines Abfertigungsdienstes für die Fähren zur Insel Alcatraz in San Francisco,[3] landete Dorsey 2005 bei Odeo, einem Podcasting-Start-up, das der Webunternehmer Ev Williams in San Francisco aufbaute. Williams hatte zwei Jahre zuvor mit dem Verkauf seiner Publishing-Plattform Blogger an Google ein Vermögen verdient, und Odeo war sein nächstes Projekt. Mit Blogger konnte Williams stolz darauf verweisen, das Publizieren für die breite Masse zugänglich gemacht zu haben – damit konnte jeder seine eigenen Inhalte mit einem einzigen Klick online stellen. Er scheute die Moderation von Inhalten, weil er sie für eine unmögliche Aufgabe hielt, und ließ die meisten Beiträge auf seiner Plattform einfach stehen.
Der 28-jährige Dorsey schickte Williams seinen Lebenslauf und bekam ein Angebot für eine Stelle als freiberuflicher Programmierer bei Odeo, wo er sich schnell mit den anderen Cyberpunks der Belegschaft anfreundete.[4] Aber selbst in dieser exotischen Truppe stach Dorsey noch heraus. Er war ein ausgesprochen stiller Typ – Online-Chats waren ihm lieber als das persönliche Gespräch. Er hielt sich gerne im Hintergrund, wenn die Gruppe an Projekten arbeitete oder etwas trinken ging. Und obwohl er für den renommierten Blogger-Gründer arbeitete, führte Dorsey sein eigenes Tagebuch auf einer konkurrierenden Blogging-Plattform, LiveJournal.
Für die Anfangszeiten des Social Web war Dorsey ein produktiver Poster. Seine Persönlichkeit kam in seinen LiveJournal-Beiträgen durchaus zum Vorschein, aber er hatte das Gefühl, da würde irgendetwas fehlen. Auf beiden Plattformen brauchte es für den Nutzer ein gewisses Maß an Vorarbeit, um einen Beitrag zu verfassen – Sätze und Absätze eines Blogs zusammenstellen, Bilder von der Digitalkamera hochladen und bearbeiten –, bevor er ihn ins Netz stellen konnte. Es musste etwas Schnelleres, Spontaneres geben, wo man mühelos und ohne groß nachzudenken posten und teilen konnte.
«In Echtzeit, Up-to-date, von unterwegs», meinte Dorsey. Was ihm vorschwebte, war den Status-Updates des Instant-Messaging-Dienstes von AOL nachempfunden, bei denen die Nutzer Nachrichten darüber veröffentlichten, was sie gerade taten, woran sie dachten, oder auch kryptische Liedtexte, die ihre Stimmung ausdrückten.
Im Juli 2000 hatte er seine Idee mit blauem Kugelschreiber in einem Notizbuch skizziert und sie My.Stat.Us getauft, wobei er den Produktnamen mit schnörkeligen Kringeln verzierte.[5] In der Skizze war Dorseys Status «beim Lesen», es gab aber auch Optionen wie «im Bett» und «unterwegs in den Park». Damals ging Dorsey oft in den South Park in San Francisco, eine kleine Grünfläche im Stadtteil South of Market, eingebettet zwischen Bürohäusern der Tech-Firmen und Apartmenthäusern.
Er behielt seine Idee im Hinterkopf, während Odeo mehr schlecht als recht vorankam. Das Start-up hatte Mühe, Nutzer hinzuzugewinnen, und als Apple 2005 Podcasts in iTunes aufnahm, sah Odeo erst recht kein Land mehr. Dorsey erkannte die Chance und begann, Williams und anderen Führungskräften bei Odeo sein Konzept der Statusaktualisierung vorzustellen. Einer von ihnen, Noah Glass, fand, das Pingen einer Statusaktualisierung habe etwas von einem «Zwitschern» («twitch»). Er stöberte im Wörterbuch nach Begriffen, die mit tw- anfingen, und stieß irgendwann auf das Wort «twitter» für aufgeregtes Zschirpen eines Vogels.[6] «Twitter» hatte irgendwie etwas Atemloses, Faszinierendes. Die Odeo-Bosse kürzten es ab zu «Twttr» – das lag im Trend der frühen Nullerjahre, als verstärkt vokallose Start-up-Namen aufkamen, und es passte auch gut zu den in Textnachrichten verwendeten Kurzcodes, sodass die Nutzer Status-Updates mit dem Handy verschicken konnten. (Das dazugehörige englische Verb «to tweet» kam im Jahr 2007 auf – enthusiastische externe Softwareentwickler hatten nach einem Begriff gesucht, der beschreibt, was sie da gerade taten, wenn sie einen Post veröffentlichten.)
Im März 2006 war eine frühe Version des Dienstes startklar. «Richte gerade mein twttr ein», schrieb Dorsey. Es war der weltweit erste offizielle Tweet.
An Zweiflern und Skepsis in der Branche herrschte kein Mangel. Aber Dorsey ging mit gutem Beispiel voran und stellte kurze Mitteilungen über alles Mögliche online – seine Reisen, den Champagner, den er trank, und die Mahlzeiten, die er zu sich nahm. Seine ruhige Art vermittelte ein Gefühl von Loyalität, und er schien seinen Mitarbeitern zuzuhören und ihnen zu vertrauen. Er redete ihnen nicht ständig rein und kommandierte sie auch nicht herum.
«Ich freue mich, dass die Idee Anklang gefunden hat; ich hoffe, es wird ein Erfolg», schrieb Dorsey später beim Gedanken an die Anfangsphase von Twitter in sein Notizbuch. «Manche Dinge sind eben das Warten wert.»
