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Engelbert, 44jährig, ein liebenswerter Typ, der allerdings wesentlich mehr als andere mit dem normalen Alltags - Wahnsinn zu kämpfen hat, denn Engelbert ist schizophren. Was eigentlich gar nicht lustig ist, doch Engelbert nimmt es selbst mit Humor - jedenfalls mit der Zeit. Da geht Engelberts Betreuer auf eine Karibikrundreise, sein Urlaubsvertreter bricht sich das Bein und der Pflegedienst schickt die Ecuadorianerin Andrea. Ganz davon abgesehen, dass Engelbert gerade mitten in einem Experiment steckt und in seinem Haus eigentlich überhaupt niemanden gebrauchen kann, hasst Engelbert Frauen...
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Seitenzahl: 323
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Engelbert tanzt Disco Fox
Impressum:
Cover: Marion Becker-Richter / Karsten Sturm
Illustrationen: Marion Becker-Richter
© 110th / Chichili Agency 2014
EPUB ISBN 978-3-95865-139-5
MOBI ISBN 978-3-95865-140-1
Urheberrechtshinweis:
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Kontakt:
Dr. Marion Becker-Richter
Camamillera 1
07590 Cala Ratjada
Spanien/Balearen
0043 / 971 56 46 61
Seine Mutter hatte ihm ein historisches Fachwerkhaus hinterlassen, einen roten Flitzer und – wie er selbst zu sagen pflegte – einen Hau. Er lachte fürchterlich, wenn es überhaupt nichts zu lachen gab. Vor allem aber sah er Menschen, die außer ihm kein Mensch sah. Er nannte sie seine Gefährten. Davon gab es neun. Zwei von ihnen waren richtig gefährliche Typen, die ihm vor dem Fachwerkhäuschen auflauerten.
Dr. Wolkenstein nannte Engelberts Gefährten Schizophrenie und bekämpfte sie mit kleinen, weißen Pillen. Der Psychiater versäumte keine Gelegenheit anzumerken, wie ungeheuer erfolgreich die Behandlung sei. Engelbert fand das lächerlich. Wie an einem Versuchskaninchen hatte der Doktor alle möglichen Pillen, in unterschiedlichen Mengen, an ihm getestet, mit dem immer gleichen Ergebnis: Sieben Gefährten verschwanden, die beiden gefährlichen Typen blieben.
Ginge es nach Engelbert, würde er nicht eine einzige Pille schlucken, zumal seine Mutter schon vor Jahrzehnten ein wirksames Mittel gegen die beiden gefährlichen Typen gefunden hatte: den schwergewichtigen Freizeitringer Dirk, von Beruf Sozialarbeiter, angestellt beim privaten Pflegedienst SONNEN. Mit Dirks Hilfe konnte er das Haus so gut wie mühelos verlassen. Da stellte er sich doch die Frage, was die ganzen verdammten Pillen sollten, wenn sie ihm Verstopfung, Watteschädel und Zuckungen einbrachten? Mit der Lacherei und mit den sieben Gefährten, die die Pillen zu vertreiben vermochten, wäre er auch allein fertig geworden. Ganz besonders mit einem, denn der war sein bester Freund.
Seine Mutter dagegen war ein ganz anderes Kaliber. „Engelchen“, drohte sie ihm seit Ausbruch der Schizophrenie, „wenn du mit den Medikamenten schlampst, kann ich dich nicht zu Hause behalten. Das übersteigt meine Kräfte. Vielleicht hast du es schon bemerkt: Selbst eine Mutter ist nur ein Mensch.“
Auch sonst hatte Mutter Welling, ein Ausbund an Resolutheit und recht betucht, alles und jeden im Griff: Engelberts gesetzlich bestellten Betreuer, den Geschäftsführer des privaten Pflegedienstes und den Psychiater sowieso. Abgesehen von den menschlichen, hatte sie sämtliche finanziellen Hürden gemeistert und jahrzehntelang in private Renten-, Lebens-, Kapitallebens- und Pflegeversicherungen eingezahlt. Zum Glück, denn ohne Mutters Rundum-Sorglos-Paket hätten sie Engelbert spätestens auf ihrer Beerdigung in die Anstalt gesteckt. Anstatt zu weinen, hatte er sich auf der Beerdigung nämlich fast totgelacht. Doch dank der mütterlichen Vorsorge durfte er in seiner gewohnten Umgebung bleiben, solange er sich an drei Auflagen hielt:
1. Sitzung bei Dr. Wolkenstein, jeden Mittwoch, 15 - 16 Uhr.
2. Drei Spaziergänge pro Tag, in zügiger Gehweise. Dauer: jeweils 15 Minuten. Ort: Stadtpark. Begleitperson: Dirk.
3. Pillen nehmen. Alle. Regelmäßig. Unter Dirks Aufsicht.
Engelbert akzeptierte. Mit achtzig Bekloppten in einem Saal Ravioli essen, da wäre er durchgedreht. Er bestimmte gern selbst, was er aß und mit welchen Leuten er sich umgab. Alles andere hatte er ohnehin im Griff.
So verlief Engelberts Leben auch nach dem Tod der Mutter vorschriftsmäßig. Zwei Jahre lang. Er hatte nicht mal gelacht. Dann erfüllte Dirk sich einen lang ersehnten Traum und begab sich auf eine Karibik-Rundreise.
„Sie haben nicht alle Tassen im Schrank!“, schnauzte der Geschäftsführer von SONNEN und schob den Finanzierungsantrag, mit dem er seit einer Woche in Verzug war, zur Seite. „Beim Tapezieren von der Leiter geflogen – der Betreuer eines chronisch kranken Menschen hat nicht zu tapezieren, schon gar nicht am Sonntagabend! Wo soll ich denn jetzt noch Ersatz für Sie herholen? Es ist gleich elf.“
Am anderen Ende der Leitung winselte Dirks Vertreter, der mit einem Gipsbein im Krankenhaus lag, um Vergebung.
Der Geschäftsführer legte auf. Dirk hatte den Zivi eingearbeitet, tagelang, hatte ihn mit Welling bekannt gemacht. Was das alles kostete! Und wofür? Gerade eine Woche war um und schon brauchte er einen Vertreter für den Vertreter. Als er auf den Einsatzplan für die nächste Woche sah, wurde ihm übel. Dirk war in der Karibik, Oli mit einem Bandscheibenvorfall in der Kur, Evi im Mutterschutz, alle anderen waren bereits doppelt und dreifach eingeteilt.
