Entwicklungspsychologie - Georg-Wilhelm Rothgang - E-Book

Entwicklungspsychologie E-Book

Georg-Wilhelm Rothgang

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Beschreibung

Die Soziale Arbeit wirkt auf Menschen unterschiedlichen Alters und auf ihre Lebensbedingungen fördernd, helfend und korrigierend ein. Entwicklungspsychologische Kenntnisse sind hierbei unverzichtbar. Die Autoren stellen neben der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne u. a. die Beiträge von Freud, Erikson, Havighurst, Piaget, Kohlberg und Saarni zur Entwicklungspsychologie knapp und gut verständlich vor. Der Leser wird befähigt, menschliche Entwicklung und ihre Bedingungen zu verstehen und auf wissenschaftlicher Grundlage praktisches Handeln in der Sozialen Arbeit zu entwickeln. Als Beispiel der angewandten Entwicklungspsychologie wird das Trainingsprogramm zur Aggressionsverminderung (TAV) für Jugendliche vorgestellt.

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Die Autoren

Prof. Dr. Georg-Wilhelm Rothgang lehrte Entwicklungspsychologie an der Georg-Simon-Ohm-Hochschule Nürnberg.

Prof. Dr. Johannes Bach lehrt Entwicklungspsychologie an der Technischen Hochschule Nürnberg.

Georg-Wilhelm Rothgang Johannes Bach

Entwicklungspsychologie

4. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Quellennachweis:

Stufen, aus: Hermann Hesse, Sämtliche Werke in 20 Bänden. Herausgegeben von Volker Michels. Band 10: Die Gedichte. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.

4. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-038362-3

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-038363-0

epub:   ISBN 978-3-17-038364-7

mobi:   ISBN 978-3-17-038365-4

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

Vorwort zur 1. Auflage

Vorwort zur 4. Auflage

1 Gegenstand und Aufgaben der Entwicklungspsychologie

1.1 Alltagsvorstellungen von menschlicher Entwicklung

1.2 Wissenschaftliche Definitionsversuche

1.3 Aufgaben der Entwicklungspsychologie im Überblick

1.3.1 Beschreibung der Veränderungen

1.3.2 Erklärung der Veränderungen

1.3.3 Vorhersage der Veränderungen

1.3.4 Einflussnahme auf die Veränderungen

2 Entwicklungspsychologie und die Praxis Sozialer Arbeit

2.1 Gesetzliche Grundlagen der Sozialen Arbeit und Entwicklungspsychologie

2.2 Mögliche Praxisbeiträge der Entwicklungspsychologie

2.2.1 Orientierung über den Lebensverlauf

2.2.2 Ermittlung von Entwicklungsbedingungen

2.2.3 Erstellung von Entwicklungsprognosen

2.3 Probleme des Theorie-Praxis-Bezugs

2.3.1 Erwartungsproblem

2.3.2 Komplexitätsproblem

2.3.3 Wahrscheinlichkeitsproblem

2.3.4 Fehlende transhistorische Gültigkeit

2.3.5 Pragmatische Hindernisse

3 Entwicklung als quantitative Veränderung

3.1 Entwicklung als Wachstum

3.1.1 Exemplarische Darstellung von Wachstumskurven

3.1.2 Grenzen des Wachstumskonzepts

3.2 Multidirektionalität der Entwicklung

3.3 Entwicklung als Gewinn und Verlust

4 Entwicklung als qualitative Veränderung

4.1 Kurzer literaturgeschichtlicher Exkurs

4.2 Entwicklung als Differenzierung

4.2.1 Exemplarische Darstellung von Differenzierungs- prozessen

4.2.2 Entwicklung als Differenzierung des Lebensraums

4.3 Kognitive Entwicklung als qualitativer Entwicklungsprozess

4.3.1 Stadium der sensomotorischen Intelligenz

4.3.2 Voroperationales Denken

4.3.3 Stadium der konkreten Operationen

4.3.4 Stadium der formalen Operationen

4.4 Moralische Entwicklung als qualitativer Entwicklungsprozess

4.4.1 Einführende Überlegungen

4.4.2 Die Entwicklung des moralischen Urteils (Piaget)

4.4.3 Die Moralentwicklung nach Kohlberg

5 Beschreibung der Entwicklung in umfassenden Entwicklungsmodellen

5.1 Entwicklung als Triebentwicklung (Freud)

5.1.1 Aufbau der Persönlichkeit aus psychoanalytischer Sicht

5.1.2 Triebtheorie der Psychoanalyse

5.1.3 Psychoanalytisches Entwicklungsmodell

5.1.4 Kritik des psychoanalytischen Entwicklungsmodells

5.2 Entwicklung als Bewältigung psychosozialer Krisen (Erikson)

5.2.1 Ausgangsüberlegungen

5.2.2 Beschreibung der Entwicklungsstufen

5.2.3 Kritik des Entwicklungsmodells von Erikson

5.3 Entwicklung als Lösung von Entwicklungsaufgaben (Havighurst)

5.3.1 Quellen der Entwicklungsaufgaben

5.3.2 Charakteristika der Entwicklungsaufgaben

5.3.3 Entwicklungsaufgaben im Überblick

5.3.4 Exkurs: Entwicklungsaufgaben des Jugendalters und ihre Bewältigung

5.3.5 Kritik des Entwicklungsmodells von Havighurst

6 Grundlegende Denkrichtungen in der Entwicklungspsychologie

6.1 Endogenistische Theorien

6.2 Exogenistische Theorien

6.3 Konstruktivistische Theorien

6.4 Interaktionistische Theorien

7 Einflussfaktoren in der Entwicklung

7.1 Genetische Einflussfaktoren und Entwicklung

7.1.1 Allgemeine Vorüberlegungen

7.1.2 Genetischer Einfluss auf die Entwicklung der Persönlichkeit

7.2 Reifungsprozesse und Entwicklung

7.3 Lernen und Entwicklung

7.3.1 Klassisches Konditionieren

7.3.2 Operantes Konditionieren

7.3.3 Beobachtungslernen

7.4 Selbststeuerung der Entwicklung

7.4.1 Selbststeuerung der Entwicklung durch primäre und sekundäre Kontrolle

7.4.2 Selbststeuerung der Entwicklung durch Selektivität undKompensation

7.4.3 Optimierung der Selbststeuerung der Entwicklung

7.4.4 Selbststeuerung der Entwicklung und Soziale Arbeit

8 Sozial-emotionale Entwicklung in Kindheit und Jugendalter

8.1 Bindungstheorie

8.1.1 Die Bindungstheorie und ihre historischen Ursprünge

8.1.2 Zentrale Konzepte der Bindungstheorie

8.1.3 Konzepte der kindlichen Bindungsqualität

8.2 Bindungsstörungen

8.2.1 Klinische Beschreibung der beiden Formen von Bindungsstörungen

8.2.2 Intervention bei Kindern mit Bindungsstörungen

8.3 Kritische Reflexion der Bindungstheorie

8.4 Sozial-emotionale Entwicklungen im Kindes- und Jugendalter

8.4.1 Vier Perspektiven auf die Entstehung und Bedeutung von Emotionen

8.4.2 Sozial-Emotionale Störungen im Kindes- und Jugendalter

8.4.3 Risiko- und Schutzfaktoren zur Ausbildung einer sozial-emotionalen Störung

8.5 Emotionale Kompetenz nach Saarni als Rahmenmodell der Förderung

9 Entwicklungsprognosen und praktisches Handeln

9.1 Entwicklungsprognosen in der Sozialen Arbeit

9.2 Grundlagen von Entwicklungsprognosen

9.3 Bedingungsorientierte Entwicklungsprognosen

9.4 Merkmalsorientierte Prognosen

9.4.1 Stabilitätsdaten als Grundlage von Prognosen

9.4.2 Frühzeitige Prognose von Entwicklungsauffälligkeiten

9.4.3 Lebensalter und Treffsicherheit von Prognosen

9.5 Kombinierte Entwicklungsprognosen

9.6 Resilienz und Entwicklung

10 Das Trainingsprogramm zur Aggressionsminderung (TAV) als Beispiel für ein Interventionsprogramm bei delinquenten Jugendlichen