Und Twitter wurde tatsächlich ein Erfolg. Passend zu seiner sparsamen Ausdrucksweise mussten die Twitter-Nutzer mit 140 Zeichen pro Tweet auskommen – ein Format, das es auch ermöglichte, Tweets per SMS zu versenden, was in der Zeit vor dem Smartphone eine schlichte Notwendigkeit war. Dorsey verabschiedete sich vom Nasen-Piercing und wurde zum Vorstandschef des Unternehmens ernannt, während Williams, der als größter Anteilseigner einen Großteil der Startfinanzierung beisteuerte, die Rolle des Chairman übernahm. Williams behielt einen Anteil von 70 Prozent, Dorsey erhielt 20 Prozent des Unternehmens.[7] Schließlich machten sie Odeo dicht und konzentrierten sich voll und ganz auf Twitter, das 2007 auf der South-by-Southwest-Konferenz in Austin, Texas, zum besten Start-up-Unternehmen gekürt wurde und danach regelrecht durch die Decke ging.
Die Plattform wuchs so schnell, dass die Infrastruktur, die Dorsey, Williams und ein kleines Team aus ehemaligen Odeo-Kollegen mit der digitalen Entsprechung von Klebeband und Gebeten auf die Beine gestellt hatten, oft überfordert war. Ausfälle waren an der Tagesordnung, und während der Ausfallzeiten wurden die Twitter-Nutzer mit einer Illustration eines Wals vertröstet, der von einem Vogelschwarm in die Lüfte gehoben wird – der berühmt-berüchtigte «Fail Whale». Die meiste Zeit aber, wenn die Website wie gewünscht funktionierte, gehorchte sie einem ganz schlichten Prinzip: Die Tweets müssen fließen.
Manche davon waren pure Pornografie. Andere waren Drohungen gegen andere Nutzer. Twitter hielt an der Philosophie fest, die schon bei Williams’ Blogger funktioniert hatte – für die Content-Moderation war keine Zeit, und selbst wenn, hatte niemand im Team die Geduld, die Plattform nach fragwürdigen Tweets zu durchforsten.
Dorsey stand hinter dieser Laissez-faire-Strategie, entzog sich aber der Verpflichtung, der Öffentlichkeit die Haltung von Twitter zu vermitteln. Diese Aufgabe überließ er einem seiner Mitgründer, Biz Stone, und anderen frühen Kollegen, die schon bei Blogger dabei gewesen waren und glaubten, den Ansatz von Blogger einfach übernehmen zu können. Außerdem sah sich Dorsey schier erdrückt von der Fülle von Aufgaben, mit denen er, erstmals in der Rolle eines CEO, konfrontiert war. Sich um die Mitarbeiter zu kümmern, die Finanzen im Griff zu behalten und die wacklige Infrastruktur von Twitter am Laufen zu halten, das war für seinen Geschmack ein bisschen viel auf einmal. Nur zu gerne überließ er die heiklen Fragen der Content-Moderation anderen – er wollte sich lieber um die Schnittstellen und die Technologie von Twitter kümmern. Ihm bereitete es Freude, Menschen davon zu überzeugen, dass sein Lieblingsprojekt ihre Kommunikation – und am Ende ihr ganzes Leben – würde verändern können.
2008 waren dann die ständigen Ausfälle und die steigenden Kosten der Website nicht mehr tragbar. Twitter hatte zwar mehr als eine Million Nutzer, brach aber oft zusammen, wenn Leute versuchten, sich zu registrieren oder Tweets zu veröffentlichen. Die Probleme mussten angepackt werden – genau genommen war ihre Behebung längst überfällig –, und Dorsey war eben nicht schnell genug. Im Oktober setzten Williams und das Twitter-Board, bestehend aus zwei Risikokapitalgebern, Dorsey in einer Art Putsch vor die Tür. Als Trostpflaster erhielt er einen Sitz im Board, allerdings ohne das damit normalerweise verbundene Stimmrecht. Williams übernahm den Posten des CEO selbst.
Nachdem Dorsey kaltgestellt war, stieg die Beliebtheit der Website, die er mit aufgebaut hatte, weiter schier explosionsartig an. Im Jahr 2009 nutzten zahllose Iraner Twitter für ihren Protest gegen die Präsidentschaftswahlen in ihrem Land und festigten damit den Ruf des Unternehmens als Hort der freien Meinungsäußerung im Netz. Twitter war in diesem Jahr die am schnellsten wachsende Website und kletterte von 1,2 Millionen Besuchern im Mai 2008 auf 18,2 Millionen im Mai 2009.
Williams, Stone und die anderen Führungskräfte verfolgten einen toleranten Ansatz, und der Web-Service erlangte eine grundlegende Bedeutung für den Arabischen Frühling: Demonstranten im ganzen Nahen Osten nutzten Twitter und Facebook, um gegen ihre Regierungen zu protestieren und sich politisch zu organisieren, was Diktaturen in der gesamten Region zu Fall brachte.
Hier und da entfernte das Unternehmen illegale Inhalte, wie etwa Posts im Bereich sexueller Ausbeutung von Kindern. Zumeist aber hielt Twitter an seiner maximalistischen Politik in Bezug auf Redefreiheit fest. Die Führungsetage titulierte ihr Start-up als den «Redefreiheit-Flügel der Partei der freien Meinungsäußerung» – ein klarer und unmissverständlicher Mittelfinger an alle, die das Unternehmen für dessen Weigerung kritisierten, Tweets zu löschen.