Er knöpfte sich Engelbert Wellings Akte vor.
Wozu zum Teufel brauchte Welling einen eigenen Sozialarbeiter? Der Mann war medikamentös gut eingestellt, seit Jahren ohne Rückfall. Ein Fall für den mobilen Dienst. Dreimal täglich hin, Pillen rein, eine Runde durch den Park und basta! Aber die alte Welling hatte für ihren Sohnemann einen Privatkindergarten organisiert, finanziert von ein paar Privatversicherungen. Die Sachlage war eindeutig: ohne Vollzeitbetreuung kein volles Geld.
Er musste Dirk aus dem Urlaub zurückholen, und zwar zackig. Als er Dirks Handy anwählte, meldete sich die Mailbox. Dirk hatte ihm eine Liste mit den Hotels dagelassen, in denen er auf seiner Rundreise abstieg. Sollte er jetzt jedes Hotel in der Karibik anrufen? Selbst wenn er Dirk erreichte, träfe der nie im Leben rechtzeitig ein.
„Was für ein Sonntag!“, fluchte der Geschäftsführer laut. Zum Trost und um nachzudenken, zündete er sich eine Montecristo an. Während er den würzigen Rauch der Zigarre genoss, kam ihm die Ecuadorianerin in den Sinn. Auf Drängen seines Freundes Carlos hatte er ihr einen Putzjob in den SONNEN-WGs gegeben. Schwarz. Ihre Aufenthaltserlaubnis galt nur für Mallorca. Dort hatte sie als Zimmermädchen gearbeitet und sich Carlos Bruder Marco geangelt. Sie war ihm nach Deutschland gefolgt, wo Marco studieren wollte, bevor der Zug ganz abgefahren war. Das mit der Aufenthaltserlaubnis, hatte Carlos gesagt, würde sich demnächst regeln, denn sein Bruder wollte die Kleine heiraten.
Auf die Heiratspläne von Carlos Bruder wollte er sich lieber nicht verlassen, die Sache mit der Aufenthaltsgenehmigung würde er selbst in die Hand nehmen, gleich morgen. Wozu hatte er gute Bekannte? Zufrieden paffte er an seiner 7-€-Montecristo, klärte die Sache mit der Ecuadorianerin, und wählte dann Dr. Wolkensteins Nummer.
„Nur bis ich Dirk zurückgeholt habe“, beteuert Sonnen.
Dass er inzwischen überhaupt nicht mehr vorhatte, auch nur noch ein einziges Mal in der Karibik anzurufen, verschwieg er. Dr. Wolkenstein tobte trotzdem. Zu Engelbert Welling könne man keine Frau schicken. Der Grund dafür stünde doch wohl hinreichend beschrieben in den Akten.
„Leider kann ich kein männliches Personal zaubern“, parierte Sonnen, der den Doktor besser kannte als dem lieb war. „Laut Arbeitszeugnis hat Andrea Carpintero jahrelang mit psychisch Behinderten gearbeitet, aber wenn Sie Ihren Schützling lieber einweisen wollen … Als Alternative kann ich einen Platz in einer SONNEN-WG anbieten.“
Nach diesem kleinen Wink mit dem Zaunpfahl war die Einarbeitung der Ecuadorianerin geregelt. Liebevoll betrachtete Sonnen die schöne Montecristo. Den Hörer hielt er vorsorglich ein wenig vom Ohr weg.
„Ich werde meinen Patienten jetzt sofort anrufen“, schimpfte der Psychiater, „beten Sie schon mal, dass er um kurz vor zwölf noch ans Telefon geht! Und faxen Sie ihm den neuen Einsatzplan!“
Sonnen klopfte die Zigarre aus und stand auf. Finanziell gesehen wäre der mobile Dienst traumhaft, da der aber ausschied, wäre eine WG entschieden günstiger als diese Einzelbetreuung. Zufällig hatte er da gerade zwei, drei freie Plätzchen. Doch solange Welling keinen Rückfall hatte, konnte er nichts ausrichten. Er zog den Einsatzplan der Haushälterin aus dem Drucker und faxte ihn an Engelbert Welling. Nicht dass er Welling einen Rückfall wünschte. Er war Geschäftsführer, kein Verbrecher. In Zeiten von Kostendruck und Qualitätssicherung hatte er allerdings andere Probleme als einem minderschweren Fall von Schizophrenie einen Begleiter für Spaziergänge zu organisieren. Er fischte das vorletzte Exemplar von Wellings Haustürschlüssel vom Schlüsselbrett. In den kommenden Tagen würde er sich einmal folgende Fragen durch den Kopf gehen lassen: War Dirks Nicht-Erreichbarkeit ein Kündigungsgrund? Ob Engelbert Welling nach 29 Jahren eventuell mal den Psychiater wechselte? Was für Pillen nahm der Welling noch? Und klang der Doktor vorhin am Telefon nicht so, als hätte er einen über den Durst getrunken?
Es war bereits weit nach Mitternacht, als der Geschäftsführer von SONNEN Einsatzplan und Schlüssel in Andrea Carpinteros ramponierten Briefkasten steckte. Er war ehrlich froh, als er aus dem verdreckten Flur in dem heruntergekommenen Hochhaus heraus war und auf seiner Harley Richtung Heimat brauste.
S – O – S
Der Erdbeermarmeladentoast knusperte zwischen seinen Zähnen und der Kamillentee bedampfte ihm die Nasenschleimhäute. Alles war auf den Punkt so, wie er es liebte. Der Toast am Rand leicht schwarz und die Marmelade sämig und hellrot von dem Apfelsaft, den er beim Kochen in die Fruchtmasse gab, mit klitzekleinen, würfelförmigen Fruchtstücken darin und einem Hauch von Bourbonvanille, selbstverständlich aus einer echten madagassischen Schote. Alles in allem ein wahres Meisterwerk. Engelbert grunzte zufrieden und pickte die Toastkrümel vom Schlafanzug. Da sollte ihm doch mal jemand unterstellen, er wüsste nicht zu leben! Er lehnte sich zurück und sann darüber nach, ob Gott nicht doch seine Finger im Spiel gehabt hatte bei der Entstehung der Erdbeere.
Da ertönte das erste S-O-S.