10.1 Aggressives Verhalten im Jugendalter als Problemlage

10.1.1 Erscheinungsformen und Häufigkeit aggressiven Verhaltens im Jugendalter

10.1.2 Mögliche Erklärungen aggressiven Verhaltens

10.1.3 Möglichkeiten der Prävention und Intervention bei aggressivem Verhalten

10.2 Das Trainingsprogramm zur Aggressionsverminderung (TAV)

10.2.1 Ziele des Programms TAV

10.2.2 Programmbeschreibung und Methoden

10.2.3 Organisatorischer Ablauf des Programms

10.2.4 Rahmenbedingungen

10.3 Beschreibung der Stichprobe und ausgewählte Ergebnisse

10.3.1 Kurzbeschreibung der Durchführung der Intervention und Kennzeichnung der Stichprobe

10.3.2 Methoden

10.3.3 Darstellung ausgewählter Ergebnisse der Evaluation

10.4 Diskussion der Ergebnisse

10.5 Fazit

Literatur

Stichwortverzeichnis

 

 

Vorwort zur 1. Auflage

 

 

 

In der Reihe »Psychologie in der Sozialen Arbeit« sind bereits drei Bände erschienen. Sie alle hatten das Ziel, in verschiedene, für die Praxis der Sozialen Arbeit grundlegende psychologische Teildisziplinen einzuführen und neben dem notwendigen Grund- und Anwendungswissen auch ein Verständnis für die Rolle und die Bedeutung der Psychologie im Praxisfeld der Sozialen Arbeit zu vermitteln. Diesem Ziel sieht sich auch der vorliegende Band zur Entwicklungspsychologie verpflichtet. Mit diesem Lehrbuch sollen vornehmlich Studierende der Sozialen Arbeit, aber auch interessierte Praktiker und Laien eine erste Einführung in das Gebiet der Entwicklungspsychologie erhalten und exemplarisch erfahren, wie in der Entwicklungspsychologie gedacht, geforscht und argumentiert wird. Das so vermittelte Basiswissen soll die Leserinnen und Leser motivieren und befähigen, sich dann mit jenen Teilgebieten der Entwicklungspsychologie intensiver zu befassen, die für ihr jeweiliges Interessen- und Praxisgebiet relevant sind. Es wird also keine umfassende Beschreibung der Entwicklungspsychologie angestrebt. Mit entsprechendem Aufwand ist dies zwar grundsätzlich machbar, aber gleichwohl wenig sinnvoll für einen Einstieg in die Entwicklungspsychologie. Es gibt bereits zahlreiche Lehrbücher der Entwicklungspsychologie, die gerade auch wegen ihres Umfangs von vielen hundert oder gar tausend Seiten beeindrucken. Versucht man sich allerdings in die Lage von Leserinnen und Lesern zu versetzen, die sich durch derartige Werke mit geradezu enzyklopädischer Ausrichtung hindurcharbeiten müssen, um einen ersten Zugang zur Entwicklungspsychologie zu gewinnen, so entstehen doch ernsthafte Zweifel, ob am Ende der Wald vor lauter Bäumen noch gesehen wird. Ein Lehrbuch, das sich vornehmlich an Studierende richtet, sollte auch deren Zeitbudget berücksichtigen. So sehr man dies als Fachvertreter auch bedauern mag, es dürfte der Regelfall sein, dass im Studium der Sozialen Arbeit für die Lehre in einzelnen wissenschaftlichen Grundlagenfächern immer nur Anteile im einstelligen Prozentbereich an der Gesamtstundenzahl ausgewiesen sind. An meiner eigenen Hochschule entfallen z. B. auf die Lehrveranstaltung zur Entwicklungspsychologie gerade eben zwei Stunden für ein Semester. Eine starke Auswahl und Akzentuierung einzelner Teilbereiche der Entwicklungspsychologie ist demnach unausweichlich. Auch mögliche Beiträge der Entwicklungspsychologie zur Lösung der äußerst vielfältigen und sehr heterogenen Aufgaben der Sozialen Arbeit können in diesem Rahmen nur exemplarisch aufgezeigt und verdeutlicht werden. Dabei wird versucht, Problemstellungen aus der Praxis aufzugreifen, die den Leserinnen und Lesern aus ihren Alltagserfahrungen bekannt sind oder in die sie sich vermutlich gut hineinversetzen können. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass das exemplarische Aufzeigen des Anwendungsbezugs der Entwicklungspsychologie deutlich werden lässt, dass dieses Teilgebiet der Psychologie für die Praxis der Sozialen Arbeit nicht nur hilfreich, sondern unverzichtbar ist. Die Fertigstellung eines Manuskripts ist immer auch Anlass, vielen Menschen für ihre Anregungen, Ermutigungen und Hilfen zu danken. Hier sind zunächst die Studierenden vieler Semester zu nennen, die durch kritisches Nachfragen mich wiederholt veranlasst haben, die Aufbereitung und Darstellung entwicklungspsychologischer Erkenntnisse neu zu konzipieren und didaktisch besser zu vermitteln. Bedanken möchte ich mich auch bei dem Herausgeber der Reihe, Herrn Prof. Dr. Schermer, für die stets wohlwollende und ermutigende Unterstützung, mit der er die Entstehung dieses Bandes begleitet hat. Herrn Dr. Poensgen vom Kohlhammer Verlag danke ich für die große Geduld und Nachsicht bei wiederholten Terminverzögerungen, die ich zu vertreten hatte. Mein Dank gilt auch Frau Lange, die mein Manuskript in eine druckfähige Form gebracht hat. Schließlich möchte ich mich ganz herzlich bei meiner Familie bedanken, die meine Arbeit an dem Buch über einen längeren Zeitraum, als ursprünglich geplant und zugesagt, immer verständnisvoll begleitet hat.

 

Nürnberg, im Sommer 2003

Georg-Wilhelm Rothgang

 

 

Vorwort zur 4. Auflage

 

 

 

Die Entwicklungspsychologie hat sich in den letzten Jahren nicht grundlegend verändert. Die 1. und 2. Auflage des vorliegenden Lehrbuchs wurde von den Leserinnen und Lesern gut aufgenommen. Für die 3. Auflage wurde den Überlegungen einer Psychologie der Lebensspanne und der Praxisorientierung mehr Platz eingeräumt. Mit den Beiträgen von Johannes Bach wurde die sozial-emotionale Entwicklung (Kapitel 8) wesentlich umfassender dargestellt, und der Praxisbezug (Kapitel 10) mit der Beschreibung des Trainingsprogramms zur Aggressionsverminderung wurde weiter vertieft. Für die vorliegende 4. Auflage waren keine grundlegenden konzeptionellen Änderungen und Aktualisierungen notwendig. Ziel bleibt es nach wie vor, den Studierenden einen ersten Einblick in die Entwicklungspsychologie zu ermöglichen. Damit verbindet sich unverändert die Hoffnung, dass durch die Vermittlung von entwicklungspsychologischem Basiswissen auch Motivation geweckt wird zu einer vertieften, eigenständigen Auseinandersetzung mit der Entwicklungspsychologie und zu einer Übertragung entwicklungspsychologischer Erkenntnisse in die Praxis der Sozialen Arbeit.

Für die Unterstützung bei der Erstellung der 4. Auflage möchten wir uns beim Lektorat des Kohlhammer Verlags herzlich bedanken. Wenn im Text durchgängig männliche Personenbezeichnungen verwendet werden, so vor allem aus Gründen der leichteren Lesbarkeit. Selbstverständlich sind dabei immer auch die weiblichen Personen angesprochen. Wir bitten für diese Vorgehensweise um Verständnis.

 

Nürnberg, im Sommer 2020Georg-Wilhelm Rothgang

München, im Sommer 2020Johannes Bach

 

 

1        Gegenstand und Aufgaben der Entwicklungspsychologie

 

 

 

1.1      Alltagsvorstellungen von menschlicher Entwicklung

Mit menschlicher Entwicklung beschäftigen Sie sich – so kann man mit Sicherheit annehmen – nicht erst, seit Sie dieses Buch aufgeschlagen und zu lesen begonnen haben. Ohne große Phantasie kann man sich vielfältige Alltagssituationen vorstellen, in denen das Thema »menschliche Entwicklung« eine Rolle spielt: Denken Sie zum Beispiel an die Überraschung, die sich einstellt, wenn man die enormen Veränderungen und Fortschritte eines Kindes bemerkt, das man längere Zeit nicht mehr gesehen hat, oder an das Grübeln darüber, ob denn das Spielzeug, das man einem Kind mitgebracht hat, noch altersgemäß ist, oder an die Diskussion mit den besorgten Eltern, ob die Unterbringung des Kindes bei einer Tagesmutter dem Kind schaden könne. Vielleicht erinnern Sie sich auch an kontroverse Diskussionen, in denen Sie als Jugendliche(r) von Ihren Eltern gefordert haben, nicht mehr wie ein Kind behandelt zu werden und selbst entscheiden zu können, was Sie tun, während Ihre Eltern von mangelnder Lebenserfahrung und fehlender Reife sprachen. Überlegungen zur menschlichen Entwicklung sind wohl auch beim Eingehen einer festen Partnerschaft mitbeteiligt, geht man doch für gewöhnlich davon aus, dass sich der Partner/die Partnerin nicht negativ verändern oder entwickeln werde, oder hofft darauf, dass aktuell noch störende Eigenschaften im Laufe der Zeit schon noch verschwinden werden. Dass sich beide Prognosen mitunter als fehlerhaft erweisen, ist ein Beleg für die Schwierigkeit, künftige Entwicklungen vorherzusagen. Dies ist ein Thema, mit dem wir uns noch ausführlich beschäftigen werden.

