Engerl Bengerl - Sabrina Hafenscher - E-Book

Engerl Bengerl E-Book

Sabrina Hafenscher

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Beschreibung

Ein Begräbnis in der Vorweihnachtszeit. Schlimmer könnte es nicht kommen. Zumindest denkt sich das Luisa, bis sie nach der Beisetzung ihres verstorbenen Chefs mit ihren Kollegen noch ein letztes Mal im Stamm-Pub auf den Toten anstößt und mit einem Unbekannten im Bett landet. In einer Nacht- und Nebel-Aktion flüchtet Luisa aus der fremden Wohnung und ist sich sicher, den Mann nie wiederzusehen. Aber das Schicksal hat bereits andere Pläne mit der jungen Frau. Denn als Luisa nach einem Wochenende mit ihren Töchtern in die Anwaltskanzlei kommt, erwartet sie eine Überraschung: Ihr neuer Chef ist aus-gerechnet der Mann, mit dem sie eine Nacht verbracht hat. Doch der scheint sich nicht an Luisa zu erinnern …

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Buch

Ein Begräbnis in der Vorweihnachtszeit. Schlimmer könnte es nicht kommen. Zumindest denkt sich das Luisa, bis sie nach der Beisetzung ihres verstorbenen Chefs mit ihren Kollegen noch ein letztes Mal im Stamm-Pub auf den Toten anstößt und mit einem Unbekannten im Bett landet. In einer Nacht- und NebelAktion flüchtet Luisa aus der fremden Wohnung und ist sich sicher, den Mann nie wiederzusehen. Aber das Schicksal hat bereits andere Pläne mit der jungen Frau. Denn als Luisa nach einem Wochenende mit ihren Töchtern in die Anwaltskanzlei kommt, erwartet sie eine Überraschung: Ihr neuer Chef ist ausgerechnet der Mann, mit dem sie eine Nacht verbracht hat. Doch der scheint sich nicht an Luisa zu erinnern …

Autorin

Sabrina Hafenscher wurde am 15. Juni 1985 geboren und ist damit ein waschechter, schizophren veranlagter Zwilling. Nachdem es dem klassischen Wiener Grantler noch nicht gelungen ist, sie aus der Hauptstadt zu vertreiben, lebt sie derzeit in einem Reihenhaus in Wien.

Wenn sie nicht gerade wie aus dem Nichts zu tanzen und zu singen beginnt, dann nutzt sie die Zeit, um Feldforschung für ihre Romane zu betreiben und zu schreiben.

Sabrina Hafenscher

Engerl Bengerl

Roman

© 2024 Sabrina Hafenscher

Website: www.sabrinahafenscher.com

1. Auflage 2024

Lektorat: Dr. Sabine Schönfellner, www.buchfein.at Covergrafik: www.canva.com

Verlagslabel: Unicornis

ISBN Softcover:

978-3-384-47386-8

ISBN E-Book:

978-3-384-47387-5

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Sabrina Hafenscher, Brunnenhof 7, 1220 Wien, Austria.

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die Meinungen und Einstellungen der Protagonisten müssen nicht mit jenen der Autorin identisch sein.

Für meine Oma, Hedwig Hafenscher, die leider nicht mehr bei uns sein kann.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Stille Nacht

Nachwort

Engerl Bengerl

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

Kapitel 1

Nachwort

Engerl Bengerl

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Kapitel 1

Verdammt! Wo bleibt Miriam bloß so lange? Eigentlich weiß sie doch, dass das Begräbnis in zehn Minuten beginnt. Und er war ja schließlich ihr Chef, ist ihr das nicht peinlich?

Ungeduldig versuche ich, meine verspätete Freundin inmitten des winterlichen Schneegestöbers auszumachen, bleibe jedoch erfolglos.

Manno, wieso bin ich ausgerechnet heute früher dran? An gewöhnlichen Tagen neige ich schließlich nicht zur Pünktlichkeit, sodass Miriam und ich bei Verabredungen dazu übergegangen sind, die jeweils andere wenigstens um eine Viertelstunde früher zum vereinbarten Treffpunkt zu bestellen. Das verringert die übliche Wartezeit von einer halben Stunde immerhin um die Hälfte.

Dummerweise ist heute rein gar nichts gewöhnlich. Es ist noch nicht einmal eine Woche her, dass mein Chef Dr. Dr. Mag. Franz Lang, immerhin Inhaber einer Wiener Anwaltskanzlei, unerwartet von einem Herzinfarkt aus dem Leben gerissen wurde.

Okay, ich will mal fair bleiben. Vollkommen unvorhergesehen ist nicht hundertprozentig korrekt. Schließlich hat man den lebenslustigen Franz Lang nicht selten an seinem Stammtisch im Green Leprechaun Pub angetroffen, wo er nicht nur dem Kartenspiel, sondern auch dem Fast Food und Bier gefrönt hat.

Klingt verdächtig nach meinem eigenen Lebensstil – zumindest was Fast Food und kalten Hopfenblütentee betrifft – was impliziert, dass ich bereits mit einem Fuß im Jenseits stehe.

Ich muss schleunigst an etwas anderes denken, bevor ich wie ein aufgescheuchtes Huhn in Todesangst herumlaufe. Deshalb sehe ich mich ein weiteres Mal nach Miriam um. Vergeblich.

Manno! Ich stehe mit Sicherheit schon seit zwanzig Minuten in der Kälte und beobachte die Trauergäste und Erbschleicher dabei, wie sie tröpfchenweise an mir vorüberziehen. Einstweilen dringt die Feuchtigkeit des matschigen Schnees durch meine ungefütterten Stiefeletten. Wenn das so weitergeht, habe ich alsbald Frostbeulen an den Zehen.

Wo steckt Miriam denn, verdammt noch mal? Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich machen soll, wenn sie nicht mehr rechtzeitig auftaucht. Warte ich trotzdem vor dem Eingang der Aufbahrungshalle auf sie, oder tue ich es den anderen nach und gehe hinein, um der Familie des Verstorbenen mein Beileid auszusprechen? Und wenn ich beschließe, weiterhin in der Kälte auf sie zu warten, was mache ich, wenn sie gar nicht mehr auf dem Friedhof erscheint, weil ihr womöglich etwas zugestoßen ist? Ein Unfall in der U-Bahn. Vielleicht ist sie auf die Gleise gestürzt und überfahren worden.

