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Lebenszeugnisse, die erschüttern und berühren. Zehn Menschen, die in der evangelischen Kirche Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind, erzählen in diesem Buch, was sie erlebt haben. Sie decken auf, wie Missbrauch unter protestantischen Vorzeichen geschehen konnte. Sie finden Worte dafür, was es bedeutet, wenn Glauben und Sexualität in ihrer Intimität verletzt werden. Die Berichte bezeugen die tiefen Spuren, die der Missbrauch hinterlassen hat, erzählen aber auch intensive Überlebens- und Hoffnungsgeschichten. Ein Rahmenteil fragt nach verbindenden Linien zwischen den Geschichten und trägt Wissen zusammen, das für Betroffene, Kirchen und die gesellschaftliche Öffentlichkeit im Umgang mit diesem lange verdrängten Thema von großer Bedeutung ist.
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Seitenzahl: 321
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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © Eakkarach Jmt / GettyImages
Satz: Barbara Herrmann, Freiburg
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN Print 978-3-451-39453-9
ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-451-83454-7
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83453-0
Inhalt
Vorwort
Berichte von Betroffenen
Eigentlich war er so ein netter Pfarrer
Ida
Reden ist Leben
Thomas Wesskamp
Du darfst die Fäuste zum Himmel ballen
Inela Marin
Schonungslose Wahrheiten
Leonie
Evangelische Freizeit. 15 Jahre
Ingeborg Bergmann
Begraben – Leben
Victor E.
„Diese alles verdeckende Schwärze“
Sieglinde
Ein Besuch bei Wilhelm Ganz
Aufgezeichnet von Erika Kerstner
Beziehungsgeschichten
Nscho-tschi
Eine Annäherung an Gott
Hannah
Nachspüren – Nachdenken
Das Ringen um ein gelingendes Leben
Christiane Lange
Staunen und Ankommen
Warum ich? Risiko durch Herkunft?
Das Schweigen und seine Folgen
Folgen sexualisierter Gewalt
Würde und Wunde
Gewalt verändert das Leben Betroffener unwiderruflich
Erika Kerstner
Die große Verwirrung
Schuldgefühle und Sündentheologie
Helfer*innen auf dem Weg
Ein Blick in die Geschichte
Kirche und Glauben im Angesicht sexualisierter Gewalt
Andreas Stahl
Täter*innen und Tatkontexte
Religiöser Machtmissbrauch
Erfahrungen mit der Institution Kirche
Spuren im Glauben
Nachwort
Einige Literaturhinweise
Herausgeber*innen
Vorwort
Sieben Frauen und drei Männer vertrauen Ihnen dieses Buch an. Sie haben ihre Lebensgeschichte unter dem Aspekt des Erlebens sexualisierter Gewalt in Kindheit, Jugend oder im Erwachsenenalter aufgeschrieben, ihre Namen pseudonymisiert und das Geschehen anonymisiert. Sie benennen einige Folgen für ihr Leben, ihren Glauben und ihren Kontakt zu ihrer Ursprungskirche – der evangelischen Kirche.
Damit machen die Autor*innen der lange anhaltenden Sprachlosigkeit ein Ende. In der Erkenntnis, dass sie nicht alleine sind, vermindern sie ihre Isolation. Zugleich erkennen sie damit an, was ihnen geschehen ist, und sehen, dass sie überlebt haben und ihr Leben gestalten können: Sie haben ihre Wahrheit und ihre Würde gefunden.
Mit ihrem Schreiben appellieren sie an ihre Mitmenschen in der Kirche und in der Gesellschaft, ihnen zuzuhören. Sie ermöglichen der evangelischen Kirche, bisheriges Missbrauchsgeschehen besser zu erkennen und mitzuhelfen, dass künftig weniger Menschen zum Opfer gemacht werden. Die Berichte sollen ermutigen mitzuhelfen, dass die in der Gewalt beschädigte Fähigkeit zu vertrauen – und damit auch zu glauben – neu aufgebaut werden kann. Weil Betroffene sich in der Gewalt und lange danach noch als von Gott und den Menschen verlassen erleben, brauchen sie Menschen, die sich von ihrem Leid berühren lassen und sich ihnen wohlwollend zuwenden. In sozialer Isolation kann die in der Gewalt abgerissene Verbindung zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zu Gott nicht neu geknüpft werden.
Als Herausgebende wurden wir zu diesem Buchprojekt von „Erzählen als Widerstand“1 inspiriert. Zudem sind wir durch die Initiative „GottesSuche: Glaube nach Gewalterfahrungen e. V.“ miteinander verbunden. Unter dem provisorischen Titel „Schreiben statt Schweigen“ wurde nach organisatorischer, inhaltlich-wissenschaftlicher und konzeptioneller Vorarbeit ab Mitte Februar 2022 ein Aufruf über verschiedene Kanäle (kirchliche Ansprechstellen, Betroffeneninitiativen, E-Mail-Verteiler, Homepages) versandt. Nach einem Erstkontakt erhielten potentielle Autor*innen ein ausführliches Anschreiben, Datenschutz- und Rücktrittserklärung und einen Leitfaden als Anregung für die inhaltliche Gestaltung des Textes. Bis Oktober 2022 gingen die hier gesammelten zehn Berichte ein. Mit einigen der Autor*innen erfolgte in der Finalisierung der Texte persönlicher, telefonischer oder E-Mail-Kontakt. Auf den zehn Berichten basierend wurde von uns Herausgebenden der Rahmenteil erarbeitet, der im Januar 2023 den Autor*innen zur Verfügung gestellt und mit diesen abgestimmt wurde.
Als Herausgebende gilt unser Dank vor allem den Autor*innen, die mit ihrem Mut, Engagement und Vertrauen dieses Projekt, das uns allen sehr an Herz und Nieren ging, erst möglich gemacht haben. Zudem wollen wir uns bei den Mitarbeiterinnen von „Wings of Hope“ Martina Bock und Regina Miehling für das Angebot bedanken, Autor*innen in belasteten Situationen traumasensibel zu begleiten. Schließlich gilt unser Dank Maria Johanna Fath vom Traumahilfe Netzwerk Augsburg und ihrem Angebot, unsere Arbeit als Herausgebende zu supervidieren.