Irgendein gottverdammter Idiot verwechselte die Klingel mit einem Morseapparat. Doch Engelbert blieb ruhig. Er nahm einen Schluck von dem dampfenden Tee, beobachtete, wie sich das Minzeblatt um die Kandiszuckerbröckchen drehte, wie ein Kaulquappenschwanz zappelte, um schließlich am oberen Rand des Glases haften zu bleiben. Als der Kandis auf den Boden hinabklimperte, stupste Engelbert die Minze mit dem Finger in den Tee zurück und stellte das Glas auf den Tisch. Wenn sein Haus brennen würde, flackerte längst Blaulicht durch das Küchenfenster. Durch das Fenster fiel aber grünlich geflecktes Sonnenlicht von dem Lindenbaum auf dem Bürgersteig. Ansonsten kamen morgens um fünf nach halb acht nur die Kinder von der nahe gelegenen Park-Grundschule an seinem Haus vorbei. Wenn sie Klingelmännchen machen wollten, bitte sehr. Er gönnte ihnen diesen Spaß. Als Schuljunge hatte auch er sich damit trefflich amüsiert, wobei es ihm, wenn er ganz ehrlich war, bedeutend lieber gewesen wäre, die Kinder trieben ihre Späße mit den Nachbarn. Am besten mit Frau Krätzer, die unter einer besonders üblen Form der Langeweile litt. Um ihre Krankheit zu verstecken, hatte die alte Hexe blickdichte Gardinen mit einem Sonnenblumenmuster vor ihre Fenster gehangen. Dort, wo bei einer Sonnenblume normalerweise die Kerne sind, waren bei den Krätzer-Sonnenblumen Gucklöcher, die man aber von außen kaum erkennen konnte.
In dem Moment schrillte die Klingel von neuem.
Die grauen Zellen in Engelberts halb kahlem Kopf ratterten. Post, Müllabfuhr, Schornsteinfeger? Zu früh, schon da gewesen, nicht angekündigt. Er wollte nicht hoffen, dass es die Vertretung von Dirks Urlaubsvertretung war, 55 Minuten vor Spaziergang Nummer 1. Das wäre das sichere Zeichen, dass der Neue seine Akte nicht gelesen hatte, was bei einer Urlaubsvertretung nicht ungewöhnlich war. Wenn Dirk kam, hatte Engelbert das immer an dem Schlüsselgeklimper gehört, das der große, silberne Schlüsselring verursachte. Dann schob Dirk den Schlüssel mit dem grünen Plastikrand ins Schloss. Dabei entstand ein Geräusch, als ob jemand mit einem Nagel ein Herz in eine Parkbank ritzt. Anschließend drehte sich der Schlüssel zu dem Klimpern der übrigen Schlüssel und im selben Moment sprang die Haustür auf und Dirk rief: „Jemand zu Hause?“
Dr. Wolkenstein hatte gestern Nacht versprochen, die neue Vertretung würde ganz genau so vorgehen wie die alte Vertretung, und die war genauso vorgegangen wie Dirk. Da man sich schließlich auf irgendwas verlassen musste, konnte das nur eins bedeuten: Der SOS-Morser war nicht der Vertreter von Dirks Vertreter. Und genau deshalb tat Engelbert weiterhin so, als sei nichts geschehen. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, doch sein Marmeladentoast war jetzt nicht mehr ganz so knusprig und sein Herz hämmerte. Und dann hämmerte jemand ans Küchenfenster.
Einmal, zweimal, dreimal. Poch-poch, Poch-poch, Poch-poch.
Engelbert bezweifelte, dass er den Toast jemals aufessen würde. Er zählte laut bis drei, dann stand er auf. Das Fenster war kein Problem. Man konnte davor treten, die Gardine zur Seite schieben und hinaussehen. Und so trat er vor das Fenster, schob die Gardine zur Seite und sah hinaus.
Draußen vor dem Fenster
Zwei große, leicht schräg stehende Augen sahen zu Engelbert auf. Die Augen glänzten wie ein Paar Lackschuhe und gehörten zu einem runden Kindergesicht in Karamellpuddingbraun. Das Gesicht war eingerahmt von dickem, schwarzen Haar in Form einer Prinz-Eisenherz-Frisur. Engelbert fand, das Kind sah aus, als würde es gleich auf einer Panflöte El Condor pasa spielen.
„Wir spenden nicht“, rief er durch die geschlossene Scheibe, denn es war ja durchaus möglich, dass das Kind zu einem Trupp gehörte, der für einen guten Zweck sammelte. Im Winter beispielsweise klingelten manchmal dick eingemummelte Frauen bei ihm, die für die hungernden Zirkustiere sammelten. Dann gab er fünf Euro und ein paar Karotten für die Kamele. Falls er keine Karotten vorrätig hatte, was meistens der Fall war, gab er ein oder zwei Dosen Pichelsteiner Eintopf für die Frauen. Von der Gemüsesuppe hatte er immer einen Jahresvorrat im Haus. Doch nach dem Schrecken, den ihm das Kind eingejagt hatte, war er nicht zum Spenden aufgelegt. Sollte es der Krätzer eins vorflöten. Die würde kräftig zurückflöten. Im Refrain würde es darum gehen, ab wann man morgens an fremden Haustüren anklingeln durfte, und auf welche Art und Weise man die Klingel traktierte, und wie sehr es sich gehörte, an Fensterscheiben zu hämmern, wenn einem nicht geöffnet wurde. Fast schon tat ihm das Kind leid. Aber nur fast.
Gerade als er die Gardine wieder zuziehen wollte, tauchte neben dem Panflötenkind eine junge Frau auf, vielleicht Anfang zwanzig, klein war sie und von der zierlich-muskulösen Gestalt einer Ballerina. Vielleicht tanzte sie zu dem Pangeflöte des Kindes. Im Übrigen sah sie genau aus wie das Kind, nur in erwachsen. Und in hübsch, sofern Engelbert das beurteilen konnte. Er war da kein Experte, wenngleich er keine männliche Jungfrau war. Nur eins war klar: Die Frau bekam leicht kalte Füße. Das erkannte er an ihren knöchelhohen Winterschuhen und den Wollstrumpfhosen, die sie trug. Wenn er sich nicht irrte, war es erst Ende August.