Okay, es wird Zeit, dass ich an etwas Positives denke. Dummerweise funktioniert das wie üblich nicht. Eh klar. Jetzt stelle ich mir auch noch vor, wie Miriam auf der Notfallstation im Krankenhaus um ihr Überleben kämpft. Ein Moment der nach Katzenvideos auf Instagram schreit.

Mühsam fische ich mein Handy aus der Tasche, da spricht mich jemand übertrieben fröhlich an.

»Ah … Luisa, da bist du ja!«

Das war wieder einmal klar. Von allen Menschen, die mir in einem solchen Moment begegnen könnten, läuft mir als Erste ausgerechnet die selbstverliebte Johanna über den Weg.

Mit ausgebreiteten Armen stöckelt unsere arbeitsscheue, platinblonde Assistentin auf mich zu, kommt dabei aber aufgrund des knappen schwarzen Partykleids nur langsam voran. Indessen bemühe ich mich um ein Lächeln.

Einmal mehr stellt Johanna unter Beweis, dass es nur eine Sache gibt, die sie mehr liebt als sich selbst: die Anerkennung anderer Menschen.

An einem stinknormalen Arbeitstag würde ich mich über ihr für eine Trauerfeier unpassendes Outfit ärgern, aber heute hat Johannas Aufmachung beinahe etwas Tröstliches an sich, weil es mir vor Augen führt, dass es selbst an den entsetzlichsten Tagen Konstanten gibt.

»Mah … Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, endlich auf jemandem aus der Kanzlei zu stoßen. Von den anderen habe ich nämlich noch niemanden gesehen, obwohl doch alle gesagt haben, dass sie kommen. Aber jetzt bist du ja da und ich muss nicht alleine in die Aufbahrungshalle. Bei meiner Hochsensibilität würde ich das nämlich nie und nimmer durchstehen.«

Während mich meine verhasste Kollegin mit hollywoodreifem Schluchzen an sich drückt, dringt mir der süßliche Duft ihres Parfums in die Nase und raubt mir den Atem – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Deshalb erwidere ich Johannas Begrüßung hustend und bin ehrlich erleichtert, als sie von mir ablässt, um sich mit einem Taschentuch theatralisch die Augen trockenzutupfen.

»Der arme Franz. Dabei war er doch immer so fröhlich und lebendig. Wer hätte gedacht, dass er uns so schnell wegstirbt? Ich kann das alles noch gar nicht fassen. Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, als wir zusammen einen Kaffee getrunken haben, und jetzt ist er tot. Einfach tot.« Die Blondine steckt ihr Taschentuch wieder zurück in ihre Designer-Handtasche und spricht dann weiter: »Bei all dem beginnt man damit, das eigene Leben infrage zu stellen. Macht man eigentlich das, was einem Spaß macht? Verbringt man es mit den Menschen, die einem wirklich wichtig sind? Hat man den richtigen Partner oder den richtigen Job und am allerschlimmsten: Wann, wie und wo wird es einen selbst erwischen?«

»Na ja … Ich versuche eher nicht daran zu denken, wann es bei mir so weit sein könnte«, erwidere ich vorsichtig und verfluche Johanna innerlich für die Befeuerung meiner Ängste.

»Mah … klar versuchst du nicht dran zu denken. Ich bemühe mich auch nach Kräften darum, nicht an den Tod zu denken, aber seit mein Zwerghamster vor einem Jahr gestorben ist, kann ich so gut nachvollziehen, wie es sich anfühlt, einen nahestehenden Menschen zu verlieren.«

»Ja, äh … ich kann mir gut vorstellen, dass das nicht einfach für dich war.«

»Nicht einfach ist noch stark untertrieben. Es war der reinste Albtraum. Ich hab tagelang nichts gegessen. Meine Familie hat sich schon Sorgen um mich gemacht und gedacht, ich werde jetzt magersüchtig. Ich sags dir, damals hab ich mindestens eine Größe in einer Woche abgenommen. Ich muss wie ein Skelett ausgesehen haben.«

»Äh … nun ja … äh.«

»Warum stehst du eigentlich hier draußen in der Kälte? Warst du schon drinnen?«

Ich schüttle den Kopf: »Nein, eigentlich warte ich noch auf Miriam. Keine Ahnung, wo sie so lange bleibt.«

Johanna rollt effektheischend mit den Augen, unterlässt es allerdings, einen entsprechenden Kommentar abzugeben, sondern hakt sich kurzerhand bei mir unter, um mich mit sich zu zerren: »Komm, gehen wir hinein. Die Trauerfeier geht sicher gleich los.«

»Aber …«, protestiere ich, doch ich werde unbarmherzig in das Innere der Aufbahrungshalle geschleift, in der die deprimierende Stimmung der trauernden Gäste durch die melancholische Musik im Hintergrund verstärkt wird. Im Gegensatz zu meiner Entführerin, die durch den Mittelgang stolziert, als handle es sich dabei um einen Laufsteg, lege ich nicht annähernd die gleiche Grazie an den Tag. Mit heißem Gesicht stolpere ich förmlich zum geöffneten Sarg und bemühe mich darum, den leblosen Körper von Franz zu ignorieren, indem ich versuche, die Texte auf den Trauerschleifen der Blumenkränze zu entziffern.

Schade, dass die Hinterbliebenen in ihren letzten Liebesbotschaften nicht ehrlicher sind, denn mit Texten wie »Warum hast du mich mit deiner Sekretärin betrogen« oder »Er hat lieber getrunken als Zeit mit seinen Kindern verbracht« würde der Unterhaltungswert von Begräbnissen mit Sicherheit steigen.

Obwohl ich mir fest vorgenommen habe, keinen Blick in den offenstehenden Sarg zu werfen, obsiegt meine Neugierde dann doch, und ich betrachte den blassen Leichnam meines Chefs im schummrigen Kerzenschein.

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt davon ausgehen, dass er friedlich schläft.

Johanna neben mir verfällt in rührseliges Schluchzen und schnappt nach Luft.

