Elsas Töchter - Michaela Meyer - E-Book

Elsas Töchter E-Book

Michaela Meyer

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Beschreibung

Elsas 4 Töchter haben, seit sie erwachsen sind, kaum noch Kontakt zueinander. Christine bewirtschaftet mit ihrem Mann den Bauernhof, auf dem sie aufgewachsen sind. Astrid ist eine taffe Geschäftsfrau. Carola lebt am Meer und Jule hat nach turbulenten Jahren endlich ihr Glück gefunden. Als Christines Mann sich seinen Lebenstraum erfüllt und eine Motorradtour auf der legendären Route 66 unternimmt, beschließen sie, dass während dieser Zeit immer eine von ihnen Christine bei der Arbeit auf dem Hof unterstützt. Obwohl sie diesen verrückten Plan am liebsten alle sofort wieder rückgängig machen würden, setzen sie ihn doch in die Tat um. Während die Schwestern sich einander langsam wieder annähern und neu kennenlernen, kommt ihnen die Idee für ein ganz besonderes Geschenk zum 80. Geburtstag ihrer Mutter. Sie ahnen jedoch nicht, dass sie damit ein altes Geheimnis ans Licht bringen.

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Frühling, Herbst

Wind und Regen

Berg und Tal

Sonne, Mond

Land und Stadt

Dunkel, Licht

Morgen und Abend

Suche, finde

Küss und sing

Rieche, spüre

Schlaf und träume

Höre, sehe

Gebe, danke

Entdecke das Leben

Inhaltsverzeichnis

Elsa

Christine

Jule

Christine

Astrid

Christine

Christine

Astrid

Jule

Christine

Christine

Jule

Carola

Christine

Astrid

Carola

Christine

Astrid

Christine

Carola

Jule

Astrid

Christine

Carola

Christine

Carola

Astrid

Christine

Astrid

Jule

Astrid

Christine

Carola

Christine

Astrid

Christine

Christine

Jule

Elsa

Elsa

Jemand kam den Hügel herauf. Noch zu weit entfernt, um erkennen zu können, wer das war, aber so viele Möglichkeiten boten sich nicht an und dem federnden Gang nach zu urteilen, musste das Holger sein. Er trug etwas, das er sich lässig über die Schulter gelegt hatte. Elsa vermutete, dass es der schwere Vorschlaghammer war, mit dem er Zaunpfähle in den Boden geschlagen hatte.

Er schaute sich um, vielleicht hatte er gepfiffen, denn plötzlich tauchte der Hund von irgendwo auf und vereint kamen sie den Weg von den Wiesen zum Hof herauf. Beide mit leichtem Schritt, so als hätten sie Freude an dem, was sie taten oder einfach an ihrem Dasein.

Elsa saß am Fenster ihres Wohnzimmers und konnte von hier aus über den Garten und die Wiesen hinter dem Hof bis zur Wiehe hinunterblicken, einem kleinen Bach, der sich unterhalb des Dorfes durch die Landschaft schlängelte. Auf den Wiesen liefen den Sommer über die jungen Rinder und der Weideaustrieb stand unmittelbar bevor. Sie nahm an, dass ihr Schwiegersohn den Zaun kontrolliert hatte.

Ihr selbst war es nie gelungen, so leichtfüßig und unbeschwert durch ihre Tage zu gehen, aber trotz mancher Schwierigkeiten, die der Beruf mit sich brachte, hatte Elsa es geliebt in der Landwirtschaft zu arbeiten. Ein Leben mit dem Auf und Ab der Jahreszeiten zu führen, das war ihr immer als sinnvoll erschienen und in dem Rhythmus der Natur hatte sie sich Gott immer am stärksten verbunden gefühlt.

Über die Jahre war es allerdings immer weniger geworden mit ihren täglichen Pflichten. Immerhin war sie inzwischen fast achtzig Jahre alt.

Elsa konnte es nicht fassen, dass sie tatsächlich schon so alt war. Ihr innerer Mensch war hier längst noch nicht angelangt. Sie war ja zum Glück noch nicht gebrechlich. Sie fuhr noch selbst mit dem Auto und sie kam ganz gut allein zurecht, aber sie brauchte inzwischen eine Menge Pausen. Die Kräfte gingen ihr verloren. Körperlich, aber emotional auch.

Sie hatte nicht gedacht, dass sie im Alter so empfindlich werden würde. Früher hatte sie es nicht zugelassen, dass die Dinge sie so stark berührten, aber jetzt hatte sie kaum noch die Kraft, sich dagegen abzugrenzen.

Ihr Mann Hans war vor fünf Jahren gestorben, seitdem war sie allein.

Wenn es auch nicht die ganz große Liebe zwischen ihnen gewesen war, hatten sie sich in der Beziehung doch beide wohl gefühlt. Sie hatten vier wunderbare Töchter bekommen, sie konnte sich glücklich schätzen. Dennoch konnte sie das nicht richtig genießen, hatte sie doch immer das Gefühl, dass sie so ein gutes Leben gar nicht verdient hatte.

Sie dachte an das Mädchen zurück, dass sie in ihrer Jugend gewesen war, unbeschwert, fröhlich. Und an den einen Tag, der alles verändert hatte. An ihre unglaubliche Dummheit.

Sie brauchte nicht zu überlegen, wie lange das jetzt her war, das war ihr immer im Bewusstsein. Mehr als sechzig Jahre. Was für eine lange Zeit und immer noch lag es ihr so schwer auf der Seele. Die meiste Zeit über hatte sie die Ereignisse von damals mit viel Arbeit ganz gut verdrängen können. Doch sie wusste, sie hatte immer nur versucht, vor der Erinnerung daran und vor ihrer Schuld davonzulaufen. Jetzt im Alter holte sie das alles wieder ein.

Gerne hätte sie diese Dinge noch in Ordnung gebracht, ihre Seele, ihr Herz von dieser Last befreit doch sie wusste nicht, ob das überhaupt möglich war. Die Schuld blieb ja eine Schuld, sie konnte nichts ungeschehen machen. Aber wenn es sie nicht mehr so niederdrücken würde.

Manchmal zerrieb es sie regelrecht. Doch was konnte sie schon tun? Ihr fehlte auch der Mut das alles nach so langer Zeit wieder anzurühren. Die Zeit war darüber hinweggegangen und der passende Augenblick war lange schon verstrichen.

Dennoch hatte sie angefangen, es in ihr tägliches Gebet mit einzubeziehen. Vielleicht würde Gott sie ja noch einmal stärken und ihr einen Weg ermöglichen. Sie wusste ja nicht, wie viel Zeit ihr noch blieb.

In der letzten Woche hatte sie zwei Todesnachrichten aus ihrem Bekanntenkreis bekommen, das machte ihre Seele noch durchlässiger.

Wieder ließ sie den Blick über die Wiesen bis hinunter zum Bach gleiten. Holger war jetzt am Hof angekommen und verschwand aus ihrem Blickfeld. Wie oft war sie selbst da hinunter und wieder herauf gegangen, ob zur Arbeit oder einfach nur so. Sie hatte es jedes Mal genossen, aber jetzt im Alter ging sie das Stück nur noch selten.

Jetzt machten Christine und Holger all diese Wege. Die zweitjüngste ihrer vier Töchter hatte den Hof übernommen und bewirtschaftete ihn zusammen mit ihrem Mann und inzwischen auch schon mit ihrem Sohn Matti. Es sah so aus, als würde der Betrieb auch noch in der nächsten Generation durch ihren Enkel weitergeführt werden.

Das Ereignis, das vor sechzig Jahren geschehen war, ging ihr, wie so oft, nicht mehr aus dem Kopf und sie dachte, wie sehr es ihr Leben verändert hatte.

Sie hatte danach den Kontakt zu ihren Eltern, ihrer Schwester und ihren alten Freunden aus dem Dorf aus dem sie kam, fast völlig eingestellt. Alles was sie mit ihrer Jugend verband, sollte in ihrem Leben einfach nicht mehr vorkommen. Es war auch eine Art Selbstbestrafung gewesen und sie hatte gedacht, so könne sie die Erinnerungen und die Schuld aus ihrem Leben fernhalten. Das schlimme Ereignis ganz und gar hinter sich lassen und völlig neu anfangen. Doch wusste sie heute, dass das ein Trugschluss gewesen war.

Am schlimmsten empfand sie, dass sich das anscheinend auch auf ihre vier Töchter ausgewirkt hatte. Früher, als sie hier noch auf dem Hof lebten, hatten sie sich immer gut verstanden. Seit sie jedoch erwachsen waren, war der Kontakt zwischen ihnen nicht mehr besonders eng. Teilweise sprachen sie nur miteinander, wenn sie sich hier bei ihrer Mutter zu Familienfeiern trafen und Elsa wusste nicht, ob sie das Verhalten ihrer Mutter zu deren Familie unbewusst kopierten oder ob sie tatsächlich kein Interesse aneinander hatten. Das Letztere jedoch konnte sie sich nicht vorstellen.

Es war ihre feste Überzeugung, dass ihre Töchter ein engeres emotionales Verhältnis zueinander verdient hatten und dass es ihre Leben bereichern würde. Sie selbst hatte das ja aus ihrem Leben verbannt und ihren Töchtern ein sehr schlechtes Beispiel vorgelebt.