Am Rande des Unternehmens begann Dorsey mit der Planung seines Comebacks. Wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, Williams bei Board-Sitzungen eisig anzustarren, tüftelte er an Lösungen für ein Problem, das Kleinunternehmer bei der Annahme von Kreditkartenzahlungen hatten. Dorsey begann mit der Arbeit an einem digitalen Zahlungsabwickler, wobei er auf einige seiner alten Interessen an der Weiterleitung und dem Versand von Informationen zurückgriff. Er entwickelte ein elegantes Kreditkartenlesegerät, dessen Design an Apple-Produkte erinnerte und das über die Kopfhörerbuchse mit einem iPhone verbunden werden konnte. Dem Projekt verpasste er einen schlichten Namen: «Square».
Nach der Gründung im Jahr 2009 wurde Square schon bald von kleinen und mittelständischen Unternehmen eingesetzt. Aber trotz dieses Erfolgs mit Square behielt Dorsey Twitter stets fest im Blick. Er war immer noch sauer auf Williams und träumte von einer Rückkehr. Zwar konnte er seine kreativen Qualitäten bei Square gut einbringen, aber es hatte eben nicht den kulturellen Stellenwert von Twitter. Das Firmenlogo war nicht ständig in den Bauchbinden der nationalen Nachrichtensender präsent. Präsidentschaftskandidaten, weltberühmte Schauspieler oder Dorseys Lieblingsmusiker setzten einfach nicht auf Square. Und auch wenn die Gründung von Twitter eine Gemeinschaftsproduktion war: Es war seine Idee, seine Skizze im Notizbuch, seine Vision.
Als ersten Schritt auf dem Weg zurück auf den Thron musste Williams weg. Dorsey lancierte per Flüsterpropaganda eine Kampagne und ließ Board-Mitglieder und leitende Twitter-Mitarbeiter wissen, Williams sei der Aufgabe, das Unternehmen zu führen, nicht gewachsen. Und tatsächlich: Williams hatte zu kämpfen. «Wir krallten uns nur mit den Fingernägeln an einer Rakete fest», meinte er später.[8]
Im Jahr 2010 hatte sich dann Dorseys Erzählung herumgesprochen. Das Board setzte Williams als CEO ab und ersetzte ihn durch Costolo. Es war die Retourkutsche von Dorsey, der zwei Jahre zuvor von Williams abgesägt worden war. Dorsey trat schließlich die Nachfolge von Williams als Vorsitzender des Boards an, wodurch er wieder eine gewisse Kontrolle über das Unternehmen erlangte. Derweil wurde Williams in eine neue Rolle als Produktverantwortlicher abgeschoben.
Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Dorsey von der Vorstandsetage wieder ins Chefbüro wechseln würde. 2013 ging das Unternehmen an die Börse, mit einer Bewertung von über 18 Milliarden Dollar. Zu diesem Zeitpunkt war Dorseys Anteil auf weniger als 5 Prozent geschrumpft, da das Unternehmen im Laufe der Jahre weitere Investoren ins Boot geholt hatte. Williams’ Anteile waren auf 12 Prozent zusammengeschmolzen[9].
Twitter hatte freilich immer noch keinen Gewinn erwirtschaftet. Das Unternehmen konnte 218 Millionen aktive Nutzer pro Monat verzeichnen, machte aber in den sechs Monaten vor dem Börsengang 2013 einen Verlust von fast 70 Millionen Dollar.
Costolo hatte jedoch herausgefunden, wie man Werbung in die Timeline einbinden konnte, und die Marktanalysten waren der Meinung, Twitter habe das Potenzial, um es mit Facebook aufzunehmen. Dorsey, glatt rasiert, weißes Hemd, schwarzes Jackett, strahlte übers ganze Gesicht, als Twitter-Promis wie der Schauspieler Sir Patrick Stewart die Glocke der New Yorker Börse läuteten und sein Unternehmen an die Börse brachten.
Am schwülheißen Nachmittag des 9. August 2014 schlenderten zwei Teenager in Ferguson, Missouri, eine gewundene Straße entlang. Sie führte mitten durch eine Flachbausiedlung, zu beiden Seiten lagen Apartmenthäuser mit Holzbalkonen, die wenig Schatten boten. Neben den beiden fuhr ein Streifenwagen heran, und der Polizist forderte die Jungen auf, von der Straße zu gehen und den Bürgersteig zu benutzen.
Wenige Minuten später war einer der Jungen, Michael Brown Jr., tot, erschossen mitten auf der Straße von einem Polizeibeamten. Videos und Fotos des toten Michael Brown begannen auf Twitter die Runde zu machen. Am nächsten Tag strömten Demonstranten auf die Straßen von Ferguson, nur ein paar Kilometer von Dorseys Heimatstadt St. Louis entfernt.
Eine Woche später, am 16. August 2014, postete ein verärgerter Ex-Freund einen langatmigen Online-Sermon über eine Videospielentwicklerin namens Zoë Quinn. Er beschuldigte sie, mit einem Journalisten geschlafen zu haben, damit dieser ein von ihr programmiertes Videospiel positiv bespricht – nichts davon stimmte. Die Anschuldigung verbreitete sich dennoch rasch in Online-Communitys von Gamern, und diese nahmen sie zum Anlass, Quinn mit Vergewaltigungs- und Morddrohungen zu traktieren. Als andere Frauen sich für sie einsetzten, wurden auch sie Opfer ähnlicher Angriffe.
Beide Ereignisse zogen bedeutende Veränderungen nach sich und wurden zum Gegenstand wichtiger politischer Debatten, und jedes hatte seinen eigenen Hashtag: #Ferguson und #Gamergate.
