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Der Gedanke an ein Ende der Menschheit oder an das Ende der Welt ist keinesfalls neu. Er flackert mit einiger Regelmäßigkeit in den Köpfen und Gesprächen der Menschen auf – vermehrt in Zeiten des Umbruchs. Hier wird aber nicht von der Apokalypse oder dem drohenden ökologischen Kollaps die Rede sein. Stattdessen geht es um die Frage, ob die Menschheit in ihrer historischen Entwicklung einen Punkt erreichen kann, an dem sich die endogenen Antriebe ihrer Geschichte erschöpfen. Es geht um die Möglichkeit einer inhärenten Grenze der Geschichte, die erreicht ist, wenn die Maschinen und Institutionen, die zwischen den Menschen vermitteln, grundsätzlich nicht weiter fortentwickelt werden können. Dann hat der Mensch des Abendlandes seine Vernunft restlos ausgelagert und im Objekt "zum Laufen" gebracht. Wir Menschen können nicht losgelöst von unseren Produkten betrachtet werden – seien es Werkzeuge, Maschinen, Schulen oder Fabriken. Wir sind immer schon nicht nur die Produzenten von Technik und Geschichte, sondern mindestens genauso deren Produkt.
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Seitenzahl: 728
WISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE AUS DEM TECTUM VERLAG
Reihe Geschichtswissenschaft
WISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE AUS DEM TECTUM VERLAG
Reihe Geschichtswissenschaft
Band 28
Anne-Kathrin Krone
Ende und Zukunft der Vernunft
Geschichte als Entsubjektivierung des Menschen in der Maschine
Tectum Verlag
Anne-Kathrin Krone
Ende und Zukunft der Vernunft. Geschichte als Entsubjektivierung des Menschen in der Maschine
Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag:
Reihe: Geschichtswissenschaft; Bd. 28
© Tectum Verlag Marburg, 2016
Zugl. Diss. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 2015
ISBN: 978-3-8288-6393-4
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3715-7 im Tectum Verlag erschienen.)
ISSN: 1861-7468
Umschlagabbildung: Francisco Goya El sueño de la razón produce monstruos
(Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer), Radierung, ca. 1797–98
(https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/ee/Goya-Capricho-43.jpg)
Umschlaggestaltung: Norman Rinkenberger | Tectum Verlag
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben
sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
INHALTSVERZEICHNIS
Danksagung
I.Einleitung
1.1Zielsetzung oder Dr. Frankensteins Problem
1.2Aufbau der Arbeit
II.Begriffsklärung und Programmatik
2.1Geschichte und Posthistoire
2.2Technik, Werkzeug und Maschine
2.3Medium/Medien
III.Gehirn und Geschichte
3.1Aufbau und Funktionalität des menschlichen Gehirns
3.2Das Gehirn als komplexer Verbund digitaler Pulsgeneratoren
3.3Geschichte und Selbstbewusstsein nach Gotthard Günther
IV.Vormoderne
4.1Vorbemerkung: Maßstäbe für die Primitivität einer Kultur
4.2Vorurteile: Das archaische Denken aus der Sicht der Moderne
4.2.1Erich Neumann: Der Uroboros als „Ur-Archetyp“
4.2.2Lucien Lévy-Bruhl: partizipation mystique
4.3Zwischenfazit: Synthese und Kollektiv im archaischen Denken
4.4Sprache und Mythos
4.4.1Der Mensch als animal symbolicum
4.4.2Funktion des Mythos
4.4.3Form des Mythos
4.5Die Ilias als Ausdruck des archaischen Denkens
4.5.1Homer als Brückenkopf zwischen Oralität und Literalität
4.5.2Achilleus´ Zorn und die Herrschaft der Götter
4.6Das archaische Denken unter der Herrschaft der Komplexität
V.Moderne
5.1Das Schreiben
5.1.1Vorbemerkung
5.1.2Die erste Phonemschrift
5.1.3Objektivität und Gesetz
5.1.4Platon: Das Schreiben als Schattenbild der Rede
5.1.5Aristoteles: Wahrheitssuche qua wohlgeformter Sätze
5.1.6Zusammenfassung
5.2Der Buchdruck
5.2.1Gutenbergs Leistung
5.2.2Der Buchdruck und die Dynamik der Reformation
5.2.3Autorschaft, Leserschaft, Wissenschaft
5.2.4Serielle Fertigung und Homogenisierung der Standpunkte
5.2.5Zusammenfassung
5.3Exkurs: Der Mensch als Maschine
5.3.1Descartes
5.3.2La Mettrie
5.3.3Zusammenfassung
5.4Der Webautomat und die Dampfmaschine
5.4.1Vorbemerkung
5.4.2Der Webautomat
5.4.3Die Dampfmaschine
5.4.4Das reaktionäre Handwerk: Die Ludditen
5.4.5Die Disziplinierung der Individuen
5.4.6Zusammenfassung
5.5Das moderne Denken unter der Herrschaft der Komplikation
VI.Postmoderne
6.1Die elektronische Rechenmaschine
6.1.1Geschichte des Computers
6.1.2Die Turingmaschine
6.1.3Vernetzte Turingmaschinen
6.2Nur noch Analphabeten?
VII.Transklassik
7.1Turing: Intelligente Maschinen und Maschinenerziehung
7.2Günther: Maschinen als kognitiv-volitive Systeme
7.3Der unmittelbare Nutzen transklassischer Maschinen
VIII.Fazit
IX.Literaturverzeichnis
X.Abbildungsverzeichnis
XI.Tabellenverzeichnis
DANKSAGUNG
Das vorliegende Typoskript stellt eine geringfügig revidierte Fassung meiner Dissertation dar, die ich im September 2014 der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg vorgelegt habe.
Beim Verfassen dieser Arbeit wurde ich von einigen Menschen ganz besonders unterstützt und gefördert. Deshalb ist es mir nicht nur ein Bedürfnis, sondern auch eine große Freude mich bei diesen Menschen zu bedanken. Ein besonderer Dank gilt der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und dem Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel. Diese beiden Institutionen waren für mich die letzten 10 Jahre eine Heimat, die meine Neugierde und meinen Drang nach Wissen maßgeblich mit ihren Angeboten, Förderprogrammen, aber auch Freiräumen angestachelt und geprägt haben.
Meiner Doktormutter, Frau Prof. Dr. Regine Kather, möchte ich von Herzen danken für ihre umfassende Betreuung und die stets anregenden Gespräche. Die von ihr geförderte Möglichkeit meine Doktorarbeit einem kleinen Kreis von Studenten und Doktoranten vorzustellen und der Kritik auszusetzen war für mich stets gewinnbringend. Deshalb gilt mein Dank auch ausdrücklich den Teilnehmern dieses Kolloquiums. Für die Erstellung meines Zweitgutachtens danke ich Frau Prof. Dr. Cornelia Brink, die ohne Zögern bereit war sich meinem interdisziplinären Thema zu öffnen.
Meinem besten Freund Dr. Marcel Vondermaßen danke ich, dass er mir nicht nur mit seinem kritischen, klugen und anregenden Geist zur Seite stand und steht, sondern mir vor allem ein ehrlicher und treuer Freund ist.
Ohne die Unterstützung von Dr. Friedrich Gerstenlauer auf allen Ebenen meines Daseins wäre der Weg zur fertigen Dissertation härter gewesen. Ich fühle mich mit dir verbunden und verwachsen, wie mit niemandem sonst. Danke für deine Liebe.
Schlussendlich möchte ich meiner Familie, besonders meinen Eltern danken. Durch euren vorbehaltlosen Rückhalt und eure konstante Zuneigung habt ihr mir ein Fundament gelegt, welches mir den Mut und den Willen gegeben hat mich diesem Projekt zu stellen. Deshalb möchte ich diese Arbeit meinen Eltern, Gerlinde und Heinz-Jürgen Krone, widmen.
I. EINLEITUNG
1.1 Zielsetzung oder Dr. Frankensteins Problem
„In der bisherigen Geschichte der Technik ist das Verhältnis von Subjekt und Objekt insofern irrtümlich beschrieben, als das klassische Denken dem Bereich der Seele noch eine überquellende Fülle von Eigenschaften zuweist, die in der Wirklichkeit auf die Dingseite gehören und dort als Mechanismen höherer Ordnung begriffen werden können. Solches bedeutet, daß die Geschichte der Technik als Auflehnung des Menschen gegen die Natur nicht im entferntesten zu Ende sein kann.“1
1816 schreibt die damals 19jährige Mary Shelley eine Geschichte, deren beide Hauptakteure – der Wissenschaftler und seine Kreatur – bis heute durch die Köpfe der Menschen geistern: ›Frankenstein, Oder der moderne Prometheus‹. Shelley schreibt in einer Zeit, in der man heute eine frühe Phase der Industrialisierung erkennt. Den Zeitgenossen zeigten sich die sozio-ökonomischen Umwälzungen in konkreten, mehr oder weniger zusammenhangslosen Ereignissen, Entwicklungen und Krisen: Die Napoleonischen Kriege stürzten England in die wirtschaftliche Depression, es folgten Arbeitslosigkeit und Hungersnöte, auf welche die englischen Handwerker und Arbeiter mit loser Unruhe, organisiertem Protest und den ersten Maschinenstürmen reagieren. In dieser angespannten Zeit verdüsterte sich urplötzlich der Himmel. Ein Vulkanausbruch in Indonesien schleuderte Asche und Staub in die Atmosphäre. „Die Folge war eine globale Abkühlung des Klimas, eine Umweltkatastrophe bislang unbekannten Ausmaßes, die weltweit zu Missernten führte.“2
In diesem „Jahr ohne Sommer“ versammelte sich am Genfer See in der Villa Lord Byrons eine kleine Gesellschaft, zu der auch Mary Shelley zählte.3 Aufgrund des schlechten Wetters begann man zum Zeitvertreib eigene Geistergeschichten zu verfassen. Neben der unheilvollen Atmosphäre wirkten auf Shelley die Gespräche der vergangenen Tage und Wochen über die wissenschaftlichen Experimente Erasmus Darwins, den aufkommenden Galvanismus und die Ludditen.4 Dazu mischen sich die Bilder eines Alptraumes – so schildert es Shelley 1831 in einer Einführung zu ihrem Werk5 – um der Welt jene Geschichte um Dr. Frankenstein und seine Kreatur zu schenken, die bis heute beunruhigt, beschäftigt und als Referenz für die Hybris moderner Wissenschaft gilt. Das kommt nicht von ungefähr.