Sie hatte ihre Gründe gehabt, aber sie wollte einfach nicht, dass auch die nächste Generation diese Bürde noch tragen sollte. Ihre Töchter sollten frei sein.

Die Beziehung zwischen Geschwistern war etwas Besonderes, davon war sie überzeugt und sie war es in jedem Fall wert, gelebt zu werden. Wenn sie ihren Töchtern das noch ermöglichen konnte, dann wollte sie alles Menschenmögliche dafür tun.

Überraschenderweise hatte das Leben ihr eine Gelegenheit dafür zugespielt und sie hatte sofort zugegriffen und einen Plan entwickelt. Das sollte ihre Wiedergutmachung sein und ihre Töchter, die nichts von ihrem Plan ahnten, waren erstaunlicherweise alle darauf eingegangen.

Ihr Schwiegersohn Hoger wollte für vier Wochen nach Amerika fahren und eine Motorradtour machen. Während dieser Zeit würde Christine immer von einer ihrer drei Schwestern unterstützt werden. Ihre Schwestern würden nacheinander, jeweils für ungefähr zehn Tage, auf dem Hof wohnen und bei der Arbeit helfen.

Elsa war entzückt gewesen, als sie alle zugesagt hatten. Sie hatte es nicht direkt vorgeschlagen, darauf wären sie nie und nimmer eingegangen. Nein, sie hatte einer nach der anderen einen Floh ins Ohr gesetzt, so dass sie am Ende glaubten, sie wären selbst darauf gekommen. Elsa lachte in sich hinein. Sie würde ihre Mädchen noch einmal hier haben. Wie sie sich darauf freute.

»Meine Mädchen«, dachte sie amüsiert, sie waren alle längst erwachsen und selbst Mütter, trotzdem würden sie doch immer ihre vier Mädchen bleiben.

Sie hatte ihr Möglichstes getan, um sie gut gewappnet ins Leben zu schicken. Sie war alt und ihre Meinung war inzwischen kaum noch gefragt. Doch jetzt hatte sie noch einmal etwas anstoßen können und ihre Töchter ahnten nicht einmal, dass es ihre Idee gewesen war.

Elsa lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schaute aus dem Fenster, ein amüsiertes Lächeln spielte um ihren Mund. Sie waren ihr auf den Leim gegangen, alle vier. Sie würden eine schöne Zeit haben, ihre Mädchen und wenn sie sich nicht allzu dumm anstellten, und dumm waren sie schließlich nicht, dann würden sie etwas ganz Wunderbares für ihr Leben gewinnen. Elsa würde sich da völlig raushalten, sie würde sich jetzt einfach zurücklehnen und zuschauen was passierte.

Christine

So schnell ihre Beine es hergaben, jagte sie den Abhang hinunter. Sie wusste nur eines, sie musste unter allen Umständen als erste unten am Bach ankommen. Kurz geriet sie in Panik, als sie über einen Maulwurfshügel stolperte und ins Trudeln geriet, um ein Haar wäre sie gestürzt. »Aufpassen!«, rief sie sich innerlich zu. Sie konnte es sich nicht leisten, sich zu verletzen. Nicht jetzt, wo alles geplant war und alles an ihr hing.

Plötzlich sprintete Kessi an ihr vorbei. Verdammt! Klaus-Peter sollte sie doch festhalten! Die Hündin sprang übermütig den Hügel hinab, sie hielt das Ganze für ein tolles Spiel. Hauptsache sie hielt sich von dem verschreckten Tier fern.

War denn Klaus-Peter zu gar nichts zu gebrauchen? Das kam davon, wenn man einen Schweinebauern zum Rindertreiben engagierte. Christine fragte sich, wie sie nur auf diese blöde Idee verfallen waren.

Holger und sie waren sich darüber einig gewesen, dass sie die Rinder unbedingt noch vor seiner Abreise in die USA auf die Weide bringen wollten, wo sie den Sommer lang bleiben sollten. Das war eine anstrengende Arbeit. Sie und Holger waren dabei seit Jahren ein eingespieltes Team, sie brauchten dabei einfach keine Experimente mehr. Allerdings brauchten sie Unterstützung und da Matti dieses Jahr die Fachschule besuchte, war er für die Arbeit auf dem Hof nicht eingeplant, also hatte Holger seinen Nachbarn Klaus-Peter gefragt, was sich jetzt als ziemlicher Reinfall entpuppte.

Christine war tatsächlich als erste am Bach angekommen und bewegte sich jetzt etwas langsamer, nach links am Bach entlang, um vor das ausgebüxte Tier zu kommen und es davon abzuhalten, in den Bach zu springen.

Der Hund war schuld, dass das Rind durchgegangen war. Der Hund und Klaus-Peter, der das bellende Tier vom Trecker gelassen hatte, wo Holger es eingesperrt hatte.

»Mensch ihr könnt doch den Hund nicht einsperren, der will doch auch etwas von dem schönen Tag haben und außerdem kennt er das doch mit den Rindern.« Und noch bevor Holger oder Christine einen Einwand erheben konnten, hatte er die Hündin heruntergelassen, die vor Freude ganz außer sich war und übermütig von einem zum anderen lief, laut bellte und schließlich die Rinder zum Spielen aufgefordert hatte. Sie war aufgeregt mitten in die Herde gesprungen, die gerade das erste Mal außerhalb der begrenzenden Stallmauern, mitten auf der grünen Wiese gestanden hatte.

Ein Rind hatte sich so erschrocken, dass es wild losgeprescht war. Auch der Zaun hatte es nicht aufhalten können, das Tier rannte nur noch in Panik, wie blind, immer geradeaus.

Nun versuchte Holger in der Weide den Rest der Herde ruhig zu halten und Christine ging, nachdem sie am Bach angekommen war, beruhigende Laute von sich gebend, dem Rind langsam entgegen.

Tatsächlich schien es sie wahrzunehmen. Es wurde langsamer, drehte ab und wechselte die Richtung. Es schlug einen Haken und keilte mit den Hinterbeinen aus, dann blieb es stehen, schaute kurz zu ihr herüber und begann dann zu grasen. Dabei ließ es Christine nicht aus den Augen. Die war stehengeblieben und gab Klaus-Peter, der jetzt von der anderen Seite den Hügel herabkam, halblaut Anweisungen, wie er sich verhalten sollte. Doch der hatte seine eigene Vorstellung davon, wie er das Rind zurücktreiben wollte.

Er gestikulierte wild mit den Armen, als wollte er dem Tier Frischluft zufächeln und stampfte mit dem Fuß auf, um es voranzutreiben. Das erschreckte das aufgeregte Jungtier so, dass es tatsächlich Reißaus nahm, nur in die falsche Richtung.

Christine fluchte laut. Inzwischen ärgerte sie sich sehr darüber, dass sie heute Morgen völlig übereilt einfach mit Klaus-Peter angefangen hatten, anstatt zu warten, bis Matti aus der Schule kam. Mit ihm wäre das nicht passiert. Er war mit den Rindern aufgewachsen und hatte einfach ein Gespür dafür.

Dabei hatte Matti noch angeboten, heute früher nach Hause zu kommen und die Rinder mit auf die Weide zu bringen. Sie hätten ihn hier wirklich gut gebrauchen können, doch er sollte sich dieses Jahr ganz auf die Schule konzentrierte. Außerdem begannen bald die Abschlussprüfungen.

Christine legte noch einmal aus dem Stand einen Sprint auf dem unebenen Gelände hin. Glücklicherweise war das Rind durch den Anblick des fließenden Wassers im Bach so verblüfft, dass es eine Vollbremsung machte. Klaus-Peter stand jetzt tatsächlich einmal an der richtigen Stelle und Christine begann sich vorsichtig dem Rind zu nähern, was es dazu brachte, sich von Christine und Klaus-Peter fort, in Richtung der Weide von der es getürmt war, zu bewegen. So trieben sie das Tier endlich Stück für Stück zur Herde zurück.

Kessi war zum Glück damit beschäftigt eine Maus zu suchen und grub weiter unten ein Loch in den weichen Moorboden. Das hätte noch gefehlt, dass sie noch einmal dazwischen gesprungen wäre. Schließlich konnten sie das verschreckte Tier durch das Loch im Zaun wieder zu den anderen zurücktreiben. Erleichtert atmeten sie alle auf. Holger holte die Werkzeugkiste vom Trecker, der vor dem Zaun stand und machte sich mit Klaus-Peter daran, die abgerissenen Drahtenden zu suchen, zusammenzuflicken und alles wieder an den Zaunpfählen zu befestigen.

Währenddessen ging Christine zwischen den Rindern herum, streichelte die Tiere und redete ihnen gut zu, um sie zu beruhigen und nahm sie dann mit, um ihnen zu zeigen, wo die Tränke war. Die Herde folgte ihr und als die ersten verstanden hatten, wie die Tränke funktionierte und ihren Durst oder auch nur ihre Neugier stillten, ging sie zu den beiden Männern zurück. Die waren auch gerade fertig geworden, also machten sie sich zusammen auf den Rückweg zum Hof, den man von hier aus gut im Blick hatte.

Holger nahm den Trecker, Christine und Klaus-Peter gingen zu Fuß das kurze Stück zum Hof zurück. Christine pfiff nach dem Hund, der sofort den Kopf hob und herangeflitzt kam.