Die wenigen Beispiele dürften gezeigt haben, dass das Reden und Nachdenken über menschliche Entwicklung zum Alltag gehört und nicht von der Entwicklungspsychologie erst als Thema eingeführt werden muss. Es werden also auch bereits vor einer intensiven Beschäftigung mit entwicklungspsychologischen Überlegungen und Erkenntnissen Vorstellungen über menschliche Entwicklung existieren. Um derartige Vorstellungen kennen zu lernen, bitte ich gewöhnlich die Studierenden zu Beginn meiner Lehrveranstaltung zur Entwicklungspsychologie zunächst aufzuschreiben, was ihnen spontan zum Begriff »menschliche Entwicklung« einfällt. (Wenn Sie möchten, können Sie sich in einem kleinen Selbstversuch daran beteiligen, indem Sie erst dann weiterlesen, wenn Sie Ihre eigenen spontanen Einfälle notiert haben.)

In Tabelle 1.1 sind die Ergebnisse einer Befragung der Studierenden eines Semesters zusammenfassend dargestellt. An der Befragung nahmen insgesamt 112 Studierende teil. Die Einzelnennungen wurden nach ihrer inhaltlichen Ähnlichkeit zu Gruppen zusammengefasst.

Tab. 1.1: Alltagsverständnis von »menschlicher Entwicklung«

EntwicklungsphasenVorgeburtliche Phase (5); Kindheit allgemein (12); Säuglingsalter/frühe Kindheit (35); Schulkindphase (5); Jugendalter (22); Pubertät (11); Erwachsenenalter (20); Alter/Tod (15); Hinweis auf Entwicklungsphasen ohne nähere Angaben (16)

151 Nennungen

EntwicklungsbereichePsychische/geistige/seelische Entwicklung (32); Körperliche/physische Entwicklung (27); Veränderung ohne nähere Angabe/Verhaltens- änderung (22); Erwerb von Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnissen (15); Persönlichkeitsentwicklung (20); Entwicklung einzelner Funk- tionen (z. B. Sprache, Wahrnehmung etc.) (20)

126 Nennungen

EntwicklungseinflüsseUmgebung/Umwelt allgemein (25); Erziehung (11); Schule und Bil- dung (11); Gruppen/Bezugsgruppen/Freunde (9); Familie (7); Weitere umweltbezogene Nennungen (z. B. Beruf, Kulturkreis etc.) (11); Vererbung/Gene (7); Individueller Einfluss auf die Entwicklung (5); Sonstige Einflüsse (3)

94 Nennungen

EntwicklungsmechanismenLernen (63); Reifung (12); Wachstum (16); Prägung (2)

93 Nennungen

EntwicklungszeiträumeGeburt bis Tod (9); Säugling bis alter Mensch (6); Säugling bis erwachsener Mensch (5); Befruchtung bis Tod (4); lebenslange Entwicklung (4); Embryo bis alter Mensch/Tod (2); Kind bis Alter (2); Embryo bis Pubertät (1)

33 Nennungen

EntwicklungszieleSelbständigkeit/Eigenverantwortlichkeit/Unabhängigkeit (9); Reife (7); Erwachsenwerden (5); Eine Persönlichkeit werden (4); Sonstige Ziele (6)

31 Nennungen

Evolution/Stammesgeschichte des Menschen

25 Nennungen

Gesellschaftliche/kulturelle Entwicklung

23 Nennungen

Fehlentwicklungen/Entwicklungsstörungen/Entwicklung als Abbau

15 Nennungen

Sonstige Antworten

29 Nennungen

Anm.: Befragt wurden 112 Studierende ohne Vorkenntnisse im Bereich Entwicklungspsychologie. Es wurden insgesamt 629 Nennungen abgegeben.

Sofern Sie sich an dem kleinen Selbstversuch beteiligt haben, werden Sie einige Ihrer Assoziationen in der Auflistung der Tabelle 1.1 wiedergefunden haben, während Sie andere Nennungen spontan nicht mit dem Entwicklungsbegriff ver bunden hätten. Betrachten wir die Ergebnisse noch etwas genauer, so erhalten wir einen interessanten Einblick in das Alltagsverständnis von menschlicher Entwicklung:

Zunächst einmal ist festzustellen, dass sich mit »menschlicher Entwicklung« zahlreiche, inhaltlich durchaus unterschiedliche Vorstellungen verbinden, so dass man nicht von einem einheitlichen Entwicklungsverständnis sprechen kann. Dies ist nicht nur im Alltagssprachgebrauch so, sondern wir werden dies auch später bei einem Vergleich wissenschaftlicher Definitionsversuche feststellen. Betrachten wir die erste Gruppe der in Tabelle 1.1 zusammengefassten Antworten, so fällt auf, dass die Entwicklung vornehmlich mit Kindheit und Jugend assoziiert wird, wobei für den Bereich der Kindheit noch weitere Untergliederungen vorgenommen (Säuglingsalter – frühe Kindheit – Schulkindalter), während das Jugend-, Erwachsenen- und hohe Lebensalter weniger oft erwähnt und auch weniger gegliedert erlebt wird. Diese Fokussierung auf Kindheit und Jugend mag sicher auch bedingt sein durch die unübersehbaren, gravierenden, schnellen Veränderungen des Erlebens und Verhaltens, die für diese Lebensphase kennzeichnend sind. Wohl auch deshalb war in der Geschichte der wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie anfangs eine sehr starke Ausrichtung des Interesses auf Kindheit und Jugend festzustellen, eine Einseitigkeit, die erst in den letzten Jahrzehnten u. a. mit der Konzipierung einer Psychologie der Lebensspanne (z. B. Baltes, 1978, 1979, 1990; Brandstädter & Lindenberger, 2007) allmählich überwunden wurde. Mit der Unterscheidung unterschiedlicher Entwicklungsabschnitte oder Entwicklungsphasen, wie Kindheit-Jugend-Erwachsenenalter – mit eventuell noch weiteren Untergliederungen –, gibt man dem kontinuierlichen Entwicklungsgeschehen nur eine sehr grobe und vereinfachte Struktur. So besteht in der Entwicklungspsychologie kein Konsens im Hinblick auf die Eingrenzung einzelner Entwicklungsabschnitte. Ein Beispiel: Wilkening, Freund & Martin (2008, S. 2) bezeichnen den Zeitraum zwischen 40 und 60 Jahren als »mittleres Erwachsenenalter«, während Lindenberger (2008, S. 350) für das mittlere Erwachsenenalter einen Zeitraum von 35 bis 65 Jahren annimmt und Freund & Nikitin (2012, S. 260) darauf verweisen, dass die Altersangaben für das mittlere Erwachsenenalter »je nach Autoren zwischen dem 30. und 70. Lebensjahr liegen.« Starr konzipierte Entwicklungsabschnitte, denen dann bestimmte Entwicklungscharakteristika zugeordnet werden, verdecken zudem, dass es zwischen den einzelnen Entwicklungsabschnitten wichtige und besonders interessante Übergangsbereiche gibt, in denen Individuen weder in der subjektiven Selbsteinschätzung noch in der objektiven Betrachtung von außen weder dem vorangehenden noch dem nachfolgenden Entwicklungsabschnitt eindeutig zuzuordnen sind (Bsp. Kind oder bereits Jugendlicher, Jugendlicher oder bereits Erwachsener, Person im mittleren oder bereits hohen Erwachsenenalter).