»Oh mein Gott, ich muss hier raus! Das ertrage ich nicht. Diese ganze Traurigkeit. Ich … Ich bekomme keine Luft mehr.«

Weil ich nicht die geringste Ahnung habe, wie ich Beihilfe zur oscarreifen Darbietung meiner Kollegin leisten soll, lege ich ihr unbeholfen einen Arm um die Schulter und streichle sie sanft. Angesichts ihrer Verlogenheit fällt mir diese Anteilnahme nicht leicht, aber ich werde zu meinem Glück von Franz‘ besorgtem Sohn abgelöst.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Johanna?«, fragt Pierre die Drama Queen.

Ein weiteres Mal ist es dieser blöden Kuh gelungen, die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wie schafft sie das bloß immer? Und wo verdammt noch mal trainiert sie ihre Schauspielkünste? Ich meine, im engsten Kreis der Kollegen hat Johanna keine einzige Träne um Franz vergossen, sondern stattdessen die Frage nach einer Gehaltserhöhung in den Raum gestellt, und jetzt tut sie so, als sei sie seine Seelenverwandte gewesen.

»Ach … Das alles hier nimmt mich einfach viel zu stark mit«, höre ich die Blondine schluchzen. »Ich kann halt noch immer nicht fassen, dass dein Vater nicht mehr lebt. Weißt, auch wenn er nur mein Chef war, hab ich ihm sehr nahegestanden. Er war so ein herzensguter und freundlicher Mensch und sein Tod …« Sie schluchzt erneut. »Der kam so plötzlich.«

Er muss ein herzensguter Mensch gewesen sein, weil jeder andere Johanna aufgrund ihrer Inkompetenz und Faulheit längst gekündigt hätte.

»Ja, wem sagst du das«, stimmt ihr Pierre mit geröteten Augen zu. Dabei gelingt es ihm nicht, das einladend in Szene gesetzte Dekolleté zu ignorieren.

Meine Kollegin heuchelt indessen Unwissenheit und lamentiert weiter: »Aber was für einen jämmerlichen Anblick muss ich für dich abgeben? Für dich ist das alles bestimmt hundertmal schlimmer als für mich.« Sie tupft sich die Augen effektheischend mit einem Taschentuch ab. »Ich schäme mich ja so.«

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Frau sich in ihrem ganzen Leben noch niemals geschämt hat. Wahrscheinlich kennt sie nicht einmal die Definition von Schamgefühl.

»Trauer ist nichts, wofür man sich schämen muss. Also mach dir bitte keinen Kopf«, bemüht sich ihr Retter darum, sie zu trösten.

»Oh danke. Das ist wirklich sehr lieb von dir, Pierre.«

»Da gibt es nichts zu danken.« Er mustert Johanna ein weiteres Mal mit eindeutig lüsternem Blick und gibt dann stotternd von sich: »Weißt du was, wenn dich das alles so mitnimmt, nimm doch einfach neben mir Platz.«

»Aber ist die erste Reihe nicht normalerweise für Familienangehörige reserviert?«, wende ich unbedacht ein und ernte einen vernichtenden Blick von Johanna und ihrem Verehrer.

»Normalerweise ja, aber bei Johanna können wir bestimmt eine Ausnahme machen.«

Gott sei Dank hat sich in der Zwischenzeit die Gattin des Verstorbenen zu uns gesellt. Mit verweinten Augen wendet sie sich ihrem Sohn zu: »Pierre Lucas, das ist eine Trauerfeier und kein Meet and Greet. Hab doch ein wenig Respekt.«

Peinlich berührt strecke ich der Frau meines Chefs die Hand entgegen: »Mein Beileid, Frau Lang.«

»Danke, Fräulein Luisa«, antwortet die Witwe und zieht mich dabei fest an sich. »Schön, dass Sie gekommen sind. Mein Franz hat so große Stücke auf Sie gehalten«, fügt sie schluchzend hinzu und sorgt dafür, dass ich mit den Tränen kämpfe.

Wir stehen eine Weile so da und umarmen einander still. Als mich Frau Lang loslässt, stelle ich voller Empörung fest, dass es sich Johanna bereits neben Pierre bequem gemacht hat. Frau Lang scheint von dieser Begebenheit ebenso wenig angetan zu sein, unterlässt es aber, sich zu beschweren. Stattdessen verabschiedet sie sich mit einem dankbaren Nicken bei mir und nimmt in einer würdevollen Haltung neben ihrem Sohn Platz.

Indessen begebe ich mich im Mittelgang nach hinten und lasse dabei den Blick verzweifelt über die zahlreichen fremden Gesichter wandern, in der Hoffnung auf ein bekanntes aus der Kanzlei zu stoßen. Dummerweise war mein verstorbener Chef viel zu kommunikativ und menschennah, weshalb es unmöglich ist, in der schieren Masse an Trauergästen jemanden zu entdecken, den ich kenne.

Na gut. Dann bleibt nur Miriam als meine letzte Hoffnung.

Resigniert seufzend lasse ich mich auf einem freien Stuhl in der letzten Reihe nieder und bereite mich innerlich auf die Blasenentzündung vor, die mich mit Sicherheit nach einer Stunde in dieser Gefrierbox ereilen wird. Indessen wird die Trauerfeier mit einem dramatischen Lied eingeleitet, auf das eine Rede des Bestatters mit den wichtigsten Eckdaten aus Franz Langs Leben folgt. Diese ist noch nicht vollendet, als die keuchende Stimme Miriams, die eilig auf dem freien Stuhl neben mir Platz nimmt, zu mir durchdringt: »Sorry für die Verspätung. Mein Göttergatte leidet an Männerschnupfen. Sehr dramatisch. Hab ich was verpasst?«

Ich schüttle den Kopf: »Nix Wesentliches. Die Johanna hat wie üblich ihre herausragenden schauspielerischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt und es immerhin dazu gebracht, in der ersten Reihe sitzen zu dürfen.« Mit dem Zeigefinger deute ich nach vorne.

»Was für eine manipulative Bitch«, stellt Miriam etwas zu laut fest, sodass sich eine ältere Dame, die unmittelbar vor uns sitzt, mit einem Ausdruck der Empörung nach uns umdreht.

Meine Freundin schlägt sich mit der flachen Hand auf den dunkellila bemalten Mund: »Ups. Entschuldigung.«

Um nicht erneut Gefahr zu laufen, ermahnt zu werden, verbringen wir den Rest der ergreifenden Rede schweigend, bis sich Johanna erhebt und vor die Menge tritt. In der Hand hält sie einen winzigen zartrosa Zettel, von dem sie tränenreich abliest.

