Enzyklopädie der russischen Seele - Jerofejew Viktor - E-Book

Enzyklopädie der russischen Seele E-Book

Jerofejew Viktor

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Beschreibung

Mit welcher Seite hält es Russland – mit dem Westen oder mit dem Osten? Was sind die Besonderheiten der russischen Mentalität, der russischen Werte und des russischen Lebensstils? Kurzum: Was ist die russische Seele? Mit einer kühnen Mischung aus Roman, Krimi und Enzyklopädie verbindet Jerofejew in seinem wohl umstrittensten Buch so spannungsreich wie philosophisch und so ironisch wie humorvoll Bestandsaufnahme mit Fantasie. Russland soll endlich wieder zur Supermacht werden. Doch dazu müssen Geheimdienstler und Militärs erst den mythischen »Grauen« finden. In ihre Suche schaltet sich ein russischer Intellektueller ein, der sich schließlich gemeinsam mit dem »Grauen« in verschiedenste Abenteuer und Liebschaften stürzt. Doch die wilde Achterbahnfahrt durch Russland, auf der sie bis zur Besinnungslosigkeit feiern und sich betrinken, endet jäh im phantasmagorischen Tod des »Grauen«. Der Held verzweifelt an der Unmöglichkeit, in Russland ein normales Leben zu führen. Alles empört ihn: das Volk, der Kreml, die Kommunisten, die Oligarchen und Amerika sowieso. Mal lacht er über die russische Welt, mal verfällt er darüber in Depressionen, während der Traum einer neuen Metaphysik für die gesamte Menschheit ihn nicht loslässt.

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VIKTOR JEROFEJEW

Enzyklopädie der russischen Seele

Aus dem Russischen übersetztvon Beate Rausch

Inhalt

Ich liebe dir

Versuche

Fünfsterneleichenhalle

Der Graue gut in Form

VIKTOR JEROFEJEW

Mein skandalösestes Buch

Aber das ist der Blick von außen. Ich bin längst zu dem Schluss gelangt, dass nicht Autoren Skandale auslösen, sondern eine Gesellschaft, die nicht bereit ist, ein Buch anzunehmen. Doch mit der Zeit verändert sich die Gesellschaft, und plötzlich werden Flauberts Madame Bovary oder Nabokovs Lolita zur literarischen Norm.

Nichtsdestoweniger liegt hier ein ungewöhnlicher Roman vor Ihnen. Es ist ein gnadenloses Buch. Für mich ein Wendepunkt. Bevor ich mit dem Schreiben begann, glaubte ich aufrichtig an die Möglichkeit einer multikulturellen Zivilisation, einer universellen Idee der Menschlichkeit. Ich träumte von einer multikulturellen Welt und negierte die religiös geprägte ideelle Dominanz einer nationalen Mentalität. Auch jetzt noch möchte ich zu dem romantischen Projekt zurückkehren, in dem gemeinsame Werte triumphieren, doch die Welt ist dafür nicht bereit, und ob sie überhaupt je dazu fähig sein wird, weiß ich nicht.

Dieses Buch hat seinen Autor zerrissen. Daher ist es auch in formaler Hinsicht ungewöhnlich: fragmentarisch, mosaikhaft, »zerrissen«, streckenweise scheinbar formlos. Doch es ist eine trügerische Formlosigkeit. In Wahrheit reflektiert die Form des Buches den Aufstand des Autors gegen seine Illusionen.

Es ist eine lyrische Erzählung über Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion, aber das ist nicht alles. Der Held meines Romans erkennt, dass der Untergang des kommunistischen Totalitarismus den Menschen nicht von der Unvollkommenheit seiner Natur befreit. Der Staat geht unter mit der Illusion, alles sei seine Schuld und wir seien seine Opfer. Dabei haben die Opfer ja selbst diesen Staat geschaffen, und nun, da er zerfallen ist, müssen wir die Verantwortung für unser Leben übernehmen. Doch wir erweisen uns als unfähig dazu. Schließlich haben wir seit jeher keinerlei Erfahrung damit, und außerdem setzen sich allzu oft die schlechten Eigenschaften durch.