Die Vielfalt der Nennungen in Tabelle 1.1 zu den Entwicklungsbereichen macht deutlich, unter welch unterschiedlichen Aspekten menschliche Entwicklung betrachtet und beschrieben werden kann. Der Versuch, die Gesamtheit menschlichen Erlebens und Verhaltens erfassen zu wollen, führt zu einem Dilemma, das viele Lehrbücher der Entwicklungspsychologie durch eine immense Ausweitung ihres Seitenumfangs aufzulösen versuchen, ohne sich letztlich gegen den Vorwurf erfolgreich wehren zu können, wichtige Bereiche menschlicher Entwicklung doch nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt zu haben.

Besonders bemerkenswert sind die in der Tabelle 1.1 unter dem Stichwort »Entwicklungseinflüsse« zusammengefassten Antworten. Von den 94 Nennungen beziehen sich 81 (86 %) auf Umwelteinflüsse, während genetische Grundlagen der Entwicklung kaum eine Rolle spielen. Etwas verkürzt könnte man also davon sprechen, dass angehende Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen menschliche Entwicklung als das Ergebnis von Umwelteinwirkungen verstehen, die man dann im Rahmen der beruflichen Praxis mitgestalten möchte. Passend zu dieser Sichtweise wird dann bei dem Entwicklungsmechanismus folgerichtig auch das Lernen am häufigsten genannt. Da sich die hier andeutende Sichtweise menschlicher Entwicklung in dieser Deutlichkeit mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht so ohne weiteres vereinbaren lässt, wird uns die Frage, inwieweit menschliche Entwicklung durch äußere Einwirkungen beeinflusst wird und wo die Grenzen der Veränderbarkeit des Menschen liegen, im Rahmen dieses Lehrbuchs noch viel beschäftigen.

Wenn es um den Zeitrahmen geht, in dem menschliche Entwicklung abläuft, scheint es im Alltagsverständnis durchaus unterschiedliche Sichtweisen zu geben, sowohl was den Beginn (Zeugung, Embryonalstadium, Geburt) als auch das Ende menschlicher Entwicklung (Pubertät, Erwachsenenalter, hohes Lebensalter, Tod) betrifft, wenn auch nicht zu übersehen ist, dass die Vorstellung einer lebenslangen Entwicklung dominiert. Die Frage nach dem Beginn und dem Ende der Entwicklung und ihre Beantwortung hat große Auswirkungen auf Wissenschaft und Praxis gleichermaßen. Wer davon ausgeht, dass menschliche Entwicklung mit der Geburt beginnt und mit der »Reife«, dem Erwachsenenalter o. ä. endet, wird ganz andere wissenschaftliche Fragen stellen oder sein praktisches Handeln ganz anders ausrichten, als jemand, der von einer lebenslangen Entwicklung ausgeht.

Abschließend sei noch auf das Ergebnis hingewiesen, dass sich nur 15 Nennungen auf Abbauprozesse und Fehlentwicklungen beziehen, was darauf hindeutet, dass im Alltagsverständnis menschliche Entwicklung eher mit positiven Veränderungen assoziiert wird. Gerade in der Sozialen Arbeit wird man sich aber gerade auch mit Fehlentwicklungen und Entwicklungsstörungen zu beschäftigen haben.

1.2      Wissenschaftliche Definitionsversuche

»Es gibt nicht die Entwicklungspsychologie und damit einen einheitlichen Entwicklungsbegriff, sondern mehrere Entwicklungspsychologien mit unterschiedlichen Entwicklungsbegriffen, die sich darin unterscheiden, wie sie Forschungsprobleme formulieren und diese untersuchen« (Trautner, 2006, S. 60; Hervorhebung im Original).

Zur Veranschaulichung einige Definitionen aus der Geschichte der Entwicklungspsychologie:

»Seelische Entwicklung ist nicht ein bloßes Hervortreten-Lassen angeborener Eigenschaften, aber auch nicht ein bloßes Empfangen äußerer Einwirkungen, sondern das Ergebnis einer Konvergenz innerer Angelegtheiten mit äußeren Entwicklungsbedingungen.« (Stern, 1914/1952, S. 26)

Diese relativ früh in der Geschichte der Entwicklungspsychologie formulierte Konvergenzannahme, die Entwicklung abhängig sieht sowohl von Umwelteinflüssen als auch von Anlagebedingungen, hat erstaunlicherweise – so würde man zumindest aus heutiger Perspektive sagen – nicht die zu erwartende breite Zustimmung gefunden. Es war vielmehr so, dass sich zwei Traditionen unterscheiden lassen, die Entwicklung entweder als abhängig von den Anlagen oder als abhängig von der Umwelt verstehen, wie die beiden nachfolgenden Definitionen zeigen. So versteht Remplein (1949) unter Entwicklung

»eine nach immanenten Gesetzen (Bauplan) sich vollziehende Differenzierung (Ausgliederung) einander unähnlicher Teile bei zunehmender Strukturierung und Zentralisierung.« (zitiert nach Thomae, 1959, S. 6)

Eine gegensätzliche Position vertritt Sherif:

»Die Verhaltens- und Persönlichkeitsentwicklung des Menschen ist allein eine Funktion der auf ihn einwirkenden sozio-kulturellen Reize.« (Sherif,1951; zitiert nach Ausubel & Sullivan, 1974, S. 55)

Man kann nun auch versuchen, aus diesem Dilemma so gegensätzlicher Definitionen dadurch herauszukommen, dass man auf Annahmen über die Ursachen der Entwicklung verzichtet, wie dies Thomae (1959, S. 10) getan hat:

Er versteht Entwicklung »als Reihe von miteinander zusammenhängenden Veränderungen, die bestimmten Orten des zeitlichen Kontinuums eines individuellen Lebenslaufes zuzuordnen sind.«

Mit der von Thomae vorgeschlagenen Definition menschlicher Entwicklung befindet man sich auf einer rein deskriptiven Ebene. Allerdings wirkt diese Definition ziemlich inhaltsleer und fordert geradezu den Versuch einer präzisierenden Beschreibung des Entwicklungsgeschehens heraus, wie dies mit dem sog. engen und weiten Entwicklungsbegriff versucht werden kann. Nach dem engen Entwicklungsbegriff ist die Entwicklung durch folgende Merkmale zu charakterisieren:

•  Universalität: Die im Entwicklungsgeschehen zu beobachtenden Veränderungen sind für alle Menschen relativ identisch. Individuelle Unterschiede gibt es allenfalls hinsichtlich der Geschwindigkeit, mit der diese Veränderungen ablaufen und hinsichtlich des schließlich erreichten Niveaus.

•  Sequentialität: Die Veränderungen laufen über abgrenzbare Phasen oder Stufen hinweg.

•  Irreversibilität: Die im Entwicklungsprozess erreichten Veränderungen sind nicht umkehrbar, werden also nicht mehr verändert und gehen auch nicht mehr verloren.

•  Unidirektionalität: Die Entwicklungsveränderungen gehen nur in eine Richtung, auf einen bestimmten Endzustand hin, der als qualitativ höherwertig im Vergleich zum Ausgangszustand verstanden wird.

•  Qualitativ-strukturelle Veränderungen: Die in der Entwicklung zu beobachtenden Veränderungen können kontinuierlich oder diskontinuierlich sein, d. h., einem allmählichen, schrittweisen Wandel unterworfen sein oder aus plötzlichen Entwicklungsfortschritten bestehen. Eine rein quantitative Beschreibung reicht also nicht aus.

Für diese Sichtweise gibt es eine Reihe von Belegen, wenn man insbesondere die frühkindliche Entwicklung betrachtet: So kann man zwei Grundrichtungen der fötalen und frühkindlichen Entwicklung unterscheiden, die bei allen Kindern gleich verlaufen: Cephalo-caudale Entwicklungsrichtung, d. h. die Organe und Funktionen der Kopfregion entwickeln sich zuerst, der Unterkörper und die Fußregion zuletzt. Proximo-distale Entwicklungsrichtung, d. h. Organe und Funktionen, die der Zentralachse des Körpers näher sind, entwickeln sich früher als die weiter entfernten (Bsp.: Bewegungen mit dem ganzen Arm vor Bewegungen mit der Hand). Auch bei genauerer Betrachtung der motorischen Entwicklung in den beiden ersten Lebensjahren kann man die Merkmale des engen Entwicklungsverständnisses sehr gut demonstrieren. Die Entwicklung ist auf ein Ziel hin (aufrechte Fortbewegung) ausgerichtet und durchläuft bei allen Säuglingen mehrere irreversible Stufen, die in Tabelle 1.2 dargestellt sind, wobei die Zahlenangaben nur ungefähre Richtwerte darstellen, die interindividuelle Unterschiede aufweisen können.