»Das darf doch nicht wahr sein. Die tut ja gerade so, als wäre sie Franz‘ Tochter gewesen und nicht bloß seine Assistentin. Sie bekommt nie genug Aufmerksamkeit, oder?«, echauffiert sich Miriam so leise wie nur irgendwie möglich, erregt mit ihren Worten aber dennoch die Dame vor uns, die sich ein weiteres Mal erbost zu uns umdreht, es jedoch bei einem verächtlichen Blick belässt.

Erst nachdem sich die furchteinflößende Frau wieder der Vortragenden zuwendet, wage ich es, das Wort zu ergreifen: »Keine Ahnung, warum dich das so überrascht. Du weißt doch, dass sie immer im Mittelpunkt stehen muss.«

»Ja, schon, aber ich bin halt der naiven Annahme nachgehangen, dass sie zumindest auf einem Begräbnis den notwendigen Anstand an den Tag legt und sich mit einer Nebenrolle zufriedengibt.«

»Geh bitte. Anstand ist für die ein Fremdwort, weil sie in ihrem ganzen Leben noch nie einen Blick in ein Wörterbuch geworfen hat.«, entgegne ich und folge dann der an Dramatik kaum zu übertreffenden Rede Johannas stumm. Im Anschluss wird der Sarg endgültig verschlossen und begleitet von Georg Danzers »Weiße Pferde« hinaus in das Schneegestöber des Wiener Zentralfriedhofs getragen. Schweigend folgen die Trauergäste dem Sarg. Das Schlusslicht bilden Miriam und ich. Mit vor Wut zusammengekniffenen Augen mustert meine Freundin Johanna, die an der Spitze des Trauerzugs mit andächtiger Miene neben dem Sohn unseres verstorbenen Chefs durch den Schnee stöckelt, als wäre sie ein unverzichtbares Familienmitglied.

»Boah … die Frau ist dermaßen ungeniert. Mir kommt das Kotzen«, gibt Miriam von sich. »Ich mein, genügt ihr ihr Freund nicht und muss sie sich deshalb noch den Sohn vom Chef angeln!?«

»Na ja, es gibt halt nur eine Sache, die sie mehr liebt als sich selbst.«

»Ja, Aufmerksamkeit und Geld«, antwortet meine Kollegin rasch.

»Das waren zwei Sachen«, korrigiere ich Miriam, die mich allerdings ignoriert und in sich hineinmurmelt: »Wenn die nur einen Cent wittert, benimmt sie sich wie eine rollige Katze.« Nach einer kurzen Unterbrechung fügt sie hinzu: »Vielleicht hätte ich mir etwas von ihr abschauen und mir einen gut aussehenden reichen Banker oder Unternehmer angeln sollen. Stattdessen bin ich mit einem mittellosen Musiker zusammen, der beim geringsten Anzeichen einer Erkältung in Todesangst verfällt.«

»Na ja, aber was nützt dir der ganze Reichtum, wenn du dich dann nicht mehr in den Spiegel schauen kannst, ohne dich zu hassen?«

»Also wenn ich reich bin und nicht mehr jeden Cent umdrehen muss, dann nehme ich den Selbsthass mit Leichtigkeit auf mich.«

Sie reckt ihren Hals, um über die Köpfe des Trauerzugs hinwegzusehen, und stellt dann enttäuscht fest: »Wo steckt eigentlich der Georgi? Ich könnt jetzt echt einen Schluck Whiskey vertragen, um mich ein bissi aufzuwärmen, und er hat doch fast immer seinen Flachmann dabei. Hast du ihn schon gesehen?«

Ich schüttle den Kopf: »Nope. Hab ich nicht. Aber er hat mir grundsätzlich versichert, dass er heute auch kommt.«

Um mich mit Miriam solidarisch zu zeigen, recke ich ebenfalls den Hals nach unserem vermissten Kollegen. Dabei bleibt mein Blick an der Spitze des Trauerzugs hängen, wo die Witwe Arm in Arm mit einem großen Mann über den schneebedeckten Weg trottet.

»Weißt du eigentlich, wer der Kerl da vorne neben der Frau Lang ist?«, frage ich meine Kollegin neugierig. Miriam folgt meinem Blick und bringt mit einem Kopfschütteln etwas Bewegung in ihre langen, zu Zöpfen geflochtenen, lila gefärbten Haare.

»Nein, keinen Plan. Noch nie gesehen, den Typen. Vielleicht ein verschollener Sohn oder ein entfernter Verwandter, auch wenn er nicht sehr entfernt wirkt.« Ich ziehe nach einem Geistesblitz scharf die Luft ein: »Oh mein Gott! Glaubst du, dass sie eine Affäre mit dem Kerl hat?«

»Na, wenn dem so ist, hat die Sugarmommy aber keinen schlechten Geschmack. Der Typ ist nämlich mit Sicherheit zwanzig Jahre jünger als sie. Zumindest soweit ich von hier aus sehen kann.«

»Ja, aber ich kann‘s mir trotzdem nicht vorstellen. Immerhin war der Franz ihr Ein und Alles. Das war kaum zu übersehen.«

»Na ja, stille Wasser sind bekanntlich tief. Ted Bundy hat man auch nicht angesehen, dass er ein Serienkiller war.«

»Vergleichst du die Frau Lang jetzt allen Ernstes mit einem Serienkiller?«

»Nope, tu ich nicht. Ich wollte damit lediglich zum Ausdruck bringen, dass man auch einer Ehebrecherin nicht ansieht, dass sie ihren Mann betrügt. Wer weiß, vielleicht betreibt sie neben ihrer Arbeit in der Kanzlei illegalen Menschenhandel.«

»Menschenhandel ist grundsätzlich illegal, Miriam.«

Sie wedelt mit der Hand: »Ja, ja. Schon klar. Siehst du, mit ein Grund, warum du endlich deine verdammte Anwaltsprüfung ablegen solltest.«

»Zu wissen, dass Menschenhandel illegal ist, befähigt mich noch lange nicht zur Ausübung einer Anwaltstätigkeit.«

»Da muss ich ihr ausnahmsweise mal Recht geben.«, werden wir von unserem bisher verschollenen Kollegen unterbrochen, der offenbar noch weiter ins Abseits geraten ist, als Miriam und ich. »Obwohl ich – aus anderen Gründen versteht sich – der Meinung bin, dass du über eine Anwaltsprüfung nachdenken solltest.« Er zwinkert mir freundlich zu: »Du hast nämlich Grips.«