Mein Held ist ein aufrechter Mensch. Er will nicht in dieser Welt leben. Nein, er hängt sich nicht auf und vergiftet sich nicht. Er, der Ich-Erzähler, beschreibt einfach diese Welt, ohne zu beschönigen. In sein Blickfeld, ins Epizentrum seiner ätzenden, bisweilen giftigen Analyse geraten verschiedene Zivilisationen, vor allem aber Russland.

Er zeigt, dass die größte Bedrohung für Russland die Macht des Grauen ist. Dem Grauen – dieser für mich wichtigen Figur des Buchs – wohnt eine besondere, mächtige und irgendwie sogar heilige historische Verderbnis inne, die gerade das Geheimnis Russlands ausmacht. Manche haben in dem Grauen die Züge der aufziehenden Herrschaft Putins entdeckt. Ich weiß nicht, das müssen Sie selbst entscheiden. Ich bin nur der Autor dieses Buchs und nicht dessen allmächtiger Kommentator.

Der Ich-Erzähler hasst die Bedrohung durch einen neuen, skrupellosen, höhnisch lachenden russischen Imperialismus. Er glaubt: Ist die Sowjetunion am Ende, reihen wir uns ein in die europäische Völkerfamilie, denn unsere große Kultur hat zweifellos europäische Wurzeln und Züge. Unsere Nachbarn, die einst zu Russland gehörten, Finnen, Polen, Balten – sie alle haben sich doch eingereiht, wenn auch jeder auf seine Weise. Und auch wir werden das tun. Doch das Gegenteil ist geschehen. Uns hängt, wie sich herausstellt, ein historischer Stein am Hals. Er zieht uns in den Abgrund. Wir sind gegen Multikulturalität, wenden uns ab von Europa, verdammen seine Werte. Mein Held erkennt das schon vor Beginn der Regentschaft Putins, Ende der 1990er-Jahre, noch unter Jelzin.

Dieses Buch hat in Russland wütenden Hass hervorgerufen, und das tut es bis heute. Wegen dieses Buchs stand ich zweimal mit einem Bein im Gefängnis. Das erste Mal war es ein Verein, der sich als Kämpfer gegen illegale Einwanderung verstand und Klage gegen mich einreichte. Natürlich waren das Ultranationalisten. Ich wurde von der Staatsanwaltschaft eines Stadtbezirks von Moskau vorgeladen, um meine Aussage zu machen. Der hagere junge Staatsanwalt erklärte mir, er erhalte wegen meines russophoben Buchs täglich neue Anzeigen von verschiedenen Organisationen. In den sozialen Netzwerken brodelte es: In den Knast mit dem Russenhasser! Während der Staatsanwalt mit mir sprach, blätterte er in meinem Buch und verharrte bei dem kurzen Kapitel »Gericht«. Es besteht aus nur einem Satz: »Das russische Gericht ist schrecklicher als das Jüngste Gericht.«

»Wissen Sie, Sie haben Recht«, sagte er nachdenklich.

Natürlich stellte er das strafrechtliche Verfahren gegen mich ein. Die oberen Instanzen, wohl einschließlich des Kremls, fanden, weitere Ermittlungen wären eine allzu große Reklame für das Buch.

Doch kaum hatten mich die Nationalisten in Ruhe gelassen, befasste sich mit mir, Sie glauben nicht wer: meine Alma Mater. Genauer gesagt, die Philologische Fakultät der Staatlichen Universität Moskau. Ich habe seinerzeit mein Studium an dieser Fakultät absolviert und sie in guter Erinnerung. Ich beschäftigte mich dort mit Chlebnikow und Dostojewski. Tauchte ab in die Unibibliothek, wo ich Berdjajew, Schestow, Samjatin, Pilnjak las – damals noch verbotene Autoren.

Und plötzlich, nach so vielen Jahren, schreiben 19 Professoren dieser Fakultät einen Brief, in dem sie fordern, mein Buch zu verbieten, aus den Buchläden zu verbannen und den Autor zu einer saftigen Strafe zu verurteilen. An erster Stelle steht die Dekanin der Philologischen Fakultät, eine Frau mit dem sprechenden Namen Remnjowa – Riemen, Peitsche.