Der junge, wissbegierige und überaus ehrgeizige Dr. Victor Frankenstein beschäftigt sich bereits im Studium mit der Grenze von Leben und Tod. Danach schottet er sich vollständig von der Welt ab und stürzt sich in die Suche nach einem Verfahren, mit dem sich der toten Materie Leben einhauchen lässt. Er will eine gänzlich neue Menschengattung schaffen.6 Dazu plündert er Beinhäuser, Anatomiesäle, Fried- und Schlachthöfe und flickt die Leichenteile von Menschen und Tieren sehr grob zusammen. Als die Winzigkeit der Organe die Arbeit aufhält, beschließt er „ein Wesen von riesiger Gestalt herzustellen, und zwar ungefähr acht Fuß groß und entsprechend proportioniert.“7 Nach zwei Jahren in der Isolation haucht er der leblosen Masse den Lebensfunken ein. Die Kreatur erwacht und ihr Schöpfer ist entsetzt:
„Wie soll ich meine Empfindungen beim Anblick dieser Katastrophe beschreiben oder wie das Scheusal schildern, das ich mit so unendlicher Qual und Hingabe zu gestalten unternommen hatte. Seine Gliedmaßen waren richtig proportioniert, und ich hatte ihm auch gefällige Gesichtszüge gegeben. Gefällig! Großer Gott! Die gelbliche Haut bedeckte kaum die darunter arbeitenden Muskeln und Adern; sein Haar war glänzend schwarz und wellig; seine Zähne perlweiß; aber diese Vorzüge bildeten nur einen umso gräßlicheren Gegensatz, zu den wäßrigen Augen, die fast dieselbe Farbe hatten, wie die trübweisen Höhlen, in denen sie saßen, zu der runzligen Gesichtshaut und den schmalen schwarzen Lippen.“8
Voll „abgrundtiefer Abscheu“ flieht Dr. Frankenstein die Szenerie.9 Als er zurückkommt, ist seine Kreatur – das namenlose „Monster“ – bereits in den Wald verschwunden. Ihn packt ein Nervenfieber und das Drama nimmt seinen Gang. Die Kreatur entwickelt von da an eine durchaus normale, nicht-monströse Persönlichkeit.10 Frankenstein verdrängt derweil den Gedanken an seine Schöpfung. Eines Tages taucht die Kreatur erneut auf, mittlerweile stark vom Leben und der Abneigung der Menschen gezeichnet, und fordert nicht nur die Liebe ihres „Vaters“ ein, sondern zwingt ihn, die Schöpfung zu vollenden und ein weibliches Pendant zu schaffen. Frankenstein zerstört sein Werk jedoch kurz vor der Vollendung.11 Denn er befürchtet „ein Geschlecht von Teufeln würde sich auf der Erde fortpflanzen, das die Existenz des Menschengeschlechts gefährden und Schrecken verbreiten würde.“12 Die Kreatur rächt sich daraufhin und ermordet der Reihe nach die Freunde und Verwandten Frankensteins.13 Am Ende jagt Frankenstein seine Kreatur durch die Eiswüste des Nordpols.14
Nun kann man die Geschichte von Dr. Frankenstein und seiner Kreatur ganz unterschiedlich ausleuchten und interpretieren. Die soeben gegebene Zusammenfassung gibt die Aspekte wieder, die für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind. Demnach handelt die Geschichte von einem Wissenschaftler, der das Leben nicht nur verstehen, sondern selbst erschaffen will. Im Schöpfungsprozess ist er allerdings nicht in der Lage seinen Gegenstand als Leben zu behandeln. Er behandelt ein totes Objekt und begreift den Körper als einen rein mechanischen Funktionszusammenhang. So macht Frankenstein keinen Unterschied zwischen tierischen und menschlichen Leichenteilen. Als ihm seine Kreatur als lebendiger Prozess entgegentritt – als ein fremdes Ich – überrascht ihn das vollständig. Frankenstein ist bis zum Ende nicht in der Lage die Verantwortung für seine Schöpfung, das Produkt seines Schaffens, zu übernehmen. Stattdessen begegnet er seiner Kreatur durchweg ablehnend und feindschaftlich. Auf der anderen Seite entwickelt die Kreatur mit dem ersten Atemzug einen eigenen inneren Antrieb. Es flieht in den Wald, wo es neben seiner Sprache und Vernunft seine Identität und einen eigenen Willen ausbildet.15 Letztlich will es aber nur Anerkennung und einen legitimen Platz zwischen den Menschen.
Das Verhältnis von Dr. Frankenstein und seiner Kreatur wird im Folgenden als eine Metapher aufgefasst, d.h. als ein Sinnbild mit mehreren Anschlussmöglichkeiten. Die Bedeutung dieses Bildes ist insofern vieldeutig und vielschichtig. Hier wird auf drei Aspekte abgehoben, die allerdings sehr eng miteinander verwoben sind: erstens ein logisch-formaler, zweitens ein historischer und drittens ein anthropologischer Aspekt.
Erstens ist das Ordnungsverhältnis von Bedeutung, das sowohl der Wissenschaftler zum untersuchten Gegenstand, als auch der Ingenieur zum konstruierten Gegenstand einrichtet. Man kann diesen Aspekt als den strukturellen oder den logisch-formalen Aspekt bezeichnen. Während die Asymmetrie zum Beispiel in der Theorie zwischen dem Denkprozess (Operator) und dem Denkinhalt (Operand) besteht – philosophisch gesprochen: zwischen dem Subjekt und dem Objekt – herrscht sie in der Praxis zum Beispiel zwischen Konstrukteur (Operator) und Konstrukt (Operand). Innerhalb dieses Ordnungsverhältnisses kann man die Plätze von Operator und Operand ganz unterschiedlich besetzten. So bestimmt wiederum im Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, entweder die Theorie die Praxis oder die Praxis die Theorie. Solange das Verhältnis eindeutig bestimmt sein soll, bedarf es aber der Entscheidung für eine konkrete Besetzung. Alles andere führt in logische Widersprüche, die zwar in der Diskussion am Leben gehalten werden können – etwa in der Frage, ob das Bewusstsein das Sein oder Sein das Bewusstsein bestimmt, ob der Mensch also frei oder determiniert ist – aber nicht in einer einzelnen wissenschaftlichen Theorie oder in einer einzelnen praktischen Maschine.
Zweitens wird hier die Eigendynamik, die sich mit der Schöpfung des Monsters entwickelt, als Metapher für das historische Verhältnis der Menschen zu ihren Maschinen und Institutionen aufgefasst. Man kann dies als den historischen Aspekt der Metapher bezeichnen. Sobald ein zielgerichtetes Verfahren – eine Technik – entäußert und dinghaft fixiert wird, beginnt dieses Verfahren zwischen den Menschen und anderen Dingen eine Art Eigenleben zu entwickeln. Indem ein Ordnungsverhältnis von Operatoren und Operanden als objektiver Zusammenhang vergegenständlicht wird – eine Maschine – erschafft der Konstrukteur einen relativ autonomen Prozess. Er entäußert konkrete Zweck-Mittel-Ketten, die ihm fortan als äußere Automatismen der materiellen Welt entgegentreten.16 Dabei ist er auf der Grundlage der oben genannten Logik nicht in der Lage die Maschine im Verlauf der Konstruktion als eigenständigen Akteur zu thematisieren. Sie ist nur Ergebnis seiner planerischen Tätigkeit und seines schaffenden Willens. Der Wissenschaftler17 hingegen nimmt das Objekt in seiner Theorie „wie es ist“ als Quelle der Wahrheit, die er entdecken will. Entweder ist dann die Maschine der willenlose Sklave des Menschen oder der Mensch das Opfer der Maschine.
Das Verhältnis wird zum Beispiel unter den Etiketten ›Unternehmertum‹ oder ›Fortschritt‹ einerseits und ›Globale Erwärmung‹ oder ›Zivilisationskrankheit‹ andererseits behandelt. Gemeinsam ist diesen Ansätzen in der Regel die kategorische Trennung von Mensch und Maschine. Ganze Forschungszweige widmen sich der ›Technikfolgenabschätzung‹ und vergessen meist, dass Menschen und Maschinen längst einen komplexen Verbund eingehen, den man andernorts ›Technologische Zivilisation‹ genannt hat.18 Erst die Dinge schaffen Dauer zwischen den Menschen. Dabei treten sie uns aber als eigenständige Akteure entgegen, wie etwa Bruno Latour nicht müde wird zu betonen.19 Weder der Wissenschaftler, noch der Ingenieur sind in der Lage dies zu berücksichtigen, solange ihr Denken und Handeln auf die klassische Dichotomie von Subjekt und Objekt gestützt bleibt, bzw. durch die zweiwertige Logik organisiert wird. Die ehemals willenlose Maschine verkehrt sich dann plötzlich in eine lebendige Kreatur, die auf Unverständnis, Abscheu und Furcht stößt, wo sie doch nur ihren legitimen Platz als Akteur unter Akteuren einfordert. Sie verwandelt sich dann in ein Monster, das nicht benannt werden kann. Das Monster verfolgt den Ingenieur oder Wissenschaftler, wie in einem Alptraum, da diese grundsätzlich kein Mittel haben, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, solange sie als Ingenieur oder als Wissenschaftler tätig sind. Die Maschine wird zum Werkzeug der Nemesis, der Göttin des gerechten Zorn und der strafenden Rache.