Gespielt theatralisch fasse ich mir an die Brust: »Ich glaube, damit bekommst du den Titel ‚liebster Kollege des Jahres‘.«

»Darauf hatte ich es abgesehen.«

»Ein Schleimer, wie er im Buche steht.«, stellt Miriam grinsend fest und fügt dann hinzu: »Wo hast du eigentlich so lange gesteckt und was sagst du zur grandiosen schauspielerischen Leistung unserer Johanna?«

»Na ja, ich musste dem Ruf der Natur folgen, wenn du verstehst, was ich meine und was Johanna betrifft, gibt es nur eines zu sagen: Spiel, Satz und Sieg. Sie hat ihre Chance gewittert und wahrgenommen. An der Börse wäre sie vermutlich ein genialer Trader. Aber ich kann jetzt nicht behaupten, dass mich das überraschen würd. Schließlich hat sie schon seit langem ein Auge auf Pierre geworfen«, antwortet Georgi und zieht dann aus der Tasche seines schwarzen Mantels einen Flachmann, um daran zu nippen und ihn mir im Anschluss weiterzureichen. Als ich zögere, fordert er mich auf: »Jetzt nimm schon einen Schluck! Auf den Chef!«

»Alles klar. Auf den Chef!«, stimme ich widerwillig zu und nehme einen Schluck von dem hochprozentigen Whiskey, der meine Speiseröhre brennend hinabrinnt und mich zu einem Husten veranlasst.

Nachdem es mir Miriam nachgetan hat, lässt Georgi das mitgebrachte Getränk wieder in seiner Manteltasche verschwinden. Gerade rechtzeitig, denn der stockende Trauerzug kündigt unsere Ankunft an Franz Langs letzter Ruhestätte an.

Die Grabsegnung nimmt nicht viel Zeit in Anspruch und als ich mit mulmigem Gefühl im Magen dabei zusehe, wie der auf Hochglanz polierte Sarg in sein feuchtes Bett hinabgelassen wird, höre ich Miriam in sich grummeln: »Was für eine Vorstellung, da unten in der Erde von Würmern gefressen zu werden.«

»Ich glaub, bis dahin wirst du nicht mehr viel davon mitbekommen«, halte ich trocken fest.

»Na hoffentlich. Stell dir mal vor, man wird irrtümlich lebendig begraben. Erst vor ein paar Wochen habe ich von einer Frau in der Zeitung gelesen, die in der Kühlkammer aufgewacht ist«, mischt sich Georgi in das Gespräch ein.

»Wo hast du das gelesen? Auf Telegram?«

»Unsinn. Das hab ich aus einer renommierten Tageszeitung«, verteidigt sich mein Kollege. »Hat mir einmal mehr in Erinnerung gerufen, warum ich mein eigenes Mausoleum mit Stromversorgung und Smartphone haben will. Dann kann ich, wenn ich aus meinem Scheintod erwache, wenigstens um Hilfe rufen.«

»Aber ist das nicht teuer?«

»Keine Ahnung. Aber irgendeinen Sinn muss es ja haben, dass ich Unmengen an Geld mit Kryptowährung verdient hab.«

»Ich möchte mal so ein klassisches Wikinger-Begräbnis, bei dem ich auf einem Boot mit einem brennenden Pfeil zu Asche verbrannt werde«, sinniere ich.

Miriam zeigt sich verwirrt: »Und das ist weniger teuer?«

»Na ja, man braucht nur ein Boot und Pfeil und Bogen.«

»Wenn du meinst. Aber dann bleibt ja gar nichts von dir übrig.«

»Soll es ja auch nicht. Ich will nach meinem Tod wieder eins mit der Welt werden.«

»Aber das wirst du doch auch, wenn du in der Erde von Würmern gefressen wirst«, gibt mir Georgi zu bedenken.

»Geh bitte, dafür ist die Luisa viel zu hübsch. Das wär doch die totale Verschwendung, wenn ihr Körper in Wurmmägen landet«, verteidigt mich Miriam. »Deshalb will ich auch mal wie Schneewittchen in einem gläsernen Sarg bestattet werden.«

»Damit dann jeder zusehen kann, wie dein Körper langsam verwest.«

»Geh bitte, Georgi, musst du immer so negativ sein. Bis ich sterbe, gibt es bestimmt schon super Möglichkeiten zur Konservierung von Leichen. Wer weiß, vielleicht lassen sich unsere Körper sogar nach dem Tod wieder verjüngen.«

»Wunderbar. Ich wüsste nicht, was mir postmortale Verjüngung bringen soll.«

»Ihr müsst einem aber auch alles vermiesen.«

Georgi gibt sich geschlagen und klopft Miriam zum Trost auf die Schulter: »Also gut. Wir nehmen deinen Wunsch ernst und zum Beweis dafür organisiere ich dir sieben Zwerge als Sargträger.«

»Zwerge sind nicht so meins. Aber mit sieben Bergarbeitern könnte ich leben.«

»Äh… Darf ich euch darüber in Kenntnis setzen, dass der Begriff Zwerg politisch nicht korrekt ist.«

Meine Kollegin verdreht ihre Augen genervt, kommt allerdings nicht mehr dazu, etwas zu erwidern, weil der Sarg bereits den Erdboden erreicht hat und die Trauergäste sich nun anstellen, um sich von dem Verstorbenen zu verabschieden.

Als ich an der Reihe bin, nähere ich mich dem offenen Grab mit gesenktem Kopf und werfe eine Handvoll Erde auf den Sarg. Danach bekunde ich Frau Lang und ihrem Sohn mein Beileid und ärgere mich über Johanna, die dazu übergegangen ist, ebenfalls Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Ich erfülle ihr ihren Wunsch nicht und geselle mich stattdessen zu meinen Kollegen, die sich unter einem nahestehenden kahlen Baum gestellt haben.