Die Berichte fordern die evangelische Kirche und die Christ*innen auf, sich von Betroffenen zu Zeugen von Gewalt und Leid machen zu lassen und die Last derer, die unter die Räuber gefallen sind, mitzutragen. Sie helfen der Kirche, zu ihrer ureigenen Aufgabe zu finden: Menschen – auch Missbrauchsbetroffenen – eine frohe Botschaft in Wort und Tat zu bringen.
Für die evangelische Kirche – wie für die katholische Kirche auch – gilt: Wenn sie die „Wunde Missbrauch“ in ihrer Mitte sieht und anerkennt, kann dieser noch kaum wahrgenommene Verrat an Menschen und am Evangelium zu heilen anfangen. Unter Umgehung der Missbrauchsfälle auch mitten in der evangelischen Kirche und der Betroffenen ist es nicht möglich, das Evangelium glaubwürdig zu erzählen. Dazu gehört zuerst, dass die evangelischen Christ*innen in den Gemeinden und auf der Leitungsebene berührbar werden für das Leid Missbrauchsbetroffener und es sich auf „den Leib rücken“ lassen. Das gemeinsame Aushalten dieses Leides kann den Willen der Kirche zur Umkehr zu den Opfern und zur Veränderung stärken.
1 Haslbeck, Barbara; Heyder, Regina; Leimgruber, Ute; Sandherr-Klemp, Dorothee (Hg.): Erzählen als Widerstand: Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020.
Berichte von Betroffenen
Eigentlich war er so ein netter Pfarrer
Ida
Wie es dazu kam, dass mir plötzlich so vieles klar wurde
30 Jahre habe ich gebraucht, um auszusprechen – nein, aussprechen kann ich es noch immer nicht – aber um jetzt niederzuschreiben, was damals passiert ist. 30 Jahre! 30 Jahre voller Schuldgefühle und Verdrängung! Das ist der Punkt, der mich wirklich am schlimmsten trifft. Dass das damals passiert ist, nun gut, das ist das eine – aber damit leben zu müssen, ohne dass jemand das Unrecht benennt oder mir hilft, es in Worte zu fassen, dem ganzen einen Namen zu geben, um mir damit meine Schuldgefühle zu nehmen, das ist es, was mich traurig und wütend macht. Aber man kann es wohl nur selbst aussprechen und benennen: Es war sexueller Missbrauch. Der Pfarrer meiner damaligen Gemeinde hat mich sexuell missbraucht, als ich 16 Jahre alt war. Es geschah ohne körperliche Gewalt – das ist der Punkt, warum ich sicher bin, dass ich mein Leben trotzdem so gut leben konnte.
Ich hatte in der Zeit Angst; Angst, dass alles herauskommt; Angst, dass seine Frau etwas „entdecken“ könnte; Angst, anderen Menschen wehzutun. Aber ich hatte niemals Angst vor körperlicher Gewalt. Andererseits ist dies auch der Punkt, warum ich wahrscheinlich so lange die Tatsachen nicht begriffen habe und somit gezwungen war, alles zu verdrängen, um mit meinen Schuldgefühlen klarzukommen.
Wenn ich über diese Geschichte – vor allem in jüngster Vergangenheit – nachdachte und mir in den Sinn kam, dass es vielleicht ein sexueller Missbrauch war, waren es folgende Punkte, die in meinen Augen immer dagegensprachen.
– Ich war bereits 16 Jahre alt – also schon fast erwachsen. Da hätte ich mich doch wehren können, ich war ja kein kleines Kind mehr. (Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich heute mit fast 50 Jahren das Spiel durchschauen würde und mich würde wehren können. Vielleicht würde ich heute unter den gleichen Umständen wieder zum „Opfer“ werden.)
– Es gab niemals eine Art von körperlicher Gewalt – niemals.
– Ich hätte auch „Nein“ sagen können.
Durch einen Zeitungsartikel über einen Missbrauch in einem Sportverein hier ganz in der Nähe wurden diese drei Säulen meiner „Schutzbehauptungen“ gegenüber dem Täter plötzlich in Frage gestellt. In dem Artikel stand, dass Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 18 Jahren von dem Leiter sexuell missbraucht wurden. Ich musste es dreimal lesen. Dort stand, dass es Jugendliche gab, die 18 Jahre alt waren. Sie waren auch schon groß und fast erwachsen. Und in dem Artikel stand, dass alles ohne körperliche Gewalt geschah! Und plötzlich war es mir völlig klar – nach 30 Jahren: Auch bei mir war es ein sexueller Missbrauch. Ich hatte also keine Affäre mit einem verheirateten Pfarrer (das war meine Wahrheit in den letzten 30 Jahren) und ich war auch nicht schuld an der ganzen Sache. Ich hätte auch nicht „Nein“ sagen können, weil ich gezielt manipuliert wurde, um diesem Mann seine sexuellen Fantasien zu befriedigen und um sein Ego aufzubauen.
Als ich also ahnte, was damals passiert war, habe ich meine Geschichte aufgeschrieben und an help geschickt, eine Zentrale Anlaufstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. Ich wollte einfach wissen, ob ich auf einer völlig falschen Spur bin oder wirklich Opfer eines Missbrauchs geworden war. Die Rückmeldung kam nach einer Woche und ich hatte es schwarz auf weiß. Ja, es war ein Missbrauch – ohne Zweifel. Eine „Fachfrau“ hatte meine Geschichte gelesen und sie ganz klar als Missbrauch einordnen können.
Dann habe ich mich an meine Landeskirche gewandt. Relativ schnell wurde mir geraten, einen Antrag zu stellen, um eine Anerkennungszahlung zu erhalten. Der Antrag liegt ausgefüllt bei mir. Ich will ihn nicht abschicken, weil kein Geld der Welt das wieder gut machen könnte, was in mir zerstört wurde.
Aber es war mir sehr wichtig, dass diese Geschichte in der Akte des Täters landet. Das ist geschehen.