Tab. 1.2: Die Entwicklung der Haltung und Lokomotion (modifiziert nach Mussen, 1986, S. 33)

Motorisches VerhaltenAlter in Monaten

Auch am Anfang der Sprachentwicklung können wir universelle, d. h. bei allen Kindern in gleicher Weise feststellbare, irreversible Abläufe beobachten, wie die nachfolgende Tabelle 1.3 zeigt:

Tab. 1.3: Entwicklung der Sprache (Daten entnommen aus Atzesberger, 1978, S. 23 und Grimm & Wilde, 1998, S. 449)

Alter (ungefährer Beginn)Sprachverhalten und sprachbezogenes Verhalten

Anm.: Die Altersangaben sind wie folgt zu lesen: Jahre; Monate. Beispiel: Die Angabe 1;6 bedeutet 1 Jahr und 6 Monate.

Die aufgezeigte Abfolge der Sprachentwicklung ist unabhängig von der (Mutter-) Sprache, die zu erwerben ist (Universalitätder Entwicklung). Allerdings ist an den Zahlenangaben ein wesentliches Kennzeichen menschlicher Entwicklung abzulesen, nämlich die interindividuelle Unterschiedlichkeit in der Entwicklungsgeschwindigkeit. Immerhin können beim erstmaligen Auftreten einzelner Verhaltensweisen Zeitrahmen von mehreren Monaten beobachtet werden. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die Entwicklung der Sprache in eine Richtung geht (Unidirektionalität): von vorsprachlichen, für die Sprachentwicklung allerdings sehr wichtigen Verhaltensweisen über Einwortsätze, Mehrwortsätze hin zu grammatikalisch durchkonstruierten sprachlichen Äußerungen. Ehe die ersten Wörter produziert werden können, treten eine Reihe von Verhaltensweisen auf, die den Spracherwerb vorbereiten, unterstützen und fördern. Die auf das kindliche Lächeln gewöhnlich erfolgende soziale Zuwendung der Umgebung wird in der Regel begleitet von sprachlichen Äußerungen. Man redet erfreut und liebevoll auf das Kind ein und gibt damit sprachliche Anregungen, die eingebettet sind in den positiven sozialen Kontakt, der für die Sprachentwicklung so wichtig ist. Das Schaubedürfnis, also die visuelle Orientierung des Kindes hin zu Schallquellen, die zunächst nur akustisch wahrgenommen werden, ist für den Spracherwerb deshalb von Bedeutung, weil damit das Hervorbringen sprachlicher Äußerungen über einen weiteren Sinneskanal wahrgenommen werden kann. Am Beispiel der Sprachentwicklung kann auch die Sequentialität der Entwicklung verdeutlicht werden: Nach den ersten Lall-Lauten (Konsonant-Vokal-Verbindungen wie zum Beispiel mo, no, do), die um den 2. Lebensmonat herum auftreten, nimmt diese Art von lautlichen Äußerungen immer mehr zu, so dass ab dem 6. Lebensmonat intensive Lall-Monologe (Aneinanderreihungen von Lall-Lauten) zu beobachten sind. Gleichzeitig tritt dann auch das Phänomen der Echolalie auf: Das Kind bringt eher zufällig durch Lippen- und Zungenbewegungen einen neuen Laut hervor, nimmt dies überrascht wahr und versucht dann gezielt, die selbst produzierten Laute wieder nachzuahmen. In dieser Echolalie zeigt sich die zunehmend besser funktionierende Verbindung von Lautanalyse und gezielter Produktion von Lauten. Dabei kann man allerdings feststellen, dass zunächst die Sprachsensorik funktioniert, also sprachliche Gebilde korrekt analysiert werden können, ehe die Sprachmotorik gezielt gesteuert werden kann. Das Kind versteht früher Dressate (auf die Frage »Wie groß bist du?« hebt das Kind die Arme) oder auch andere sprachliche Aufforderungen, ehe es selbst im engeren Sinne sprechen kann. Die Irreversibilität der Entwicklung lässt sich bei der Sprachentwicklung ebenfalls klar aufzeigen. Wenn die ersten Worte gesprochen werden, die gewöhnlich die Funktion eines ganzen Satzes haben, wird es im weiteren Verlauf des Lebens kaum mehr zu einem Zurückkehren zur Phase des Lallens kommen (zumindest nicht dauerhaft); ein Kind, das im Alter von drei Jahren in ganzen Sätzen spricht, wird in der Regel nicht auf die Stufe der Einwortsätze zurücksinken (regredieren). Dies bedeutet allerdings nicht, dass es nicht doch zumindest temporär zum Zurücksinken auf eine frühere Stufe der Sprachentwicklung kommt, wenn ein Kind zum Beispiel nach der Geburt eines jüngeren Geschwisters wieder in die »Babysprache« zurückfällt, um sich auf diese Weise die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern und der Umgebung zu »erkämpfen«.

Mit dem engen Entwicklungsbegriff wird aber nur ein Teil der Entwicklungsrealität beschrieben, wie einfache Alltagsbeobachtungen zeigen: Bereits Kinder unterscheiden sich sehr stark in dem, was sie über ihre Umwelt wissen und was sie an ihrer Umwelt fasziniert. Während die einen die möglichst exakte Kenntnis von PS-Zahlen und Höchstgeschwindigkeiten von Autos für interessant und wichtig halten, finden andere niemals einen Zugang zu diesem Bereich der Technik und können ihrerseits nicht verstehen, wie jemand ohne tägliches Fußballspiel auskommen und glücklich leben kann, während wieder andere viel Zeit in das Erlernen eines Musikinstruments investieren. Noch deutlicher werden die Grenzen des engen Entwicklungsverständnisses, wenn man die Veränderungen im Erwachsenenalter betrachtet. Die sehr unterschiedlichen beruflichen und privaten Erfahrungen lassen höchst unterschiedliche Interessen und Freizeitaktivitäten entstehen oder haben Einfluss auf die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, die individuellen Wertvorstellungen und Zielsetzungen. Dieser Vielgestaltigkeit menschlicher Entwicklung wird der weite Entwicklungsbegriff gerecht, der durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist (vgl. Filipp & Doenges, 1983, S. 210):

•  Multidimensionalität: Es gibt nicht einen, für alle Merkmalsbereiche gleichen Entwicklungsverlauf, der durch die Abfolge »Wachstum – Konsolidierung – Stabilität – Abbau« beschrieben werden kann. Unterschiedliche Merkmale werden sich auch unterschiedlich verändern und dies auch zu unterschiedlichen Zeiten.

•  Multidirektionalität: Für die Entwicklungsveränderungen lassen sich keine universell gültigen Endpunkte oder Zielzustände festlegen. Entwicklung insbesondere im Erwachsenenalter kann verschiedene Richtungen nehmen und sich auch im interindividuellen Vergleich ganz unterschiedlich darstellen.

•  Multikausalität: Entwicklungsveränderungen haben gewöhnlich nicht nur eine Ursache, sondern in der Regel mehrere Ursachen.

1.3      Aufgaben der Entwicklungspsychologie im Überblick

»Gegenstand der Entwicklungspsychologie sind Veränderungen und Stabilitäten, die in der Regel auf der Zeitachse Lebensalter registriert werden (Montada, Lindenberger & Schneider, 2012, S. 41). Die zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Lebens beobachtbaren Merkmale menschlichen Erlebens und Verhaltens werden daraufhin untersucht, wie sie zustande gekommen sind und ob und wie sie sich im Verlauf des weiteren Lebens möglicherweise verändern werden.

1.3.1     Beschreibung der Veränderungen

Grundsätzlich interessiert sich die Entwicklungspsychologie sowohl für die charakteristischen Veränderungen, die Menschen im Verlauf ihres Lebens durchmachen (sog. intraindividuelle Veränderungen), als auch für die Unterschiede, die dabei zwischen den Individuen auftreten (sog. interindividuelle Unterschiede in den Veränderungen). Die Beschreibung dieser Veränderungen ist nun keineswegs so einfach, wie es zunächst den Anschein haben mag. Da es unmöglich ist, alle nur denkbaren Veränderungen im Verlauf menschlichen Lebens beschreiben zu wollen, stellen sich verschiedene Probleme:

•  Welche Veränderungen sollen bei einer Beschreibung überhaupt erfasst werden? Soll man die Veränderungen der intellektuellen Leistungsfähigkeit, des Gedächtnisses, der Hilfsbereitschaft, der Aggressivität erfassen oder welcher Merkmale sonst?