Doch weder aus dem Panflötenspiel noch aus der Tanzerei wurde etwas. Die Frau wedelte mit einer Hand und bewegte ihren Mund. Unterdessen begann das Kind, einen gelben Tennisball zu prellen, und zwar in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Zack-zack-zack ging das. Garantiert spähte die Krätzer bereits mit einem Auge durch ein Sonnenblumenloch und machte sich ihren eigenen Reim auf das, was vor dem Hause ihres verrückten Nachbarn vor sich ging.
„Wir spenden nicht“, rief Engelbert noch einmal, obwohl die Tennisballprellerei beinahe schon ein Kunststück war. Aber ans Fenster zu treten war eine Sache, es zu öffnen eine andere. Ihm war schon klar, dass es der Frau nicht um das Fenster ging, sondern um die Tür. Aber Engelbert Welling öffnete gar nichts, schon gar keine Haustür. Das tat er noch nicht einmal für Kontroll-Kröger, diesen widerlichen Ohrporkler. Dem Berufsbetreuer warf er den Schlüssel durch das Küchenfenster zu, und wenn es sich irgendwie einrichten ließ, traf er ihn dabei an seinem Quadratschädel. Dieser Schlüsselwurf war das einzig Amüsante im Zusammenhang mit dem Ohrporkler. Engelbert schüttelte den Kopf. Langsam und deutlich. Zeichensprache verstand sie ja wohl.
Doch die Frau gehörte nicht zu der Sorte, die sich von kopfschüttelnden Männern abwimmeln ließ. Wie ein Pfeil schoss ihre rechte Hand in den Jutebeutel, und, schneller als er Hokus Pokus sagen konnte, presste sie einen Zettel gegen die Scheibe.
Die Einsatzpläne von SONNEN waren ihm wohlbekannt, jede Woche landete einer an der Pinnwand in seiner Küche. Um Mitternacht hatte ihn ein eingehendes Fax vom Dachboden geholt, es war eine exakte Kopie von dem Wisch, den die Frau vor seinem Fenster besaß. Er hatte den Plan an die Pinnwand gesteckt, ein roter Pin durchbohrte das D von Andrea.
Zwischen Engelberts Augenbrauen entstand eine steile Falte.
Im Zeitalter der Quizsendungen wusste doch jedes Kind, dass Andrea ein italienischer Jungenname, und Carpintero spanisch war und Schreiner bedeutete, und die Spanier denselben Sprachstamm hatten wie die Italiener. Folglich musste eine stattliche Anzahl von Männern namens Andrea die Welt bevölkern. Aber Dr. Wolkenstein hatte steif und fest behauptet, Andrea Carpintero sei eine Frau. Darum hatte Engelbert Herkunft und Bedeutung des Namens Andrea gegoogelt. Und siehe da: Die Südamerikaner nannten Jungen und Mädchen Andrea. Andrea stammte jedoch nicht aus dem Spanischsprachigen, sondern aus dem Griechischen. Dort bedeutete es Krieger, männlich. Deswegen und weil sie ihm als Mann sicher keine Betreuerin zuteilen würden, hatte Engelbert gefolgert, dass seine neue Betreuerin ein Mann war.
Unter dem Küchenfenster sah es jedoch vollkommen anders aus. Und das gefiel ihm gar nicht. Gelinde gesagt. Engelbert öffnete das Fenster so weit, dass ein Spatz hätte hineinfliegen können. Derweil verwandelte sich sein schöner, dampfendheißer Kamille-Minze-Tee auf dem Küchentisch in einen ekelhaften Eistee. Noch so eine Sache, die er hasste: kalten Tee.
Andrea Carpintero
Am laufenden Band weckte dieses Kühlschrankland Begehrlichkeiten in ihr. Wenige Minuten zuvor, als sie in der Bäckerei eins von den weichen Rosinenmilchbrötchen kaufte, die Alicia so gern aß, hatte sie ein Regenbogenei mitgehen lassen. Blitzschnell hatte sie zugegriffen, als die Bäckersfrau sich zum Brötchenkorb umdrehte, und das bunte Ei in ihren Jutebeutel gesteckt. Kein Mensch brauchte ein gefärbtes Ei. Doch nun klopfte das Ding jedes Mal, wenn sich der Beutel beim Laufen bewegte, an ihre Hüfte. Und an ihr Gewissen, denn sie war ganz bestimmt keine Diebin. Als sie noch auf Mallorca arbeitete, hatte sie sich niemals an fremdem Eigentum vergriffen. Erst seit sie über die deutsche Grenze geschritten war, griffen ihre Finger dauernd nach irgendwelchen exotischen Kleinigkeiten. Ganz automatisch ging das. Bis auf die Knochen schämte sie sich dafür. Ab sofort ist Schluss damit, sagte sie stumm zu sich selbst. Schließlich war sie nicht aus Ecuador verschwunden, um in der Welt herum zu räubern, sondern um ihre Familie vor der Blamage zu schützen. Zuerst. Danach galt all ihr Wollen ihrem Kind, ihm ein ordentliches Leben zu bieten. Aber die Selbstermahnung war inzwischen zu einem vollkommen wirkungslosen Mantra geworden. Und so erwachte genau in dem Moment, in dem sie Alicia um die Ecke zog, der nächste dringende Wunsch in ihr.
Vor ihr lag die Kirchstraße, eine 30er-Zone mit einem hübschen, alten Kopfsteinpflaster. Als sie Alicia von der Hand ließ, dribbelte die Kleine sofort mit ihrem Tennisball am Fuß in einer unendlichen Acht um die Lindenbäume, die sich die gesamte Straßenlänge hinunterzogen. Auf beiden Seiten der Straße reihte sich ein properes Häuschen an das nächste, ein jedes mit einem Gärtchen davor, penibel gepflegt und bepflanzt mit niedrigen Sträuchern und Blumen. Vor den Fenstern standen Blumenkästen. Eines der Häuser gehörte sicher der Frau, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit ihrer Familienkutsche und drei Kindern auf dem Rücksitz losfuhr. Die Frau war geschminkt und trug eine weiße Bluse. Bestimmt hatte sie eine Arbeit in einem Büro und brachte vorher die Kinder zur Schule. Es kam Andrea vor, als hätte die Frau ihren neidvollen Blick aufgefangen und lächelte ihr nun geschmeichelt zu.