Und ich habe durch die Seelsorgerin der Landeskirche den Tipp bekommen, dass es eine Art Selbsthilfegruppe in Form einer Mailingliste im Internet gibt, in der Betroffene sich austauschen können. So bin ich bei gottes-suche.de gelandet.
Nun aber zu meiner Geschichte.
Als eine neue Pfarrfamilie in unseren Ort kam
Als ich 15 Jahre alt war, kam in meine Heimatgemeinde ein neuer Pfarrer mit seiner Familie. Kurt, der Pfarrer, Ute, seine Frau mit ihrem kleinen Kind. Alle haben einen sehr sympathischen Eindruck gemacht. Ich war bereits im Jungschar-Team und so war es vorhersehbar, dass wir schnell in Kontakt kommen würden. Meine Mama hat mich kurz nach der Ordination ins Pfarrhaus geschickt, um mich vorzustellen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass mich Kurt gefragt hat, ob er „Du“ sagen darf.
Es wurde dann abgemacht, dass sich das Jungschar-Team jeden Montag im Pfarrhaus zur Besprechung für die nächste Jungschar-Stunde trifft. Schnell entstand eine sehr familiäre Atmosphäre. Kurt wollte schnell, dass wir uns alle duzen. So etwas war bisher in unserem Dorf undenkbar gewesen. Den Herrn Pfarrer zu duzen – eine völlige Unmöglichkeit. Es ist mir schwergefallen, „Du“ zu sagen. Kurt war viel älter, beinahe eine andere Generation. Und er war der Pfarrer. Irgendwann habe ich mich dann überwunden. Ja, jede Woche waren wir im Team im Pfarrhaus. Immer war die Atmosphäre entspannt und heiter. Locker – nie war etwas von Schwierigkeiten zu spüren. Eine offene, vertrauensvolle, schöne, angenehme Atmosphäre, Familie, Besprechung. Ich bin gern hingegangen.
Kurt war ca. 1 Jahr in unserer Gemeinde, als die Sache begann. Kurt war damals 40 Jahre, ich 16. Die Pfarrfamilie erschien wie die perfekte Familie. Freundlich, lustig, respektvoll, im Glauben verbunden – eine Beziehung, wie man sie sich als 16-Jährige erträumt. Mit der Zeit wurde unsere Beziehung enger.
Ich fühlte mich mit der Familie sehr verbunden. Ich würde es fast so bezeichnen: Eine Freundschaft zu Ute, Bewunderung für Kurt und eine große Schwester für das Kind, das ich sehr gern hatte.
Das war Stand der Dinge, als alles kippte. Als plötzlich alles anders wurde.
Wie der Missbrauch begann
Es war ungefähr ein Monat, nachdem mein Opa gestorben war. Kurt hat ihn beerdigt. Ich stand kurz vor den Abschlussprüfungen. Ich war auch im Kirchenchor aktiv. Wir sangen im Gemeindehaus und vorher musste der Schlüssel beim Pfarrer abgeholt und nachher wieder in den Briefkasten geworfen werden. Meistens habe ich das übernommen, weil ich eh zu Fuß unterwegs war und auf meinem Weg praktisch am Pfarrhaus vorbeilief. Eines Tages sagte Kurt: „Wenn du den Schlüssel abgibst, kannst du klingeln, Ute ist nicht da und ich bin bestimmt noch wach.“ Ich denke, es war ein Freitagabend und Ute war mit dem Kind übers Wochenende zu ihren Eltern gefahren.
Ich habe mir nichts gedacht. Im Nachhinein bin ich überzeugt, dass sein Plan spätestens in diesem Moment fix war. Und der Plan galt nicht diesem einen Abend, sondern er galt der gesamten Missbrauchsgeschichte.
Wir waren ganz alleine in dem Pfarrhaus. Ich wurde ins Wohnzimmer gebeten. Merkwürdige Atmosphäre (vielleicht auch erst jetzt aus der Entfernung). „Ich würde Dir gerne was erzählen… Ich weiß nicht, ob ich es tun kann …!“ „Klar, kannst Du mir was erzählen. Musst Dir nichts denken …!“ „Es kann sein, dass Ute geht!“ Schluck. Schock! „Warum? Wie kann das sein?“ – „Es geht nicht mehr!“ – „Aber es sieht doch so aus, als könntet ihr immer über alles reden …!“ – „Wir können über gar nichts reden! Es ist so viel passiert. Alles begann damit, dass wir dachten, dass wir keine Kinder bekommen können. Ute hat sich durchchecken lassen, bei ihr war alles in Ordnung. Dann sollte ich zu einem Urologen – da finde erst mal jemanden. Ja und da hat man dann festgestellt, dass meine Spermien zu langsam sind, und Ute deswegen nicht schwanger wird. Das war so verletzend für mich.
Wenn man nur noch mit seiner Frau schlafen kann, wenn der Eisprung ansteht, dann aber mehrmals hintereinander, immer mit dem Thermometer und dem Wecker im Nacken…– Nach langem Bemühen hat sich dann doch eine Schwangerschaft eingestellt. Jetzt ist die Lage so verfahren. Wir packen es nicht.“
Langes Gespräch – viele Einzelheiten. Ich war 16. Ich hatte keine Ahnung von einer Ehe, von Schwierigkeiten, die eben auftauchen, die kommen. Ich hatte keine Ahnung von einem Kinderwunsch, von Sexualität. Ich war völlig überfordert. Aber ich fühlte mich auch sehr geehrt. Davon, dass der Herr Pfarrer mich ins Vertrauen zog. Darüber, dass ich so wichtig für ihn war, dass er sein Herz bei mir ausschüttete, dass er so offen mit mir sprach – über Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte.
Ich habe Kurt reden lassen. War die gute Zuhörerin und Freundin. Und bin plötzlich, von Utes Freundin zu Kurts Freundin gewechselt. Er hat mich mit seiner Version der Geschichte auf seine Seite gezogen – innerhalb von zwei Stunden.