Dorsey verfolgte aufmerksam die Proteste in der Nähe seiner Heimatstadt, die am Tag der Ermordung Browns begannen und in den brütend heißen Tagen des August 2014 weitergingen. Wenige Tage nach Browns Tod war Dorsey wieder in Missouri. Er lud sein Handy auf, schloss sich einer Demonstration an und twitterte live, was er sah. Statt des inzwischen gewohnten Business-Anzugs trug er ein schlichtes weißes T-Shirt und eine Mütze der St. Louis Cardinals und verteilte rote Rosen an die Demonstrierenden, die die Florissant Road entlang marschierten, nur ein paar Gehminuten entfernt von dem Ort, an dem Brown erschossen worden war.[10] Dorsey klagte über das unfaire Verhalten von Polizei und Medien. «Erschütternd: Wurde Zeuge, wie Polizei von St. Louis auf eine Frau zulief, sie zu Boden warf und festnahm. Einfach nur fürs Rumstehen», twitterte Dorsey am Abend des 19. August.
Ferguson wurde zu einer Keimzelle der Black-Lives-Matter-Bewegung, die in den folgenden Jahren immer weiter wachsen sollte. Die Kleinstadt erwies sich aber auch von entscheidender Bedeutung für Twitter und für Dorsey selbst. Seine Live-Tweets von den Protesten machten auf die Demonstranten und die neuerdings aufkommenden Bürgerreporter, die ebenfalls direkt über die Lage vor Ort twitterten, aufmerksam. Die Medien stürzten sich darauf, über den weißen Milliardär und Tech-Firmengründer zu berichten, der in seinen Heimatstaat zurückgekehrt war, sich zu Themen der «Black Racial Justice» äußerte und dem Anliegen so noch mehr Gewicht verlieh.
Zurück in San Francisco, behielt Dorsey seine Demo-Kleidung bei und trug fortan legere T-Shirts, Kapuzenpullis und Jeans. Außerdem ließ er sich einen Bart wachsen. Er hielt Kontakt zu einigen prominenten Twitterern der Proteste und lud sie Ende 2014 zu einem Besuch der Firmenzentrale ein. Auf seinem persönlichen Twitter-Account sprach er sich gegen jede Form rassistischer Diskriminierung aus und ließ Merchandisingmaterial mit dem Hashtag #StayWoke und dem Twitter-Vogel anfertigen.
Nahezu gleichzeitig verbreitete sich die Gamergate-Kampagne wie ein Lauffeuer. Während Ferguson deutlich machte, welche Macht entsteht, wenn man die Kommunikationsmittel direkt in die Hände der Betroffenen legt, zeigte Gamergate, wie diese Macht missbraucht werden kann. Tausende von Twitter-Nutzern führten – nicht selten unter anonymen Accounts – wütende Attacken gegen prominente Frauen und veröffentlichten deren private Daten, was zu weiteren Beschimpfungen und Morddrohungen einlud. Innerhalb eines Monats nach dem Blogbeitrag über Quinn war #Gamergate auf Twitter mehr als eine Million Mal geteilt worden.
Dorsey widmete seine Aufmerksamkeit den Protesten in Ferguson. Die Beschwerden von Männerrechtsaktivisten landeten bei Vijaya Gadde, ihres Zeichens Justiziarin von Twitter und ehemalige Anwältin für Unternehmensrecht.
Gaddes Leben als Wirtschaftsanwältin hatte sie zu einer zähen, behutsam vorgehenden Denkerin mit gedeckter, gerichtstauglicher Garderobe und perfekt gewellter Frisur werden lassen. Sie hob sich von der Masse der Kapuzenpulli-Twitter-Szene ab und hielt die Maxime «Die Tweets müssen fließen» keineswegs für eine sinnvolle Strategie in Sachen Online-Kommunikation. Wenn sich auf der Plattform alle gegenseitig anschrien, würden einige Leute irgendwann nur noch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und ganz aussteigen – und zwar höchstwahrscheinlich ausgerechnet die Schwächsten und Verletzlichsten.
In Del Harvey, einer Expertin für Kinderschutzfragen und die chronologische Nummer 25 auf der Mitarbeiterliste von Twitter, fand Gadde eine Gleichgesinnte. Harvey kannte die Schattenseiten der Plattform aus erster Hand. Die zierlich gebaute Frau hatte eine wandelbare Stimme, die ihr in ihrem Job vor der Anstellung bei Twitter gute Dienste geleistet hatte: Sie hatte sich in Chatrooms als Teenager ausgegeben, um im Auftrag einer Organisation mit Namen Perverted Justice Foundation den Lockvogel für übergriffige Männer zu spielen. Größere Bekanntheit erlangte die Aktion durch eine Zusammenarbeit mit der Serie To Catch a Predator. Bei Twitter war Harvey gewissermaßen zum Müllschlucker mutiert: Sie hatte auf etwaige sexuelle Ausbeutung von Kindern auf der Plattform zu achten und gegen Spammer vorzugehen. Sie untersuchte auch Mobbing und fand heraus, dass bösartige Drohungen von einer Handvoll Accounts schon ausreichten, um Nutzer von der Plattform zu vertreiben, selbst wenn sie insgesamt positive Erfahrungen gemacht hatten – wichtigen Daten, die sie dazu nutzte, die Twitter-Firmenleitung davon zu überzeugen, dass anständige Sprache nicht ohne Weiteres die üblen Auswüchse würde übertönen können.