Und dann standen sie vor dem Haus, von dem Alicia behauptete, es hätte die Farben eines Zebras und das Muster einer Giraffe. Es war Liebe auf den ersten Blick. Der Mann allerdings, der seine Nase durch den Fensterspalt steckte, erinnerte sie irgendwie an einen ecuadorianischen Esel. Es wunderte sie nicht, dass sein Haus das einzige war, vor dessen Fenstern keine Blumenkästen standen und in dessen Vorgarten bloß ein paar schiefe Büsche wucherten. Der Boden dazwischen war so pulvertrocken wie die Wege im Flor de Bastión, wenn es wochenlang nicht geregnet hatte und sogar das Abwasser und die Fäkalien sich unter der glühenden Sonne Guyaquils in Sekundenschnelle in Staub verwandelten. Die Sache mit den Blumenkästen würde sich schnell ändern lassen. Die Kästen vor den Nachbarhäusern quollen vor Geranien nur so über. Da brach sie einfach ein paar Stecklinge ab.
Leider gehörte das schöne Haus Engelbert Welling, dem Esel, und nicht Marco, der Liebe ihres Lebens, weswegen sie in diesem Kühlschrankland weilte, und ohne den sie es hier keinen Tag länger ausgehalten hätte. Bis jetzt.
So langsam wurde Andrea angst und bange vor ihren eigenen Gelüsten. Sie zwang ihre Gedanken zurück in die Realität. Dreimal täglich sollte sie mit Herrn Welling an die frische Luft, hatte dieser Doktor gestern mitten in der Nacht am Telefon gesagt. Da war sie auf die grandiose Idee gekommen, zwei Moskitos mit einer Klappe zu schlagen, indem sie Alicias Schulweg in einen vorgezogenen Spaziergang für Herrn Welling umwandelte. Ihre Idee konnte sie jedenfalls vergessen. Der Mann steckte ja noch im Pyjama. Schade eigentlich, denn dann hätte sie später mehr Zeit für seinen Haushalt gehabt, in dem es bestimmt genauso zottelig aussah wie auf der Umlaufbahn von seinem Kopf.
Sie nickte Alicia zu, die von ihrem Lindenbaumslalom zurückgekehrt war und mal wieder versuchte, ihren kleinen Ball tausend Mal hintereinander auf zu prellen, ohne dass er wegsprang. Sie mussten los. In einem Land, in dem sogar die Busse nach einem Plan fuhren, konnte sie sich keine Verspätungen erlauben. Schon gar nicht am ersten Schultag nach den Ferien. Und ganz besonders, wenn man aus diesem Land längst wieder verschwunden sein müsste.
„Ich bin Andrea Carpintero“, stellte sie sich vor. „Ich wollte Sie fragen, ob Sie mit mir Alicia zur Schule bringen?“
Engelbert hat ein Problem
Wie ein Echo hallte ihre etwas quietschende Stimme in Engelbert nach. Sie sprach ein ganz leicht gebrochenes Deutsch, seltsamerweise ohne den intensiven Akzent, der spanisch sprechenden Menschen zu eigen ist, wenn sie deutsch sprechen, und der aus dem ch und dem sch ein S macht. Auch das R rollte sie nur an. Ihre Sprache ließ vermuten, dass sie schon längere Zeit in Deutschland lebte, ihre Kleidung sagte das Gegenteil. Vielleicht war sie ein Sprachgenie, so wie er.
„Hat Sie der Popocatépetl ausgespuckt?“, rutschte es ihm über die Lippen, ohne dass seine Zunge sich auch nur im mindesten wegen des Namens des mexikanischen Vulkans verknotet hätte.
„Wohl eher der Tungurahua“, parierte sie in feinstem Umgangston.
„Quito?“
„Cordillera de Cutucú.“
Aus den Anden kam sie also. Vom Land. Schlagartig wurde Engelbert bewusst, dass er die Ecuadorianerin anstarrte. Diese großen, schwarzen Augen mit den langen, geschwungenen Wimpern machten ihn nervös. Klimperwimpern waren das. Klimperwimpern zum Männer bezirzen. Ihr Kind sollte sie mal schön allein zur Schule bringen. Er wartete einen Moment, bevor er sich äußerte, denn er war drauf und dran, die Kontrolle über sein Geschwätz komplett zu verlieren. Doch da war es bereits zu spät.
„Können Sie sich ausweisen?“, fragte er streng, denn wer garantierte ihm, dass die Frau die war, für die sie sich ausgab? Der Einsatzplan von SONNEN war jedenfalls kein Beweis. Er konnte auf kriminelle Weise in ihre flinken Fingerchen gelangt sein. Für einen Postboten beispielsweise war es ein Kinderspiel, einen Brief abzufangen und eine Kopie anzufertigen.
Die Frau hinter dem Fenster schüttelte den Kopf und presste die Lippen fest aufeinander. Vermutlich glaubte sie, er verstünde keinen Spaß und beherrschte sich darum meisterhaft, um ihn nicht lauthals auszulachen.
„Ich wollte den Spaziergang früher machen“, gab sie vor. Gleichzeitig gabelte sie mit ihrer rechten Fußspitze den Tennisball auf, den das Kind auf den Boden prellte, und lupfte ihn in dessen ausgestreckte Hand. „Aber Sie haben ja noch Ihren Pyjama an. Entschuldigen Sie die Störung, bitte. Bis später.“
Engelbert sah hinter der Panflötenfrau und ihrem Kind her. Dr. Wolkenstein hatte Recht behalten: Andrea Carpintero war eine Frau. Daran bestand leider nicht der allergeringste Zweifel.
Er schüttelte sich. Allein bei dem Gedanken an Frauen bekam er eine Gänsehaut. Selbst dann, wenn sie so vorzüglich mit dem Fuß zu jonglieren verstanden wie diese. Er wunderte sich bereits, dass er überhaupt mit ihr sprach. Nicht dass er schwul war. Er hatte auch kein Problem mit weiblicher Autorität. Er hasste die Weiber einfach. Nicht einfach. Es war kompliziert, richtig kompliziert. Die Denkmalschutzbehörde hatte damit zu tun, drei Vorsitzende, Frauen natürlich, Hexen, die allesamt kleine Jungs fraßen. Und seine Schwester. Er schob den Gedanken beiseite. Früher war früher, heute war heute. Er hatte seinen Tag vorzubereiten. Er riss das Fenster sperrangelweit auf und lehnte sich nach draußen.