Zum Schluss hat er mich gefragt, ob er mich mal in den Arm nehmen darf. „Ja, klar!“ Dann hat er mich auf den Mund geküsst und in die Nacht geschickt.
Als ich heimging, war ich emotional aufgewühlt. Dieses Gespräch, diese Nähe, das erste Mal, dass mich ein Mann in den Arm genommen hat und geküsst hatte… Ich war erschüttert in meiner Welt. Wirklich – tief erschüttert. Aber natürlich auch sehr „herausgehoben“, dass Kurt mir das alles erzählt hat. Der Pfarrer der Gemeinde – ein Vorbild und hohe Person im ganzen Dorf – hatte mir seine Sorgen und innersten Geheimnisse und Probleme anvertraut. Etwas, das ihn Mut gekostet haben musste. Und ich war es wert, dass er diese Geschichte mit mir teilt. Kein Mensch hatte vorher so offen mit mir über seine Sexualität und seine Probleme gesprochen. Kein Mann, kein Pfarrer.
Ich weiß nicht, was von dieser Geschichte Wahrheit oder Lüge war, nur um mich dorthin zu bekommen, wo ich hinsollte – er hat es geschafft, dass ich mich ihm mit seiner Geschichte emotional so nah fühlte, dass ich in der Folge nur noch das tat, was er von mir wollte.
Ich habe ihm geglaubt. Ich hatte keine Ahnung und auch keine Erfahrung, dass jemand so etwas erzählen könnte, um seine Strategie, seinen Plan, sein Spiel zu verfolgen.
Der Pfarrer war in meiner Kindheit schon eine besondere Person. Sie stand immer über einem. Was der Pfarrer sagte, war Gesetz. Er war eine Respektsperson und genoss das höchste Ansehen.
Am nächsten Abend – Ute war noch weg – war ein Filmeabend im kleinen Kreis im Pfarrhaus geplant. Mein Bruder war auch dabei. Ich kann mich noch an zwei Dinge erinnern: Kurt hat sich während des Filmes neben mich gesetzt und seine Hand auf meinen Oberschenkel gelegt – die anderen haben nichts gesehen – oder nichts gesagt?! Ich dachte, er sucht die Nähe. Braucht einfach ein Zeichen, dass er einen Verbündeten hat. Plötzlich hatte ich eine Sonderstellung – neben ihm – vertraut. In der Filmpause hat Kurt gefragt, ob ich mit ihm in die Küche kommen könnte. „Darf ich Dich nochmal in den Arm nehmen?“ – „Ja, klar!“ – „Darf ich Dich mal küssen!“ – „Ich weiß nicht.“ Ich war überrumpelt, wusste nicht, wie mir geschieht, war verwirrt.
Kurt sagte im Nachhinein, dass wir uns in diesem Moment ineinander verliebt hätten?! Er hätte mich geküsst – nicht wie am Tag zuvor aus Dankbarkeit und Freundschaft – sondern… mit Liebe und Leidenschaft?!
Da war es aber auch schon zu spät. In diesem Moment ist das Kind in den Brunnen gefallen. Und ich habe es nicht mal richtig gemerkt. Heute denke ich, es war ein geschickter Schachzug. Kurt hat es bewusst darauf angelegt. Er hat so viel Nähe, Vertrauen, Zuneigung geschaffen, dass ich irgendwann an dem Punkt war, an dem ich mich nicht mehr wehren konnte. Es war zu viel Gefühl und Verständnis da, um aus der Situation wieder herauszukommen. Aber es hätte vielleicht geklappt, wenn ich „Nein!“ gesagt hätte. Niemals war Gewalt im Spiel – psychischer Druck schon.
Ich war verwirrt, erstaunt, aber auch emporgehoben, besonders, wahrgenommen.
Es war wohl schon am nächsten Abend, als ich wieder im Pfarrhaus war. Ich war völlig unerfahren. Völlig. Er hat dirigiert und ich habe getan. Und dies immer mit massiven Schuldgefühlen im Hinterkopf. Natürlich hatte Kurt mir eingeredet, dass die Ehe am Ende sei. Trotzdem war klar, dass ich das, was ich hier tat, nicht durfte. Niemand durfte mit einem verheirateten Mann intim sein. Ich nicht! Ich ganz sicher nicht!
Es lief eine CD „auf Repeat“ von einer relativ unbekannten Gruppe. Diese CD hat er mir hinterher geschenkt. Er hat mich geküsst und gestreichelt am ganzen Körper. Als ich keine Eigeninitiative ergriffen habe, hat er, während wir uns geküsst haben, meine Hand auf seine Hose und seinen Penis gelegt, damit ich ihn befriedige. Ich weiß noch, dass er einen Samenerguss hatte und seine Hose ganz nass war. Von einem langsamen Herantasten, mir Zeit lassen, vorsichtigem Annähern war also keine Rede. Es ging ihm nur um das eine. Und wäre ich an diesem Abend forscher und bereit gewesen, hätte er bereits hier mit mir geschlafen.
Kurt wollte unbedingt mit mir schlafen. Meiner Erinnerung nach kam diese Bitte schon nach ganz kurzer Zeit – vielleicht schon an diesem ersten Abend. Das hat er mir auch immer wieder gesagt. „Ich will Dich nicht drängen, aber ich will unbedingt mit dir schlafen. Bitte denk drüber nach!“
Das war unser erster „intimer“ Abend. Und es begann ein relativ gleiches Schema unserer Abendgestaltung: Wir haben uns getroffen, um seine sexuellen Wünsche zu befriedigen.
Heimlichkeiten und schlechtes Gewissen
Was aber neben den sexuellen Gefälligkeiten noch begann, war ein schreckliches Spiel der Unwahrheiten und Geheimnisse. Wie konnte ich seiner Frau noch ins Gesicht sehen? Nachdem sie nichts von dieser „Sache“ wusste, hielt sie natürlich an unserer Freundschaft fest und die Kontakte wurden nicht weniger, nur weil ich plötzlich eine „Affäre“ mit ihrem Mann hatte.