Doch diesen traurigen Sadismus gegen meine Person boykottierte einer der Philologieprofessoren, der erklärte, er habe den kollektiven Beschwerdebrief nicht unterschrieben. Die Folge war ein interner Skandal. Die Sache verlief im Sand. Die Remnjowa bewarf mich weiter mit Dreck. Doch ich, fasziniert vom Gebaren meiner Alma Mater, durfte schon erleichtert aufatmen.

Glauben Sie den Moskauer Professoren nicht! Sie werden nichts Russophobisches in diesem Roman finden. Da gibt es Verzweiflung des Helden über die Schwächen unserer russischen Mentalität, darüber, dass unser Volk mit Demokratie nichts anzufangen weiß. Aber ich meine, der ganze Roman ist durchdrungen von Liebe zu meinem Land. Und auch der Humor darin ist eine wichtige positive Figur (wie in Gogols Die Toten Seelen).

Doch der Roman bleibt nicht bei den Problemen in Russland stehen. Diverse fantastische Visionen führen den Helden nach Amerika und Europa. Er hat ausländische Geliebte. Die eine ist die Französin Cécile. Die andere ist Amerikanerin, die er »Große Häsin« nennt. Aber die größte Liebe ist eine schrille, exzentrische junge Russin mit ihrer ganz eigenen Sexualität und ihrer Vorstellung von Politik, Schönheit und der Ordnung der Dinge.

Mein Russland – das ist das Russland, das selbst in der schwersten Stunde fähig ist, von sich zu erzählen, von seinem Verfall, seinem Niedergang und seinen teils unerfüllbaren Träumen, von seiner Wiedergeburt. In diesem Buch steht der Autor an der Schwelle des Putin-Regimes. Es hat noch nicht begonnen, aber seine Züge sind schon erkennbar. Das Scheitern einer multikulturellen Welt wird von verschiedenen Seiten beleuchtet. Ich habe mich von den romantischen Illusionen losgesagt, aber ich gebe gerne zu, dass sich für mich die europäischen Werte (die in Europa den strammen Linken oder Rechten als Falle oder leeres Geschwätz erscheinen mögen) aus der Entfernung, von Moskau aus gesehen, als die Grundlage eines freien Lebens darstellen. Russland ist heute weit von ihnen entfernt, steht ideologisch Europa feindlich gegenüber (in diesem Buch mache ich keinen Hehl daraus), doch sollte es überhaupt eine Zukunft für Russland geben, dann hat sie europäischen Inhalt.

November 2020

ENZYKLOPÄDIE DER RUSSISCHEN SEELE

Ich liebe dir

Blech

Die Bodyguards schielten zum Fernseher hinüber. Ich trank in Gesellschaft von Leuten, die sich in der kriminellen Szene der Stadt gut auskannten. Ungeachtet meiner intelligenten Erscheinung bin ich imstande, die stärksten Typen unter den Tisch zu saufen; drei oder vier Flaschen Wodka am Abend zeigen bei mir keine besondere Wirkung, höchstens dass mir am nächsten Morgen die Haut am Bauch ein bisschen juckt. Diese Besonderheit hat mir mehr als einmal aus der Bredouille geholfen, manchmal aber zu unvorhersehbaren Folgen geführt, wie es letztlich auch in jener Nacht passierte.

Vom Mann an der Macht geht ein überirdisches Strahlen aus. In seinem gebieterischen Antlitz lodert anhaltende Ekstase. Im Saal wimmelt es von Obrigkeit. Betrunkene Geheimdienstler und Militärs, Vizepremiers, Führer und Unterdrücker der Demokratie, Staatsmänner, wichtige Pappnasen, Revanchisten und weitere Kremlschranzen ließen es krachen.

»Mein Blech ist besser als deins!«, waren Stimmen zu hören.

Jeder träumte von Blech.

»Dein Blech ist ja gar kein echtes Blech.«

»Ich hab vier Stück im Monat gekriegt.«

»Wann soll das denn gewesen sein!«

»Und ich habe eins aus Platin«, sagte einer.

Alle verstummten. Und ich fragte:

»Was für ein Blech meinen Sie denn?«

Sie kugelten sich vor Lachen.

»Und du, du hast wohl überhaupt kein Blech?«

»Nee, hab ich nicht!«, sagte ich wütend.