Oberhalb der Wiesen lag ihr Dorf Wiehebruch. Holger lenkte den Trecker auf einen Feldweg, der direkt auf ihren Hof zuführte.

Von hier aus rechts schauten sie auf die Rückseite des Betriebs von Klaus-Peter mit dem langen Schweinestall, der das Hofgrundstück zu den Wiesen hinunter begrenzte.

Links, in Richtung eines kleinen Wäldchens lag unter großen Eichen, sehr idyllisch, der Hof ihrer Nachbarn auf der anderen Seite, Hanno und Grit Moinsen.

Kessi lief vor dem Trecker her und als sie zuhause ankamen, hatte sie sich bereits unter die große Hortensie neben dem Küchenfenster in den Schatten gelegt. Holger stellte den Traktor neben der Scheune ab und räumte das Werkzeug weg.

»Tasse Kaffee?«, fragte Christine ihren Nachbarn.

»Da sag ich nicht nein«, meinte er grinsend.

Christine nickte und ging ins Haus. Dort streifte sie in der Waschküche ihre alten Schuhe ab. Sie betrat die Küche, wo sie auf den Knopf der Kaffeemaschine drückte und drei Kaffeebecher vom Regal holte.

Die extravagante Kaffeemaschine hatte Klaus-Peter ihr geschenkt. Er kam so oft bei ihnen vorbei, um »Schnell mal eine Tasse Kaffee zu trinken«, dass er eines Tages mit der Maschine vor der Tür gestanden hatte.

»Klaus-Peter du spinnst doch«, hatte Christine erschrocken ausgerufen: »Du kannst mir doch nicht so ein teures Geschenk machen«, aber Klaus-Peter wollte sie nicht wieder mitnehmen.

Also genoss Christine ohne schlechtes Gewissen den Luxus.

Klaus-Peter würde sich das wohl leisten können.

Klaus-Peter war ihr direkter Nachbar. Er lebte allein auf seinem Hof. Ab und zu fiel ihm die Decke auf den Kopf und er brauchte jemanden zum Reden, dann kam er herüber.

Christine stellte nacheinander die drei Tassen unter den Auslauf der Kaffeemaschine und ging dann mit den Tassen nach draußen, wo die beiden Männer sich inzwischen auf der kleinen Sitzgruppe neben der Küchentür niedergelassen hatten. Sie stellte die Tassen ab und ging noch einmal zurück, um Milch zu holen und setzte sich dann neben Holger auf die Bank, die ihnen ihre Freunde aus dem Dorf zum Hochzeitstag geschenkt hatten.

»Wann geht denn deine Amerikareise los? Wann fährst du?«, fragte Klaus-Peter seinen Freund.

»Übermorgen. Richard kommt schon früh um vier Uhr und holt mich ab«, gab Holger Auskunft.

»Richard ist dein Bruder?«, vergewisserte sich der Nachbar.

»Ja« nickte Holger bestätigend. »Wir fahren zusammen bis Fulda runter, wo Volker wohnt. Das ist ein Freund aus meiner Schulzeit. Bei ihm lassen wir das Auto stehen und fahren dann mit dem Zug nach Frankfurt, wo am Nachmittag unser Flug geht«, fasste er ihren Reiseplan zusammen.

»Und dann seid ihr vier Wochen drüben unterwegs«, beneidete Klaus-Peter den Freund.

»Ja«, bestätigte Holger. »Volker hat die Tour ausgearbeitet.

Aber die Empfehlung lautet, man sollte auf jeden Fall drei Wochen für die 66 einplanen, wenn man alles Interessante an der Route sehen will. Wir haben vorher noch zwei Tage in Chicago eingeplant, um anzukommen und uns die Stadt anzusehen.

Dann die Tage für den Hin - und Rückflug und ein paar Tage in Los Angeles. Wir dachten, wenn wir schon mal da drüben sind, wollen wir das auch ausnutzen. Wer weiß, ob wir nochmal Gelegenheit dazu haben. So sind wir etwa vier Wochen weg.«

»Und von Chicago startet ihr dann die Tour?«

»Genau. Die alte Route 66 beginnt in Chicago und endet nach

3950 km in St. Monica, Los Angeles.«

»Und die Motorräder könnt ihr euch da ausleihen?«

Holger nickte, »Viele wollen die Tour mit dem Motorrad machen. Das ist einfach das ultimative Gefühl von Freiheit. Es gibt ausreichend Möglichkeiten eine Maschine zu mieten.«

»Super Tour«, meinte Klaus-Peter, »Am liebsten würde ich mitkommen.«

»Ich bin froh, dass du hier die Stellung hältst«, erklärte Holger.

»Matti muss sich auf die Schule konzentrieren und ich will nicht, dass Christine alles allein machen muss. »

»Wir werden das schon hinkriegen«, warf Christine ein. »Und dann sind da ja auch noch meine Schwestern, die mit anpacken können.«

»Ich bin wirklich froh, dass die kommen und du hier nicht allein bist«, meinte Holger erleichtert. Klaus-Peter lachte, »Das ist so eine verrückte Idee.« Er wusste natürlich von der Abmachung der Schwestern und schüttelte belustigt den Kopf, »Wer ist bloß darauf gekommen? Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass die drei tatsächlich eine Hilfe bei der Arbeit sind.«

»Und das kannst du beurteilen?«, erwiderte Christine ärgerlich. Sie hatte ja selbst Zweifel, dass das so eine gute Idee war, aber von ihrem Nachbarn, über den sie sich heute Morgen so geärgert hatte, wollte sie sich das bestimmt nicht sagen lassen.

»Du kannst nur froh sein, dass das Rind vorhin nicht in die Wiehe gesprungen ist. Du solltest den Hund beaufsichtigen und auf dem Trecker lassen! Und was sollte überhaupt dieses Rumgehampel vor einem Rind, das sowieso schon aufgeregt ist?«

»Sei froh, dass ich überhaupt mitgekommen bin«, verteidigte sich Klaus-Peter.

»Mir ist wichtig, dass Christine Unterstützung hat und nicht über vier Wochen die Stallarbeit alleine bewältigen muss«, erklärte Holger beschwichtigend, »Und falls Christines Schwestern schwächeln, bist du ja noch da.« Er schlug seinem Nachbarn aufmunternd auf die Schulter, »Stallarbeit lässt sich schnell erlernen und schließlich sind sie ja alle auf einem Hof aufgewachsen.«

Klaus-Peter lenkte ein und schluckte die Erwiderung herunter, die ihm auf der Zunge lag. Er hatte vorhin wirklich keine gute Figur gemacht.

»Welche von den dreien kommt denn als erste?«, fragte er, um Frieden bemüht.

»Als erstes kommt Jule«, erklärte Christine, deren Ärger schnell verraucht war. »Die jüngste macht den Anfang.«

»Kennst du Christines Schwestern eigentlich von früher, aus eurer Kindheit?«, wollte Holger wissen, »Schließlich waren es ja deine Nachbarinnen.«

»Also an die Jule kann ich mich tatsächlich noch erinnern«, überlegte Klaus-Peter, »Allerdings war ich ja noch fast ein Kind, als sie von hier wegging. Aber ich weiß noch, dass sie ziemlich früh schwanger wurde«, erinnerte er sich, »Ich glaube mit fünfzehn.«

»Mit sechzehn«, warf Christine ein.

»OK«, meinte Klaus-Peter. »Aber das war damals Dorfgespräch, so dass ich das als kleiner Junge auch mitbekommen habe. Und dann blieb sie ja noch ein paar Jahre hier mit der Lütten.«

»Meine Eltern haben sich um die kleine Lena gekümmert, während Jule ihre Ausbildung gemacht hat.«

»Irgendwann ist sie dann weggegangen.«

»Nach der Ausbildung ist sie nach Gifhorn gezogen. Da hatte sie eine Stelle und Lena konnte in den Kindergarten gehen.«

»Hat sie dann nicht auch geheiratet?«

»Rainer«, warf Holger ein. »Der war ein voller Reinfall, die Ehe hat nicht lange gehalten. Als die beiden Jungs geboren waren, hat er sich aus dem Staub gemacht.«

»Nach der Scheidung ist sie mit den Kindern nach Göttingen gezogen, da lebt sie heute auch noch«, ergänzte Christine.

»Ja, das hatte ich gehört«, nickte Klaus-Peter. »Und was macht sie mit den Kindern, wenn sie zu dir kommt? Die müssen doch in die Schule.«

Christine und Holger lachten, »Mann Alter«, meinte Holger, »Die Zeit ist doch nicht stehengeblieben. Die Jungs sind inzwischen erwachsen und längst zuhause ausgezogen!«

Klaus-Peter machte ein betretenes Gesicht, »Macht euch nur Lustig über mich«, sagte er beleidigt.

»Entschuldige«, lenkte Christine ein. »Das konntest du ja auch nicht wissen. Die Zeit vergeht oft viel schneller, als man denkt.

Jules jüngster Sohn ist ein Jahr älter als Matti und Jules Tochter Lena hat selbst schon zwei Kinder. Die ältere der beiden geht sogar schon zur Schule. Jule ist die einzige von uns, die schon Großmutter ist.«

»Das wusste ich tatsächlich nicht«, meinte Klaus-Peter.

»Dann kannst du Astrid und Carola ja tatsächlich von früher nicht mehr kennen«, meinte Holger.