•  Wie können die ausgewählten Merkmale sinnvoll definiert werden? Was soll z. B. unter intellektueller Leistungsfähigkeit, Aggressivität, Hilfsbereitschaft verstanden werden? Welches Merkmal man auch betrachtet, man wird mit Sicherheit eine weitgehende definitorische Uneinigkeit feststellen, die zwar häufig beklagt, gleichzeitig aber auch kontinuierlich vergrößert wird, indem jeder, der etwas auf sich hält, seine eigene – selbstredend besonders treffende – Definition beisteuert. Dies kann in Wissenschaft und Praxis gleichermaßen festgestellt werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, bei der Beschäftigung mit Beschreibungen menschlicher Entwicklung immer erst zu klären, was denn überhaupt beschrieben werden soll.

•  Wie können die Veränderungen der ausgewählten Merkmale operationalisiert, d. h. beobachtbar und messbar gemacht werden? Welche Verfahren sollen z. B. zur Erfassung der intellektuellen Leistungsfähigkeit, der Aggressivität, der Hilfsbereitschaft usw. eingesetzt werden? Jede Beobachtung, in der Wissenschaft ebenso wie in der Praxis der Sozialen Arbeit, muss die Kriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität erfüllen. Unter Objektivität wird verstanden, dass die Beobachtungen unabhängig von der Person sein müssen, die eine Beobachtung durchführt und auswertet. Mit Reliabilität ist die Genauigkeit einer Beobachtung gemeint, d. h., dass der Ausprägungsgrad eines Merkmals auch exakt erfasst wird. Bei dem Kriterium der Validität geht es schließlich um die Frage, ob man tatsächlich das beobachtet, was man zu beobachten vorgibt. Da man psychische Merkmale gewöhnlich nicht direkt beobachten kann, sondern aus dem Verhalten erschließen muss, ist die Forderung, dass Validität gegeben sein muss, besonders schwer zu erfüllen. Es ist eben nicht selbstverständlich, dass z. B. ein Intelligenztest tatsächlich die intellektuelle Leistungsfähigkeit und nicht die Prüfungsängstlichkeit misst. Ohne hier weiter auf die Methoden der Entwicklungspsychologie einzugehen (siehe hierzu ausführlicher u. a. Schölmerich & Wessels, 1998; Petermann & Rudinger, 2002; Trautner, 2003), wird deutlich, dass die Beschreibung der Entwicklung eine keineswegs einfache Aufgabe darstellt.

•  Welche Lebensabschnitte sollen berücksichtigt werden? Sollen die ausgewählten, definierten und operationalisierten Merkmale über die gesamte Lebensspanne hinweg beobachtet und beschrieben werden, oder soll man sich auf einzelne Lebensabschnitte, z. B. Kindheit, beschränken?

•  Welche Entwicklungsbedingungen sollen miterfasst werden? Veränderungen des Erlebens und Verhaltens ereignen sich nicht im luftleeren Raum, sondern in ganz bestimmten Umwelten und unter jeweils gegebenen sonstigen Entwicklungsbedingungen, deren Merkmale auf jeden Fall auch zu erfassen sind, wenn die Beschreibung der Veränderungen des Erlebens und Verhaltens nicht zum Selbstzweck werden soll, sondern als Ausgangspunkt für Erklärungen dienen soll, warum bestimmte Veränderungen überhaupt auftreten.

Vor dem Hintergrund der eben geschilderten, schwierigen, aber auch nahezu unbegrenzten Beschreibungsmöglichkeiten wird es gut nachvollziehbar, dass in der Entwicklungspsychologie eine nicht mehr überschaubare Fülle von Einzeldaten produziert wurde und fortlaufend weiter produziert wird, die folgende Einschätzung zunächst als sehr zutreffend erscheinen lässt: »Dem Neuling muss der Bereich der Entwicklungspsychologie tatsächlich wie ein ›Babel‹ vorkommen – voller Aktivität, aber anscheinend ohne Richtung, Integration und klares Ziel« (Wohlwill, 1977, S. 18). Bei genauerer Betrachtung wird man allerdings bemerken, dass die Beschreibung menschlicher Entwicklung keineswegs voraussetzungslos und nur dem Zufall gehorchend erfolgt, sondern immer bestimmte Modellvorstellungen und theoretische Annahmen über die menschliche Entwicklung zur Grundlage hat. Da aber nun in der Entwicklungspsychologie sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Natur menschlicher Entwicklung vertreten werden, wie anhand der vergleichenden Darstellung wissenschaftlicher Definitionsversuche gezeigt werden konnte, muss das Bild, das die Entwicklungspsychologie bietet, zwangsläufig etwas verwirrend sein.

Die Klärung der Frage, wie denn nun menschliche Entwicklung zu beschreiben ist, spielt nicht nur eine Rolle im wissenschaftlichen Diskussionsprozess, sondern bestimmt auch den Alltag des Handelns in der Sozialen Arbeit. Soll beispielsweise die Lebensgeschichte eines Klienten erfasst und hinsichtlich ihrer Bedeutung für das aktuelle Verhalten eingeschätzt werden, wird man keineswegs alle lebensgeschichtlichen Einflüsse und Veränderungen registrieren und beschreiben können, sondern wird sich auf jene beschränken müssen, deren Zusammenhang mit dem aktuellen Verhalten theoretisch gut begründet ist und die einer Erfassung überhaupt zugänglich sind. Eine sinnvolle Beschreibung der Entwicklung sollte also nicht isoliert betrieben werden, sondern ist abzusichern durch theoretische Erkenntnisse und Überlegungen.

1.3.2     Erklärung der Veränderungen

Als zweite Hauptaufgabe hat die Entwicklungspsychologie der Frage nachzugehen, warum es zu Veränderungen im Verlauf des Lebens kommt, d. h. zu erklären, von welchen Bedingungen (z. B. genetische, familiale, schulische, kulturelle Einflüsse) und Mechanismen (z. B. Lernen, Reifung) die intraindividuellen Veränderungen und die dabei zu beobachtenden interindividuellen Unterschiede der Veränderungen abhängen.

Eine einfache Erklärung von Entwicklungsveränderungen kann im Nachweis regelhafter Wenn-Dann-Beziehungen zwischen Entwicklungsbedingungen und Verhaltensänderungen bestehen. Derartige Erklärungen erster Ordnung (vgl. Schermer, 2005 S. 31–33) liefern allerdings keine kausalen Erklärungen. Ein einfaches Beispiel soll dies veranschaulichen (Abb. 1.1).

Wie der Abbildung zu entnehmen ist, nimmt die Lernfreude in den ersten vier Schuljahren kontinuierlich ab. Warum es zu diesem für unser Bildungssystem wenig erfreulichen Ergebnis kommt, wissen wir damit allerdings noch nicht. Es sind ganz unterschiedliche Erklärungen denkbar: Die Lehrpläne werden den Interessen der Kinder nur wenig gerecht, so dass die anfängliche Schulbegeisterung schnell absinkt. Die Leistungsanforderungen nehmen in den genannten

Abb. 1.1: Entwicklung der Lernfreude in den Fächern Deutsch und Mathematik (nach Fend, 2000, S. 353)

Jahrgangsstufen so stark zu, dass die Wahrscheinlichkeit motivationsmindernder Misserfolgserlebnisse entsprechend ansteigt. Geschlechtsspezifische Unterschiede, die besonders deutlich im Fach Mathematik auftreten, könnten eventuell damit zu tun haben, dass Mädchen in diesem Fach besonders wenig gefördert werden, weil immer noch Vorurteile im Hinblick auf die Begabung von Mädchen für Mathematik bestehen. Dies waren nur einige denkbare Hypothesen zur Erklärung der gefundenen Zusammenhänge, die sicher noch zu überprüfen und auch zu ergänzen wären, wenn man daran denkt, dass die Leistungsbereitschaft in den weiteren Jahrgangsstufen noch weiter absinkt, wobei ein besonders deutlicher Einbruch in der 7. Jahrgangsstufe verzeichnet wird. Gleichzeitig nehmen die Disziplinprobleme in den Jahrgangsstufen 6–9 kontinuierlich zu (siehe ausführlicher hierzu Fend, 2000, S. 352–355). Wie dieses Beispiel der abnehmenden Lernfreude und Lernbereitschaft deutlich gemacht haben dürfte, ist der Nachweis von Wenn-Dann-Beziehungen durch die Untersuchung der Gründe für die gefundenen Zusammenhänge zu vertiefen, insbesondere dann, wenn man praktische Konsequenzen ableiten will.