Miriam bombardiert mich sogleich mit einer Frage: »Du, der Georgi hat gerade vorgeschlagen, dass wir noch gemeinsam ins Green Leprechaun schauen und auf den Franz anstoßen. Du bist eh dabei, oder!?«

Ich werfe einen zweifelnden Blick auf die Uhr, ehe ich antworte: »Ich weiß nicht. Die Mädchen sind heute zwar bei ihrem Papa, aber der hat mich gebeten, die beiden morgen Vormittag abzuholen, weil er seine Liebste zu einem Geburtsvorbereitungskurs begleiten muss.«

»Ach komm schon. Das schaffst du doch locker. Nur ein oder zwei Cider.«

Kapitel 2

Aua! Ich wusste, es war eine saublöde Idee mitzukommen. Nicht nur, dass sich die zwei Gläser Cider auf wundersame Weise verdoppelt haben, es sind noch mindestens drei Runden Tequila und zwei Runden Jägermeister dazugekommen, sodass sich mein Kopf anfühlt, als würde er jeden Moment bersten. Und dann ist da noch diese kleine fiese innere Stimme, die bei der dumpfen Erinnerung an einen fremden Mann höhnisch lacht.

Scheiße! Was habe ich getan?

Mit klopfendem Herzen öffne ich meine Augen und blinzle in lediglich vom silbrigen Mondlicht durchbrochene Dunkelheit.

Oh mein Gott! Wo bin ich? Was ist mit mir passiert? Bin ich etwa im Keller eines Verrückten gelandet, der mich den Rest meines Lebens hier einschließt, um mit mir zwanzig Kinder zu zeugen?

Denk nach, Luisa, denk nach!

Ich schließe meine Augen und bemühe mich darum, den vergangenen Abend zu rekapitulieren.

Alles klar. Ich war nach dem Begräbnis meines Chefs mit Miriam und Georgi in unserem Stamm-Pub, um an der Bar einen Cider zu kippen und im Anschluss daran nach Hause zu fahren. Wie üblich ist dem ersten Getränk ein zweites gefolgt, woran per se noch nichts Ungewöhnliches ist. Dann hat Miriam einen Anruf von ihrem ernsthaft erkrankten Freund erhalten und sich schweren Herzens von mir und Georgi verabschiedet. Mein verbliebener Kollege und ich haben uns daraufhin auf einen Absacker geeinigt, der vom Auftauchen eines Objekts von Georgis Begierde unterbrochen wurde. Um das weibliche Wesen von seiner unbändigen Manneskraft zu überzeugen, hat mich Georgi beinhart alleine an der Bar zurückgelassen und mich damit zum Freiwild verdammt. Denn es hat nicht lange gedauert, bis mich ein Mann angesprochen und mir nicht nur ein Getränk, sondern auch einige Runden Hochprozentiges spendiert hat. Und jeder der mich kennt, weiß, dass ich Schnäpse jedweder Art nicht vertrage. Deshalb habe ich zu späterer Stunde die Musik im Pub mit meinem Gesang untermalt. Den stark illuminierten Fremdling hat meine Darbietung derartig beeindruckt, dass er mich vollkommen unerwartet und vor allem äußerst ungeschickt geküsst hat. Aber hey, Alkohol lässt Menschen nicht nur schöner, sondern auch wesentlich talentierter erscheinen. Deshalb – und ich gebe es nur ungern zu – bin ich auf den Annäherungsversuch des Fremden eingestiegen und irgendwann in seiner Wohnung gelandet. Scheiße, Scheiße, Scheiße!

Vor meinem inneren Auge tauchen Erinnerungsfetzen an die Fahrt mit dem Uber auf, die vor allem durch wildes Knutschen und Fummeln auf der Rückbank geprägt war.

Manno, was hat sich der Fahrer bloß über mich gedacht? Schließlich bin ich Mutter zweier Kinder, sollte mich verantwortungsbewusster zeigen und keine wildfremden Männer, die ich in einer Bar kennengelernt habe, nach Hause begleiten.

Ein lautstarkes Schnarchen reißt mich aus meiner Selbstverurteilung und sorgt dafür, dass ich mich auf dem gemütlichen Bett umwälze. Der Fremdling aus der Bar streckt mir sein nacktes Gesäß entgegen, während sein Kopf in mindervorteilhafter Pose über den Bettrand hängt. Ein weiteres lautstarkes Schnarchen verrät mir, dass er tief und fest schläft. Erleichtert atme ich auf.

Juhu … Ich kann unbemerkt und ohne peinliche After-Sex-Gespräche die Flucht ergreifen.

So leise wie möglich wende ich meinem Bettgefährten wieder den Rücken zu und setze mich langsam auf. Als ich den flauschigen Bettvorleger mit meinen nackten Fußsohlen berühre, dreht sich der Fremde so geräuschvoll wie ein Orcawal um und verpasst mir dabei einen schmerzvollen Schlag mit dem Arm.

»Aua.«, gebe ich beinahe tonlos von mir und reibe mir über die getroffene Stelle. Dabei starre ich wie gebannt auf den Mann, als könne er sich jeden Moment in ein furchteinflößendes Monster verwandeln, das mich mit seinen Klauen am Verlassen seiner Wohnung hindert. Stattdessen schläft der Fremde weiter seinen Rausch aus, was ich schon nahezu als enttäuschend langweilig empfinde.

Nachdem ich mich vergewissert habe, dass der Unbekannte nicht aus seinem Jägermeisterschlaf erwacht, lasse ich mein nacktes Hinterteil vom Bettrand gleiten und versuche mich im Schlafzimmer zur orientieren.

Neben der geschlossenen Tür steht ein riesiger Kleiderschrank, auf dessen Griff ich meine Strumpfhose und meinen BH entdecke. Mein Blick gleitet auf den Parkettboden, auf dem zahlreiche Kleidungsstücke verstreut liegen. Ich bücke mich, um diese nach meinem Slip zu durchwühlen. Da ist ein Pullover, eine Jeans, Boxershorts und ein nach Schweiß riechendes T-Shirt. Aber wo verdammt nochmal ist mein Slip?

Ein weiteres Mal wühle ich in den Kleidungsstücken nach meinem Höschen, kann dieses jedoch nicht ausfindig machen.

Scheiße, Scheiße, Scheiße! Was mache ich denn jetzt? Ich muss die Mädels spätestens zu Mittag von meinem Exmann abholen. Insofern könnte ich einfach ohne Slip nach Hause fahren, um mich dort unter der Dusche von den Speichelrückständen des Fremden zu befreien.