»Nein«, bestätigte Klaus-Peter, »Die waren schon weggezogen, als ich anfing zu denken.«

»Astrid hat nach dem Abi gleich studiert und kam nur noch selten nach Hause«, erklärte Christine. »Und Carola war nach der Schule ein Jahr als Au-pair in Frankreich, und als sie zurückkam, hat sie gleich in Hamburg mit ihrer Ausbildung als Goldschmiedin angefangen.«

Klaus-Peter nickte verstehend, »Astrid kenne ich natürlich, sie wohnt ja nur ein paar Kilometer entfernt in Hankensbüttel, aber Carola kenne ich wirklich nur vom Sehen.«

»Dann hast du ja jetzt die Chance, deine Bekanntschaft mit den Schwestern zu vertiefen«, lachte Holger.

Alle drei blickten überrascht auf, als ein Auto auf den Hof einbog, Kies knirschte unter den Reifen. Es kam rasant heran und hielt neben ihnen auf dem Parkplatz vor dem Haus. Das Motorengeräusch verstummte und die Fahrertür öffnete sich. Matti war von der Schule zuhause.

»Hallo alle zusammen«, grüßte er gutgelaunt, als er aus dem Auto stieg.

»Was machst du denn schon hier?«, fragte Holger erstaunt.

»Ich habe doch gesagt, dass ich heute früher nach Hause komme, weil wir die Rinder auf die Weide lassen wollen.«

»Die Rinder sind schon längst draußen. Klaus-Peter hat uns geholfen. Ich habe doch gesagt, du brauchst nicht zu kommen.«

»Und ich hatte gesagt, dass ich früher Schluss mache«, rief Matti ärgerlich. »Warum machst du das? Warum schließt du mich aus? Letztes Jahr habe ich hier auch alles gemacht.«

»Ich schließe dich gar nicht aus, du kannst nachmittags helfen, wenn die Schule aus ist. Die Zeit, die du im Unterricht fehlst, die fehlt dir am Schluss an Wissen.«

»Mensch Papa, behandle mich doch nicht immer wie ein kleines Kind.«

»Ich will doch nur, dass du die Chancen auch richtig nutzt, die sich dir bieten.«

Christine und Klaus-Peter verfolgten unbehaglich das Gespräch, Christine musste zugeben, dass es wirklich besser gewesen wäre, wenn sie heute auf ihn gewartet hätten, allerdings hatte auch Holger recht, Matti konnte froh sein, dass sie nicht ständig mit der Arbeit auf ihn warteten, die Zeit kam noch früh genug auf ihn zu.

»Mach du man dieses Jahr deine Schule und wir kümmern uns um das Vieh«, sagte Holger abschließend. »Noch bin ich hier Chef!«

»Na dann ist ja alles bestens!«, erwiderte Matti und verschwand im Haus.

»Warum ist er nur so stur?«, fragte Holger. »Er soll doch froh sein, dass er sich nur um seine Schule zu kümmern braucht. Als ich zur Fachschule ging, musste ich nebenbei immer noch voll auf dem Hof mitarbeiten, weil mein Bruder bei der Bundeswehr war. Ich musste nachts lernen und habe meine Prüfung am Ende nur mit ach und Krach geschafft.«

Matti kam schon nach kurzer Zeit wieder aus dem Haus und ging an ihnen vorbei zu seinem Auto.

»Ich muss nochmal weg. Ich bin mit Tilda zum Schwimmen verabredet. Hier läuft ja alles«, er setzte sich ins Auto und fuhr vom Hof.

»Das war ja ein kurzes Gastspiel«, meinte Klaus-Peter verblüfft.

Holger nickte, »Das ist in letzter Zeit typisch für ihn. Er fängt irgendeinen blöden Streit an, dann haut er ab. Jetzt hat er auch noch diese Freundin, die lenkt ihn doch nur ab. Er könnte sich doch einfach freuen, dass die Arbeit mit den Rindern erledigt ist und sich in sein Zimmer setzen und lernen. Schließlich steht die Abschlussprüfung bevor, aber er ist mehr bei seiner Freundin als bei der Arbeit.«

»Ist das nicht normal in dem Alter?« Klaus-Peter sah das locker.

»Ich weiß nicht. Er ist einfach nicht zielstrebig genug, er lässt sich zu leicht ablenken.«

Christine sah das ähnlich. Normalerweise kam Holger ganz gut mit seinem Sohn aus, aber von Zeit zu Zeit reagierte Matti über.

Er wollte sich einfach nichts sagen lassen, dabei wollten sie ihm doch nur helfen.

Christine hoffte, dass er sich in den Wochen, wenn Holger nicht da war, der Verantwortung stellen würde, soweit das jedenfalls neben den Abschlussprüfungen möglich war.

»Ich geh mal rüber«, gab Klaus-Peter bekannt, als er seinen Kaffee ausgetrunken hatte.

»Danke nochmal für deine Hilfe«, meinte Holger.

»Wahrscheinlich sehen wir uns ja nochmal, bevor du abreist.

Falls nicht: Gute Reise!« Klaus-Peter schwang sich auf sein Fahrrad und radelte nach Hause.

Christine stellte das Geschirr zusammen. »Du musst nochmal mit Matti reden«, sie sah Holger an, »Er muss verstehen, dass es auf ihn ankommt, wenn du weg bist, dann kann er sich nicht einfach aus dem Staub machen.«

»Ja«, Holger nickte, »Morgen. Ich hoffe, dass er dann hier ist, ich muss sowieso noch einiges mit ihm bereden für die nächsten Wochen.«

»Ich weiß gar nicht was in letzter Zeit mit ihm los ist«, brachte Christine ihre Gedanken zum Ausdruck und setzte sich wieder hin. Holger schaute sie fragend an, »Machst du dir Sorgen deswegen?«

»Natürlich. Du hast doch gesehen, wie schnell seine Stimmung wechselt. Im ersten Augenblick ist er gut gelaunt, und im nächsten ist nichts mehr mit ihm anzufangen.«

»Glaubst du, dass es mit seiner Freundin zu tun hat? Mit dieser Tilda?«, fragte Holger.

Christine zuckte mit den Schultern, »Ich weiß es nicht.«

»Er bringt sie ja nicht mit hierher, aber du hast sie doch vor ein paar Wochen schon einmal gesehen. Was hat sie den für einen Eindruck auf dich gemacht?«

»Sie war nett und der Eindruck war wirklich gut, aber wenn sie Matti vom Hof entfremdet, dann hat das doch keine Zukunft.«

»Du machst dir zu viele Sorgen. Matti brennt für die Landwirtschaft, er wird sich da nicht reinreden lassen.«

Christine schaute zweifelnd drein.

»Ich rede morgen mit ihm«, sagte Holger und stand auf, »Ich muss jetzt wieder an die Arbeit, es ist noch viel zu erledigen.«

Er kam herüber und nahm sie in den Arm, »Mach dir keine Sorgen. Er wird sich schon wieder fangen«, Holger gab ihr einen Kuss und ging dann hinüber zur Scheune.

Christine sah ihm nach, dann nahm sie das Geschirr und trug es ins Haus.

Holger war ein kluger Mann, aber sie befürchtete, dass er das Problem nicht ernst genug nahm. Sonst gelang es ihm meistens, sie zu beruhigen, aber heute legte sich das ungute Gefühl nicht.

Letztes Jahr war Matti mit Feuereifer bei der Arbeit gewesen, aber in letzter Zeit reagierte er oft so abweisend. Ob diese Freundin die richtige für ihn war? Christine wusste nichts über sie und sie hatte Angst, dass sie Matti die Liebe zur Landwirtschaft ausredete. Er verbrachte seine gesamte Freizeit bei ihr. Anscheinend hatte sie keinerlei Interesse daran, Matti auch mal zuhause zu besuchen oder an seinem Leben und seiner Arbeit Anteil zu nehmen.

Christine und Holger würden damit zurechtkommen, wenn Matti den Hof nicht weiterführen würde, aber wie würde es Matti damit gehen? Er hatte nie etwas anderes gewollt als das und hatte ja auch deshalb diese Ausbildung absolviert.

Sie wünschte, sie könnte wie Holger ihre Sorgen einfach abschütteln und sich einem neuen Thema zuwenden, doch so einfach gelang ihr das nicht.

Sie räumte die Tassen in den Geschirrspüler und machte dann einen kleinen Spaziergang. Sie ging auf der Hinterseite des Hofes, in Richtung zu den Wiesen den Hügel hinunter.

Vom Dorf her zog sich, zwischen ihrem Hof und dem von Hanno und Grit Moinsen, eine langgezogene Bauminsel aus gewaltigen alten Eichen und Trauerweiden ein Stück den Hügel hinab.

Die Stelle, wo der kleine Bach wieder aus dieser Bauminsel hervorkam, bildete eine Art kleinen Teich, und die Stelle nannte sich Wiehbusch. Vor sehr langer Zeit, in der Entstehungszeit des Dorfes, war hier die Viehtränke gewesen.

Dort stand eine Bank und es war Christines Lieblingsplatz.

Hier unter den hohen Bäumen am Bach fand sie meistens wieder zu sich selbst, wenn etwas an ihr nagte. Hier konnte sie in Ruhe ein Gebet sprechen und Gott ihre Sorgen übergeben.

Auch heute merkte sie, wie danach ihre Schultern leichter wurden und das drückende Gefühl in ihrem Magen sich auflöste.