Harvey konnte ziemlich laut werden, Gadde dagegen war als Juristin die Stimme der Vernunft. Die beiden ergänzten sich und entwickelten gemeinsam einen neuen Ansatz, um dafür zu sorgen, dass die Kommunikation auf Twitter nicht von den lautesten Stimmen dominiert wurde. Sie stellten Dutzende von Content-Moderatoren ein, fügten neue Tools zum Sperren von Nutzern und zum Ausblenden von Unterhaltungen hinzu und begannen mit der Entwicklung von Werkzeugen, die halfen, Missbrauch aufzuspüren, bevor er auf der Plattform zum Trend ausarten konnte.
«Das Recht auf freie Meinungsäußerung bedeutet herzlich wenig, wenn wir weiterhin zulassen, dass Stimmen zum Schweigen gebracht werden, weil sie Angst haben, ihre Meinung zu sagen», schrieb Gadde 2015 in einem Beitrag für die Washington Post.[11] «Wir müssen den Missbrauch wirkungsvoller bekämpfen, ohne die Meinungsfreiheit einzuschränken oder zu unterdrücken.»
Sie, Gadde, werde allerdings darauf achten, dass Twitter seine passive Strategie beibehalte, versicherte sie. «Es ist nicht unsere Aufgabe, den Schiedsrichter auf dem Feld der weltweiten Meinungsäußerung zu spielen. Wir werden aber eine aktivere Rolle übernehmen, um sicherzustellen, dass Meinungsverschiedenheiten nicht die rote Linie zur Belästigung überschreiten.» Auch Costolo räumte ein, dass sich die Haltung des Unternehmens zum Thema Redefreiheit geändert habe. «Wir sind miserabel im Umgang mit Missbrauch und Trollen auf der Plattform, und das schon seit Jahren», schrieb er in einer internen E-Mail an die Twitter-Mitarbeiter in der Folge von Gamergate.[12]
Letztlich wuchs das Dilemma Costolo über den Kopf. Ende 2014 hatte das soziale Netzwerk bei rund 300 Millionen aktiven Nutzern pro Monat stagniert und machte trotz des erstmaligen Überschreitens der Umsatzgrenze von 1 Milliarde US-Dollar rund 578 Millionen Dollar Verlust. (Zum Vergleich: Facebook hatte im gleichen Zeitraum 1,39 Milliarden aktive Nutzer monatlich und erwirtschaftete 12,5 Milliarden Dollar Umsatz bei einem Gewinn von 2,94 Milliarden.) Da Twitter sich mit seinem 140-Zeichen-Limit quasi selbst Fesseln angelegt hatte, gelang es dem Unternehmen auch nicht, attraktive neue Funktionen zu entwickeln. Die frühe Übernahme des Live-Streaming-Start-ups Periscope im Jahr 2015 – also zu einem Zeitpunkt, als die Firma noch nicht einmal gestartet war – riss niemanden von den Sitzen. Noch im gleichen Sommer war er weg vom Fenster, gestresst von dem ganzen Hass und dem koordinierten Mobbing auf Twitter und zermürbt von dessen negative Folgen für das Nutzerwachstum.
Im Juli, als Dorsey offiziell die Nachfolge Costolos antrat, herrschte allenthalben Ungewissheit. Dorsey verabschiedete sich von seinem Bart – vielleicht ja auf Druck seiner Mutter, die einst getwittert hatte: «Bin kein Fan des Bartes. @jack hat so ein schönes Gesicht. Ich will es auch sehen.» – und wechselte zu einer Uniform, zu der auch ein graues #StayWoke-T-Shirt zählte. Er war ein stabilisierender Faktor. Nachdem Dorsey im Oktober eine kleine Runde von Entlassungen durchgesetzt hatte, begann Twitter, sich langsam auf sein erstes volles Jahr mit Gewinn zuzubewegen. Dennoch schloss man das Jahr 2015 mit einem Verlust von 521 Millionen US-Dollar ab, der Börsenwert bewegte sich um die 15-Milliarden-Dollar-Marke. Dorsey hatte davon gesprochen, Twitter universell und so einfach wie «den Blick aus dem Fenster» zu machen, aber in Wirklichkeit war es eine süchtig machende App, die vor allem auf eine bestimmte Gruppe einflussreicher Personen und Organisationen zugeschnitten, für den Durchschnittsbürger dagegen umständlich zu handhaben und einschüchternd war.[13]
Die Probleme mit toxischen Inhalten und Falschinformationen hielten an. Das Unternehmen hatte nie wirklich gewusst, wie es mit seinem Einfluss auf die Politik umgehen sollte oder in welcher Weise seine Plattform manipuliert werden konnte. Agenten der russischen Geheimdienste richteten sogenannte Sockenpuppen ein, Fake-Accounts, die während der US-Präsidentschaftswahlen 2016 spalterische Tweets über brisante politische Themen wie Black Lives Matter absetzten. Die Plattform war auch für Donald Trumps politische Karriere von entscheidender Bedeutung – er nutzte seine bombastische Twitter-Präsenz, um sich ständige Medienaufmerksamkeit und Empörung zu sichern, und stieg so vom Reality-TV-Star zum Kandidaten der Republikaner und schließlich zum Präsidenten auf.
«Welch schöner und bedeutender Abend!», twitterte Trump triumphierend am 9. November 2016, nachdem er die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte. «All die vergessenen Männer und Frauen werden nie wieder vergessen werden. Wir werden alle zusammenkommen wie niemals zuvor.»