Drittens kann der Schöpfungsakt, in dem Dr. Frankensteins seine Kreatur belebt, als eine Metapher für die Menschwerdung insgesamt betrachtet werden. Man kann dies als den anthropologischen Aspekt der Metapher bezeichnen. Indem die Menschen die zielgerichteten Verfahren, über die sie verfügen, ganz oder teilweise an ihre Umwelt abgeben, wiederholen sie einen Teil ihrer Subjektivität in der Umwelt. Sie schaffen sich nicht nur künstliche Erweiterungen ihrer Körper, sondern entäußern auch ihre Denkinhalte – ihre Ziele, Motive, Ängste, Hoffnungen, Träume, etc. Das geschieht in Form von Symbolen, Werkzeugen, Maschinen und sonstigen Artefakten. In jüngster Zeit beginnen die Menschen sogar damit gewisse Aspekte ihres Denkprozesses auszulagern – diejenigen, die sich im Rahmen der zweiwertigen Logik als Ordnungsverhältnisse von Operatoren und Operanden fixieren lassen. Dabei verwirklichen und entdecken sich die Menschen als Menschen. Sie werden Menschen, indem sie ihre Körper in die Umwelt ausweiten und indem sie ihr Denken entäußern. Die Menschwerdung zeigt sich insofern als eine Geschichte der Entsubjektivierung. Um diesen Vorgang der Entsubjektivierung kann man spätestens seit Hegel wissen, bei dem Artefakte und Institutionen in der Geschichte als „objektiver Geist“ auftreten. Darin begegnen sich die Menschen dann im Verlauf der Geschichte selbst. Sie erkennen sich in ihren Entäußerungen. Kurz gesagt: Als Schöpfer vollziehen sie mit ihrer Schöpfung einen Identitätswechsel. Ein Indiz dafür zeigt sich im Umstand, dass die Kategorie ›Mensch‹ überhaupt erst in der Moderne Bedeutung erhält.
Nun durchdringen sich diese drei Aspekte der Metapher. Am Komplex, den sie zusammen bilden, eröffnet sich folgende Frage: Inwieweit lässt sich der Denkprozess überhaupt entäußern? Allgemeiner: Wenn die Menschheitsgeschichte tatsächlich als eine Geschichte der Entsubjektivierung erzählt werden kann, inwieweit nähert sich diese Geschichte dann im Computer ihrem Abschluss?
Dem wird die Arbeit im Folgenden nachgehen. Damit untersucht sie einerseits die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte der Entsubjektivierung. Den Fokus richtet sie dabei auf die Moderne und auf das Abendland, die weder geographisch, noch sprachlich oder ethnisch eingegrenzt werden, sondern aufgrund der Rationalität, die sie als Organisationsprinzip und Maßstab des Denkens und Handelns entwickeln. Dabei wird ›Rationalität‹ im Folgenden synonym mit ›Vernunft‹ und ›abendländischem‹ oder ›modernem Denken‹ gesetzt. Sie wird besonders in Kapitel 5.1.5 anhand von Aristoteles´ Syllogismus definiert. Das Abendland, bzw. die Moderne reicht insofern mit ihren Wurzeln bis ans antike Griechenland heran. (Eine weitere Wurzel findet sie eventuell im Christentum. Dieser Aspekt wird in dieser Arbeit jedoch ausgeklammert.)
Die Arbeit stützt sich in weiten Teilen auf Gotthard Günthers Werk. Das zeigt sich nicht nur explizit in den beiden gesonderten Abschnitten, in welchen sie sich sehr eng entlang der Günther´schen Texte bewegt. Es zeigt sich auch implizit in den eingehenden Definitionen und in der grundsätzlichen Frage, die gerade formuliert wurde. Allerdings arbeitet Günther den historischen Prozess der Entsubjektivierung nirgends detailliert heraus, auch wenn sich bei ihm sehr viele vereinzelte Verweise finden lassen. Das wird in dieser Arbeit nachgeholt. Damit beschäftigt sich die Arbeit unter anderem mit einem Thema, das bereits vielfach besprochen wurde. Sie fragt, ob und unter welchen Bedingungen die Möglichkeit besteht, dass die Geschichte – eventuell in naher Zukunft – an ihr Ende gelangt.
Der Gedanke an ein Ende der Menschheit, an das Ende eines Zeitalters oder an das Ende der Welt ist keinesfalls neu. Er flackert mit einiger Regelmäßigkeit in den Köpfen und Gesprächen der Menschen auf – vermehrt in Zeiten der Krise und des Umbruchs – zum Beispiel als Sorge um das eigene Seelenheil angesichts eines drohenden göttlichen Gerichts. In dieser Arbeit werden aber nicht die verschiedenen Eschatologien verschiedener Poly- und Monotheismen besprochen, noch das Versiegen natürlicher Ressourcen oder ein ökologischer Kollaps. Stattdessen stellt die Arbeit die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Menschheit in ihrer kulturellen Entwicklung einen Zustand erreichen kann, in dem sich die endogenen Antriebe ihrer Geschichte erschöpfen und keine grundlegend neuen Zustände mehr entworfen und/oder erreicht werden können. Es geht der Arbeit damit um die Möglichkeit einer inhärenten Grenze der Geschichte, die erreicht ist, wenn die Beziehungen, Maschinen und Institutionen, die zwischen den Menschen vermitteln, grundsätzlich nicht weiter fortentwickelt werden können – vorerst ganz gleich in welchem Sinne. Somit stellt sich auch die Möglichkeit, dass die technologische Entwicklung auf Dauer stagniert und sich in bloßer Spielerei begnügt, in der Variation und Tradierung unveränderlicher Paradigmen. Dünner, schneller, kleiner, wasserdicht, rot sind dann Variationen des Bestehenden und nichts grundsätzlich Neues, keine tiefgreifende Innovation. Die Arbeit sucht diese inhärente Grenze und identifiziert sie, bleibt dabei aber nicht stehen. Mit Gotthard Günther wagt sie darüber hinauszugehen und nicht nur die Möglichkeit einer transklassischen Maschine zu besprechen, sondern diese Maschine mit einem Grundmodell vorzustellen.
Bevor es aber im nächsten Abschnitt an den Aufbau der Arbeit geht, sei noch eine Warnung ausgegeben, um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Die Arbeit entwirft im Rahmen einiger hundert Seiten ein relativ einfaches Stufenmodell der Menschheitsgeschichte. Dabei geht sie notgedrungen exemplarisch vor – nicht etwa holistisch – indem sie einige wenige, möglichst relevante Kontinuitäten und Diskontinuitäten identifiziert, erörtert und aufeinander bezieht. Aber das bedeutet nicht, dass die Stufen und Ereignisse des geschilderten Prozesses zwangsläufig so kommen mussten, wie sie kamen. Es bedeutet ebenfalls nicht, dass die Arbeit einzelne Entwicklungsstufen als besonders „gut“ oder „schlecht“ bewertet, geschweige denn die individuellen Vertreter dieser Stufen.20 Vor allem bedeutet es nicht, dass die Menschheitsgeschichte einzig über diese Stufen und insofern streng linear verlief. Der Leser muss vielmehr annehmen, dass die Linearität des historischen Prozesses (history), von dem er liest, eine Wirkung der Erzählung (story) ist, die ich als Autor hier liefere.
Der vorliegenden Arbeit liegt ausdrücklich nicht die naive Vorstellung zugrunde, dass der historische Prozess der Menschheitsgeschichte restlos mit einer Erzählung der Menschheitsgeschichte zur Deckung gebracht werden kann. Sie nimmt vielmehr an, dass dieser Prozess im besten Sinne komplex war und damit vielschichtig verlief. Er verteilte sich auf eine Vielzahl von Orten, Perspektiven und Wirkungsverhältnissen, während eine einzelne Erzählung davon notwendigerweise eindimensional bleibt. Das ist der Perspektive des Autors geschuldet, wie der Perspektive des Lesers, die beide gemeinsam aus der Retrospektive Sinn im Vergangenen suchen. Es ist auch der Wissenschaftlichkeit des Textes geschuldet. Allein in ihrem Verlauf von Zeichenfolgen ist die gelieferte Erzählung streng linear. Sie gliedert sich in einzelne Sätze und Kapitel, die dann anhand bestimmter Beispiele bestimmte Entwicklungsstufen schildern. Diese Beispiele knüpfen wiederum aneinander an, bzw. bauen aufeinander auf. Anders wäre eine stringente Argumentation nicht zu erreichen. Dessen ungeachtet kann man annehmen, dass der historische Prozess selbst sehr vielschichtig war, dass zeitlich und räumlich ganz verschiedene, teilweise gegenläufige Entwicklungen wirksam waren. Man muss zudem annehmen, dass im Nachhinein ganz verschiedene Erzählungen Sinn machen können. Also gibt es nicht nur eine einzige wahre Geschichte (story) der Geschichte (history), sondern viele Geschichten (stories) über historische Prozesse (histories). Diese verschiedenen Geschichten dürfen allerdings nur unter gewissen Voraussetzungen nebeneinander gelten. Dazu zählt zum Beispiel der Nachweis, dass man die eigenen Aussagen von repräsentativen Quellen ableitet – zumindest dann, wenn man die Wissenschaftlichkeit der Aussagen wahren will. Am Ende hängt dann alles vom Urteil des Rezipienten ab. Kapitel 2.1 geht auf diesen Zusammenhang von Erzählung (story) und historischem Prozess (history) noch einmal ausführlicher ein.
Die ungewöhnliche Herangehensweise der Arbeit ist mitunter dem interdisziplinären Ansatz des Faches geschuldet – der Historischen Anthropologie – in dem diese Arbeit als Dissertation angefertigt wurde. Darum folgen noch kurz einige Worte zur Erklärung des Faches und seiner maßgebenden Fragestellung. Das erklärt ein Stück weit die Methode.
Die Historische Anthropologie untersucht die Kategorie ›Mensch‹ anhand der historischen Verwirklichung konkreter Menschen und Menschenbilder. Aber „den“ Menschen gibt es demnach nicht, nur Grundphänomene seiner Verwirklichung in ihrer historischen Veränderlichkeit. Die Historische Anthropologie untersucht den „Wandel des Beständigen“ (Jochen Martin) und fragt „nach menschlichen Grundphänomenen unter dem Gesichtspunkt ihrer Zeitlichkeit, ihrer Veränderbarkeit, ihrer je spezifischen Bedeutung für Gruppen und Kulturen.“21 Was zu diesen Grundphänomenen zählt, ist nicht verbindlich festgelegt. Gelegentlich wird in soziale und biologische Grundphänomene unterschieden, was allerdings problematisch ist, insofern viele dieser Phänomene – Krankheit, Tod, Nahrungssuche, etc. – nicht exklusiv menschlich sind, während andere – Heirat, Jenseitsvorstellungen, etc. – nicht alle Menschen betreffen. Darin liegt eine Herausforderung des Faches. Zudem erarbeitet die Historische Anthropologie ihre Fragestellungen im Schnittpunkt mehrerer Fachrichtungen – Geschichte, Philosophie, Archäologie, Soziologie, Ethnologie, Biologie, Neurologie, etc. – wobei auch der Fächerkanon nicht verbindlich festgelegt wird. Damit ist man in seinen Studien relativ frei, muss sich aber selbst um eine Fragestellung, einen Gegenstand, eine geeignete Methode und die geeignete Kombination verschiedener Fächer bemühen.