Manchmal hat Kurt gesagt, ich könne am Fenster seines Büros klopfen, er würde auf mich warten. Oben hat seine Frau geschlafen und wir haben in seinem Arbeitszimmer Intimitäten ausgetauscht. Wenn ich das heute schreibe und mir bewusst mache, was passiert ist, war es widerlich. Grausam. Wie konnte ich so etwas machen? Wie konnte ich mich darauf einlassen?
Wir haben uns meistens am Freitagabend getroffen. Einmal hat Kurt mir nach dem Gottesdienst am Sonntagmorgen einen kleinen Zettel zugesteckt, mit einer Uhrzeit, wann ich kommen könnte. Seine Frau war mit dem Kind immer wieder verreist und deswegen war das Pfarrhaus immer wieder leer – für mich.
Einmal sagte er zu mir: „Wäre ich Lehrer an Deiner Schule, könnten wir das hier nicht so machen. Da müsste ich mit Konsequenzen rechnen.“
Nach seiner „Beichte“, in der er sein Herz über die Probleme in seiner Ehe ausgeschüttet hatte, wollte er auch nicht mehr mit mir reden. Er wollte nur mit mir schlafen.
Eines Tages hat Kurt mich vor den Augen seines Kindes in den Nacken geküsst. Ich war irritiert. Ute hatte kurz den Raum verlassen, war aber in greifbarer Nähe. Ich weiß noch, dass dies eine ganz unangenehme Situation für mich war. Am liebsten hätte ich gesagt: „Lass es!“ Aber ich habe es nicht getan. Schließlich war er der Pfarrer und so viel älter als ich. Er musste doch wissen, was richtig war. Es war, als wäre mein Kopf ausgeschaltet.
Er nannte mich damals „meine Kleine“. Mir hat das damals schon missfallen – vor allem, weil ich für eine Frau relativ groß bin und schon aufgrund dessen keine „Kleine“ war. Aber er hat mich kleingemacht, um selbst groß zu sein. Erst jetzt begreife ich dies. Er hat junge, unerfahrene Mädchen gebraucht, um selbst „groß“ zu werden.
Ich habe meine Mutter eingeweiht
Bereits nachdem Kurt mir sein Herz ausgeschüttet hatte, habe ich es meiner Mutter erzählt – gleich – von Anfang an. Sie hatte natürlich bemerkt, dass mich etwas beschäftigt und belastet. Ich habe ihr davon erzählt, dass Kurt Schwierigkeiten in seiner Ehe hätte. Und ich habe ihr das Versprechen abgenommen, dass sie niemandem davon erzählen darf. Vor allem meinem Vater nicht. Sie hat es versprochen. Es war nicht richtig von mir, sie in diese Geschichte reinzuziehen. Und es war nicht richtig, dieses Versprechen von ihr zu verlangen. Kurt wusste nicht, dass ich meiner Mutter davon erzählt habe.
Als die Körperlichkeit zwischen Kurt und mir begannen, hat er mir immer gesagt, dass das Ganze unter uns bleiben muss. Dass ich mit niemandem darüber reden dürfe. Meine Mutter wusste da aber schon Bescheid. Ich habe es Kurt nicht erzählt, weil ich dachte, dass er bestimmt enttäuscht von mir sei, dass ich seine Geschichte weitererzählt hatte.
Einige Zeit später hat Kurt mir dann „erlaubt“, mit meiner Mutter drüber zu sprechen. Er hat gesagt: „Mit irgendjemandem musst du wohl darüber sprechen. Aber es ist klar, dass sie zu nichts und niemandem etwas sagen darf.“ Damit hat er auch sie in das Boot der Schuldgefühle, des Mitwissens und der Lügen geholt. Anfangs hat meine Mutter sehr „cool“ reagiert. Hat gesagt, dass sie sich schon immer einen jüngeren Bruder gewünscht hätte und dass Kurt nun diese Rolle für sie einnehmen könnte. Auch meine Mutter dachte, dass Kurt sich in mich verliebt hätte, dass er eine Beziehung wollte, weil seine Ehe eben so schrecklich für ihn war. An sexuellen Missbrauch hat sie mit Sicherheit nicht gedacht.
Als meine Familie davon erfuhr
Meine Mutter hat eine Zeitlang geschwiegen. Dann nach ca. zwei Monaten hat sie es meinem Vater erzählt. Ich war bei Kurt, bin spät nach Hause gekommen. Sie hat es ihm erzählt, als er wissen wollte, wo ich war. Sie wollte ihn – verständlicherweise – nicht anlügen. Am nächsten Morgen wusste ich sofort, dass etwas passiert war. Die Atmosphäre war – schlimm! Es wurde mir nicht gesagt, was los war, weil ich „unbelastet“ zur Schule gehen sollte, aber so eine Stimmung war vorher und nachher noch nie bei uns zu Hause. Als ich von der Schule nach Hause kam, hat meine Mama gesagt: „Die Bombe ist geplatzt. Ich habe es dem Vater gesagt!“ Ich habe geschrien und geweint, hab gesagt: „Du weißt doch, wie er reagieren wird. Warum hast Du das getan? Ich habe Dir vertraut. Du hast es mir versprochen, dass Du nichts sagen wirst!“ Ich wusste, dass er kein Verständnis haben würde. Dass er toben würde. So war es auch.
Als er von der Arbeit nach Hause kam, wurde ich „vors Gericht geführt“. Mein Vater war wütend, zornig, enttäuscht, fassungslos. Ich konnte kaum sprechen. Es war furchtbar. Es war nur Schmerz – für uns alle. Und ich war schuld – natürlich war ich schuld. Wie konnte ich so etwas tun. Mein Vater wollte nur eins: Dass ich die ganze Sache sofort beende, dass das Ganze auf der Stelle aufhört.