Er hatte Glück. Sie war noch nicht an der Straßenecke angelangt. Fürs Erste, und zur Sicherheit, rief er ihr hinterher: „Benutzen Sie nachher den Schlüssel, es ist der mit dem grünen Rand. Und wenn Sie drin sind, fragen sie: Jemand zu Hause?“
Er rief es, so laut er konnte. Wenn die kleine verfrorene Panflötenhexe aus der Cordillera de Cutucú, die Deutsch sprach und jonglierte wie eine Weltmeisterin, erst einmal bei ihm drin war, würde ihm schon etwas einfallen, wie er sie für immer los wurde.
Sie drehte ihren Kopf, nickte arglos und bog mit ihren schwingenden Hüften und dem Kind, das den kleinen Ball nun wie eine Zirkuskünstlerin mit einer Hand hochwarf und wieder auffing, um die Ecke.
Jetzt stand bloß noch der Mann mit der schwarzen Uniform vor dem Haus. Seine Schuld war es, dass er auf seinen besten Freund verzichten musste. Regungslos wie eh und je stand er da, in seinem schwarzen Mantel, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Wie ein Geheimagent. Soweit alles wie immer, vor dem Haus.
„Du kriegst mich nicht“, zischte Engelbert und knallte das Fenster zu.
„Verdammte Ratte“, schimpfte er noch, und „Such dir deine Opfer anderswo.“
Casanova ist wieder da
„Betreuerin“, kicherte es hinter Engelbert. „Ja, ja, heutzutage übertreiben sie es allerorten mit der Gleichberechtigung.“
Die widerliche Schmeichelstimme hätte Engelbert unter Tausenden erkannt. Er fuhr herum. Casanova war zurück, einer seiner von den Pillen vertriebenen Gefährten. Dieser war sein persönliches Frühwarnzeichen. Jetzt müsste er eigentlich Dr. Wolkenstein informieren, und zwar sofort. Da fiel ihm Casanova ins Wort.
„Selbst 1742 bei meiner Doktorprüfung war es mir vergönnt, das zarte Hinterteil auf Polster zu betten“, säuselte Casanova.
Eingepresst in einen Gehrock aus Brokatstoff und eine dieser eng anliegenden Hosen, die man früher Beinkleider nannte, ruckelte er auf Engelberts Frühstücksstuhl herum und klackerte mit seinen vollkommen aus der Mode gekommenen Absatzschuhen auf das frisch geölte Parkett. Schließlich wurde auch er nicht jünger, kokettierte der Lackaffe.
Das Telefon und Dr. Wolkenstein waren vergessen.
Entgegen den Casanova-Darstellungen in Film und Literatur hatte sein Casanova genug Speck auf den Hüften, um ohne fremde Polster auszukommen. Abgesehen davon, war der dekadente Fettsack jünger als er selbst und sah genauso aus wie bei seinem letzten Besuch. Das feiste Gesicht unter der Pompadour-Puderfrisur war jedenfalls faltenfrei. Fehlte bloß noch, dass er ihm den Erdbeermarmeladentoast wegfraß.
„Haben Sie schon die Pappmaché angerührt?“, fragte Casanova spitz.
Allein für das süffisante Grinsen hätte Engelbert dem Kerl, den alle Welt für einen leidenschaftlichen Genießer der Liebe hielt, am liebsten auf der Stelle ins 18. Jahrhundert zurückbefördert. Casanova spielte auf Engelberts Marionetten-Arbeiten an. Er verwandelte jeden Menschen, der für sein Leben bedeutsam war, in eine Marionette. Natürlich hatte er keine überirdischen Eigenschaften. Er war ein Handwerker, der Pappmaché, ein wenig Holz, Stoff und Farbe nutzte.
Außer Casanova wusste niemand von den Marionetten-Arbeiten und dabei sollte es auch bleiben. Er posaunte schließlich auch nicht in die Welt hinaus, dass Casanova es leid war, stets aufs Neue unerfahrene junge Dinger in die Künste der Liebe einzuweihen. Momentan hatte er außerdem nicht vor, eine zweiköpfige Panflötenfamilie zu produzieren. Ganz im Gegenteil. Er wollte diese Betreuerin, die viel zu jung, zu klein und vor allem entschieden zu weiblich war, und dieses Ball spielende Kind so schnell wie möglich loswerden.
„Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“, zischte er darum.
„Na-na-na-na.“
Casanova musterte Engelbert in seinem blaugestreiften Schlafanzug aus einem bügelfreien Baumwollstoff missfällig. “Begrüßt man so einen alten Freund?“
Liebend gern hätte Engelbert seinem Besucher einen ganz persönlichen Vortrag über Freundschaft gehalten. Doch Casanova, der schon immer Gedanken lesen konnte, kam ihm zuvor: „Wenn einer weiß, was ein Feind ist, dann ich. Kommen wir auf das Indio-Frauchen vor dem Fenster zu sprechen. Ich hätt‘ sie gleich ...“
Engelbert überlegte gar nicht erst, woher Casanova von der Panflötenfrau wusste, ohne auch nur einen Blick aus dem Fenster geworfen zu haben. Der Brokatgehrockträger konnte nicht nur Gedanken lesen, sondern auch um die Ecke gucken, manchmal sogar durch Wände. Er fiel ihm ins Wort: „Erstens: Sie hatte ein Kind dabei. Zweitens: Sie soll in den nächsten beiden Wochen Dirk vertreten. Raten Sie mal, wie sehr ich mich darüber freue.“
„Erstens: Das Kind habe ich nicht gesehen“, stellte Casanova klar, denn er wollte auf keinen Fall für pädophil gehalten werden. „Zweitens: Was ist das für ein Kerl, der eine Betreuerin nötig hat? Und bevor ich’ s vergess, drittens: Das Weibsbild wird Ihnen ohnehin nicht die Gunst erweisen. Allein ihr Anzug ... Aber um was wetten wir, dass Sie noch heute einen Ballon aufpusten und ihn mit dieser Papiergrütze zukleistern?“
Casanova hatte schön öfter dabei zugesehen, wie Engelbert einen Marionettenkopf baute. Er nahm einen kleinen Luftballon, klatschte eine Schicht Pappmaché darum, ließ sie trocknen und formte einen Tag später das Gesicht, ebenfalls mit Pappmaché. Jedes Kindergartenkind verstand dieses Handwerk. Engelbert fühlte, wie die Kopfschmerzen kamen.