In dieser Arbeit wird gewissermaßen der Anker, den zwar alle Menschen, aber kaum Tiere teilen, an der Dingwelt festgemacht. Man untersucht in einem sehr allgemeinen Sinn die Verhältnisse der Menschen zu ihren Artefakten und Institutionen. Nach Martin ist es durchaus legitim, so zu verfahren, immerhin sind Gesetze, Geschichten, Werkzeuge oder Maschinen allesamt „menschliche Objektivationen“.22 Die Arbeit erarbeitet dabei ein spezifisches Menschen- und Geschichtsbild, in welchem die Menschen erst qua Geschichte zu Menschen werden. Die Geschichte wird dabei als Entsubjektivierungsprozess aufgefasst und wenn man so will „der“ Mensch als homo faber, der mit der Entäußerung seines Denkens und Wollens nicht nur Dinge anfertigt (Werkzeug, Texte, Maschinen, etc.), sondern darüber sich selbst behandelt und sich selbst in der Entäußerung als Mensch bildet. Damit sind heutige Menschen – wie die Arbeit proklamiert – nicht nur die Produzenten von Technik und Geschichte, sondern mindestens genauso deren Produkt. Die Menschen können nicht losgelöst von ihren Produkten betrachtet werden – seien es Werkzeuge, Maschinen, Schulen oder Fabriken. Sie sind immer schon über ihre Entäußerungen und also über die Welt mit sich und anderen vermittelt. Man könnte behaupten, dass Menschen zu Menschen wurden, als sie ihre Hände vom Boden lösten, um die Dinge wortwörtlich selbst in die Hand zu nehmen.23
Damit wird vor allem auch versucht, die Geschichte des modernen rationalen Denkens und Handelns nachzuverfolgen. Dabei untersucht man nicht einfach dessen Anfänge, sondern versucht dieser Rationalität in ihrem Entstehungsprozess auf die Schliche zu kommen, d.h. in ihrer historischen Konkretisierung. Dieses Konkret-Werden der Vernunft in der Geschichte ist die Entsubjektivierung des Menschen. Sie reichert die Welt mit Trommeln, Büchern, Gesetzen, Maschinen, etc. an und verändert gleichzeitig das Denken und Handeln der Menschen. In der Weise, wie der Mensch seine Einsichten und Antriebe in der Welt wiederholt, lernt er sich erkennen und begreifen. Im Gegensatz zu den verschiedensten Anthropologien geschieht die Definition des Menschen, d.h. dessen Abgrenzung hier nicht so sehr in Bezug auf das Tier, sondern ausdrücklich in Bezug auf die Maschine. Dass die Arbeit, bzw. die Geschichte, die erzählt wird, gelegentlich kleine Umwege nimmt, um auch von den Seitenarmen und Verästelungen des Hauptstromes zu berichten, ist notwendig, damit die Entstehung des Menschen in seiner Anpassung und (Selbst-)Disziplinierungen deutlich vor Augen tritt. Ich habe mich aber bemüht, den Ariadnefaden nicht aus den Händen zu geben, um mich nicht in der Unzahl möglicher Geschichten zu verlieren.
1.2 Aufbau der Arbeit
In Kapitel II werden zunächst einige maßgebende Begriffe der Arbeit definiert, mitsamt den Konzepten, die den Begriffen zugrunde liegen. Das sind in Abschnitt 2.1 besonders die Begriffe ›Geschichte‹ und ›Posthistorie‹, wobei der erste Begriff sowohl einen historischen Prozess meint, der sich aus einzelnen Ereignissen zusammensetzt, als auch eine Erzählung davon. Dem Verhältnis der beiden Bedeutungsebenen wird ausführlich nachgegangen, um der Arbeit ein tragfähiges Fundament zu schaffen. Der zweite Begriff erläutert den Umstand, dass historische Prozesse, samt den Erzählungen darüber an ein Ende gelangen oder stagnieren können. Abschnitt 2.2 definiert die Begriffe ›Technik‹, ›Werkzeug‹ und ›Maschine‹, wobei der erste Begriff jedes zielgerichtete Verfahren bezeichnet, der zweite den dinghaft fixierten Operator eines solchen Verfahrens und der dritte ein solches Verfahren insgesamt, sobald es als Ding ins Werk gesetzt wird. Der Abschnitt 2.3 widmet sich dem Begriff ›Medium‹, worunter wörtlich ein Mittler verstanden wird. Der Abschnitt geht von Claude E. Shannons Informationsbegriff aus, bzw. von dessen Kommunikationsmodell, bleibt dabei aber nicht stehen, da dieses Modell einen Sonderfall beschreibt. Ich zeige dann, wie in der Übertragung von Nachrichten zwischen Sender und Empfänger in der Regel die beteiligten Menschen und Dinge zu einem Zusammenhang verschmelzen. Insgesamt steht in Kapitel II der Umstand im Vordergrund, dass der Gebrauch jeder Technik und jedes Mittlers einschneidende Wirkung auf die Denkprozesse der Menschen hat. In dem Maß, in dem sich der Zugang des Menschen zur Welt verändert, verändert sich auch sein Denken.
Das Kapitel III beschreibt den Aufbau, die Funktionalität und die Leistung des menschlichen Gehirns. Damit wird unter anderem deutlich aufgezeigt, dass die Menschen jedweder Kultur und Epoche prinzipiell mit derselben „Hardware“ ausgestattet sind. Mit welcher „Software“ die Hardware bespielt wird, unterscheidet sich jedoch und zwar teilweise ganz erheblich, zumal sich in diesem Falle „Software“ und „Hardware“ wechselseitig bedingen und verändern können. Dabei werden in diesem Kapitel abermals maßgebende Begriffe der Arbeit definiert. Zudem wird wichtige Vorarbeit für Kapitel VII geleistet, wo es um die Konstruktion von Maschinen geht, die im weitesten Sinne in der Lage sein sollen ein menschliches Gehirn zu simulieren. Dabei fällt in Abschnitt 3.1 schnell auf, dass das Gehirn mehr ist als die Summe seiner Teile. Nicht die Funktionsteilung, sondern der komplexe Verbund der einzelnen Teile ermöglicht die Leistung dieses nervösen Apparates. In Abschnitt 3.2 wird dem weiter nachgegangen. Dazu wird mit Warren S. McCulloch anhand der möglichen Verknüpfung einzelner Neuronen eine formale Unterscheidung komplizierter und komplexer Prozesse vorgenommen, bzw. eine Definition der Antagonisten ›Hierarchie‹ und ›Heterarchie‹ gegeben. Die Begriffe sind im weiteren Verlauf nicht nur zur Unterscheidung des archaischen und des modernen Denkens relevant, sondern mindestens ebenso für das Schlusskapitel, in welchem es um einen Mechanismus der Vermittlung komplizierter und komplexer Prozesse geht. Abschnitt 3.3 widmet sich Gotthard Günthers Geschichtsbild und damit der Frage, wie das menschliche Selbstbewusstsein historisch in der Auseinandersetzung von Ich, Du, Welt und Technik entstand. Dabei unterscheidet Günther drei Stufen der Menschheitsentwicklung: Die primitive Kultur, die Hochkultur und die transklassische Kultur. Diese Unterscheidung dient der Arbeit als Anreiz und Vorbild. Allerdings wird diese Geschichte hier weitaus detaillierter erzählt und so weicht die Arbeit später auch immer wieder vom Hauptstrom dieser Geschichte ab, um den einen oder anderen Seitenarm oder Nebenfluss zu kartieren.
In Kapitel IV wird das vormoderne Denken untersucht. Das Kapitel ist in sich einigermaßen verschachtelt, was einerseits dem Gegenstand selbst geschuldet ist und andererseits dem Umstand, dass der Zugang zur Vormoderne schwierig ist. Entweder muss man wortwörtlich über holpriges Gelände an die Peripherie, um vor Ort die letzten Wildbeuter zu untersuchen – vorausgesetzt, es handelt sich dabei überhaupt um Vertreter der Vormoderne. Oder man liest Berichte über die oralen Kulturen der Vormoderne. Beides ist problematisch. Ich entscheide mich hier für den zweiten Weg, was mich gewissermaßen zum Lehnstuhlethnologen werden lässt. In Abschnitt 4.1 erfolgt daher eine Auseinandersetzung mit der Tradition der Lehnstuhlethnologen, wobei unter anderem der Vorwurf des Eurozentrismus entkräftet wird – vor allem, weil der Vorwurf hier ins Leere zielt. Diese Arbeit interessiert sich nicht für das archaische Denken an sich, sondern nur in Bezug auf die Moderne. Der Abschnitt 4.2 bespricht daher ausdrücklich zwei Vorurteile der Moderne bezüglich des archaischen Denkens: Einerseits Erich Neumanns Ansicht, dass der Uroboros als eine Art Ur-Archetyp das Wesen des archaischen Denkens auf den Punkt bringt, andererseits Lucien Levy-Bruhls Konzept der partizipation mystique. Von den beiden Vorurteilen werden in Abschnitt 4.3 zusammenfassend einige Punkte für die folgende Untersuchung übernommen und andere verworfen.
Abschnitt 4.4 arbeitet mit Ernst Cassirer und Hans Blumenberg heraus, inwiefern der Mythos als maßgeblicher Ausdruck des archaischen Denkens gelten kann. Das nimmt einige Zeit in Anspruch, weil der Abschnitt 4.4.1 zunächst eine Anthropologie entwirft, bevor sich dann der Abschnitt 4.4.2 der sinnstiftenden Funktion des Mythos widmet und Abschnitt 4.4.3 die Formen bespricht, in denen sich der Mythos bis heute (!) äußert. Die erhärteten Vorurteile werden dann in Abschnitt 4.5 anhand der ›Ilias‹ geprüft. Dabei wird die ›Ilias‹ als schriftlich fixierte Oralität aufgefasst, d.h. als Quelle, in der sich sozusagen die Vormoderne der Moderne mitteilt – weit mehr als in der ›Odyssee‹, deren listenreicher Held bereits das moderne Ich ankündigt. Man findet darin vor allem eine Bestätigung für die These, dass in der Vormoderne noch kein Ich oder Selbst im modernen Sinne existierte. Abschnitt 4.6 sammelt kurz und bündig die Ergebnisse der vorhergehenden Abschnitte. Dabei wird vor allem auch der Bezug zum übergeordneten Thema der Arbeit hergestellt, indem die Heterarchie als beherrschendes Prinzip des archaischen Denkens ausgemacht wird. Dieses Denken zeigt und verwirklicht sich vor allem in komplexen Prozessen. Doch es sei bereits hier betont, dass der Mythos und das Denken in Metaphern und Sinnbildern bis heute wirksam sind.