Es war gut, zu wissen, dass Gott seine Hand über Matti und auch über sie hielt.

Nach einer Weile stand sie auf und ging zum Hof zurück.

Die kleine Pause hatte ihr gut getan, ihr Kopf war freier und sie konnte sich wieder anderen Dingen zuwenden. So stand sie eine halbe Stunde später im Schlafzimmer ihrer Mutter auf der Leiter und nahm einen schadhaften Vorhang herunter.

Ihre Mutter hatte eine eigene abgeschlossene Wohnung innerhalb des großen Bauernhauses, mit einem eigenen Eingang.

Christine hatte die Bitte ihrer Mutter, sich um das Problem zu kümmern schon ein paar Tage lang immer wieder aufgeschoben, und so war die alte Frau sehr erfreut, als ihre Tochter sich dessen nun doch noch annahm.

Die ältere Frau saß in ihrem Wohnzimmer am Esstisch und versuchte das tägliche Kreuzworträtsel im Kreisblatt zu lösen.

»Na, hast du das Lösungswort schon raus?«, fragte Christine, als sie eintrat. Ihre Mutter hob den Kopf, »Nein, es ist ziemlich knifflig heute.«

»Du meintest, es wären nur zwei Haken kaputt«, meinte Christine mit dem Vorhang in der Hand, »Aber hier ist eine Naht aufgegangen«, sie zeigte ihrer Mutter die schadhafte Stelle.

»Tatsächlich, ich repariere das gleich.« Elsa nahm ihr die Gardine ab. »Wäre schön, wenn du sie nachher noch wieder aufhängen könntest.«

»Natürlich«, erklärte Christine, während sie die Leiter zusammenklappte und an die Seite stellte.

»Hast du Zeit noch auf eine Tasse Tee zu bleiben? Ich habe gerade welchen gekocht oder hast du keine Zeit, musst du für Holger packen?«

Christine schüttelte den Kopf, »Holger packt selbst, er kann ja nicht viel mitnehmen, nur so viel, wie in die beiden Motorradtaschen passt. Nur das Allernötigste und da will er natürlich selbst entscheiden, was er mitnimmt und was nicht. Ein Tee wäre schön.«

Sie gingen hinüber in die Küche und Elsa nahm die hübsch gemusterten Tassen aus dem Schrank und stellte sie zu der Teekanne, die bereits auf einem Stövchen auf dem Küchentisch warmgehalten wurde.

Bei Christine gab es den Kaffee meist aus großen Porzellanbechern, aber nicht bei ihrer Mutter. Die legte gerade mit einer kleinen Zange einen dicken Kandisbrocken in Christines Tasse und goss den heißen Tee darüber. Der Kandis knackte unter dem heißen Getränk. Das gleiche wiederholte sie bei ihrer eigenen Tasse, dann nahm sie sich Sahne, Christine verzichtete darauf.

»Es ist ein großes Abenteuer, das Holger da vorhat«, meinte Elsa und setzte sich Christine gegenüber an den Tisch.

»Das stimmt. Du weißt ja, dass das schon immer sein Traum war.«

Solange Christine ihren Mann kannte, hatte er davon gesprochen, einmal diese Tour zu machen, einmal die Route 66 mit dem Motorrad zu befahren.

Lange schon hatten sie Pläne geschmiedet, Holger, Richard und Volker. Wenn sie sich trafen, gab es nur dieses Thema. Doch sie hatten alle Familie und berufliche Verpflichtungen und so war nie etwas daraus geworden.

Doch jetzt sollte es endlich losgehen. In ein paar Jahren wurden sie sechzig und auf einmal überwog die Sorge, dass es irgendwann vielleicht nicht mehr möglich sein würde. Also hatten sie kurzentschlossen einen Termin festgelegt. Fast hätte Holger doch noch einen Rückzieher gemacht. Matti ging dieses Jahr zur Schule und mitten in der Saison schien er als Betriebsleiter nicht abkömmlich zu sein, doch diesmal gingen die Freundschaft und der Lebenstraum vor.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Elsa, »Vier Wochen sind eine lange Zeit.«

Christine schaute ihre Mutter überrascht an, es war ungewöhnlich, dass sie über Gefühle sprach.

Christine nahm einen Schluck von dem süßen Tee und dachte einen Augenblick über die Frage nach, »Es war so viel Hektik in der letzten Zeit, soviel vorzubereiten und zu besprechen, ich bin noch gar nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken.«

Holger würde vier Wochen nicht da sein, das war wirklich eine lange Zeit und es würde ein Ozean und mehr als ein halber Kontinent zwischen ihnen liegen. Christine gönnte ihrem Mann dieses Abenteuer von ganzem Herzen, trotzdem machte es ihr auch ein wenig Angst, wenn sie ehrlich war. Mehr als sie Holger und vielleicht auch sich selbst eingestehen wollte.

Sie fühlte sich nicht gut, aber sie musste sich zusammenreißen, schließlich wollte sie ihm die Reise nicht verderben, diese Möglichkeit würde sich ihm nicht wieder bieten.

»Ihr habt ja heutzutage so viele Möglichkeiten in Verbindung zu bleiben«, meinte ihre Mutter, »Mit den Handys könnt ihr ja jederzeit anrufen und sogar Bilder schicken, es wird schon nicht so schlimm werden.«

»Ich werde genug zu tun haben, ich werde wahrscheinlich gar nicht dazu kommen, ihn zu vermissen. Außerdem werden meine Schwestern da sein, die werden mir die Gefühlsduselei schon austreiben«, grinste sie.

»Freust du dich auf die drei?«

»Ich weiß es nicht. Irgendwie schon, schließlich sind es meine Schwestern, aber wir haben so wenig miteinander zu tun, dass wir uns auch ziemlich fremd geworden sind. Jede hat ihr eigenes Leben, ich denke, es ist ganz normal, dass der Kontakt mit der Zeit weniger wird. Du hast ja auch nicht besonders viel Verbindung mit deiner Schwester. Also bin ich auch ein bisschen nervös, wie es wohl wird, sie für länger hier zu haben. Und ich weiß wirklich nicht mehr, wie wir auf diese Idee gekommen sind«, fügte sie immer noch verwundert hinzu.

»Also ich finde die Idee ganz bezaubernd und ich freue mich wahnsinnig, dass ihr das macht und ich meine Töchter tatsächlich noch einmal für eine Weile hier haben werde.«

Ihre Mutter war heute irgendwie anders gewesen, als sie es gewohnt war, dachte Christine, als sie später zur Obstwiese hinunter ging. In ihrer Familie kehrte man normalerweise die Gefühle nicht so hervor.

Es war nicht so, dass Empfindungen geleugnet wurden, aber man sprach nicht unbedingt darüber. Ihre Mutter war ihr heute so empfindsam vorgekommen, fast filigran. Sie freute sich so auf ihre Töchter, natürlich, aber Christine war bislang noch nie der Gedanke gekommen, dass ihre Mutter sich vielleicht allein fühlen könnte. Sie war ja noch mobil, fuhr mit dem Auto zu Bekannten und Freunden, ging zum Seniorennachmittag und zum Handarbeitskreis, doch vielleicht reichte das auch nicht.

Vielleicht fehlte ihr die vertraute Ansprache, die sie mit ihrem Mann gehabt hatte.

Christine nahm sich vor, sich in Zukunft mehr Zeit für ihre Mutter zu nehmen.

Sie war unten am Ende des Grundstücks angekommen, wo ihre Bienenkästen standen. Die Obstblüte war in diesem Jahr früh gewesen und Christine wollte nachsehen, wie weit die Bienen Honig eingelagert hatten. Sie schätzte, dass sie den ersten Honig bald würde ernten können.

Wie sie vermutet hatte, sah es gut aus. Vorsichtig setzte sie den ersten Rahmen mit den gefüllten Honigwaben wieder in den Bienenkasten zurück, er war schwer von dem vielen Honig, den die Bienen gesammelt hatten. Mit dem mitgebrachten Werkzeug hebelte sie nun ein Rähmchen nach dem anderen heraus, die durch den Honig an der Zarge festklebten.

Die Bienen hatten eine Menge Nektar gesammelt, die Waben waren gefüllt und fast komplett verdeckelt. Der Honig war fast reif zum Ernten.

Es kam auf den richtigen Zeitpunkt an. War sie zu früh, enthielt der Honig noch zu viel Wasser und hielt sich später nicht. War sie zu spät, begannen die Bienen den reifen Honig weiter zu verarbeiten, er wurde hart und ließ sich nicht mehr richtig ausschleudern. Sie hatte auch ein Gerät, um den Wassergehalt zu messen, aber aus Erfahrung wusste sie, dass Verdeckelter Honig reif war.

Etwas Platz war noch in den Rähmchen, aber in den nächsten Tagen würde sie den Honig schleudern müssen. Das erste Mal in diesem Jahr. Bei dieser Arbeit konnte Christine ein paar zusätzliche Hände gut gebrauchen, vielleicht würde Jule ihr ja dabei helfen.

Bienen hatte es hier auf dem Hof schon immer gegeben. Bereits Christines Großvater hatte geimkert und Christine hatte die Bienen von ihrem Vater übernommen. Sie und ihre Schwestern hatten alle schon in ihrer Kindheit und ihrer Jugend bei der Honigernte helfen müssen.