„Ich bin ALLEIN in meiner Küche“, schrie er.
„Bist du nicht“, widersprach Casanova seelenruhig. Jetzt biss er doch noch von Engelberts Marmeladentoast ab.
Auf einer Skala von 0 bis 100 war der Schmerz in Engelberts Kopf bei 90 angelangt. Er war es so satt. Ein klitzekleiner Zwischenfall und in seinem Leben sah es aus wie in der Geisterbahn. Wie er diese Krankheit hasste! Sie war ein Monster, das sich meistens in seiner Höhle verkroch. Doch dann räusperte es sich und schließlich streckte es seine grässlichen Klauen nach ihm aus. Warum war Casanova plötzlich wieder da? Zwei Jahre hatte er ihn in Ruhe gelassen. Diese verdammten Medikamente, warum wirkten sie nicht? Jetzt durchfuhr es ihn heiß und kalt, denn nun erinnerte er sich. Das Experiment. Seit Dirk weg war, hatte er jeden Tag ein Stückchen weniger von der entscheidenden Pille geschluckt.
„Du Idiot!“, brüllte Engelbert Casanova aus Leibeskräften an. „Warum bist du da und nicht mein bester Freund?“
Andrea hat auch ein Problem
Schnaufend wie ein Wasserschwein stürmte sie die Kirchstraße hinunter. In drei Minuten begann ihr Dienst. Der Psychiater von dem ecuadorianischen Esel hatte ihr eingetrichtert, sie müsse absolut pünktlich sein. Was für ein Brüllaffe! Herr Welling brauchte seine gewohnten Abläufe. Schon kleinste Änderungen im Tagesablauf brächten ihn durcheinander. Ob sie ihn verstanden habe? Klar hatte sie den Brüllaffen verstanden. In ihrem Kopf lagerte schließlich kein Hühnerhirn. Aber sie hatte ein Kind und das hatte geweint. Der erste Schultag in der zweiten Klasse, in einer neuen Schule, in einem fremden Land. Eigentlich hatte sie nichts anderes gewartet, höchstens gehofft. Also war sie mit in die Klasse gegangen und hatte dem Häuflein Elend die Anmeldung im Fußballverein versprochen, denn nicht einmal die Aussicht auf das Rosinenbrötchen in der Pause hatte gegen die Tränen gewirkt. Und außer Fußball wäre Schnee das Einzige gewesen, womit sie die Kleine hätte beruhigen können. Als Alicia endlich neben einem blonden Mädchen mit Hörnerzöpfen saß, war es bereits zwanzig nach acht.
Eine Minute vor halb neun fummelte sie den Schlüssel mit dem grünen Rand ins Schloss des schwarz-weißen Hauses. Sie müsse hundertprozentig zuverlässig sein und absolut konsequent. Kein Problem, Herr Brüllaffe, hatte sie versichert und auf das Arbeitszeugnis verwiesen, das Marcos Bruder besorgt hatte, damit sie die Stelle bei dem Pflegedienst bekam. Andrea Carpintero, stand darin, hat alle Aufgaben stets zur vollsten Zufriedenheit erfüllt und war immer absolut zuverlässig. Diesen Satz über sie hätten ihre Eltern lesen müssen. Andrea musste ein bisschen lachen. In Wirklichkeit war sie ungefähr so zuverlässig wie ein Guagua, und – Díos mío – sie hatte ja kaum Alicia im Griff.
Sie stieß die Haustür auf. Ein penetrantes Geruchsgemisch aus Schmierseife, Kamille und Minze schlug ihr aus einem langen, dunklen Korridor entgegen und gleich auf den Magen, besonders die Kamille. Man sollte meinen, statt in einem Haus hielte man sich auf einem Kamillenfeld auf. Sie ignorierte die aufsteigende Übelkeit und versuchte etwas zu erkennen. Aber außer einigen akkurat aufeinandergeschichteten, großformatigen Zeitungen, die auf dem Boden hinter der Tür lagen, gab es nicht viel zu sehen. Je eine verschlossene Tür auf beiden Seiten, weiter hinten links noch eine Tür, offen, eine weiß lackierte Treppe mit Geländer und Stufen aus massivem, eher hellem Holz. Ein Traum für jedes Zimmermädchen. Nichts, um das man herumputzen musste.
Nur die Türen machten ihr Sorgen. Allerdings nicht wegen etwaiger Verzierungen, in denen sich der Staub festsetzte. Während ihrer Zeit als Zimmermädchen hatte sie festgestellt, dass es drei Sorten von Türschließern gab: Die einen, zu denen auch sie gehörte, ließen grundsätzlich jede Tür auf, die sie einmal geöffnet hatten, besonders die Schranktüren. Die anderen hielten Bad, Schlafzimmer und außerdem jene Türen verschlossen, hinter denen es aussah wie bei Rodríguez unter der Bank. Und die dritte Sorte öffnete immer nur eine Türe, wenn sie ein Zimmer betrat und sich zugleich darin aufhielt. Mit diesen Leuten war normalerweise nicht gut Spanferkel essen. Der ecuadorianische Esel gehörte ganz offensichtlich zu der dritten Sorte.
„Du Idiot“, schallte es ihr im selben Augenblick aus den Tiefen des Flures entgegen (natürlich kam es aus dem Raum mit der geöffneten Tür), „warum bist du da und nicht mein bester Freund?“
Andrea rannte los. Das Trampeln ihrer Füße hallte von den kahlen, weißen Wänden des Flures, an denen noch nicht einmal ein billiges Kalenderblatt hing, wider. Sie steuerte auf die hintere Tür zu. Herr Welling stand mitten in der Küche, mit dem Rücken zu ihr, schrie und wedelte mit den Armen herum. Er steckte noch immer im Pyjama.
„Herr Welling“, sagte sie so gelassen sie konnte, obwohl ihr ebenfalls nach Schreien zumute war. Nach Schreien und flüchten.
„Ich bin die Haushälterin. Ihr Freund kommt bestimmt auch noch her.“
K.O.
Wie in Zeitlupe drehte sich Engelbert zur Küchentür herum. Von dort erklang die leicht quietschende Stimme mit dem eigenartigen Akzent. SIE war es. Schwarze, leicht schräg stehende Augen schienen ihm direkt ins Gehirn hineinzusehen. Klimperaugen. Dann wurde es schwarz vor seinen eigenen Augen.