In Kapitel V wird das moderne Denken untersucht. Dabei ist zu beachten, dass sich insgesamt die Tendenz eines zunehmenden Pragmatismus in diesem Denken ausmachen lässt. Zugleich löst sich das Denken mehr und mehr von den denkenden Köpfen ab und beginnt in Form von geschriebenen oder gedruckten Texten zwischen den Köpfen zu zirkulieren. Neben den Inhalten des Denkens werden aber auch spezielle Formen des Denkens entäußert und dinghaft fixiert: die komplizierten Formen des rationalen Schlussfolgerns, die in modernen Maschinen und Institutionen ihre praktische Anwendung finden. Dabei vergegenständlicht der Mensch seine Rationalität nicht nur als Denken, sondern zunehmend auch als Wollen und Handeln.
Abschnitt 5.1.2 zeichnet das Aufkommen der griechischen Alphabetschrift nach. Diese ermöglicht überhaupt erst das logische Denken, weil erst mit der Schrift das Denken als Artefakt betrachtet, verbreitet und analysiert werden kann. Dabei entstehen mit der Fixierung der Sprache in der Schrift eine buchstäbliche Belegbarkeit und die Konstanz von Berichten und Erkenntnissen. Es entsteht eine Auslagerung vormals mentaler Erinnerungsfunktionen. Das ermöglicht unter anderem ein lineares Geschichtsbewusstsein, das sich auch Jahrhunderte später auf überlieferte Fakten stützen kann. Die sozialen Folgen der Schrift bespricht Abschnitt 5.1.3. Die Fixierung von Fakten, Gesetzen und Gedanken in der Schrift wurde aber nicht nur als Errungenschaft gefeiert. Abschnitt 5.1.4 bespricht daher an Platons ›Phaidros‹ die Skepsis und Ablehnung gegenüber der Schrift – bzw. Platons hohe Wertschätzung für das gesprochene Wort und den Mythos. Mit der Schrift sei weder aktive Wissensaneignung möglich, noch könne damit echtes, nämlich eigenes Wissen erzeugt werden. Platon sieht darin den Zerfall des menschlichen Erinnerungsvermögens, da der Mensch sich nun ganz auf dieses künstliche Gedächtnis verlassen könne. Abschnitt 5.1.5 stellt dann mit Aristoteles den Syllogismus als ideale Form des abendländischen Denkens dar: Die logische Schlussfolgerung in Form einer Kette eindeutig wahrer und falscher Aussagen. Während sich in der Schrift bereits der Buchstabe von seiner Bedeutung ablöst und zur bloßen inhaltslosen Form wird, stellt Aristoteles die Verknüpfungsregeln des beweisenden Denkens auf. In seinem Formalismus liefert er ein zielgerichtetes Verfahren, welches schrittweise eindeutig wahre und/oder falsche Aussagen erzeugt. Dabei schaffte er die Grundlagen des rationalen Denkens, wie sie bis heute gelten. Er liefert die exakten Regeln und die Zielsetzung rationaler Beweisführung und von da an wird jeder automatisch zu allgemein gültigen Sätzen gelangen, solange er sein Denken diesen Regeln unterordnet. Ihre Axiomatik findet diese wohlgeformte Form in drei Axiomen. Auch diese werden in diesem Abschnitt besprochen, um damit für die Arbeit insgesamt eine grundlegende Definition zu liefern, was unter Rationalität, Vernunft, zweiwertiger Logik und modernem Denken zu verstehen ist.
Abschnitt 5.2 bespricht den Buchdruck und dessen Einfluss auf das Denken. Er löst die Schrift aus ihrer elitären Einkapselung und macht damit Wissen einer größeren Öffentlichkeit zugänglich. Dabei entwickelt sich mit dem von Gutenberg optimierten Druckverfahrens eine vollständige Uniformität und Wiederholbarkeit des gedruckten Textes. Abschnitt 5.2.1 bespricht das Verfahren. Einerseits wird damit das Buch zum Massenmedium, andererseits zeigt sich hier sehr gut, dass Operationen in einzelne Schritte aufteilbar sind, die dann mechanisiert und damit einer vernunft- und gesetzmäßigen Betriebswirtschaft unterworfen werden können. Dieser Anspruch auf Gesetzmäßigkeit beginnt sich auch auf das Individuum auszubreiten. Zuerst indem durch die Reformationsbewegung Luthers die gottgegebene Autorität der Kirche in Frage gestellt wird, wie Abschnitt 5.2.2 bespricht. Damit ergibt sich zudem ein Dominoeffekt, da nun prinzipiell alle bislang gottgegebenen Institutionen als menschengemachte Institutionen entlarvt werden können. Die Ablösung der Autorität durch das Argument wird in Abschnitt 5.2.3 behandelt, um in Abschnitt 5.2.4 zu zeigen, dass durch die Mechanisierung der Schrift nicht nur eine Homogenisierung des Buchdrucks, sondern auch der visuellen Wahrnehmung vonstattenging. Wissen und Erkenntnisse sollen nicht nur für eine große Masse zugänglich gemacht werden, sondern ebenfalls verständlich und nachvollziehbar sein. Durch diese Eichung und Gleichmäßigkeit, die zwischen Text, Abbildungen und Erklärungen erzeugt wurde, kam ein intersubjektiver Blick zustande. Dieser Blick homogenisiert allmählich auch die Denkprozesse des Menschen.
Abschnitt 5.3 bietet einen Exkurs, der einerseits Descartes Unterscheidung in res cogitans und res extensa behandelt, die einen weiteren Markierungspunkt des zweiwertigen Denkens setzt. Andererseits wird darin La Mettries Analogie von Mensch und Maschinen dargestellt. Damit soll aufgezeigt werden, wie sich in der Moderne das Selbst-Bild des Menschen in einem radikalen Umbruch befindet. Während bereits Descartes den menschlichen Körper auf reine Materie und damit auf die Mechanik einer Maschine reduziert, radikalisiert La Mettrie diesen Gedanken, indem für ihn auch die Seele zum Mechanismus wird – zumindest in der recht einseitigen Wahrnehmung der Zeitgenossen, denn La Mettries Mensch-Maschine ist in wesentlichen Punkten ein komplexes System.
Abschnitt 5.4 beschreibt mit der Entwicklung des Verbundes von automatischem Webstuhl und Dampfmaschine gewissermaßen das Pragmatisch-Werden der Vernunft und eine zunehmende Entäußerung des Willens. Während die Schrift und der Buchdruck das Wissen vom Wissenden abkoppeln, werden mit dem Webstuhl und der Dampfmaschine nicht nur Denkinhalte, sondern zielgerichtete Verfahren in der Umwelt des Menschen fixiert. Dadurch werden erstens das handwerkliche Können und Wissen (Knowhow) und zweitens die menschliche Körperkraft auf Maschinen übertragen. Dies wird in den Abschnitten 5.4.2 und 5.4.3 beschrieben. Dabei stehen die allmähliche Automatisierung des Webvorgangs und der damit einhergehenden Programmierung des Stoffmusters mit Hilfe eines binären Codes im Fokus der Untersuchung. Zugleich interessiert hier die Verbindung von Arbeits- und Kraftmaschine unter dem Einfluss des ökonomischen Effizienzprinzips. Die Industrialisierung des Handwerks und das damit einhergehende neue Verhältnis von Mensch und Maschine werden in Abschnitt 5.4.4 an den Reaktionen der Ludditen besprochen. Die Maschine wird zur Konkurrenz des Handwerkers. Sie arbeitet schneller, präziser und wirtschaftlicher als ein Mensch. Mit der Industrialisierung wird nicht mehr nur die Maschine nach dem Vorbild des Menschen konstruiert, sondern der Mensch muss sich dem Funktionsprinzip und der Leistung der Maschine anpassen. Die Disziplinierung des Individuums nach dem Maschinen-Ideal, also nach Produktivität und Nützlichkeit und seinen Anschluss an den Produktionsapparat wird dann mit Foucault und Taylor in Abschnitt 5.4.5 recht ausführlich behandelt. Danach sammelt der Abschnitt 5.5 die Ergebnisse der vorhergehenden Untersuchungen, um die modernen Verhältnisse von Menschen und Artefakten in ihren unterschiedlichen Facetten auf einen Nenner zu bringen. Es wird vor allem wieder der Bezug zum übergeordneten Thema der Arbeit hergestellt, indem nunmehr die Hierarchie als das beherrschende Prinzip des modernen Denkens und Handelns ausgemacht wird. Dieses Denken und Handeln verwirklicht und zeigt sich vor allem in komplizierten Prozessen.
Kapitel VI bespricht die Zeit, in der wir uns heute befinden. Das geschieht unter dem Titel ›Postmoderne‹, weil nicht klar ist, was die Zukunft bringt. In der Rückschau bestätigt sich darin aber jene allgemeine Tendenz des Pragmatisch-Werdens der Vernunft. Zunächst wird hier in Abschnitt 6.1.1 relativ kurz eine Geschichte des Computers unter mehreren erzählt. Darauf folgt in Abschnitt 6.1.2 die Beschreibung der universellen Turingmaschine als dem allgemeinen Modell eines Computers. Ich zeige daran sein grundsätzliches Funktionsprinzip. Dabei wird die Grenze seines Könnens schnell ersichtlich: Ein Computer ist durch seine Algorithmen vollständig determiniert. Seine Leistung beschränkt sich darauf entscheid-bare Fragen beantworten zu können. Die Antwort auf unentscheidbare Fragen benötigt jedoch einen freien Willen, den die klassische Maschine nicht hat. In Abschnitt 6.1.3 bespreche ich die Vernetzung von mehreren Computern und mehreren Menschen. In diesen Netzen wird der Computer zum Element eines komplexen Systems, das in einigen grundsätzlichen Überlegungen als das Internet besprochen wird. In Abschnitt 6.2 wird daran besprochen, inwieweit sich das Denken des Menschen an diese Struktur des Netzes angepasst hat, bzw. ob in der Gegenwart abzusehen ist, was für Veränderungen sich für den Menschen ergeben. Das ist ein relativ schwieriges Unterfangen, weil ich keinen Blick von außen habe, sondern selbst mitten in diese Netze eingewoben bin. Es bleibt insofern bei einer relativ unverbindlichen Einschätzung. Das zeigt sich, wie gesagt, auch im Titel dieses Kapitels.