Christine klopfte das Rähmchen, das sie herausgenommen hatte auf dem Rand des Kastens ab, damit die vielen Bienen die überall darauf herumsummten und krabbelten abfielen und verteilte noch einmal Rauch über den Waben, der die Bienen dazu brachte, in den Stock zu gehen, so dass sie ungestört arbeiten konnte. Nachdem sie alle Waben kontrolliert und wieder eingehängt hatte, schloss sie den Kasten mit einem Brett und schließlich mit dem Deckel.

Jule

Jule lenkte das Auto auf den Parkstreifen vor ihrem Haus, »So, wir sind da«, stellte sie fest, »Wartet mit dem Aussteigen, bis ich euch die Tür aufmache.«

»Weil hier nämlich immer so verrückte Fahrradfahrer sind«, ergänzte die sieben-jährige Greta altklug und ihre kleine Schwester Lotta nickte zustimmend. Jule lachte, machte die Zündung aus und drehte sich zu ihren Enkeltöchtern um, »Ganz genau.

Wegen dieser verrückten Fahrradfahrer, die hier mit einem Affenzahn um die Ecke gesaust kommen.«

Die Mädchen kicherten, »Warum haben die einen Affenzahn?«, fragte Lotta.

»Das sagt man doch nur so, wenn einer ganz schnell fährt«, erklärte Greta ungeduldig. »Können wir jetzt aussteigen?«, fragte sie ihre Oma.

Jule nickte. Sie stieg aus, ging um den Wagen herum und ließ die beiden Kinder am Bürgersteig aussteigen. Sie brachte sie zum Hauseingang, wo sie warteten und lief schnell noch einmal zurück, weil sie vergessen hatte, deren Rucksäcke aus dem Kofferraum zu holen.

Dienstags musste Lena immer länger arbeiten, dann kümmerte Jule sich nachmittags um ihre Enkeltöchter. Sie holte sie vom Ballettunterricht ab, machte ihnen etwas zu essen und kümmerte sich um sie, bis Lena oder ihr Mann Ole die Mädchen abholten. Sie freute sich, so viel Zeit mit ihnen verbringen zu können und sie unterstützte ihre Tochter gern, hatte sie selbst doch von ihren Eltern damals auch viel Unterstützung bekommen. Ohne ihre Eltern hätte sie es nicht schaffen können.

Sie gab den Mädchen ihre Rucksäcke und suchte in ihrer Tasche nach dem Hausschlüssel.

»Oma, dein Auto ist aber wirklich schon alt«, bemerkte Greta, die den Blick noch immer zur Straße gewandt hatte. Jule drehte sich zu ihrem Wagen um. Er sah wirklich nicht mehr ganz taufrisch aus. Die grüne Farbe war verblasst und hatte ihren alten Glanz längst verloren. Hier und da gab es am unteren Saum sogar ein paar Roststellen und an der hinteren Beifahrertür war diese Schramme, von der sie nicht wusste, woher sie kam und deren Beseitigung den Wert des Autos um ein Beträchtliches überschreiten würde, weshalb sie wegen der Schramme auch noch nichts unternommen hatte.

»Oma du musst dir mal ein neues Auto kaufen«, meinte nun auch Lotta. Aber das brachte Jule einfach nicht übers Herz. Sie hing an diesem alten Auto, mit dem sie schon so viel erlebt hatte. Ja, es sah nicht mehr schön aus und die meisten hätten es wohl schon längst gegen ein anderes umgetauscht, aber es fuhr doch noch.

»Aber ich kann doch meinen alten Freddy nicht einfach zum Schrottplatz bringen«, entrüstete sie sich. Die beiden Mädchen lachten. »Oma, ein Auto hat doch keinen Namen«, kicherte Lotta.

»Aber dieses schon, das hört ihr ja«, machte Jule den Spaß mit, »Mein Auto heißt Freddy, den Namen hatte es schon immer.«

»Aber Thomas sagt immer Suppenschüssel zu deinem Auto und er steigt in deine grüne Suppenschüssel niemals ein«, erklärte Greta und sie mussten alle drei lachen.

»Nein«, bestätigte Jule und schloss die Tür auf, »Er weiß gar nicht, was er verpasst.«

Lachend stiegen sie die Treppe hinauf. Jules Freund Thomas zog sie gern mit ihrer Anhänglichkeit zu ihrem alten Auto auf.

Wenn Jules Enkelinnen da waren, machte er sich einen Spaß daraus, ihnen Geschichten von Omas grüner Suppenschüssel zu erzählen und zu versichern, dass er niemals in dieses Gefährt einsteigen würde, aber sie hing nun einmal an ihrem alten Auto.

Thomas verstand sich gut mit den Mädchen, das freute Jule sehr. Er hatte keine Kinder, aber es hatte nie Probleme gegeben.

Als sie sich kennengelernt hatten, vor sechs Jahren, hatten ihre beiden Söhne Tom und Dean noch zuhause gewohnt. Tom war damals in der Ausbildung und Dean ging noch zur Schule.

Thomas war zu ihnen gezogen, damit ihre Söhne in ihrer gewohnten Umgebung bleiben konnten. Sie mochten ihn und akzeptierten ihn als den Freund ihrer Mutter.

Jule dachte, dass sie großes Glück mit diesem Mann hatte. Er war von einer selbstverständlichen, natürlichen Freundlichkeit, die das Zusammensein mit ihm angenehm machte. Er war rücksichtsvoll und geduldig. Natürlich gab es auch Streit zwischen ihnen, aber sie hatte nie Angst, dass es ausufern könnte oder Thomas unversöhnlich sein könnte.

Mit ihrem geschiedenen Mann Rainer waren die Streitigkeiten damals oft ausgeufert, er hatte Dinge zerbrochen und war oft die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Sie hatten sich oft gestritten. Die Ehe hatte gehalten, bis ihre beiden Söhne geboren waren, dann hatte Rainer keine Lust mehr auf Familie gehabt. Nach gerade einmal drei Jahren waren sie wieder geschieden.

Und nun war Thomas da. Sie kannten sich seit sechs Jahren, seit fünf Jahren lebten sie hier zusammen und Jule hatte das Gefühl, endlich angekommen zu sein.

Als sie mit ihren Enkelinnen in der Wohnung ankam, machte sie das Essen fertig und die Mädchen deckten den Tisch.

»Was machen wir heute?«, fragte Greta, nachdem sie gegessen und die Küche aufgeräumt hatten, sie schaute Jule gespannt an.

»Ich muss meinen Koffer packen, dabei könnt ihr mir helfen.«

Die Mädchen waren sofort begeistert, »Willst du in den Urlaub fahren?«, fragte Lotta aufgeregt, als Jule den Koffer oben von ihrem Schlafzimmerschrank holte.

»So etwas ähnliches«, bestätigte Jule, »Ich fahre zu meiner Schwester.«

»Du hast doch gar keine Schwester«, erklärte Greta überzeugt.

Jule lachte, »Ich habe sogar drei Schwestern«, informierte sie die beiden erstaunten Mädchen. »Ihr habt sie nur noch nicht so oft getroffen. Ich fahre zu meiner Schwester Christine und die wohnt bei eurer Uroma.«

»Auf dem Bauernhof?«, fragte Greta, Jule nickte.

»Oh«, sagte Lotta sehnsüchtig, »Zu den Kälbchen.«

»Genau«, bestätigte Jule, legte den Koffer auf das Bett und zog den Reißverschluss auf. Sie begann zu packen, ihre Enkeltöchter halfen ihr Kleidungsstücke auszusuchen, Shampoo und Zahnpasta zu finden und schließlich klingelte es an der Tür und Lena war da, um ihre Töchter abzuholen.

»Wenn ihr Lust habt, kommt ihr mich am Wochenende besuchen«, meinte Jule zu ihrer Tochter. »Dann können die Mädchen Kälber streicheln und Eier suchen. Ihre Uroma freut sich sicher auch, sie wiederzusehen.« Doch Lena war anscheinend nicht nach Familienidyll zumute, aber das war eigentlich nie der Fall, wenn ihre Mutter dabei war.

»Hast du dich deshalb so aufgebrezelt?«, fragte sie spöttisch, und deutete auf die leuchtende Haarpracht ihrer Mutter, »Weil du auf den Hof fährst? Glaubst du die Kühe wissen deine Aufmachung zu schätzen? Oder willst du deine Familie schockieren? Denkst du nicht, dass du allmählich zu alt dafür bist?«

Jule versuchte, sich durch diese Abfuhr nicht verletzen zu lassen, sie ignorierte die spitze Bemerkung. Leider war sie solche Ausfälle von ihrer Tochter gewöhnt.

»Überlegt es euch doch«, meinte sie bittend.

»Das muss ich mit Ole absprechen«, erwiderte Lena abwehrend, ließ sich auf kein weiteres Gespräch ein und verabschiedete sich schnell.

Jule winkte ihren Enkeltöchtern und schloss die Tür hinter ihnen. Sie genoss die Zeit mit den Kleinen sehr, aber mit Lena war es nach wie vor schwierig. Sie blockte alle Versuche, ihr näher zu kommen, rigoros ab und es schmerzte Jule jedes Mal, wenn sie wieder eine Abfuhr bekam. Es war schon ein großes Zugeständnis, dass sie Jules Hilfe mit den Mädchen einmal in der Woche annahm.