Gegen Morgen wollten sie plötzlich alle zusammen in den Kosmos fliegen. »Fliegt nur, ihr Täubchen«, dachte ich. Sie boten mir an mitzufliegen, als Chronist, und es gab auch noch andere, nicht weniger ehrenvolle Angebote. Es endete damit, dass einer von ihnen – anscheinend der hellste Kopf, der sogar eine Ahnung von Literatur hatte – mit mir ein Gespräch über die verborgene Seite des Lebens in unserem Land anfing.

»Ich hab dich gelesen, und du gefällst mir nicht«, begann er mit der kurz vor Tagesanbruch üblichen Offenheit, die Krawatte verrutscht über dem weißen Regierungshemd. »Aber lass dir gesagt sein: Das ist hier ein verhextes Land.«

Ich grunzte zustimmend.

»Bermuda-Dreieck nichts dagegen. Das hier, das ist viel irrer. Reformen? Bei uns? Vergiss es!«, versicherte mir der führende Reformer.

Ich glaubte ihm schweigend aufs Wort.

»Es gab da die Überlegung, eine verbindende Idee zu suchen. Gefunden haben wir nur, was uns trennt.« Er blickte sich nach allen Seiten um. »Der Alte stört.«

»Finden Sie was Besseres«, sagte ich.

»Das meine ich nicht«, sagte der Reformer, zog den Kopf ein und schickte sich sogar an, unverstanden zu verschwinden, rief aber stattdessen:

»Pal Palytsch!«

Ein gewisser Pal Palytsch tauchte auf, betrunken. Dem Äußeren nach ein Silowik – Militär oder Geheimdienst. Vor lauter bitteren Gedanken hängender Unterkiefer. In Zivil.

»Klär ihn auf über den Alten. Er glaubt’s nicht.«

Der Silowik blickte ängstlich Richtung Obrigkeit.

»Na, red schon, wo du schon mal angefangen hast«, sagte der Reformer nachdrücklich.

»Wir nennen es das wandelnde schwarze Loch«, zierte sich der Silowik. »Oder auch Trichter. Kurz gesagt, ein Eumel.«

»Das Gesetz des Verschwindens von Energie«, erklärte der Reformer.

Gespräche über alle möglichen bösen Kräfte sind mir immer willkommen, nur nicht mit betrunkenen Machthabern.

»Metaphern«, sagte ich.

»Triff dich mit ihm«, schlug der Reformer vor.

»Mit wem?«

»Mit dem Alten. Pal Palytsch organisiert das.«

»Er wird ihn aufsaugen«, sagte Pal Palytsch säuerlich und zeigte seine schlechten Zähne, zwischen denen Gold aufblitzte. »Schlimmer als ein Ufo.«

»Ich arbeite nicht für die Regierung«, warnte ich versöhnlich.

»Das ist eine persönliche Bitte«, unterstrich der Reformer.

Das Gespenstdes russischen Schweins

Es kommt vor, dass man auf dem Balkon sitzt, Tee trinkt, mit Freunden plaudert, ruhig und guter Laune, nichts kündigt ein Unheil an, da wird einem plötzlich schwarz vor Augen, die Natur verdüstert sich, widrige Wirbelstürme erheben sich, man hört Getrampel, eine Sekunde später ist alles hinweggefegt, im nächsten Augenblick alles voller Blut. Es gibt für dich keinen Tee, keine Tagträume, keine Freunde mehr. Nach Tee steht man in kilometerlangen Schlangen an, der Balkon ist heruntergekracht, deine Freunde haben vom Horror des Lebens nur noch die Hosen voll.

Und man denkt inmitten all dieser Herrlichkeit:

»Danke, lieber Gott, für die Wissenschaft, danke für die Prüfungen.«

Feind des Volkes

Gegen Morgen erwachte ich wie vom Donner gerührt mit dem deutlichen Gefühl: Ich bin ein Feind des Volkes. Die Deckenlampe schaukelte verdächtig hin und her. Ich dachte: Ich habe wohl doch einen über den Durst getrunken. Vor lauter Aufregung angesichts der Begegnung mit der Staatsmacht. Wir tun alle nur so, als ob die Staatsmacht uns kalt ließe. Beunruhigt sprang ich aus dem Bett, lief zum Spiegelschrank und schlug mir auf beide Wangen meines verschlafenen Gesichts. Aus dem Spiegel blickte mich mürrisch die ungewaschene Visage eines Volksfeindes an.