Kapitel VII bespricht die Möglichkeit einer transklassischen Maschine. Dazu greife ich in Abschnitt 7.1 die Überlegungen Turings auf, der eine intelligente Maschine und die Notwendigkeit bespricht, diese Maschine zu erziehen. Dieser Abschnitt dient besonders dazu aufzuzeigen, dass wirkliche Willensfreiheit in einer vollständig determinieren Maschine, die nur zwischen zwei Werten entscheiden kann, nicht aufzuweisen ist, auch wenn ein Zufallsprinzip eingebaut ist. Abschnitt 7.2 entwirft dann mit Gotthard Günther das Modell einer Maschine, die nicht nur intelligent ist, sondern einen eigenen Willen hat. Die transklassische Maschine zeichnet sich dadurch aus, dass sie als kognitiv-volitives-System aus eigener Leistung in der Lage ist ihre Umwelt zu erkennen und gleichzeitig dieser Umwelt gegenüber einen eigenen Willen zu entwickeln. Hier wird die Proemialrelation vorgestellt – die Relation der Relationen – die es möglich macht Erkenntnis- und Willensprozesse als Prozesse gleichzeitig und ohne Widersprüche in einem einzelnen System ins Werk zu setzen. Im Anschluss daran diskutiert Abschnitt 7.3 relativ knapp den unmittelbaren Nutzen einer solchen Maschine, indem einige Anwendungsmöglichkeiten gestreift werden.
Kapitel VIII hebt endlich zum Fazit an. Darin wird in groben Zügen die Frage beantwortet, die eingangs – im vorhergehenden Abschnitt – gestellt wurde.
1Günther, Gotthard: Maschine, Seele und Weltgeschichte, in ders.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik Bd. 3, Hamburg 1980, S. 211-235, S. 224.
2Pechmann, Alexander: Mary Shelley. Leben und Werk, Düsseldorf 2006, S. 69.
3Mary Shelley war als 17jährige 1814 ohne Einverständnis des Vaters mit dem bereits verheirateten Percy Shelley in die Schweiz geflohen. Vgl. Priester, Karin: Die Frau, die Frankenstein erfand, München 2001, S. 51.
4Mary Shelley war sehr belesen und in vielerlei Hinsicht interessiert, so dass man sie als einen durchaus aktiven Teilnehmer dieser Gespräche auffassen muss. Vgl. Shelley, Mary: The Shelley´s Reading List, in: Paula Feldmann, Diana Scott (Hrsg.): The Journals of Mary Shelley. Volume II: 1822-1844, Oxford 1987, S. 631-685. Diese Liste gibt die umfangreiche Lektüre von Shelley zwischen den Jahren 1814 und 1822 wieder.
5Vgl. Shelley, Mary: Einführung der Autorin von 1831, in: ders.: Frankenstein oder der moderne Prometheus, Stuttgart 2005, S. 5-12, S. 9f.
6Vgl. ders.: Frankenstein oder der moderne Prometheus, 2005, S. 66-71.
7Ebd., S. 69.
8Ebd., S. 74.
9Vgl. ebd., S. 75f.
10Das Monster wiederholt im Wald exakt die Entwicklungsstufen, die Rousseaus ›Émile‹ vorgibt. Mary Shelley las 1816 Rousseaus Buch, siehe hierzu: Shelley: The Shelley´s Reading List, in: Feldmann, Scott (Hrsg.): The Journals of Mary Shelley, 1987, S. 631-685.
11Vgl. ebd., S. 184-213.
12Ebd., S. 213.
13Vgl. ebd., S. 215-254.
14Vgl. ebd., S. 262-267.
15Vgl. ebd., S. 144-168.
16Zur Definition der Begriffe ›Technik‹ und ›Maschine‹ vgl. Abschnitt 2.2 dieser Arbeit.
17Ich nutze in der Arbeit bei allgemeinen personenbezogenen Bezeichnungen das generische Maskulinum. Diese Entscheidung ist darin begründet, dass ich den Text angenehmer zu lesen finde, wenn durchgehend in einer Geschlechtsform geschrieben wird.
18Vgl. Klagenfurt, Kurt: Technologische Zivilisation und transklassische Logik. Eine Einführung in die Technikphilosophie Gotthard Günthers, Frankfurt/Main 1995, S. 19.
19Vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt/Main 2008, S. 189-193.
20Kapitel 4.1 widmet sich einigen Maßstäben zur Bewertung gesellschaftlicher Entwicklungsstufen.
21Martin, Jochen: Der Wandel des Beständigen. Überlegungen zu einer historischen Anthropologie, in: Aloys Winterling (Hrsg.): Historische Anthropologie, Bd. 1, München 2006, S. 143-159, S. 152.
22Vgl. ebd., S. 156.
23Vgl. Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/Main, 3. Aufl., 1984. Dieser junge Klassiker ist in seinen Forschungsergebnissen und Referenzen teilweise veraltet, in der besagten Grundannahme aber nach wie vor aktuell.
II. BEGRIFFSKLÄRUNG UND PROGRAMMATIK
2.1 Geschichte und Posthistoire
›Ende der Geschichte‹ und ›Posthistoire‹ sind Bezeichnungen, die hier weitgehend synonym verwendet werden, auch wenn sich die erste Bezeichnung, streng genommen, auf einen Zeitpunkt bezieht und die zweite auf eine Zeitphase. Aber der Unterschied ist für die Untersuchung nicht allzu wichtig. Erstens nehmen in der Regel beide Bezeichnungen auf ein und dieselbe Geschichtskonzeption Bezug. Diese prognostiziert, grob gesagt, dass die Menschheit nach einer Phase der Fort- und Weiterentwicklung (Moderne) automatisch in eine Phase der Stagnation (Posthistoire) übergeht – wenn nicht in eine Phase des Verfalls, wie etwa bei Oswald Spengler. Zweitens wird der Übergang von der dynamischen in die statische Phase in dieser Arbeit nicht als ein abrupter Wechsel behandelt, sondern selbst wiederum als ein Vorgang oder Prozess. Demnach ist das Ende der Geschichte kein singuläres, wenn auch globales Ereignis, das plötzlich ein für alle Mal eintritt, wie etwa der Herztod oder die September-Anschläge 2001. Vielmehr nimmt die Arbeit an, dass sich dieses Ende auf eine gewisse Dauer hin erstreckt, indem es sich bereits während der Moderne in verschiedenen Ereignissen andeutet, während auch die Moderne noch im Posthistoire nachklingt.
Indem das Ende der Geschichte nicht als ein Ereignis, sondern als ein Prozess oder zumindest als eine Anhäufung von Ereignissen gefasst wird, bezieht die Arbeit bereits Position. Dabei fasst sie als Ereignis jedes beobachtbare Geschehen, das zwischen einem „Vorher“ und einem „Nachher“ unterscheidet, während sie mit Prozess einen Vorgang meint, der verschiedene Ereignisse miteinander verknüpft. Bevor die eigene Position in Bezug auf andere Positionen genauer umrissen wird, widmen sich die folgenden Seiten der knappen Erörterung einiger maßgebender Begriffe, wie ›Geschichte‹, ›Menschheit‹ und ›Moderne‹.
Die Rede vom Ende der Geschichte, bzw. die verschiedenen Konzeptionen vom Posthistoire und vom Ende der Geschichte setzen voraus, dass man überhaupt erst angeben kann, was mit ›Geschichte‹ gemeint ist, dass man also zwischen Geschichte und Nicht-Geschichte unterscheiden kann. Dazu muss man irgendwo ansetzten und das ist in diesem Fall bei der Trennung in ›Menschheit‹ und ›Natur‹. Diese Trennung ist höchst umstritten und völlig zu Recht, wenn man sie als etwas Absolutes setzt, als primordiale oder gottgegebene Wahrheit. Aber hier wird diese Trennung in Bezug auf diejenigen vorgenommen, die eben diese Trennung vornehmen. Das sind bislang nur Menschen (homo sapiens sapiens), bzw. gewisse menschliche Individuen und Gruppen. Nur in und zwischen Menschen entstanden bisher Formen der Selbstbetrachtung, in der alle Menschen (Artgenossen) zusammengefasst und gegen den Rest der belebten und unbelebten Materie (Natur) abgegrenzt wurden.
Nur Menschen bringen sich selbst auf Begriffe. Zwar kommunizieren auch andere Tiere – neben den Menschen – die verschiedenen Situationen, in denen sie sich jeweils befinden. Dazu verwenden sie möglichst eindeutige Zeichen (Signale), die sie situationsbedingt modulieren und teilweise sogar kombinieren können. In gewisser Weise machen das selbst Pflanzen und einzelne Zellen. Bei Schimpansen, Delphinen, Hunden, etc. sind darüber hinaus gewisse Formen der Selbstbetrachtung nachweisbar, die auf eine Art Selbstbewusstsein schließen lassen.24 Aber mehrdeutige Zeichen (Symbole) und damit Sprachen, in denen sich neben aktuellen Situationen, auch vergangene und mögliche, also nicht-aktuelle Situationen thematisieren und mitteilen lassen, entwickelten sich bislang nur im menschlichen Miteinander. Darum sind bislang nur Menschen in der Lage sich gegenseitig Geschichten zu erzählen, mitunter Geschichten, in denen sie selbst vorkommen. Eine solche Geschichte ist die Menschheitsgeschichte und diese unterscheidet gewöhnlich zwischen der Menschheit einerseits und dem Rest der Natur andererseits.