Wenn wir nach kausalen Erklärungen, sog. Erklärungen zweiter Ordnung (vgl. Schermer, 2005, S. 33–36), für Entwicklungsveränderungen suchen, werden wir in der Regel keine einfache Beziehung in der Art finden, dass eine Bedingung ein bestimmtes Verhalten hervorruft. Gewöhnlich wird es so sein, dass zahlreiche miteinander zusammenhängende Faktoren ein bestimmtes Verhalten verursachen. Das Gemeinte soll an einem ganz einfachen Beispiel veranschaulicht werden. Wie nicht erst die aktuelle bildungspolitische Diskussion im Zusammenhang mit der PISA-Studie gezeigt hat, hängt der Schulerfolg eines Kindes oder Jugendlichen nicht von einem Faktor (z. B. Fleiß oder Intelligenz) ab, sondern von einem Geflecht unterschiedlicher Einflussfaktoren, die selbst wiederum miteinander zusammenhängen. Die Abbildung 1.2 enthält im Überblick die Variablengruppen, die nach vorliegenden empirischen Erkenntnissen auf den Schulerfolg Einfluss nehmen.

Abb. 1.2: Einflussfaktoren auf den Schulerfolg (zusammengestellt nach Heller, 1995, S. 984 f.)

Der Schulerfolg hängt sowohl von Merkmalen des Schülers als auch seiner Umwelt ab. Einige Beispiele für die genannten Variablengruppen:

Vorwissen und Vorkenntnisse: Schulische Anforderungen können insbesondere am Beginn der schulischen Laufbahn dann leichter bewältigt werden, wenn das Kind über Kenntnisse verfügt und auch auf Strategien des Wissenserwerbs zurück greifen kann, die auch in der Schule gefordert werden. Dies wiederum dürfte abhängig sein von der vorschulischen Förderung innerhalb und außerhalb der Familie.

•  Kognitive Merkmale: Intellektuelle Leistungsfähigkeit im sprachlichen und nichtsprachlichen Bereich, Informationsverarbeitungsfähigkeiten und Gedächtniskompetenzen und -strategien

•  Nichtkognitive Merkmale: Leistungsmotivation, leistungsfördernde Kausalattribuierung (die Ergebnisse des Handelns werden durch die eigene Person und nicht durch die Umwelt verursacht erlebt), Interessen, Schul- und Prüfungsangst, Selbstkonzept)

•  Einflüsse der Familie: Erziehungsziele und -praktiken, die auch mit den schulischen Zielen in Einklang stehen, Unterstützung und Hilfestellungen durch die Familie bei schulischen Anforderungen

•  Schulische Einflüsse: Hier könnten Schulklima, Lehrerverhalten, Lehrpläne und Schulorganisation genannt werden. Dabei werden curriculare Anforderungen (Köller & Baumert, 2002) eine zentrale Rolle spielen.

•  Peergroup-Einflüsse: Die Peergroup (Gruppe der Gleichaltrigen) mit negativen oder positiven Einstellungen zur Schule) gewinnt mit zunehmendem Alter immer mehr an Bedeutung.

An diesem Beispiel dürfte bereits deutlich geworden sein, dass einfache Erklärungen für die in der Entwicklung zu beobachtenden Veränderungen nicht zu erwarten sind. So ist auch in absehbarer Zeit nicht auf die Theorie der menschlichen Entwicklung zu hoffen, sondern man wird sich in der Entwicklungspsychologie weiterhin mit einer bunten Mischung von Modellvorstellungen, Theoriefragmenten und umfassenden Entwürfen zufrieden geben müssen, die man nicht einfach nach völlig richtig oder völlig falsch sortieren kann. Selbst wenn man aus wissenschaftstheoretischer Sicht erhebliche Bedenken gegen einen bestimmten Theorieansatz (z. B. die Psychoanalyse und ihr Entwicklungsmodell) haben mag, wird man auf eine Darstellung nicht verzichten können, weil in der Praxis der Sozialen Arbeit häufig damit gearbeitet wird. In der vorliegenden Einführung werden deshalb unterschiedliche Entwicklungsmodelle ebenso vorgestellt, wie auch der Versuch unternommen wird, die verschiedenen Denkrichtungen in der Entwicklungspsychologie zu diskutieren und die wesentlichen Einflussfaktoren auf die Entwicklung zumindest im Überblick darzustellen.

1.3.3     Vorhersage der Veränderungen

Die entwicklungspsychologische Beschreibung und Erklärung von Entwicklungsveränderungen kann helfen zu verstehen, warum sich Menschen zu bestimmten Zeitpunkten ihres Lebens in bestimmter Weise verhalten, weil mit einer entwicklungspsychologischen Perspektive nicht nur die aktuelle Situation, sondern auch die Vergangenheit ins Blickfeld genommen wird. So ist zum Beispiel das Verhalten jugendlicher Gewalttäter eben nicht nur aus ihrer aktuellen Situation heraus zu analysieren (z. B. fehlende berufliche Perspektiven, Eingebundensein in eine antisoziale Peergroup), sondern auch auf dem Hintergrund ihrer bisherigen Lebensgeschichte. In der Praxis wird man sich damit aber nicht zufrieden geben können. Es wird auch die Frage interessieren, ob sich hier eine möglicherweise lebenslang persistente Antisozialität zeigt (siehe Moffitt, 1993) oder ob das auffällige Verhalten auf die Adoleszenz beschränkt ist. So wie hier geht es in vielen Bereichen der Praxis um die Vorhersage künftiger Entwicklungen. In der Sozialen Arbeit ist die Beschäftigung mit Entwicklungsprognosen deshalb so bedeutsam, weil das berufliche Handeln häufig gerade damit begründet wird, dass man künftige Entwicklungen beeinflussen muss, sei es, dass man künftige negative Entwicklungen verhindern oder positive Entwicklungen auch erst ermöglichen will (siehe hierzu ausführlich Kapitel 9).

Bei Entwicklungsprognosen geht es im Prinzip darum, zu einem Zeitpunkt (t) möglichst exakt vorherzusagen, welche Merkmalsausprägungen und Verhaltensweisen Individuen zu einem Zeitpunkt (t + x) aufweisen werden. Entwicklungsprognosen können auf zwei Grundlagen beruhen:

•  Theoretisch fundiertes und empirisch gesichertes Wissen über den Zusammenhang zwischen Entwicklungsbedingungen und bestimmten Erlebens- und Verhaltensweisen. Auch bei Kenntnis der Bedingungen, die bestimmte Merkmale beeinflussen, verbleiben mehrere Unsicherheitsfaktoren für Entwicklungsprognosen: Man wird nie alle Entwicklungseinflüsse identifizieren können. Zudem bleibt offen, ob die Entwicklungseinflüsse im Prognosezeitraum in ihrer Gesamtheit wirksam sein werden. Außerdem lässt sich nicht mit Sicherheit vorhersagen, welchen Einflussfaktoren sich Individuen selbst aussetzen oder welche sie meiden werden.

•  Theoretisch fundiertes und empirisch gesichertes Wissen über den Zusammenhang zwischen aktuellen, zum Prognosezeitpunkt feststellbaren Merkmalen und künftigen Merkmalen. Die Sicherheit einer Prognose hängt hierbei u. a. wesentlich von der Komplexität des Merkmals und der Differenziertheit der Merkmalserfassung ab. Wenn man lediglich erfasst, ob ein Merkmal vorhanden ist oder nicht, lässt sich die Stabilität eines Merkmals empirisch leicht überprüfen und entsprechend prognostizieren (z. B. wer im Alter von sechs Jahren sprachlich kommunizieren kann, wird dazu auch nach Jahrzehnten noch in der Lage sein, es sei denn Erkrankungen oder Unfälle verhindern dies). Eine Prognose wird dann schwieriger und die Irrtumswahrscheinlichkeit nimmt zu, wenn die Merkmalserfassung komplexer wird (z. B. wird nicht nur erfasst, ob jemand sprachlich kommunizieren kann, sondern auch wie jemand sprachlich kommuniziert, etwa hinsichtlich Wortschatz, Satzbau etc.)

Diese wenigen Hinweise zur dritten Aufgabe der Entwicklungspsychologie und den damit verbundenen Problemen sollen zunächst genügen, weil wir uns mit diesem für die Praxis der Sozialen Arbeit so wichtigen Teilgebiet der Entwicklungspsychologie noch wiederholt beschäftigen werden.