Während ich mir bereits ausmale, wie ich dem Vorbild Sharon Stones in Basic Instinct folgend in der U-Bahn die Beine übereinanderschlage, höre ich ein Kratzen und Winseln vor der Tür zum Schlafzimmer.

Oh mein Gott! Hat der Typ etwa einen Hund? Super, ganz toll. Bei meinem Glück ist das Tier scharf abgerichtet und springt mir an die Kehle, sobald ich das Schlafzimmer verlasse. Die Schlagzeile zu meinem Ableben ist dann an Peinlichkeit kaum zu übertreffen: Exhibitionistisch veranlagte Frau nach One Night Stand von Hund zu Tode gebissen!

Dem schlafenden Besitzer scheint das Winseln seines Haustieres ebenso wenig zu entgehen, denn er meldet sich zu meinem Schreck im Halbschlaf zu Wort. »Alles gut, Rocky! Lass mich noch ein bissi schlafen.«

Hab ich das richtig verstanden? Der Hund heißt Rocky? Rocky!? Das war’s. Mein Leben ist vorbei. Sobald ich diese Tür öffne, wird sich der Kampfhund Rocky zähnefletschend auf mich stürzen und mich totbeißen. In diesem Fall bleiben mir nur zwei Optionen: hierbleiben und warten bis der Fremdling, der bestimmt ein rechtspopulistischer Psychopath mit ausgewachsenem Ödipuskomplex ist, erwacht und mich in seinen Keller steckt, oder alle Kräfte, die noch irgendwie in mir wohnen zu sammeln und einfach loszulaufen, damit Rocky meiner nicht habhaft wird. Was für ein beschissener Tag!

Als wolle er mich bestätigen, dreht sich der Hundebesitzer schmatzend auf die andere Seite des Doppelbettes.

Wahrscheinlich träumt er davon, mich zu verspeisen oder ich sollte endlich damit aufhören, mir regelmäßig diese True Crime Storys auf diversen Streamingdiensten anzusehen.

Ich warte einen Augenblick ab, bis ich sichergehen kann, dass der Fremdling nicht erwacht, und schleiche dann auf Zehenspitzen zur Tür, hinter der mein sicherer Tod lauert. Ich bin soeben im Begriff, die Türklinke hinunterzudrücken, als mein Bettgefährte murmelt: »Nein, Mama. Ich will das nicht essen.«

Holy shit! Bestimmt will er das nicht essen, weil er lieber Menschenfleisch verzehren würde. Mein Menschenfleisch!

Memo an mich: Nicht nur den Konsum von True Crime Storys reduzieren, sondern auch jenen von Thrillern und Horrorfilmen.

Ich atme einmal tief durch, schließe meine Augen und drücke dann mit zitternder Hand die Türklinke hinunter, darauf vorbereitet, jeden Moment von Rocky zerfleischt zu werden. Tatsächlich stürzt sich ein Ungetüm auf mich und bringt mich mit seinem Körpergewicht schmerzhaft zu Fall …

… um mir das Gesicht in heller Freude über meine Anwesenheit abzulecken?

Alles klar, in Sachen Liebesbekundungen war das Tier der Lehrmeister seines Herrchens.

»Nein, Rocky. Brav sein. Sitz, Platz!«, gebe ich alle Hundekommandos wieder, die mir in meiner nächtlichen Apathie einfallen und irgendwie gelingt es mir, das vor Freude grunzende Ungetüm dazu zu bewegen, von mir abzulassen und sich hinzusetzen. Ächzend rapple ich mich wieder vom Boden auf und tätschle den Kopf des schokobraunen Retrievers mit dem zotteligen Fell. Dabei fällt mein Blick auf ein Stück Stoff, das mir merkwürdig bekannt vorkommt.

OMG! Da ist mein Slip! Zweckentfremdet als Halsband!

Voller Mitgefühl für die missliche Lage des Haustieres – Wie ist der Slip nur an den Hals gelangt? – befreie ich den Vierbeiner von meiner Unterwäsche und stelle fest, dass ich nach wie vor nackt im Flur stehe. Deswegen schlüpfe ich rasch und unter den prüfenden Blicken des Haustieres in meine Kleidung und werfe einen Blick ins Schlafzimmer.

Alles klar. Der Fremdling schläft. Das heißt, dass ich unbemerkt von dannen ziehen kann, um diese Nacht möglichst schnell aus meinem Gedächtnis zu streichen.

Dummerweise durchkreuzt Rocky meinen ausgeklügelten Fluchtplan, denn als ich mich an ihm vorbeidrücken will, weicht er keinen Millimeter zur Seite, was mich angesichts seiner überdimensionalen Größe vor ein nahezu unlösbares Problem stellt.

»Was willst du denn, Rocky?«, höre ich mich das Tier im Flüsterton fragen. »Ich hab dich doch schon von meinem Slip befreit. Mehr kannst du von mir nicht erwarten.«

Kurzentschlossen gibt der Hund ein Brummen von sich und schnappt daraufhin vorsichtig mit seinem Maul nach meinem Unterarm, um mich mit sich in einen großen, gemütlichen Wohnraum zu ziehen, der mich ein kleines Bisschen an ein New Yorker Loft erinnert. Vor einem blitzblanken Futternapf in der offenen Küche hält das Haustier an und löst sich von mir, um sich unmittelbar neben der Schüssel niederzulassen und mich aus erwartungsvollen braunen Hundeaugen anzustarren.

»Oh, jetzt verstehe ich. Du willst etwas fressen. Aber ich hab doch nicht die geringste Ahnung, wo dein Herrchen dein Futter aufbewahrt«, erkläre ich, ehe ich nach einem Lichtschalter suche, um mich in der Küche besser orientieren zu können. Erstaunt stelle ich fest, dass die Oberflächen so aussehen, als wären sie Ausstellungsstücke in einem Möbelhaus. Ein dekorativer Messerblock da, ein Glas mit Nudeln dort und eine hübsche zur Küche passende Kaffeemaschine, sowie ein Brotkorb, der so aussieht, als wäre er noch nie benutzt worden.

Verglichen mit diesem Fremdling fühle ich mich, als würde ich im Dreck hausen! Andererseits, wer weiß, wieso er seine Küche so sauber hält. Unter Umständen zerlegt er hier die vorher in seinem Keller getöteten Menschen und damit ihm niemand auf die Schliche kommt, verwendet er Nächte darauf, sauberzumachen. Kein American sondern ein Austrian Psycho.