Sie ging zurück in die Wohnung. Der Koffer war gepackt, jetzt würde sie ein schönes Schaumbad nehmen, um auf andere Gedanken zu kommen. So sehr sie das angespannte Verhältnis zu ihrer Tochter belastete, hielt es doch leider schon so lange an, dass sie sich inzwischen fast daran gewöhnt hatte.

Sie ging ins Bad, ließ heißes Wasser einlaufen und goss duftendes Badeöl dazu. In einer Stunde kam Thomas von der Arbeit und sie freute sich auf einen schönen Abend. Sie hatten heute ihren Jahrestag und Thomas hatte sie in ein nobles Restaurant eingeladen. Heute Morgen hatte sie bereits ihre Haarfarbe aufgefrischt.

Als sie nach dem Baden vor dem Spiegel stand, betrachtete sie sich prüfend. War sie tatsächlich zu alt für ihren Look, wie Lena es vorhin gesagt hatte? Sie hatte sich noch nie besonders unauffällig gekleidet, ihr gefiel das so. Es hatte doch diese Modeschöpferin gegeben, Vivian Westwood, die hatte es auch bis ins Alter so gehalten. Dies hier, das war sie, wie sollte sie denn sonst aussehen? Sie begann sich zu schminken, nahm reichlich Kajal und Mascara, dazu wählte sie den dunklen Lippenstift, der zur Farbe ihres Kleides passte und mit dem leuchtenden Grünton ihrer Haare harmonierte. Anschließend lackierte sie sich zu diesem besonderen Anlass noch die Nägel, was sie sonst nie tat, da es bei ihrer Arbeit in der häuslichen Krankenpflege nicht ging. Sie wählte den schwarzen Lack und betrachtete anschließend beim Trocknen zufrieden das Ergebnis.

Als der Nagellack trocken war, kam Thomas auch schon nach Hause. Schnell machte er sich ebenfalls fein.

Er hatte einen Tisch reserviert in einem Restaurant, in dem der Kellner sie zum Tisch begleitete und ihnen die Stühle zurechtrückte. Als sie saßen und die Vorspeise vor sich stehen hatten, schaute Thomas sie bewundernd an,

»Du siehst umwerfend aus«, Jule lachte, »Danke. Das kann ich nur zurückgeben.«

In seinem gut geschnittenen Anzug machte Thomas eine wirklich gute Figur.

»Deine Haarfarbe ist neu«, bemerkte Thomas, Jule nickte.

»Das Grün steht dir ausgezeichnet, es lässt deine Augen so schön funkeln.«

»Danke«, das tat ihr gut, nachdem Lena sich vorhin so abfällig über ihr Aussehen geäußert hatte. Jule war froh, dass Thomas, der eigentlich immer ziemlich seriös auftrat, ihre ausgefallenen und oft wechselnden Haarfarben mochte. Das hatte er von Anfang an getan.

»In Verbindung mit deinem aufregenden Kleid sieht das echt toll aus«, stellte er fest.

Jule trug zu der leuchtend grünen Wuschelfrisur ein dunkelvi-olettes Kleid mit einem schwarzen Petticoat, das Schulterfrei war und zu dem diese langen Handschuhe gehörten, die die Finger frei ließen und die ihr bis an die Ellenbogen reichten.

Dazu trug sie schwarze Strumpfhosen und ihre geliebten Doc Marten Boots.

Jule lachte, »Danke, ich habe mir Mühe gegeben, schließlich ist heute ein besonderer Tag.«

»Freust du dich auf den Besuch bei deiner Schwester?«

»Ehrlich gesagt habe ich tatsächlich ein wenig Angst«, bekannte sie. Thomas sah sie fragend an.

»Ich befürchte, dass Christine mich mit meinem Leben nicht wirklich ernst nimmt. Sie ist manchmal so schnell mit ihrer Meinung.

Du und meine Kinder und alle diese Dinge, die mein Leben ausmachen, sind mir zu wichtig, um sie im Bruchteil einer Minute aburteilen zu lassen.«

Thomas schaute skeptisch.

»Guck nicht so. Normalerweise sehen wir uns doch nur ein oder zweimal im Jahr, wenn wir uns für ein paar Stunden besuchen. Diesmal sind wir länger zusammen, das wird fast so wie früher, als wir beide noch zuhause gewohnt haben.

Ich kenne Christine als erwachsenen Frau ja kaum, aber ihr Leben ist so normal, dass ich denke, dass sie wahrscheinlich ziemlich konservative Ansichten hat.«

»Aber ihr seid doch beide jetzt erwachsen und ich weiß doch auch, dass ihr euch mögt. Ist es denn nicht auch schön, dass ihr jetzt mal Gelegenheit habt, so viel Zeit miteinander zu verbringen? Das ist doch eine Chance, euch noch einmal richtig kennenzulernen.«

»Ich weiß nicht, ob Christine überhaupt daran interessiert ist«, gab Jule zu bedenken.

»Wie kommst du darauf?« Thomas machte ihr Mut: »Das, was du mir von ihr erzählt hast, hört sich doch wirklich nett an.«

»Sie Ist nett, keine Frage und ich habe sie wirklich gern. Sie hat mich damals auch oft unterstützt und mir geholfen, als die Kinder klein waren und ich alleine klarkommen musste. Aber ich befürchte, sie sieht in mir immer noch die kleine Schwester von damals, die sich einen Haufen Probleme aufhalst und mit dem Leben nicht klarkommt.« Jule lachte, »Manchmal könnte ich sie echt anschreien. Seit sechs Jahren bin ich nun mit dir zusammen, und auch wenn wir uns nicht so oft sehen - sie hat sich noch nicht einmal deinen Namen gemerkt. Sie sagt immer nur

»Dein Freund«, wenn sie von dir spricht. Als wärst du nur eine vorübergehende Laune.«

»Gib ihr doch eine Chance«, wiederholte Thomas. »Redet miteinander, lernt euch neu kennen.

Erzähl ihr von unserem Leben, von mir und was ich dir bedeute. Ich hoffe doch, dass ich mehr bin, als nur eine vorübergehende Laune.«

Jule wurde ernst, »Ich hoffe, du weißt, dass es nicht so ist. Ich liebe dich!«

Thomas lächelte sie an, »Ich bin froh, dass du das sagst.«

Plötzlich rutschte er nervös auf seinem Stuhl herum und nestelte an seiner Tasche. Er legte die Serviette zur Seite und stand plötzlich vor ihr.

Thomas holte tief Luft, »Ich habe dich hierher eingeladen, weil ich unseren Jahrestag mit dir feiern möchte. Du bist ein ganz besonderer Mensch für mich und seit ich dich kenne, war jeder Tag mit dir schön, sogar die, an denen wir uns gestritten haben.

Du machst sie schön, mit deiner guten Laune, deinem Optimismus und mit deinen wilden Farben. Jule ich liebe dich! Ich möchte dich fragen, ob du mich heiraten willst.«

Plötzlich hatte er eine kleine Schachtel in der Hand und als er sie öffnete, blitzte ihr der Stein eines Verlobungsrings entgegen.

Jule war völlig überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie schaute auf den Ring und dann schaute sie Thomas an. Tränen stiegen ihr in die Augen, »Ja«, sagte sie, »Ja das will ich! Das will ich sehr gern!« Sie stand auf und fiel ihm um den Hals.

Thomas grinste und blies die Luft aus. Er nahm den Ring aus dem Etui und steckte ihn Jule an den Finger. Jule lachte und weinte gleichzeitig, »Wie kommst du denn da drauf? Darüber haben wir doch überhaupt noch nicht gesprochen.«

»Ich würde dich einfach furchtbar gern heiraten.« Er grinste immer noch. »Hast du denn noch nie daran gedacht?«

»Doch natürlich, aber nicht so, dass ich dachte, es müsste jetzt unbedingt sein.«

»Aber du fühlst dich doch nicht überrumpelt oder gedrängt?«, fragte er besorgt.

»Ich bin überrascht«, gab Jule zu, Thomas guckte betreten, »Positiv überrascht!« Jule knuffte ihn in die Seite, »Ich freue mich riesig und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als dich zu heiraten«, lachte sie ihn an. Erleichtert nahm er sie in den Arm und küsste sie.

Christine

Christine hob kurz die Hand und winkte, als Richards Wagen sich in Bewegung setzte. Holger hatte das Beifahrerfenster heruntergelassen und winkte ebenfalls. »Ich melde mich, wenn wir gelandet sind!«, rief er, als der Wagen anrollte.

Christine schaute, wie das Auto über das Kopfsteinpflaster des Hofes rollte, in der Einfahrt links auf die Straße abbog und dann verschwand. Sie zog fröstelnd die Strickjacke zusammen und verschlang die Arme vor dem Körper.

Die Nacht war kurz gewesen, der Tag gestern von Arbeit und Vorbereitungen gefüllt bis zum Rand. Holger waren noch tausend Dinge eingefallen, die er meinte noch klären oder erledigen zu müssen und dann hatte auch noch eine Kuh gekalbt.

Abends, als sie im Stall fertig waren, war er mit Matti noch wieder aufs Feld gefahren, um eine Beregnung umzulegen. Christine hatte, nachdem sie die Blumenkübel gegossen hatte, noch gebügelt, aber dann irgendwann Feierabend gemacht und sich mit einem Buch ins Wohnzimmer gesetzt und gelesen.