Zweifellos gibt es in der Natur zahllose Ereignisse und Prozesse. Die Natur wimmelt sozusagen davon. Falls alle diese Ereignisse und Prozesse in einem übergeordneten Vorgang zusammenlaufen, der etwa zwangsläufig – gemäß den Regeln der Thermodynamik – vom Urknall in den universalen Wärmetod führt, gibt es auch eine Naturgeschichte. Aber diese Geschichte wird von Naturwissenschaftlern erzählt, nicht von der Natur selbst. Genauer gesagt, bringt sich die Natur erst auf Begriffe, indem sie Naturwissenschaftler hervorbringt.25 Das geschieht bekanntlich, bzw. einer etablierten Erzählung gemäß, in einer relativ späten Phase der Menschheitsgeschichte, nämlich frühestens vor dreitausend Jahren mit dem Heraufdämmern des logischen Erzählens. Bis dahin – und noch heute – macht das mythische Erzählen keinen erkennbaren Unterschied, was menschliche und natürliche Zusammenhänge betrifft. (Zu den beiden Erzählformen bald mehr.) In gewisser Weise ist die Natur also eine Geschichte – sowohl als Vorgang, als auch als Erzählung – aber sie hat keine Geschichte, so wie die Menschen eigene Geschichten haben – in Biographien, Stammbäumen, Lehrplänen, Foto-Alben, nationalen Gedenkfeiern, Reiseführern, Märchen, etc.
Mancher wird an dieser Stelle einwenden, es sei völlig unzulässig, die beiden Bedeutungen des Geschichtsbegriffes derart unbekümmert zu vermischen – Geschichte einerseits als Vorgeschehen und Entwicklungsgang eines konkreten Zusammenhanges, d.h. als Prozess oder Vorgang (history) und andererseits als Bericht oder Erzählung (story).26 Aber diese beiden Bedeutungen sind unlösbar miteinander verwoben, wie Vilém Flusser anmerkt:
„Damit ein Vorgang als solcher wahrgenommen wird, muß er erzählt werden. Und damit eine Erzählung Erzählung ist, muß etwas vorgehen. Jeder Versuch, Geschichte im ersten Sinn von Geschichte im zweiten Sinn deutlich zu trennen, also Historie von Historiographie, history von story, muß Verwirrung stiften, anstatt sie zu beheben. […] Der Trojanische Krieg ist ein Teil der Geschichte und das hat er der Ilias zu verdanken. Und die Ilias ist ein Teil der Geschichte, und das hat sie dem Trojanischen Krieg zu verdanken.“27
Die Vermischung der beiden Bedeutungen birgt die Gefahr, dass man sich in einem Zirkel verliert, weil man nicht länger in der Lage ist den Gegenstand des Historikers (Vorgang) und dessen Begrifflichkeit (Erzählung) eindeutig voneinander zu trennen und in ein klares Verhältnis zu setzen. Dann hat die Natur keine eigene Geschichte. Natur und Menschheit bringen sich wechselseitig hervor. Nun ist einerseits „die Menschengeschichte ein spätes Kapitel der Naturgeschichte und andererseits die Naturgeschichte ein spätes Kapitel der Menschengeschichte.“28 Man läuft in Gefahr sich in Sophismen zu verstricken. Ist das Gehirn nun in der Welt oder die Welt im Gehirn? Aber diese Gefahr herrscht für Flusser nur so lange, wie man das Verhältnis von Vorgang und Erzählung selbst wieder historisch denkt, d.h. als klare Abfolge und eindeutiges Kausalverhältnis, eben wie ein Historiker, der sich genötigt sieht, seine Erzählung vollständig von „historischen Fakten“ abzuleiten. Für das posthistorische Denken spricht hingegen alles dafür den Zirkel im Denken zuzulassen und sich ansonsten nicht weiter darum zu kümmern. „Denn für das nachgeschichtliche Denken, wenn der Hund seinen Schwanz nicht mehr jagt, ist die Naturgeschichte eine der Erzählungen der Kulturgeschichte und gerade deshalb die Kulturgeschichte ein Teil der von ihr selbst erzählten Naturgeschichte.“29
Falls man den Zirkel nicht länger als ein Problem ansieht, opfert man die behagliche Gewissheit, dass es die Geschichte als einzig wahren Vorgang gibt, von dem sich – die richtige Lesart der Quellen vorausgesetzt – eine einzig wahre Erzählung ableiten lässt. An die Stelle der Geschichte treten mit einem Male viele Vorgänge und Erzählungen nebeneinander, die sich alle irgendwie gegenseitig hervorbringen. Man steht dann vor der Entscheidung, ob man diese Vielfalt einfach bunte Vielfalt sein lässt oder ob man sie wieder in einer übergeordneten Erzählung und in einem übergeordneten Vorgang unterbringen möchte, wie wenn man einen Bienenschwarm einfangen will, der keine Königin mehr hat, der vielleicht nie eine hatte, der genau genommen seine Einheit erst mit der Kiste erhält, in die man ihn steckt.
Im ersten Fall ist die Vorstellung von der einen, wahren Geschichte zu Ende und man darf sich anderen Themen zuwenden. Der Historiker steht nun vor einem Scherbenhaufen und wenn er geschickt ist, bezeichnet er sich als „relativistischen Kulturtheoretiker“ oder ähnliches, um mit den Scherben Kaleidoskope zu basteln, wo doch jeder Student eine andere Vielfalt bestaunen will. Man befindet sich nunmehr im Posthistoire, falls man darunter das Ende des historischen Bewusstseins insgesamt und das Ende der großen Erzählungen versteht, bzw. in der Postmoderne, wenn diese die Moderne als das Zeitalter des historischen Bewusstseins und des Glaubens an die großen Erzählungen ablösen soll.30 Die Einheit der Geschichte ist dann vor allem die Einheit eines großen sinn- und identitätsstiftenden Systems von Erzählungen. Entsprechend ist das Ende der Geschichte das Ende dieses Systems. In dem Fall muss man sich sogar anderen, nicht-historischen Themen zuwenden. Solange man noch von dem Posthistoire oder von der Postmoderne redet, erzeugt man nur wieder eine große Erzählung, im Versuch die eigene Zeit in einer übergeordneten Geschichte zu verorten. Erst wenn dieses Gerede ganz verstummt, ist das historische Bewusstsein gänzlich aufgelöst. Paradoxerweise lässt sich davon aber nur erzählen, indem man eine weitere Geschichte erzählt. „Posthistoriker, Leute, die vom Ende der Geschichte erzählen, sind notwendigerweise Geschichtenerzähler.“31 In einer solchen Geschichte vom Ende der Geschichte kann dann das Ende der großen Erzählungen und des historischen Bewusstseins freilich nur als ein Indiz oder Symptom des Posthistoire gelten, nicht als dessen Ursache.
Im zweiten Fall entschließt man sich dazu die herrschende Vielfalt der Vorgänge und Erzählungen als einen mehr oder weniger losen, aber doch singulären Zusammenhang zu betrachten, dessen Gesamtheit irgendwie gegeben ist, mag sie auch noch so widersprüchlich und komplex sein. Von diesem Zusammenhang kann dann ein einzelner Erzähler kaum mehr als eine grobe Skizze liefern. Diese Skizze ist nicht nur grob, sondern auch an eine einzelne Perspektive gebunden – an eine Zeit, an einen Willen, ein Wissen, ein Nicht-Wissen, etc. – hat doch jeder Erzähler als Erzähler einen bestimmten Standpunkt – auch ein idealer Erzähler. Selbst eine Erzählung, die vom Nebeneinander vieler Standpunkte erzählt, bündelt die vielen Standpunkte in einem Standpunkt. Das heißt nicht, dass es Vorgänge nur abhängig von Erzählungen gibt. Es gibt sie auch unabhängig davon. Aber solange diese Vorgänge in einer Erzählung Sinn machen, dann stets für jemanden, also in Bezug auf eine bestimmte Perspektive. In Anbetracht dessen kann man nach wie vor sinnvoll vom Posthistoire und vom Ende der Geschichte sprechen, wenn man sein Augenmerk nicht auf das Ende aller großen Erzählungen richtet und nicht auf die Vielfalt als solche, sondern auf das Ende eines bestimmten Vorganges. Dazu entschließt sich diese Arbeit. Dann ist erstens zu klären, welcher Vorgang im Detail erzählt wird, zweitens, wie man dieser Geschichte Gewicht verleiht. Im Folgenden geschieht das mit einer Reihe von Annahmen und Entscheidungen.
Erstens nehme ich an, dass Vorgänge existieren, unabhängig davon, ob es jemanden gibt, der diese Vorgänge bemerkt oder davon erzählt. Demnach darf man sich zum Beispiel darüber streiten, ob Bäume, die unbemerkt umstürzen, Geräusche verursachen oder nicht. Immerhin lässt sich behaupten, dass Geräusche nicht nur beim Sender, sondern auch beim Empfänger entstehen. Aber es wird zumindest hier vorausgesetzt, dass Bäume unbemerkt umstürzen können.
Zweitens nehme ich an, dass sich Vorgänge in Ereignissen zeigen, wenn sie sich überhaupt zeigen. Falls also jemand das Umstürzen eines Baumes bemerkt, dann darin, dass dieser jemand im Umstürzen des Baumes vorherige und nachfolgende Zustände des Sturzes erkennen und dann zu einem Umsturz aneinanderreihen kann.
Drittens nehme ich an, dass Vorgänge enden können, wobei die Arbeit zwischen inneren (endogenen) und äußeren (exogenen) Ursachen dieses Endes unterscheidet. Der physikalische Vorgang des Umstürzens ist zum Beispiel beendet, wenn der Baum zum Liegen kommt. Zugleich ist der Umsturz ein Ereignis im Leben des Baumes, der als biologisches System keimt, wächst, altert und irgendwann umstürzt. Für das Umstürzen kann es zwar endogene und exogene Gründe geben. Ein endogener Grund wäre etwa die morsche Substanz des Baumes, ein exogener die Axt des Holzfällers. Eine klare Grenze zwischen endogenen und exogenen Gründen ist jedoch eine Funktion der Erzählung, in der das betreffende Ende vorab prognostiziert oder nachträglich wiederholt wird. So lassen sich Holzfäller und Biber als exogene Ursachen des Umstürzens bezeichnen, wenn der einzelne Baum betrachtet wird, genauso aber als endogene, wenn der Baum Teil eines größeren Ökosystems sein soll, das auch Holzfäller und Biber einschließt. Genauso lassen sich in einer Geschichte endogene und exogene Gründe für das Ende der Menschheit finden. Exogene Ursachen wären etwa der Ausbruch eines Supervulkans oder der Einschlag eines Asteroiden. Endogene Ursachen könnten atomare Kriege oder der abrupte Klimawandel sein, genauso das Weltgericht Gottes, wenn sich darin der Plan Gottes als Organon dieser Geschichte offenbaren soll. Die Entscheidung, ob etwas als endogene oder als exogene Ursache betrachtet wird, ist also stets von den Vorgängen und Erzählungen abhängig, in welchen diese Ursachen auftreten. So ließe sich eine Pandemie als exogene und als endogene Ursache darstellen, genauso das Versiegen natürlicher Ressourcen oder der drohende ökologische Kollaps.