Die Kritik an Twitter ließ nicht lange auf sich warten. Die Demokraten warfen dem Unternehmen vor, Trump zu unterstützen und von seinen hetzerischen Äußerungen zu profitieren, während Trump Twitter zugutehielt, ihm den Weg ins Weiße Haus geebnet zu haben.[14] Während sich das Unternehmen mit ständigen Kontroversen herumschlagen musste, war Dorsey zunehmend mit seiner Gesundheit beschäftigt, machte allerlei Diäten, Yoga und Meditation und mühte sich, die Anforderungen der Leitung von Twitter und Square unter einen Hut zu bringen. Er begann jeden Tag mit einem «Salzsaft», wie Twitter-Mitarbeiter die Mixtur aus Wasser, Zitrone und rosa Himalaya-Salz ironisch nannten. In Anspielung auf seinen abgedrehten Gründer begann das Unternehmen, in einigen seiner Kantinen weltweit Salzsaft zu servieren, und Dorseys Besessenheit vom Thema Wohlbefinden begann, sich auf seine Arbeit bei Twitter auszuwirken. Im Zuge von Gamergate und der ausländischen Einmischung in die Wahlen 2016 machte er es sich zur Aufgabe, die Nutzer zu «gesunder Konversation» anzuleiten.
«Wir verpflichten uns, mithilfe von Twitter die kollektive Gesundheit, Offenheit und Höflichkeit der öffentlichen Kommunikation zu verbessern und uns öffentlich für den Fortschritt stark zu machen», schrieb er im März 2018. «Wir sind nicht stolz darauf, wie Leute unsere Plattform ausgenutzt haben, oder auf unsere mangelnde Fähigkeit, angemessen schnell darauf zu reagieren.»
Dorseys persönliche Gefühle waren ein Mysterium. Manchmal konnte er sich mühelos in die Probleme des Unternehmens und seiner Mitarbeiter hineinversetzen. Zu anderen Zeiten wirkte er wie schwerhörig, etwa während einer zehntägigen Meditationsreise in Myanmar, dem Schauplatz eines durch die sozialen Medien angeheizten Völkermordes im November 2018.
Als er im Dezember wieder nach San Francisco zurückkam, bereitete seine Assistentin eine Geburtstagsüberraschung vor. Auf der Reise durch Indien einige Monate zuvor hatte sich Dorsey geradezu in die Affen des Landes verliebt, etwa in die Rhesusmakaken mit ihren rosafarbenen Gesichtern, die auf dem Gelände der örtlichen Twitter-Zentrale in Delhi häufig anzutreffen waren. Um diese Erinnerung wieder aufleben zu lassen, ließ Dorseys Assistentin einen Tiertrainer ein paar Affen ins Büro bringen.
Das sorgte für einen kurzen Lacher, dann zog der Twitter-Chef zu Besprechungsterminen weiter und ließ die Primaten im Konferenzsaal zurück, damit alle, die dort vorbeikämen, sie bestaunen konnten. Später reichte jemand eine Beschwerde bei der Personalabteilung ein.
Dorsey hatte die Kontrolle über Twitter übernommen, aber es war ein Zoo, und er war nun einmal kein Zoodirektor.
Am 15. Juli 2018 erwachte Elon Reeve Musk, 47 Jahre alt, zu Hause in Los Angeles und mit einem Jetlag von einer Reise nach Thailand und Shanghai. Seine 30-jährige Freundin Claire Elise Boucher, eine Popsängerin mit ätherischer Stimme, die unter dem Künstlernamen Grimes auftrat, schlief noch neben ihm.
Es war noch früh am Sonntagmorgen, und Musk tat instinktiv das, was er in ruhigen Momenten immer tat: Er holte sein Handy heraus. Manchmal spielte er Strategiespiele auf dem Smartphone oder checkte seine E-Mails, die von Updates seiner Mitarbeiter und Google Alerts für seinen eigenen Namen überquollen. Letztere hatte er eingerichtet, um Nachrichten über sich selbst verfolgen zu können. Obwohl er die Berichterstattung über seine eigenen Eskapaden als Unternehmer und Wirtschaftsführer nach Kräften gefördert hatte, war Musk dünnhäutig und wollte genau wissen, wie die Öffentlichkeit ihn und seine Unternehmen – Tesla Motors, SpaceX, Neuralink und The Boring Company – wahrnahm. An diesem Morgen ging es jedoch um seine hauptsächliche Sucht: Twitter.
Musk hatte auf der Social-Media-Plattform mehr als 22 Millionen Follower, und er hatte über 5000 Tweets gepostet, in denen er sich zu den Meilensteinen seiner Unternehmen äußerte, Witze riss und gegen seine Kritiker austeilte.
Musk scrollte eine Weile herum, dann stieß er auf einen Link zu einem CNN-Video. Er klickte darauf und sah ein unbekanntes Gesicht vor sich. In einem grünen thailändischen Dschungel saß dort Vernon Unsworth, ein ernst dreinblickender Brite in einem weißen T-Shirt, und legte auf die Fragen des Interviewers die Stirn in Falten. Der Mann redet über mich, erkannte Musk.
«Was, denken Sie, könnte Elon Musks Idee gewesen sein?», fragte eine leise Stimme aus dem Off.
Unsworth lächelte dünn, als wisse er nicht recht, ob er seine Gedanken mitteilen sollte oder nicht. «Er kann sich sein U-Boot sonst wohin stecken. Das konnte nie und nimmer funktionieren», antwortete er.
«Nichts als ein PR-Gag.»