So leise wie möglich öffne ich eine Schublade nach der anderen in der Erwartung, jeden Moment auf menschliche Knochen zu stoßen. Doch ich finde nichts Ungewöhnliches.

OH MEIN GOTT! Womöglich verfüttert der Fremdling die menschlichen Überreste an seinen Hund!

Okay, beruhige dich, Luisa! Das ist lediglich ein Konstrukt deiner Fantasie, mehr nicht.

In meiner Panik fällt mein Blick auf eine dekorative Dose neben dem Kühlschrank, auf der ein Etikett mit der Aufschrift Rockys Delikatessen klebt.

»Alles klar. Ich glaube, ich hab dein Futter gefunden.«

Etwas zögerlich sehe ich von dem sabbernden Vierbeiner zu der Dose und wieder zurück zu dem Tier und entschließe mich dazu, den hungernden Hund zu füttern.

Eine Weile sehe ich dem Tier zufrieden dabei zu, wie es das Trockenfutter schmatzend hinunterschlingt. Dann will ich meine Flucht fortsetzen, doch der Rüde folgt mir und versperrt mir im Flur erneut den Weg.

»Sorry, Rocky, aber ich muss jetzt gehen. Mein pedantischer Exmann würde es mir nicht verzeihen, wenn ich unsere Mädels zu spät abhole«, erkläre ich dem Tier wohlwissend, dass es mich nicht versteht, und ziehe dabei meine Schuhe an. Rocky betrachtet mich mit seinen traurigen Hundeaugen, sodass ich den Vierbeiner noch einmal an mich drücke.

»Ein Jammer, dass wir beide uns nicht mehr sehen werden. Meine Mädels hätten dich mit Sicherheit gemocht, aber leider wäre es Diebstahl, wenn ich dich mitnehmen würde.«

Der Hund jault kaum hörbar, hebt dann widerwillig sein Hinterteil und gibt mir den Weg frei. Ich zögere nicht lange, schnappe mir meinen Mantel und meine Handtasche und verlasse die Wohnung.

Auf Nimmerwiedersehen, Mister Strange!

Kapitel 3

Mist, Mist, Mist! Ich bin viel zu spät dran!

Gehetzt und restlos verschwitzt renne ich auf den Eingang des riesigen Gebäudes zu, in dem Richard und Hannah wohnen. Das Haus erinnert mich jedes Mal an ein gestrandetes Kreuzfahrtschiff. Hastig tippe ich an der Gegensprechanlage auf »Hinterndorfer«. Nein, kein Kichern. Bloß kein Kichern. Das ist vollkommen unangebracht, wenn man sogleich um sein Leben betteln muss, weil man eine Stunde später als zur vereinbarten Abholzeit der gemeinsamen Kinder erscheint. Aber was kann ich dafür, dass mich meine Kollegen zum Ausgehen genötigt haben und ich an einen Mann mit Haustier geraten bin, vor dem ich mitten in der Nacht flüchten musste, um dem peinlichen Schweigen in der Früh zu entgehen?

Es dauert nicht lange, bis die gestrenge Stimme meiner Schwiegermutter mit einem knappen »Ja« aus der Gegensprechanlage ertönt. Nachdem ich mich zu erkennen gegeben habe, öffnet sich die Eingangstür zur Wohnhausanlage mit einem elektronischen Knacken und ich trete in das mit kalten Energiesparlampen ausgeleuchtete Erdgeschoss, das den Charme einer Justizvollzugsanstalt ausstrahlt. Wie Indiana Jones schlüpfe ich gerade rechtzeitig durch die sich schließenden Fahrstuhltüren und starre in das verstörte blasse Gesicht eines rundlichen älteren Mannes, der einen Malteser im karierten Wintermäntelchen in den Armen hält. Entschuldigend lächle ich dem Herrn zu und tippe mit meinem schweißfeuchten Zeigefinger das Stockwerk ein. Danach stehe ich mit wachsender Ungeduld in der viel zu langsam nach oben kriechenden Kabine und frage mich einmal mehr, wieso es mir nicht gelingt, »nein« zu sagen. Ich meine, ist es denn zu viel verlangt, dass Hannah die Geburtsvorbereitungskurse terminlich so legt, dass sie nicht gerade auf die Wochenenden fallen, an denen Bettina und Charlotte bei ihrem Vater sind? Schließlich habe ich auch ein Recht auf einen samstäglichen Serienmarathon auf Netflix und Co., während ich mir mit einer Tafel Schokolade und Fast Food einen wärmenden Winterspeck anesse und damit wertvolle Energiekosten spare. Typisch Richard. Hat nur seinen Job und seine Patienten im Kopf. Als würde mich das großartig überraschen. Immerhin ist ihm, auch als wir noch verheiratet waren, permanent ein Termin im Krankenhaus dazwischengekommen.

Zu meinem Glück hält der Fahrstuhl im vierten Stock an und mich davon ab, in nagenden Selbstzweifeln über meinen Wert zu verfallen. Der Fremde watschelt mit seinem Hund im Arm gemächlich auf den offenstehenden Ausgang zu, um seinen Malteser schließlich mitten im Türrahmen abzusetzen und damit die Lifttür zu blockieren. Als hätte der Mann alle Zeit der Welt, streichelt er sein Hündchen.

»Na das war jetzt ein schöner Spaziergang, gell Flocki!?«

Das Haustier sieht sein Herrchen lediglich verständnislos an und zittert dabei wie Espenlaub.

»Na geh, ist dir etwa kalt? Armer Flocki. Da werden wir dir gleich ein gutes Papperl machen, gell.«

Bei diesen erfreulichen Aussichten wedelt der Malteser mit dem Schwanz und leckt dabei die Hand seines Besitzers ab.

»Ja, braver Bub. So ein braver Bub!«

Langsam, wirklich sehr, sehr langsam erhebt sich der ältere Herr wieder. Ein deutliches Ächzen begleitet das Knacken seiner Wirbelsäule.

»Au au au … Ich sag’s Ihnen, junges Fräulein. Alt darf man nicht werden.«

Ich lächle verhalten. Schließlich kann ich ihm ja schlecht mitteilen, dass ich ihn am liebsten anschieben würde, um schneller ins achte Stockwerk zu gelangen.