»So, genug ist genug!«, beschloss ich. »Alles im Arsch oder alles auf Anfang! Entweder oder.«

Um ehrlich zu sein, habe ich auch früher schon mit dem Volk nichts am Hut gehabt, ich habe nie eine Träne verdrückt ob meiner Zugehörigkeit. Ich kenne Momente, in denen ich am Volk misstrauisch geschnüffelt habe, in denen ich sogar Übelkeitsattacken hatte. Aber ich bin damit fertig geworden und habe weiter gelebt wie alle, in der dumpfen Hoffnung auf irgendetwas.

Nun stellte sich alles anders dar. Ich legte mich wieder hin, schlief deprimiert ein, schlief lange, traumlos, erwachte mittags: Und immer noch war ich ein Volksfeind. Aber nicht im Sinne unserer Vorväter, als wäre ich ein Konterrevolutionär. Oder als ob man mich verleumdet hätte. Ich habe nie an die Unschuld der Opfer geglaubt: Der Mensch ist immer mit irgendetwas unzufrieden, und das kommt ans Licht. Aber ich spürte durch und durch, dass niemand anderer als ich selbst mich zum Volksfeind erklärt hatte; so etwas ist irreversibel.

Was für ein Zustand das ist? Ich möchte mir nicht zumuten, ihn in allen Einzelheiten zu beschreiben. Er war eben erst in mich eingedrungen und begann mich zu erfüllen. Er ist nicht durch flammenden Hass gekennzeichnet, bei dem man schreien will und alles zum Teufel wünscht. Wut ist eine banale Gefühlsäußerung. Dagegen ist die Todesstrafe eine love story. Hier aber war es wie nach einem Sturm. Der Herbstwind bewegte sanft die Vorhänge. Mit der eintretenden Abkühlung der Empfindungen wuchs die Verachtung. Ein ruhiges, kein brennendes Gefühl.

Ich hatte Lust, es mit Sport und Gleichgültigkeit zu unterdrücken. Ich stieg ins Auto, um auf den Sperlingsbergen meine üblichen vierzig Minuten zu joggen. Ich trabte dahin und dachte: Finde dich ab. Finde dich ab: da, Dolden von Vogelbeeren. Der Fluss, ein Lastkahn, die Tribünen, der Glockenturm – finde dich ab. Nicht mehr ganz junge Offiziere, die einen ihrer routinemäßigen Ausdauertests ablegten, hüllten mich in ihren Schweißgeruch ein – halt dir die Nase zu und finde dich ab. Kurz vor ihrer Zielgeraden kam der Oberaufpasser auf mich zugeschossen und brüllte:

»Schon wieder Letzter!«

»Schlimmer als das!«, sagte ich zu dem Oberst und warf das Handtuch.

Ich bin ein Volksfeind. Kein schönes Gefühl und kein Grund, stolz zu sein. Zum Gefühl der Verachtung gehört weniger Hochmut als vielmehr Hoffnungslosigkeit. Nach einigem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass ich nicht einmal einen konkreten Anlass hatte. Gestern, auch in der vorigen Woche, hatten die Russen nichts Außergewöhnliches angestellt. Sie waren nicht auf der »Aurora« in die Mitte des Flusses gefahren (obwohl es sie in den Fingern gejuckt hatte), sie hatten keinem Säugling die Kehle durchgeschnitten (obwohl sie das hätten tun können). Sie lebten wie immer, tranken Bier, aber ich konnte mich schon nicht mehr damit abfinden.

Das bedeutet nicht, dass ich plötzlich heftige Abneigung gegenüber bestimmten Leuten empfunden hätte: gegenüber dem zurückhaltenden Onkel Serjoscha aus Piter, den ich lange nicht gesehen hatte und, fürchte ich, gar nicht mehr wiedererkennen würde; Soja Jefimowna, die ihr Leben lang Majakowskis Gedichte mochte; gegenüber meinen Cousinen Bjelka und Strjelka, die in verschiedenen Städten lebten und sich Kinder angeschafft hatten, die ich nicht kannte; gegenüber Tante Slawa, der verarmten Buchhalterin mit gigantischen Ausmaßen, die von Zeit zu Zeit mit zugequalmter Stimme telefonisch darum bittet, dass ich sie auf meine Kosten beerdige. Tolstoi war immer noch der Autor von Krieg und Frieden. Fürs Erste jedenfalls standen die Säulen Russlands noch an ihrem Platz.