Viertens nehme ich an, dass es mehr oder weniger gute Erzählungen von Vorgängen und deren Ende gibt, dass aber in letzter Instanz die Rezipienten (Zuhörer und Leser) über die Güte einer Erzählung entscheiden, also darüber, ob und inwieweit die Erzählung für die Rezipienten Sinn macht. Ob dann morsches Holz, ein Blitzschlag oder hungrige Biber das Umstürzen eines Baumes gut erklären, sollen die Zuhörer und Leser derjenigen Geschichte klären, in der sich der Umsturz ereignet. Dabei setzt sich die Arbeit das Ziel möglichst viele Leser von ihrer Geschichte zu überzeugen, damit aus den Lesern am Ende möglichst viele Nacherzähler werden.
Fünftens nehme ich an, dass nur zwischen Menschen Geschichten erzählt und bewertet werden und dass sich dabei – im Lauf der Zeit – eine besondere Form des Erzählens entwickelt und durchgesetzt hat, die bis heute für die meisten Erzähler und Rezipienten – ungeachtet der Inhalte – als Maßstab sinnvollen Erzählens gilt: das logische Erzählen. Diese Form des Erzählens löst das vor-logische (mythische) Erzählen ab. Sie organisiert sich im Wesentlichen über die drei aristotelischen Axiome – den Satz der Identität, den Satz vom Widerspruch und den Satz vom ausgeschlossenen Dritten – um wahre und/oder falsche Aussagen über bestimmte Zusammenhänge zu erzeugen und dann widerspruchsfrei anzuordnen. Die logische Erzählform lässt sich auch auf Vorgänge anwenden, die zwischen Menschen stattfinden oder stattgefunden haben, indem die Erzählungen Aussagen über zwischenmenschliche Ereignisse und Vorgänge treffen. Falls diese Ereignisse und Vorgänge bereits abgeschlossen sind, müssen sich die Erzählungen auf nachweisbare Spuren stützen – egal, ob man diese Spuren als Zeugen, als Quellen oder schlichtweg als Daten bezeichnet – um die Wahrheit der Aussagen möglichst verifizierbar zu machen und derart plausibles Wissen zu schaffen. Das ist die wissenschaftliche Vorgehensweise, bzw. das Erzählen vergangener Vorgänge in Form wahrer Geschichten, wie es die Historik, die Ökonomik, die Forensik, etc. betreiben, am Ende selbst noch die Physik und andere „harte“ Wissenschaften – eingedenk des Umstandes, dass sich bestimmte Vorgänge und deren Spuren qua Experiment wiederholen lassen, andere nicht.
Sechstens nehme ich an, dass eine wahre Geschichte als Entstehungsgeschichte der logischen Erzählform erzählt werden kann, wenn man diese Geschichte konsequent in die logische Erzählform fasst und auf nachweisbare Spuren stützt. Genau das versucht die vorliegende Arbeit in den folgenden Kapiteln. Weil sie dabei annimmt, dass nur Menschen Geschichten erzählen, erzählt sie mit ihrer Geschichte folgerichtig eine Geschichte der Menschheit. Der Vorgang, auf den sie dabei ihr Augenmerk richtet – die Entwicklung der logischen Erzählform – kann kaum im Labor wiederholt werden. Daher muss sie möglichst eindeutige Spuren dieses Vorganges identifizieren und mit großer Sorgfalt untersuchen. Die Arbeit erleichtert sich dieses Vorhaben, indem sie sich auf die Spuren von Ereignissen und Vorgängen bezieht, die in Medienformen und technischen Artefakten vorliegen, die bis heute zwischen den Menschen vermitteln.
Endlich erschließt sich, was ich in der Arbeit als Ende der Geschichte bezeichne: Damit ist hier nicht das Verschwinden der logischen Erzählform gemeint, noch weniger der Weltuntergang oder ein göttliches Gericht. Damit bezeichnet die Arbeit stattdessen einen Zustand der Vervollkommnung der logischen Erzählform, eine Vervollkommnung aufgrund endogener Ursachen, sozusagen aus sich selbst heraus, die sich besonders darin zeigt, dass die logische Erzählform als Technik über gewisse Artefakte und Medien vollständig objektiviert, verdinglicht und von den Menschen als den ursprünglichen Erzählern in Form von Maschinen abgekoppelt werden kann. Ist diese Abkoppelung vollständig erreicht, ereignen sich zwischen den Menschen zwar nach wie vor unzählige Vorgänge, von denen man auch erzählen kann. Aber der Vorgang, um den es der Arbeit geht – die Entwicklung der logischen Erzählform – gelangt darüber an sein Ende. Um den Vorgang, der hier dicht gedrängt skizziert wurde, bereits vorab plausibler zu machen, werden nun weitere zentrale Begriffe der Arbeit definiert.
2.2 Technik, Werkzeug und Maschine
Mit ›Technik‹ meint die Arbeit zielgerichtete Verfahren.32 Damit ist der Begriff noch nicht für die Verfahren reserviert, die von Menschen entworfen und erzeugt werden. Letztlich wartet jede Lebensform ihrer Umwelt gegenüber mit einem ganzen Arsenal an zielgerichteten Verfahren auf. Aber im Folgenden wird nur Bezug auf die Techniken genommen, die absichtlich entworfen und erzeugt werden. Damit sind Menschen noch immer nicht die einzig möglichen zielsetzenden Instanzen. Offenbar können auch Hunde, Schimpansen, Delphine, etc. absichtlich handeln. Der Einfachheit wegen konzentriert sich die Arbeit aber auf diejenigen zielgerichteten Verfahren, die von menschlichen Absichten ausgehen und die sich im Anschluss daran eventuell verselbstständigen, um unvorhergesehen zwischen den Menschen zu vermitteln.
Zunächst sei also ein Mensch der übergeordnete Operator, der absichtlich in einem zielgerichteten Verfahren gewisse Operanden manipuliert – zum Beispiel einen Baum, den er fällt und zerlegt. Erfahrungsgemäß schaffen sich Menschen dafür spezielle Werkzeuge – in diesem Fall Äxte – die sie ins betreffende Verfahren integrieren. Die Axt vermittelt dann als untergeordneter Operator zielgerichtet zwischen Mensch und Baum. Aber dadurch erhält sie einen hybriden Charakter. Indem sie vermittelnd in das Verhältnis von Operator und Operand eintritt, nimmt sie von beiden Seiten sozusagen einen Teil in sich auf. Sie ist nun zugleich Operator und Operand. In Relation zum Menschen ist die Axt Operand, insofern der Mensch die Axt ergreift und schwingt. Relativ zum Baum hingegen ist die Axt Operator, insofern sie dessen Holz trifft und spaltet. Der hybride Charakter des Werkzeuges wird gewöhnlich mit dem Hinweis erklärt, dass es stets über- und untergeordnete Operatoren gibt. Die Hierarchie der Operatoren wird dann durch eine simple Kette angedeutet. Wir verwenden hier stattdessen eine Kaskade, in der die beiden Verhältnisse auf zwei separate Ebenen verteilt sind. (Vgl. Abb. 1).33 Der Grund dafür erschließt sich erst später vollauf.34 Das Feld, auf dem jeweils der Operator „sitzt“, ist dabei grau unterlegt. Die beiden gerichteten Pfeile deuten ein Ordnungsverhältnis an, der Doppelpfeil ein Umtauschverhältnis:
Abb. 1
Auf Ebene 1 ist das Werkzeug als Operand rein passiv. Es erhält nicht nur seine Gewichtskraft, seine Beschleunigung und seine Richtung vom Menschen, sondern auch seine Form, seine ganze Bestimmung und damit insgesamt seinen Zweck. Auf Ebene 2 hingegen ist das Werkzeug als Operator das aktive, ausführende und zwecksetzende Relationsglied. Dort verkörpert das Werkzeug gegenüber der Welt (hier dem Baum) ganz bestimmte Zwecke, die der Mensch zuvor im Werkzeug abgelegt und insofern objektiviert und darin entäußert hat. Er hat diese Zwecke im Bereich des Objektiven verdinglicht und fixiert. Daher sehen wir in der Axt ein Mittel um Bäume zu fällen und um Holz zu hacken, nicht etwa um Schrauben festzudrehen oder um damit eine Dose Tomaten zu öffnen. Das bedeutet freilich nicht, dass man Werkzeug nicht zweckentfremdet verwenden kann.
Wenn sich das Werkzeug wiederum in weitere Werkzeuge aufspaltet, die kombiniert werden können, erhält man bald lange Verkettungen, bzw. viele Ebenen von über- und untergeordneten Operatoren und Operanden. Das muss hier nicht angezeichnet werden. Allerdings ist anzumerken, dass man den Werkzeugbegriff in dieser Arbeit so weit, wie nur möglich fasst, damit jedes Artefakt darunter fällt, solange es nur einen Zweck oder mehrere Zwecke hat. Ein Werkzeug ist dann jedes Mittel, das in irgendeiner Weise gegenständlich ist – unabhängig davon, ob es seine Realität aus Stahl und Holz erhält oder aus abstrakten Zeichen. Regenschirme und Hüte sind dann zum Beispiel Werkzeuge, die Wind und Wetter abhalten oder guten Geschmack demonstrieren. Schrift ist dann ein Werkzeug, das Information speichert und übertragbar macht. Ein Fahrrad ist dann ein Werkzeug, das schneller von A nach B verhilft. Usw. usf.
Nun lässt sich eine Hierarchie von Operatoren und Operanden als ›Maschine‹