Mein Vater kann Geheimnisse schlecht für sich behalten – und hat es meiner Oma erzählt. Meine Oma ist eine sehr kirchennahe, gläubige Frau, mit einer großen Achtung vor allen Lehrern und Pfarrern. Sie war fix und fertig, als sie es erfahren hat. Am Ende. Vor kurzem erst war ihr Mann nach schwerer Krankheit gestorben und nun machte ihr über alles geliebtes Enkelkind solche Dinge. Welch eine Enttäuschung, welch ein Schmerz. Die ganze Familie war zutiefst erschüttert. Und ich war schuld. Ich alleine hatte ihnen allen dieses Leid zugefügt. Dass meine Oma diesen Schmerz wegen mir erfahren musste, habe ich bis heute kaum verkraftet. Ich kann heute noch diesen Schmerz fühlen, den sie gefühlt hat. Trotzdem hatte sie auch damals schon gesagt: „So ein Saubär!“ Vielleicht hat sie mir gar nicht alleine die ganze Schuld dafür gegeben.
Die Auswirkungen in unserem Haus waren in jeder Sekunde deutlich zu spüren und einfach nur schrecklich, schrecklich, schrecklich. Es ist mir bis heute ein Rätsel, wie ich in dieser Situation meine Abschlussprüfungen schreiben und auch noch bestehen konnte und in dem Haus wohnen bleiben konnte. Mein Vater hat dann gedroht, wenn die ganze Sache nicht aufhört, wird er den Kirchenvorstand einschalten und ihm davon erzählen.
Als Kurt davon erfahren hat, dass nun mehr Menschen von unserer Geschichte wissen, war auch er sehr geschockt. Als ich ihm gesagt habe, dass mein Vater den Kirchenvorstand einschalten will, hat er gesagt: „Dein Vater muss nur wissen, dass ich jederzeit den Ort hier wieder verlassen kann. Er muss hierbleiben und muss mit dem Gerede der Leute fertig werden!“ Genauso war es auch.
Trotzdem hat Kurt das Gespräch mit meinen Eltern gesucht. Er hat sie an einem Sonntagnachmittag zusammen mit mir zum Kaffeetrinken eingeladen und versucht die Situation zu entschärfen. Ich glaube nicht, dass ich jemals schlimmere Momente erlebt habe. Das Gespräch hat nicht lange gedauert. Mein Vater war unerbittlich. Seine einzige Forderung war, dass das Ganze aufhört, und zwar sofort und mit aller Konsequenz. Ich saß an diesem Tisch, ich glaube, ich konnte nicht ein einziges Wort sagen. Ich hatte einen riesigen Kloß im Hals. Kurt gab sich souverän, sagte, dass seine Ehe am Ende sei und dass wir uns ineinander verliebt hätten. Wie das geschehen konnte, könnte er auch nicht sagen. Mein Vater sagte: „Mit allem könnte ich leben, aber so etwas habe ich nicht erwartet!“ Er war maßlos enttäuscht von mir. Was hatte ich nur getan? Was hatte ich ihnen nur angetan?
Kurt hat meinen Vater noch gebeten, dass wir uns nach dem Gespräch voneinander verabschieden könnten, dass ich noch etwas bleiben darf, wenn wir doch hier und jetzt den Kontakt abbrechen sollten. Doch mein Vater hat das nicht zugelassen. Er wollte, dass ich sofort mit nach Hause komme. An der Tür hat mich Kurt nochmal in den Arm genommen. Ich habe nur geweint, immer nur geweint. Ich war so traurig. Ich weiß nicht, wie ich die Zeit überstanden habe. Zu Hause hat mein Vater gesagt, wenn ich mich noch einmal mit Kurt treffen würde und er kriegt es mit, dann könnte ich von zu Hause ausziehen. Ich habe dann Kurt angerufen – als meine Eltern aus dem Haus waren und nur noch ins Telefon geweint. Und er hat gesagt: „Komm!“
Nachdem ich mir die Erlaubnis von meinen Eltern abgeholt habe, dass ich noch weggehen konnte – nur eben nicht zu Kurt, bin ich natürlich sofort zu ihm. Diese ganzen Androhungen haben nur das Gegenteil bewirkt.
Meine Mutter hat das alles sehr mitgenommen. Sie wäre gerne auf meiner Seite gestanden. Aber sie konnte nicht. Sie war zu schwach. Mein Vater hatte vor dem Gespräch mit Kurt zu ihr gesagt, wenn sie nicht zu ihm hält, dann könnte sie sich scheiden lassen. Das hat meine Mutter nicht gepackt. Sicher war mein Vater auch nur hilflos. Wollte seine Tochter nicht so ins Unglück laufen sehen. Er hat alles, was in seinen Möglichkeiten lag, getan, um die Situation zu einem Ende zu bringen. Und meiner Mutter war die Ehe zu ihm wichtiger als das Vertrauen ihrer Tochter. Das habe ich lange nicht kapiert. Inzwischen verstehe ich es. Und es ist okay. Für mich war es damals eine Katastrophe.
Die Heimlichkeiten wurden immer mehr
Von diesem Moment an war ich allein mit der Geschichte. Konnte mit niemandem mehr darüber sprechen. Hatte keinen Vertrauten mehr.
Trotz all dieser schlimmen Dinge stand es nie zur Debatte, Kurt nicht mehr zu sehen. Ich hätte alles für ihn getan. Im Prinzip stand alles auf dem Spiel: mein Zuhause, das Verhältnis zu meinen Eltern und zu meiner Oma. Alles, was ich damals hatte. Und ich habe das alles in Kauf genommen. Wie nah ich alles an den Abgrund gebracht hatte, verstehe ich erst jetzt.
Ab sofort musste der Weg von zu Hause ins Pfarrhaus absolut heimlich ablaufen und durfte zu keiner Zeit beobachtet werden. Alles war heimlich. Als wäre ich ein Dieb. Ich musste durch die Kellertüre ins Pfarrhaus kommen, damit mich niemand sieht, und auch erst dann, wenn es schon dunkel war. Dann sollte ich gleich dort in der Waschküche meine Klamotten ausziehen und liegen lassen, für den Fall, wenn Ute nach Hause kommen würde, dass ich schnell über die Kellertüre wieder verschwinden könnte. Nackt bin ich dann durchs Haus. Die Haustüre war natürlich verschlossen und der Schlüssel steckte innen, so dass Ute hätte klingeln müssen, wenn sie ins Haus hätte kommen wollen. Zum Glück ist mir diese Sache erspart geblieben.