Lediglich ein Pronomen hatte eine Metamorphose durchlaufen, das abgegriffene Wörtchen »wir«. Gleichwohl ist »wir« der Nikolai II. des russischen Wortschatzes. Es ist illusorisch, zu meinen, unser »wir« bestehe aus der Summe eigenständiger »ichs«. Das russische »ich« ist als einzelnes Element nicht lebensfähig und existiert ausschließlich in der Keimzelle Familie. Das heißt, nicht das »ich« prägt die Idee des »wir«, sondern das »wir« ist manifest und sprachbildend. Das »wir« gebiert Bastarde von »ichs« wie kleine Kartoffeln. Alle Kräfte der russischen Rechtschreibung stehen auf der Seite des »wir«, und wie viele literarische Qualen auch immer in die Entwicklung des »ich« investiert wurden, sie rentieren sich nicht mangels grammatischer Reserven. Man nehme zum Beispiel nur Platonows unbewussten Gebrauch des »wir« und Nabokovs widerborstigen Gebrauch des »ich«, um die unterschiedlichen Potenziale zu erkennen. Das »wir« kann man anbellen wie Samjatin, über das »wir« kann man kichern wie Olescha, aber das »wir« besitzt eine autokratische Qualität, bekannt unter dem Namen »Volk«.

Das russische Wort für »Volk« – »narod« – ist einer der präzisesten Begriffe der russischen Sprache. Er impliziert eine zweifache Übertragung der Verantwortung: vom »ich« auf das »wir« und vom »wir« auf (na) den Stamm, das Geschlecht (rod): »wir-sie«, Außen-Innen-Faktor, ewige Suche nicht nach Selbsterkenntnis, sondern nach Selbstrechtfertigung. Das Wort »narod« hat das russische Volk auf ewig zementiert.

Ungeachtet aller Unterschiede zwischen den sozialen Schichten und Generationen, Geschlechtern und Regionen sind die Russen eine Gemeinschaft mit Knute und Peitsche geprügelter Nachfahren. Die Russen sind Kinder der Folter. Dort, wo die Besonderheiten individuellen Lebens auf Kosten des gemeinschaftlichen Lebens gedeihen, ist »Volk« eine Metapher oder überhaupt ein nicht existierendes Wort. In unserem Land transportiert es die Essenz der Ungerechtigkeit.

Von Anfang an war ich verwirrt und hatte massenhaft Schuldgefühle. Eben jenem »Volk« gegenüber. Doch die Russen, die Eigenverantwortung mit Eigenmächtigkeit verwechseln, haben sich in einen klebrigen Klumpen verwandelt, der rollt und rollt und nicht zum Stehen kommen will, immer weiter abwärts eine schiefe Ebene hinunter, unter Ausstoßung von Flüchen, Parolen, Hymnen, folkloristischen Schüttelreimen, Ohs und Ahs und nationalistischem Pathos. Als ich erwachte, erkannte ich das Volk an der allgemeinen, wie in einem Eintopf köchelnden Stimmung wieder. Penner, Intelligenzija, Fatalismus-Vertreter – alles eine Soße.

Ich schaltete den Fernseher aus. Ich hörte auf, mit den Unseren zu fiebern.

Hitlers moralischeUnterstützung

Dass es in Paris eine Place de Stalingrad gibt, ist kein Zufall. Letzten Endes hat Hitler Russland geholfen. Er hat für Russland zwar keinen solchen Stahlbetonstatus moralischer Unantastbarkeit geschaffen wie für die Juden, aber nichtsdestoweniger – er hat einen geschaffen. In den dreißiger Jahren trieb er alle progressiven westlichen Intellektuellen, die sowjetische Gedankenspione geworden waren, auf die Seite Sowjetrusslands. Und Anfang der vierziger Jahre die ganze westliche Welt.