Musk wurde wütend. Er sah sich das Interview abermals an. Und dann noch einmal. Seine Blitzreise nach Thailand hatte sich um genau das gedreht, was Unsworth nun kritisierte. Nachdem eine speziell auf Retweets angelegte Story über eine in einer Höhle eingeschlossene Jugendfußballmannschaft viral gegangen war, hatte er eine Gruppe von SpaceX-Technikern und ein speziell angefertigtes Mini-U-Boot in das südostasiatische Land gebracht, um einen Rettungsversuch zu unternehmen. Die zwölf Jungen und ihr erwachsener Betreuer hatten achtzehn Tage lang in einer teilweise unter Wasser liegenden Höhle im Norden des Landes festgesessen. Aber wie Unsworth in seinem Interview erklärt hatte, gab es in der Höhle so viele Engstellen und Windungen, dass das Metallgehäuse des U-Boots kaum die ersten fünfzig Meter des Tauchgangs geschafft hätte.
Musk wollte diese Beleidigung nicht auf sich sitzen lassen. Er googelte nach Vernon Unsworth und fand Nachrichtenartikel über den britischen Auswanderer, der offenbar in der Gegend von Chiang Rai in Thailand lebte. Unsworth, der als Teenager mit dem Höhlenwandern begonnen und bei mehreren Höhlenrettungen im Vereinigten Königreich mitgeholfen hatte, war nach Thailand gezogen, um das dortige Höhlennetz zu erforschen. Aufgrund seiner Kenntnisse über die Höhlen, in denen die Jungen festsaßen, wurde er in die Rettungsaktion eingeschaltet. Er lebte dort mit seiner Partnerin, einer 40-jährigen Besitzerin eines Nagelstudios.
«Der Typ ist gruselig», dachte Musk bei sich und tauchte mit seinem Tunnelblick immer tiefer in die eigenen Recherchen ein. Er googelte «Chiang Rai» und fand einen Artikel, in dem es hieß, die nördlichste Großstadt Thailands sei die Welthauptstadt des Kindersexhandels.
Nach nicht einmal einer Stunde des Googelns ging Musk wieder auf Twitter. Erst zwei Tage zuvor hatte die Bloomberg Businessweek ein Interview mit dem Milliardär gebracht, in dem er seine mangelnde Impulskontrolle auf der Plattform einräumte. «Ich habe den Fehler gemacht – und ich werde versuchen, mich zu bessern – zu glauben, nur weil jemand auf Twitter ist und mich angreift, ist die Jagdsaison eröffnet», erzählte er dem Magazin. «Mein Fehler. Ich werde das korrigieren.» Aber das musste warten – erst einmal musste er eine passende Antwort auf Unsworth loswerden.
Um 6:56 Uhr morgens begann er in Los Angeles mit einem regelrechten Online-Trommelfeuer aus falschen Anschuldigungen. «Ich habe diesen britischen Auswanderer, der in Thailand lebt (sus), zu keinem Zeitpunkt irgendwo gesehen, als wir in den Höhlen waren», twitterte er. Er ließ einen zweiten Tweet mit der Behauptung folgen, sein Team werde ein Video drehen, das zeigt, wie das U-Boot den ganzen Weg bis zu dem Höhlensystem zurücklegt, in dem die Jungen gefangen waren. Was machte es da schon, dass Musks U-Boot erst in Thailand eintraf, als die Rettung schon in vollem Gange war und acht der zwölf Jungen bereits befreit worden waren.
«Sorry, pedo guy, aber du wolltest es nicht anders», twitterte er.
Die Beleidigung ging sofort im Internet um. Allein der Gedanke an Pädophilie befeuerte bizarre Online-Verschwörungstheorien. 2016 führten Internetgerüchte über einen angeblich in einer Pizzeria in Washington, D.C., ansässigen Kinderpornoring, die später als «Pizzagate» bekannt wurden, am Ende dazu, dass jemand Schüsse auf das Restaurant abfeuerte. Im darauffolgenden Jahr begann eine verrückte politische Bewegung namens QAnon, die Idee zu verbreiten, eine Kabale von kinderschändenden Regierungsbeamten habe sich gegen Präsident Donald Trump verschworen.
Musk rief eine ganze Flut von Online-Verschwörungstheoretikern auf den Plan, um einen ansonsten unbekannten Zivilisten zu schikanieren, dessen Fachwissen gerade zur erfolgreichen Rettung von Kindern beigetragen hatte. Doch Musks Unterstützer vertrauten ihm blind – immerhin hatte er einen blendenden Ruf als Geschäftsmann, der die Menschheit in eine Zukunft mit einer saubereren Erde und Raumfahrt führte. Musks Renommee wies ihn als einen der klügsten Menschen auf dem Planeten aus. Sicherlich wusste er etwas über Unsworth, was der Durchschnittsbürger gar nicht wissen konnte.
«Ich wette um einen handsignierten Dollar, dass es wahr ist», twitterte er später am gleichen Tag und setzte seine Tirade gegen Unsworth fort.
Drei Tage später twitterte Musk eine Entschuldigung: «Meine Worte waren im Zorn gesprochen.» Aber er konnte es nicht lassen und streute noch Monate nach seinen ersten Tweets Gerüchte über Unsworth. Im September 2018 legte Musk noch einen drauf und bekräftigte seine Anschuldigung, Unsworth sei ein Pädophiler, in weiteren Tweets und E-Mails an einen Reporter von BuzzFeed News,[a] in denen er behauptete, der Brite sei ein «Kinderschänder», der sich eine «Kinderbraut, die etwa 12 Jahre alt war», genommen habe.
Einige Wochen später verklagte Unsworth Musk wegen Verleumdung.