Die Rache des kranken Mannes
Er war selber schuld. Mit ER meinte er Dr. Wolkenstein, der alles andere war als ein Möbelschlepper und der all seine Kraft aufbot, um seinen Patienten, den er für ohnmächtig hielt, die Treppe hoch zu schleppen. Dr. Wolkenstein hätte verhindern müssen, dass Sonnen ihm ein Weibsbild schickte. Dafür hatte der Psychiater eine Strafe verdient. Und dafür nahm er selbst in Kauf, dass der Psychiater ihm mit dem Rauteck-Rettungsgriff den Brustkorb zusammenquetschte. Das war der eine Teil des Preises, der Teil, den Engelbert gern für seinen Racheakt zahlte. Der andere, böse Teil war der Griff der Panflötenfrau. Es war nicht der Griff an sich (sie umklammerte seinen rechten Oberschenkel mit der rechten, den linken mit der linken Hand, damit er mit seinem Hintern nicht über die Stufen holperte), sondern die Tatsache, dass ihn eine Frau angrapschte. Das ist ekelhaft für einen, der ein Problem mit Frauen hat. Ihm wäre das Holpern wirklich lieber gewesen, als sie zwischen seinen gespreizten Beinen zu wissen. Jetzt war er so froh wie ein Kind zu Weihnachten, dass er nach sieben Tagen ohne Dirk immer noch genügend Medikamente intus hatte, um wegen der Frauenhände nicht durchzudrehen. Ohne ihre Hilfe hätte der Psychiater nämlich zwei Sanitäter angefordert und dann wäre alles viel schlimmer gekommen. Er hatte es oft genug erlebt und mochte gar nicht daran denken, was in dem Fall auf ihn zugekommen wäre. So gesehen war er, trotz des Wermutstropfens in Gestalt einer Frau, gut dran. Also genoss er seine Rache und kostete die Vorfreude auf den Rausschmiss der Panflötenfrau aus.
„Seit dreißig Jahren behandele ich meinen Patienten höchst erfolgreich“, hörte er Dr. Wolkenstein, dessen Kopf sich direkt über seinem Eigenen befand, und der ordentlich nach Luft japste, auch prompt prahlen, „und keine fünf Minuten, nachdem Sie den Dienst antreten, liegt er am Boden.“
Engelbert war gespannt, wie das Weib darauf reagierte. Wenn alles erwartungsgemäß lief, war er sie gleich los. Der Doktor hatte deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie versagt hatte. Bedenklich stimmte ihn allerdings der Ton, den Dr. Wolkenstein anschlug. Der war wohlwollend. Doch damit hatte er gerechnet. Nach all den gemeinsamen Jahren kannte er die Schwächen seines Psychiaters als wären sie seine Eigenen. Gottlob waren sie es nicht! Man sollte es nicht meinen, aber der Doktor war zum vierten Mal verheiratet. Doch gerade bestand keine Gefahr, dass ihn das Weib bezirzte. Allein am Ton erkannte er, was Dr. Wolkenstein dachte. Zum Beispiel, dass die Panflötenfrau jünger aussah als seine Tochter, die immerhin fünf Jahre jünger war als die aktuelle Gattin, und die war schon wesentlich jünger als Engelbert. Obendrein war die Panflötenfrau nur ein Drittel so breit wie die Doktorentochter und immerhin noch halb so breit wie die Gattin. Für solche Frauen verwendete Dr. Wolkenstein gern den Ausdruck Püppchen, was er aber nicht abfällig meinte. Es war lediglich eine Zusammenfassung für sehr jung, sehr hübsch und sehr gefährlich. Und vor sehr jung und sehr hübsch und sehr gefährlich hatte der Doktor einen Heidenrespekt, was ihn aber keineswegs davon abhielt, seine auch kurz vor der Rente noch vom Adrenalin getriebenen Fingerchen danach auszustrecken. Wie gut, dass ein Püppchen als Betreuerin für jemanden wie ihn, nicht in Frage kam. Am Ende hätte sich sein kleines Häuschen noch in ein Liebesnest verwandelt. Was der Doktor außerhalb seines Häuschens trieb, das interessierte ihn schon von Natur aus nicht.
„Wie alt sind Sie eigentlich, Frau Carpintero?“, fragte Dr. Wolkenstein erwartungsgemäß und Engelbert lachte sich beruhigt ins Fäustchen.
„Ich muss schon sagen: Das ist fürwahr eine erfolgreiche Behandlung, bei der der Patient umfällt, wenn die Haushälterin auf der Bildfläche erscheint“, schlug das Weib mit quietschender Stimme zu. Die Frage nach ihrem Alter überhörte sie schlichtweg.
Beinahe hätte Engelbert laut aufgelacht. Sie drehte den Spieß einfach um. Sie war gerissen. Der Psychiater leistete Schwerstarbeit, jedenfalls für seine Verhältnisse, derweil hielt sie seine Beine gerade so eben in der Waage. Sie packte gar nicht richtig zu. Beinahe regte sich in ihm so etwas wie Bewunderung, doch nur ganz schwach und ganz kurz. Was ihn bereits zum zweiten Mal an diesem Tag wunderte, das war ihre Sprachgewandtheit. Trotz des Miniakzents verfügte sie über einen unglaublichen Wortschatz und schraubte Sätze zusammen, auf die ein Wort-Arbeiter wie er erst einmal kommen musste. Er musste unbedingt in Erfahrung bringen, mit welcher Methode sie Deutsch gelernt hatte. Ein Wort wie fürwahr gehörte nicht einmal in seinen eigenen Wortschatz, und der war fürwahr gewaltig. Immerhin sprach er ein halbes Dutzend Fremdsprachen fließend.
„Doktor? Herr Welling klimpert“, quietschte sie, als sie ihn auf das Bett hievten.
Bedauerlicherweise hatte er die Augen nicht mehr ruhig halten können. Da er aber auf seinem Bett lag, konnte er die Augen genauso gut öffnen, und ansehen, wie Dr. Wolkenstein spöttisch das Gesicht verzog. Und sich innerlich zu Tode ärgerte, dass er nach beinahe dreißig Jahren immer noch auf seinen Patienten hereinfiel.