Es war schon halb elf, als Holger nach Hause kam und sich zu ihr setzte.

»Alles erledigt?«, fragte Christine und legte ihr Buch zur Seite.

»Es ist spät und es ist dunkel«, seufzte er, »Ich höre jetzt auf.«

»Matti kennt doch den Betrieb und die Arbeiten in – und auswendig«, meinte Christine, »Glaubst du er bekommt das nicht hin?«

»Natürlich schafft er das. Aber ich habe einfach ein besseres Gefühl, wenn ich alles möglichst gut vorbereite.«

»Aber wenn du denkst, dass Matti das schaffst, warum hast du dann Klaus-Peter noch zum Oberaufseher ernannt?«, wollte Christine wissen. »Ich brauche hier garantiert keinen Schlaumeier, der glaubt, dass er jeden Tag nach dem Rechten sehen muss«, machte sie ihrer Befürchtung Luft.

»So ist das ja auch gar nicht gemeint«, verteidigte sich Holger.

»Ich wollte nur, dass du dich für den Notfall auf jemanden verlassen kannst und das sieht Klaus-Peter genauso.«

»Na hoffentlich.«

»Und wie das mit Matti ist, weißt du schließlich selbst. Mal ist er Feuer und Flamme und im nächsten Moment haut er ab und taucht erst am nächsten Tag wieder auf.«

Das musste Christine zugeben, aber sie hoffte, dass das anders sein würde, wenn Holger nicht da war und Matti merkte, dass es auf ihn ankam.

»Hast du denn nun endlich mit ihm geredet?«, fragte sie.

»Wann hätte ich das tun sollen?«

»Ihr seid gerade einen Tag lang zusammen unterwegs gewesen…«

»Da hatten wir andere Dinge zu bereden«, entgegnete Holger ärgerlich. »Matti ist alt genug. Er hat doch den Beruf gelernt, wenn er jetzt immer noch nicht weiß, worauf es ankommt oder was wichtig ist, dann kann ich ihm auch nicht helfen.«

»Warum schafft ihr es nicht, einfach mal miteinander zu reden?« Christine war nun wirklich böse. Wie oft hatte sie Holger schon darum gebeten, aber er schaffte es einfach nicht und bei Matti war es dasselbe.

»Als ob du da ein leuchtendes Beispiel geben würdest…«, meinte Holger spöttisch und leider musste sie sich eingestehen, dass auch sie momentan keinen besonders guten Draht zu ihrem Sohn hatte.

»Wenn er das hier nicht will, dann soll er das sagen«, meinte Holger. »Dann komme ich damit auch klar, aber dann soll er sich bald entscheiden. Wenn der Betrieb ausläuft, kann ich mir die großen Investitionen nämlich sparen.«

»So weit sind wir ja bislang noch nicht«, entgegnete Christine.

»Du musst ihm noch Zeit geben, schließlich ist er erst Anfang zwanzig, da muss man ihm doch noch Freiheiten einräumen.

Er kann doch in dem Alter nicht immer nur arbeiten, er braucht noch Zeit für sich.«

»Ein Jahr gebe ich ihm ja noch«, meinte Holger. »Wir haben ja schon über das Auslandspraktikum gesprochen. Er soll sich im Ausland noch mal ansehen, wie es da so läuft, Erfahrungen machen, damit er vergleichen kann. Aber dann muss er sagen, was er will, vor allem muss er beweisen, dass auf ihn Verlass ist.«

Christine war wirklich in der Zwickmühle. Einerseits war sie wirklich der Meinung, dass Matti die Zeit für seine Entwicklung brauchte und in Ruhe prüfen sollte, was er im Leben wollte, andererseits aber nicht gerade jetzt, wenn Holger seine große Reise machte. Aber sie konnte nicht anders, sie musste ihren Sohn einfach in Schutz nehmen.

Im Handumdrehen waren sie in einen ziemlich überflüssigen Streit geraten und das am Abend vor Holgers Abreise. Als ob sie die Zeit nicht besser hätten ausnützen können. Bis das Telefon plötzlich geklingelt hatte. Irritiert hatten sie auf die Uhr geschaut, es war schon nach elf. Schließlich stand Christine auf und nahm den Apparat ab.

»Hallo, entschuldige, dass ich so spät noch störe, hier ist Grit Moinsen.«

»Hallo«, grüßte Christine ihre Nachbarin erstaunt, »Was gibt´s? Ist etwas passiert?«

»Kann es sein, dass euch ein Kalb abhanden gekommen ist? Hanno war eben noch mal bei den Schafen, weil sie so geblökt haben. Da hat sich doch tatsächlich ein neugeborenes Kalb ganz dicht an eines der alten Mutterschafe gekuschelt und schläft da ganz friedlich.«

»Was?«, fragte Christine ungläubig, »Bei uns hat heute tatsächlich eine Kuh gekalbt. Wir müssen erst mal nachsehen, ob das Kalb wirklich ausgebüxt ist. Ich kann mir aber gar nicht vorstellen, wie es aus dem Stall herausgekommen sein soll. Ich melde mich.« Damit legte sie auf und schaute Holger an, »Wir sollten mal nach dem Kalb sehen.«

Das Kalb war tatsächlich nicht in seinem Stall. Es hatte sich seinen Weg durch die Gitterstäbe des Fressgitters gebahnt, die sie fest mit Stroh ausgestopft hatten, eben weil so ein kleines Kalb sonst hindurchturnen konnte. Offensichtlich war die Strohbarriere nicht so fest gewesen, wie sie gedacht hatten und so war das Kalb auf seinen noch unsicheren Beinen wohl hindurchgepurzelt und hatte sich auf den Weg gemacht, immer der Nase nach, bis es Gesellschaft gefunden hatte.

Zum Glück schien nichts passiert zu sein, es hätte leicht irgendwo hineinfallen können oder auch vor ein Auto laufen. Es war ein überaus rührendes Bild, als sie bei ihren Nachbarn Grit und Hauke ankamen und im Schafpferch das Kälbchen eng an das Mutterschaf gekuschelt liegen sahen. Leider mussten sie das Idyll zerstören und das Kalb wieder in seinen eigenen Stall zurückbringen.

Über dieser ganzen Aktion war es noch später geworden, aber wenigstens hatte es sie von ihrem blöden Streit abgebracht.

Arm in Arm standen sie vor dem Kälberstall, nachdem sie das kleine Wesen, diesmal hoffentlich besser, untergebracht hatten, »Lass uns zu Bett gehen«, meinte Holger. »Um drei klingelt mein Wecker.« Christine nickte, »Tut mir leid, wegen des blöden Streits vorhin. Wir hätten die Zeit echt für was Besseres nutzen können, schließlich sehen wir uns eine Weile nicht.«

Diesmal nickte Holger zustimmend, »Kann ich dich denn mit all dem hier alleine lassen?«

»Ich bin ja nicht allein. Ich habe ja jede Menge Hilfe.«

»Ich freue mich total auf den Trip«, meinte Holger, »Ich kann noch gar nicht richtig glauben, dass es jetzt wirklich losgeht, aber natürlich sorge ich mich auch, dass hier alles glattgeht.«

»Fahr los und genieße deine Tour, wenn du erst mal angekommen bist, hast du wahrscheinlich auch mehr Abstand.

Mach dir keine Sorgen, wir kommen hier schon zurecht.

Hauptsache du kommst heil wieder nach Hause.« Christine hatte plötzlich Angst bekommen, dass etwas passieren könnte, doch Holger hatte ihre Sorgen zerstreut, sie fest in den Arm genommen und sie geküsst.

Jetzt war es halb vier am frühen Morgen, die Sonne war noch nicht aufgegangen, obgleich es schon dämmerig-hell war und Christine schaute immer noch in die Richtung, in die Richards Auto mit ihrem Mann verschwunden war.

Plötzlich durchströmte sie ein Gefühl der Leere. Die Nähe, die sie heute Nacht gespürt hatten musste lange vorhalten. Vier Wochen würde Holger weg sein. So lange waren sie in den Jahren seit sie sich kannten noch nie getrennt gewesen und sie wusste nicht einmal, ob Holger durchgehend Handyempfang haben würde, wahrscheinlich eher nicht. Aber sie wollte sich nicht der Melancholie ergeben. Holger würde eine schöne Zeit haben und sie bekam Besuch von ihren Schwestern, das würde bestimmt auch schön werden.

Christine überlegte, ob sie wieder zu Bett gehen sollte, aber dazu war sie zu wach, gefrühstückt hatte sie gerade und zum Melken war es jetzt noch zu früh. Ihr war kalt. Sie ging ins Haus und holte Holgers dicken Fließpulli aus dem Schrank. Als sie ihn übergezogen hatte, wurde es besser. Dann ging sie wieder hinaus und um das Haus herum am Gartenzaun entlang. Dahinter lag oberhalb der Rasenfläche die Terrasse und rings am Zaun entlang trennten Blumenrabatten den Wohngarten von den Wiesen ab.

Christine benutzte die kleine Pforte am Ende des Gartens und gelangte so auf den schmalen Trampelpfad, der zu ihrer Bank am Wiehbusch führte. Kessi lief neben ihr her, als sie den Weg zu ihrem Lieblingsplatz hinunter ging.

Holgers Fließpulli war angenehm warm und auch wenn er