Am 3. Dezember 2019 warf Musk ein weiteres Mal einen Blick auf seine Tweets über Unsworth. Diesmal aber saß er auf einem erhöhten Podium des Bundesgerichtssaals von Los Angeles. Musk starrte ausdruckslos vor sich hin und schürzte die Lippen. Er hörte sich die Fragen von Unsworths Anwalt an, bewegte die Augen, sammelte seine Gedanken und gab dann lakonische Antworten, die über seine prahlerische Online-Persönlichkeit hinwegtäuschten.
Die Reporter, Fans und Kritiker, die sich im Gerichtssaal eingefunden hatten, um einen Blick auf den weltberühmten Milliardär zu erhaschen, wussten nicht, was sie davon halten sollten. Da saß er nun, in gebeugter Haltung, schwarzer Anzug, weißes Hemd, blaugraue Krawatte. Konnte das wirklich derselbe Mensch sein, der den wichtigsten Elektroautohersteller der Welt aufgebaut hatte oder der verkündet hatte, er werde auf dem Mars sterben? Musk war alles andere als souverän.
Verleumdungsprozesse sind in den USA traditionell schwer zu gewinnen, aber Unsworths Argumente gegen Musk schienen überzeugend. Musk bestritt nicht, die Behauptungen über Unsworth getwittert zu haben, und obwohl er sich zunächst für seine Äußerungen entschuldigt hatte, hatte er diesem doch weiter Pädophilie vorgeworfen.
Angesichts einer solch klaren Sachlage hätten die meisten Vertreter der Elite einen Vergleich geschlossen und eine sechs- oder niedrige siebenstellige Summe angeboten, um das Verfahren vom Hals zu haben. Was waren schon ein paar Millionen Dollar für einen Mann, der rund 20 Milliarden schwer ist? Warum sollte sich Musk mit der lästigen Bürde von gerichtlichen Ermittlungen, Zeugenaussagen und einem Prozess herumschlagen, wenn er doch bedeutende Unternehmen zu führen hatte?
Unsworths Anwalt, L. Lin Wood, ein angesehener Jurist aus Georgia, spezialisiert auf Verleumdungsklagen, löcherte Musk mit Fragen zu seinen Online-Gewohnheiten. Er fragte ihn, was die Leute auf Twitter posteten.
«Sie können Fakten und Fiktion behaupten, sie können alles posten, was ihnen in den Sinn kommt», antwortete Musk.
«Sie haben mir, glaube ich, gesagt, dass es sich um einen Ort handelt, an dem man in Konversationen Fakten mitteilen, Meinungen äußern oder sogar Leute beleidigen kann. Richtig?», fragte Wood.
«Nun ja, Twitter ist ein Tummelplatz, auf dem es alles Mögliche gibt, Wahres, Unwahres, Halbwahrheiten, und auf dem die Leute verbal die Fäuste fliegen lassen können», sagte Musk.
«Also, es gibt eigentlich alles auf Twitter.»
Das war Musks Verteidigungsstrategie. Der Kläger sei einfach ein «gruseliger, alter weißer Mann, der in Thailand lebt», erklärte Musk, und er habe nicht sagen wollen, dass Unsworth wortwörtlich ein Pädophiler sei. Sein Anwalt Alex Spiro, ein wortgewandter Jurist, der ein Stipendienprogramm bei der CIA durchlaufen hatte, bevor er die Seiten wechselte und zum gefragten Staranwalt wurde, baute auf genau dieser Strategie auf. Sein Mandant habe bloß einen Scherz gemacht, sagte er. Was tat es da schon zur Sache, dass Musk einen seiner verlässlichsten Mitarbeiter, Jared Birchall, damit beauftragt hatte, einen Privatdetektiv anzuheuern, um Schmutz über Unsworth auszugraben und daraus eine Geschichte zu konstruieren, die den Wahrheitsgehalt seiner Behauptungen belegen sollte?
Wenn man versuchen wollte, sich das exakte Gegenteil von Musk auszumalen, könnte man auf Birchall verfallen. Der ehemalige Vermögensverwalter war ein Mann, der im Verborgenen agierte und hinter den mächtigen Menschen stand, für die er arbeitete, um deren Geld und Interessen zu schützen. Er twitterte nicht, und die alten Beiträge auf seinem kaum noch genutzten Facebook-Account waren hauptsächlich Dankeschöns an Leute, die ihm zum Geburtstag gratulierten, Videos über seine Liebe zu Gott und Fotos von seiner Frau und seinen fünf Kindern.
Birchall, ein großer, breitschultriger Mann mit schmaler Nase und Spaltkinn, ließ sich von seinem Glauben leiten. Er war ein gläubiges Mitglied der Kirche der Heiligen der Letzten Tage, konsumierte weder Alkohol noch Koffein und wuchs in einer tourenden Familienband namens Birchall Family Singers auf.[15] Birchall schloss 1999 sein Studium an der Brigham Young University ab und spendete ein Jahrzehnt später für eine konservative Initiative in Kalifornien, die Widerstand gegen die Volksabstimmung von 2008 zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe leistete.
2010 wechselte er zu Morgan Stanley, nachdem er nach zehnjähriger Tätigkeit als privater Vermögensverwalter bei Merrill Lynch entlassen worden war. Dort begegnete er Musk zum ersten Mal. Der Milliardär stellte ihn 2016 ein und ernannte ihn zum Leiter von Excession LLC, seinem Family Office. Der Name geht auf einen Science-Fiction-Roman von Iain M. Banks zurück. Birchall kümmerte sich für Musk um alles, was mit Finanzen zu tun hat, und setzte sich für sämtliche Belange seines Chefs ein, was ihm seitens Musk ein beispielloses Maß an Vertrauen eintrug.