Wenn wir mit unserem Treffen „fertig“ waren, habe ich mich erst in dem Moment wieder angezogen, als ich das Pfarrhaus verlassen habe. Ich hatte ja keine Klamotten – welch ein entwürdigendes Spiel. Dann mitten in der Nacht, bin ich über den gleichen Weg wieder zurück. Bis ich in meinem Bett lag, bin ich manchmal tausend Tode gestorben. Ich hatte Angst. Immer Angst, entdeckt zu werden. Und trotzdem habe ich es getan, gegen alle Widerstände. Hoffentlich hört mich niemand, hoffentlich sieht mich niemand. Meine Mutter hat mir manchmal über versteckte Andeutungen gesagt, dass sie wisse, dass ich mich immer noch mit Kurt treffe, dass sie nachts hören würde, dass ich heimkomme.
Irgendwann waren wir im Auto unterwegs. Da habe ich ihm gesagt, dass ich es mir nun überlegt hätte und ich mit ihm schlafen würde. „Ich werde Dir ein großes Geschenk machen, über das Du Dich sehr freuen wirst. Es ist nicht mit Geld zu bezahlen.“ Kurt wusste sofort, wovon ich sprach. „Am liebsten würde ich jetzt sofort mit Dir ein Hotelzimmer suchen!“ Er war am Ziel seiner Träume.
Als wir uns am Sonntagabend getroffen haben, hatte er alles schön vorbereitet. Nein, wir haben nicht im Ehebett miteinander geschlafen. Er hatte das Gästezimmer vorher mit der Polaroid-Kamera fotografiert und dann alles umgestaltet, um unsere erste Nacht zu zelebrieren. Ich kann mich noch an viele, viele Kerzen erinnern. Und er hatte immer Kondome in ausreichender Zahl – obwohl er ja eigentlich zeugungsunfähig war. Er war immer einfühlsam und vorsichtig – nie gewalttätig. Aber als wir „es“ getan hatten, hat er gesagt: „Egal wie alt wir werden, Du wirst dich immer daran erinnern, dass ich der erste Mann in deinem Leben war!“ Das hat ihm irgendwas gegeben.
Wir haben oft dreimal an einem Abend miteinander geschlafen. Mir war es manchmal zu viel. Aber ich habe nichts gesagt. Kurt hat gesagt, was er wollte; ich habe ihm seine Wünsche erfüllt. Immer. Ohne „Nein!“ zu sagen. Manchmal hat er schon im Bademantel auf mich gewartet…
Er hatte keine Hemmungen, mir zu sagen, was er von mir wollte. Das ging ungefähr so: „Ute wollte mich nie da unten küssen. Sie hat sich schon küssen lassen, wollte es aber nicht bei mir machen!“ (Ich fand es damals schon merkwürdig, dass er mir so etwas sagt. Die sexuellen Vorlieben seiner Frau gingen mich nun wirklich nichts an. Aber er musste ja erreichen, dass er das bekommt, was er wollte, ich denke, da war ihm jedes Mittel recht.) Kurt kannte seine Bedürfnisse sehr genau. Und ich wollte sie ihm erfüllen. Wollte ihn glücklich machen, ihm helfen.
Wie die Sache zu Ende ging
Eines Tages war ich kurz im Pfarrhaus, um einen Schlüssel abzuholen. Wir waren kurz alleine, als wir uns an den Händen hielten, ging plötzlich – ohne Vorwarnung – die Tür auf und Ute stand in der Tür. Ich werde nie ihren Gesichtsausdruck vergessen. Obwohl die Situation alles andere als eindeutig war, war in diesem Moment trotzdem allen klar, dass jeder wusste, was vor sich ging. Irgendetwas musste sie geahnt haben. Ich erinnere mich an die Gefühle, die in ihrem Blick zu lesen waren: verletzt, enttäuscht, fassungslos. Und ich war schuld. Ich hatte es angestellt, ich hatte diese Affäre mit ihrem Mann. Von da an war die Stimmung zwischen uns feindselig, irritiert, falsch.
Am folgenden Sonntagabend haben wir uns nochmal gesehen. Aber alles hatte sich verändert. Plötzlich wollte Kurt „uns“ – bzw. mich nicht mehr. Kurt hat mir gesagt: „Es kann auch sein, dass der Teufel unsere Beziehung wollte!“ Das werde ich nie vergessen. Ich war geschockt. Und ich hatte das Gefühl, dass mich der Teufel geschickt hatte, um seine Ehe zu zerstören.
Dann bin ich zu Hause ausgezogen in eine größere Stadt für meine Ausbildung. Meine Eltern haben mich dort abgesetzt und sind für vier Wochen in den Urlaub gefahren. Ich hatte keinerlei Möglichkeit nach Hause zu kommen. Mit Kurt hatte ich ausgemacht, dass wir uns nochmal treffen. Er würde mit dem Auto kommen und mich abholen. An diesem Tag war er krank. Eigentlich wollte er gar nicht kommen. Aber nachdem ich kein eigenes Telefon hatte und er mich kurzfristig nicht erreicht hatte, war er doch losgefahren, damit ich nicht stundenlang auf ihn warten musste. Wir sind dann in seinem Auto herumgefahren, er hat nach einem Wäldchen gesucht, damit ich seine Bedürfnisse befriedigen konnte. Weil wir nicht so schnell eines gefunden haben, ist er ziemlich ungehalten geworden. Irgendwie war er genervt von der ganzen Situation und auch von mir. Er hat mir dann gesagt, dass ich aufpassen solle, dass keine Flecken ins Auto kommen. Das war nur damit zu erreichen, dass ich ihn oral befriedige und die ganze Sache hinunterschlucke. Natürlich habe ich das getan. Dann hat er mich zurück in meine Wohnung gefahren. Ich habe nichts mehr von ihm gehört.