1.3.4     Einflussnahme auf die Veränderungen

Aus der Perspektive der Praxis Sozialer Arbeit wird man sich gerade auch für jene Beiträge der Entwicklungspsychologie interessieren, die Hinweise, Anregungen und Begründungen liefern für eine möglichst optimale Gestaltung von Entwicklungsbedingungen, die Vermeidung von Fehlentwicklungen (Prävention) und gegebenenfalls die Korrektur von Fehlentwicklungen. Bis vor wenigen Jahren musste man allerdings in Lehrbüchern der Entwicklungspsychologie (Keller, 1998; Mietzel, 1989, 1992; Oerter & Montada, 1995; Trautner, 1991, 1992; Wendt, 1997) eine Schwerpunktsetzung feststellen, die gerichtet war auf eine große Fülle von Daten zur Beschreibung der Entwicklung sowie auf umfangreiche theoretische Überlegungen und Diskussionen, während der Prognose der Entwicklung schon deutlich weniger Raum gewidmet wurde. Die vierte Aufgabe der Entwicklungspsychologie, die Diskussion der Möglichkeiten zur Beeinflussung der Entwicklung, führte dabei mitunter eher ein Schattendasein. Nun mag auch hier gelten, dass es allemal einfacher ist, die Welt zu beschreiben und gegebenenfalls zu erklären als zu verändern. Ob nun schwierig oder nicht, die Soziale Arbeit wird sich gerade auch mit der zuletzt genannten Aufgabe beschäftigen müssen. Mit einer sich allmählich entwickelnden angewandten Entwicklungspsychologie, die sich nicht beschränkt auf die Beschreibung und Erklärung von Entwicklung, sondern sich vielmehr auch der »Erschließung von menschlichen Ressourcen, der Förderung entwicklungsbezogener Prozesse und der Prävention von entwicklungsbedingten Beeinträchtigungen [widmet]« (Petermann & Schneider, 2008, S. 2), ergeben sich für unterschiedlichste Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit vielfältige entwicklungspsychologisch fundierte und praktisch umsetzbare Beiträge. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige Arbeitsfelder genannt:

•  Frühförderung/Frühdiagnostik: Rollett (2002), Petermann & Macha (2008), Sarimski (2008), Zmyi & Schölmerich (2012)

•  Vorschulische Förderung: Hasselhorn & Schneider (2012), Schmidt-Denter (2002), Strehmel (2008)

•  Entwicklungsberatung: Gräser (2007), Ziegenhain (2008)

•  Jugendarbeit: Bliesener (2008), Pinquart & Silbereisen (2008)

•  Familien- und Eheberatung: Bodenmann (2008), Felser (2007), Kracke & Noack (2008), Pinquart & Silbereisen (2007), Walper & Bröning (2008)

•  Arbeit mit alten Menschen: Kruse (2002), Lang & Rohr (2012), Staudinger & Schindler (2002), Kruse (2007), Staudinger (2008)

Die erwähnten Beiträge der angewandten Entwicklungspsychologie können natürlich nicht unmittelbar in praktisches Handeln umgesetzt werden, sondern sind im Sinne der unabdingbaren Interdisziplinarität der Sozialen Arbeit, abzugleichen, zu ergänzen und zu erweitern durch soziologische, rechtliche, medizinische und pädagogische Überlegungen (siehe hierzu Petermann & Schneider, 2008, S. 13).

 

 

2          Entwicklungspsychologie und die Praxis Sozialer Arbeit

 

 

 

2.1       Gesetzliche Grundlagen der Sozialen Arbeit und Entwicklungspsychologie

Die Wichtigkeit fundierter Kenntnisse über die menschliche Entwicklung für die Praxis Sozialer Arbeit soll exemplarisch aufgezeigt werden anhand einiger Regelungen des KJHG (SGB VIII), wobei die einschlägigen rechtlichen Bestimmungen ohne Anspruch auf Vollständigkeit und nur insoweit dargestellt werden, als ein expliziter Bezug zum Thema »menschliche Entwicklung« deutlich wird. Wesentliche Aufgaben der Jugendhilfe und damit der Sozialen Arbeit sind in §1 KJHG beschrieben:

§ 1

Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe

(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die Gemeinschaft.

(3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung dieses Rechts insbesondere

1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden und abzubauen,

2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,

3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,

4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.

Wenn jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung hat, wird klar, dass die Soziale Arbeit keine »Feuerwehr« sein soll, die nur bei Problemen und Schwierigkeiten von Jugendlichen und ihren Familien aktiv wird, sondern Jugendhilfe muss die gesamte junge Generation einschließlich der Familien im Blick haben. Damit ergeben sich vielfältige Anforderungen an die Soziale Arbeit, die entwicklungspsychologische Kenntnisse nicht nur wünschenswert sondern dringend erforderlich machen.

Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fördern

Nur wenn man über den Ablauf der Entwicklung und die einflussnehmenden Faktoren Bescheid weiß, wird man sinnvoll entscheiden können, ob, wann und auf welche Weise versucht werden soll, auf die Entwicklung fördernd einzuwirken. Entwicklungspsychologisches Wissen kann aber auch dazu beitragen, die Grenzen der Beeinflussbarkeit menschlicher Entwicklung zu erkennen.

Benachteiligungen vermeiden und abbauen

Die Kenntnis »normaler« Entwicklungsverläufe und -bedingungen kann sensibilisieren für Auffälligkeiten und Störungen der Entwicklung oder auch für vorhandene entwicklungshemmende Umweltbedingungen und kann ein frühzeitiges, präventives Eingreifen zumindest ermöglichen. Ob erforderliche Maßnahmen auch tatsächlich umgesetzt werden, hängt von vielfältigen Faktoren ab, wie zum Beispiel finanziellen und personellen Ressourcen oder auch der Einsicht in die Notwendigkeit bei allen Beteiligten. So wird es wohl häufiger Realität sein, dass erst dann reagiert wird, wenn Auffälligkeiten in der Entwicklung nicht mehr zu übersehen sind.

Partizipation von Kindern und Jugendlichen ermöglichen

Im KJHG wird die Bedeutung der Partizipation von Kindern und Jugendlichen deutlich herausgehoben. So wird in § 8 des KJHG gefordert, dass Kinder und Jugendliche entsprechend ihrem Entwicklungstand an allen Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen sind. Aus entwicklungspsychologischer Sicht wird hier eine doppelte und keineswegs einfach zu erfüllende Anforderung gestellt: Zum einen die Feststellung oder auch Diagnose des individuellen Entwicklungsstandes und zum anderen die Ausrichtung des Vorgehens an eben diesem diagnostizierten Entwicklungsstand. Auch im Hinblick auf die Jugendarbeit wird die Bedeutung der Partizipation herausgestellt, indem gefordert wird, dass die Angebote der Jugendarbeit an den Interessen junger Menschen anknüpfen sollen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden sollen (§ 11 KJHG).

Altersgemäße Förderung anbieten

Damit die Angebote der Jugendhilfe die jeweilige Zielgruppe überhaupt erreichen können, müssen sie auf den Entwicklungsstand der Zielgruppe abgestimmt und altersgemäß sein. Ohne eine fundierte Kenntnis des Entwicklungsverlaufs wird dies auch nicht annähernd zu leisten sein.

Breitgefächerte Information und Beratung anbieten

Wenn Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützt werden sollen, wird man dabei auch auf entwicklungspsychologische Erkenntnisse zurückgreifen müssen, um die subjektiven Erfahrungen und Sichtweisen der Eltern zu erweitern und zu ergänzen und ihre Erziehungskompetenz weiterzuentwickeln. Das geforderte Informations- und Beratungsangebot der Jugendhilfe ist aber noch umfassender zu sehen, da ja auch Kinder und Jugendliche das Recht haben, sich in allen Angelegenheiten der Entwicklung und Erziehung an das Jugendamt zu wenden (§ 8 KJHG).

Verweise auf das Thema »menschliche Entwicklung« und die Bedeutung entwicklungspsychologischer Kenntnisse könnte man noch in weiteren Regelungen des KJHG finden. Die bisherigen Ausführungen dürften aber deutlich gemacht haben, dass die Jugendhilfe in vielfacher Weise mit entwicklungspsychologischen Fragestellungen konfrontiert ist. Man könnte diesen Nachweis auch für andere Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit führen, ob es sich nun um die Jugendgerichtshilfe, die Arbeit mit Menschen mit Behinderung, die Erwachsenenbildung oder die Arbeit mit alten Menschen handelt.

2.2       Mögliche Praxisbeiträge der Entwicklungspsychologie