Nach einigen Wochen kam dann ein Brief. Dass ich ihn wohl für einen ganz falschen Fünfziger halten muss, weil er sich gar nicht mehr meldet. Dass er in einer schwierigen Lage sei, weil Ute seine Post öffnen würde und überhaupt sehr misstrauisch geworden ist. Ich solle mich deswegen auch nicht mehr melden. Damit war die Sache für ihn beendet. Daraufhin habe ich alles zerrissen und zerschnitten, was ich von ihm hatte. Alles, was sichtbar war, habe ich vernichtet. Die Geschichte in meinem Kopf und in meinem Herzen konnte ich nicht vernichten.
Ein Jahr später hat mir mein Vater erzählt, dass der Pfarrer einen Motorradunfall auf gerader Strecke hatte. Man vermutete einen Selbstmordversuch. Wieder hatte ich schlimme Schuldgefühle.
Wieder einige Zeit später hat Ute in der Gemeinde verkündet, dass sie sich von ihrem Mann scheiden lässt. Er hätte eine Freundin. Ich weiß noch, dass meine Oma sagte, dass ihr das Herz bis zum Halse schlug. Sie dachte, sie bekommt einen Herzinfarkt. Sie hatte solche Angst, dass unser Name fällt.
Was aus Kurt geworden ist …
Als ich vor einem Jahr die Dimension meiner Geschichte erkannte und ein bisschen realisiert hatte, was damals passiert ist, habe ich mich im Netz auf die Suche nach Kurt gemacht. Er ist inzwischen gestorben.
Welche Auswirkungen hat diese Geschichte auf mein Leben?!
Ich verstehe inzwischen, dass ich so geschickt manipuliert wurde, dass ich nicht „Nein“ sagen konnte. Dass ich mich so stark mit diesem Mann identifiziert habe, dass ich Mitleid und Liebe verwechselt habe – oder war es Hörigkeit – Abhängigkeit?! Ich weiß es nicht.
Ich habe ein gutes Leben. Ich bin seit fast 24 Jahren verheiratet, habe Kinder, die ich über alles liebe und die gesund und fröhlich heranwachsen (mit den normalen Problemchen, natürlich). Ich habe einen Beruf, den ich gerne mache, und Hobbys, die ich in meiner wenigen Freizeit gern tue. Und trotzdem gibt es Dinge, die wahrscheinlich doch irgendwie mit der Geschichte von damals verknüpft sind.
Ich habe den Kontakt zur Kirche verloren. Seitdem ich verstanden habe, was damals passiert ist, kann ich nicht mehr in die Kirche gehen, finde keinen Weg zurück zur christlichen Gemeinde. Ich kann mich nicht mehr aktiv einbringen, weil sich alles in mir sträubt. Ich habe es versucht, wirklich, beinahe über meine Kräfte, inzwischen habe ich aufgegeben. Es gab Zeiten, da habe ich mehrere Wochen gebraucht, um den Weg in den Sonntagsgottesdienst zu gehen. Ich habe versucht, mir vorzunehmen hinzugehen, und kurz vorher doch wieder zurückgezogen. Wenn ich es dann geschafft hatte, hat es hinterher eine Woche gedauert, um mich davon zu erholen, bis ich nicht mehr geweint und pausenlos daran gedacht habe. Wenn ich heute zum Gottesdienst gehen muss (wegen Konfirmation oder anderer wichtiger Verpflichtungen), kostet es mich immer noch unheimliche Kraft und ich versuche, „jemand anderen“ in mir hinzuschicken. Es ist, als würde ich einen Teil von mir abkoppeln, der geht zum Gottesdienst, und wenn ich (bzw. dieser Teil von mir) den Gottesdienst wieder verlässt, tue ich alles mir Mögliche, um schnell alles zu vergessen und in den Alltag zurückzukehren. Nur nicht daran denken: an Kirche, Pfarrer, Talare, Predigten.
❖ Ich habe 30 Jahre mit schlimmen Schuldgefühlen gelebt.
❖ Ich habe viel Kraft darauf verwendet, diese Missbrauchsgeschichte, so gut es eben ging, zu verdrängen.
❖ Es kostet mich sehr viel Kraft, mich jetzt damit auseinanderzusetzen.
❖ Es ist schlimm, mit niemandem darüber reden zu können.
❖ Ich habe in den letzten Jahren sehr, sehr viel gearbeitet. Mehr als mir und meiner Familie gutgetan hat. Ich war wie eine Getriebene. Rastlos. Ohne freie Minute. Wahrscheinlich habe ich den Stress gebraucht, um zu vergessen und zu verdrängen.
❖ Ich schlafe sehr, sehr schlecht. Ich weiß nicht, ob es in einem ursächlichen Zusammenhang steht, stelle es nur fest und es belastet mich zunehmend.
❖ Ich habe schlechte Essgewohnheiten. Obwohl ich täglich für meine Familie frisch koche, kann ich bei den Mahlzeiten wenig oder kaum etwas essen. Sehr oft muss ich mich regelrecht dazu zwingen. Um meinen Energiebedarf zu decken, esse ich Schokolade. Glücklicherweise nimmt es mir meine Figur nicht übel.
❖ Ich leide unter Ängsten in allen möglichen Situationen – zu Hause fühle ich mich wohl und sicher. Aber jede Veränderung, eine Fahrt in den Urlaub, zu unbekannten Zielen weckt in mir Ängste.
Ich habe den Glauben an einen liebenden Gott verloren. Ich brauche Gott als Gegenüber in meinem Leben. Ich brauche jemanden, dem ich meine Nöte, Ängste, Sorgen, Freuden anvertrauen kann. Und ich habe nach wie vor Hoffnung, dass er mir in schwierigen Situationen hilft. Aber wenn er so allmächtig ist und so „lieb“ ist, wie ich zeit meines Lebens gedacht habe, warum lässt er so viel Schlimmes zu? Gott ist Gott – neutral –, ich verstehe ihn nicht. Aber noch glaube ich fest daran, dass er da ist.
Und seit ich erkannt habe, dass ich nicht schuld bin, habe ich das Vertrauen in die Menschen verloren. Ich kann kaum jemandem trauen. Ich habe Angst, wenn die Kinder bei Freunden über