Ein Russland, das seine Unantastbarkeit eingebüßt hat, flößt keinen Respekt ein. Es verdirbt in der Regel jeden, der sich ihm nähert. Es hinterlässt bei jedem, der es besucht hat, bleibende Spuren.

Ein »durchgedrehtes« Volk entsteht nicht ohne Grund? Hören Sie doch auf! Auch Galaxien können leicht explodieren. Ich habe genug von Belehrungen.

Es gab Gründe genug, den Kopf zu verlieren.

Das Bestreben, für die Verachtung ein ästhetisches Äquivalent zu finden, löste letzten Endes ein mentales Fieber in mir aus. Das wiederum führte zu merkwürdigen Auswüchsen, und so erschien, alles andere verdrängend, ein Leitwolf, der mich aus meiner russischen Welt in seine führte, dabei alles veränderte, ohne etwas zu zerstören. Ich möchte vorausschicken: Die Reise durch die russische Welt geriet weder ethnografisch noch pathologisch-anatomisch. Sie berührte weder die allgemeinen Routen noch verbotene Wege. All diese Details sind für einen Leitwolf unwichtig. Die Route verlief auf der inneren Ebene und wurde selten in Worte gekleidet.

Ich nahm Russland wie ein Kunstwerk in mich auf.

Genius Loci

Eine Woche später rief morgens Pal Palytsch an. Verschlafen wie ich war, kapierte ich nicht sofort. Er kam zu mir nach Hause, lobte beiläufig die Wohnung, zog unaufgefordert die Schuhe aus, ohne die Schnürsenkel zu öffnen, und marschierte geradewegs in mein Arbeitszimmer. Er spielte die Rolle des gestressten Funktionsträgers, der einhundertvierzigtausend brandeilige Sachen zu erledigen hat. Mit ihm tauchte ein Adlatus auf, zugeknöpft bis obenhin, entweder schwul oder einfach bloß ein eleganter junger Mann.

»Ich weiß nicht, womit ich Ihnen helfen kann«, sagte Pal Palytsch geschäftig. »Wollen Sie hundert OMON-Leute, meinetwegen auch zweihundert?« Er überlegte. »Einen Panzer vielleicht?«

»Was wollen Sie von mir?«, fragte ich trocken und stellte mir lebhaft mich in einem Panzer vor.

»Unser Land«, sagte der Adlatus und hüstelte, »wird nicht vom Präsidenten, nicht von der Regierung und nicht, wie die Rentner behaupten, von der CIA regiert, sondern von eben jenem, wie soll ich mich ausdrücken, omnipräsenten Körper. Das ist kein Märchen«, fügte er eilig hinzu, als er meinen befremdeten Gesichtsausdruck sah.

»Wieso denn nicht?«, sagte ich so lässig wie möglich. »Russland ist ja ein Märchen.«

»Möglicherweise«, sagte der Adlatus nach einer wohlgesetzten Pause. »Manchmal wohnt er auf dem Wagankowo-Friedhof, wo Ihre Großmutter beerdigt ist.«

»Gehen Sie doch selber auf den Friedhof«, sagte ich und gab zu verstehen, dass ich das Gespräch für beendet hielt.

Pal Palytsch zog eiligst einen Umschlag aus seiner großen rostroten Aktentasche und überreichte ihn mir. Ich warf einen Blick hinein:

»Und da behauptet ihr, euer Staat hätte kein Geld.«

Pal Palytsch senkte generalsmäßig den Blick, welcher unwillkürlich an einem Regelverstoß hängen blieb:

»Da hat sie nicht aufgepasst!« Pal Palytsch zog verlegen den kleinen Zeh des linken Fußes zurück in seine khakifarbene Socke. »Meine Frau stopft nämlich Socken. Das ist ihr Hobby, wissen Sie.«

Der Adlatus sagte forsch:

»Polnische Socken, Mischwolle, Lubliner Fabrikat. Kaufen Sie die nicht mehr. Ein Scheiß.«

»Verstanden«, sagte der General. »Aber zur Sache.«

»Wenn Sie Kontakt aufnehmen«, wandte sich der Adlatus an mich, »versuchen Sie ihm klar zu machen …« – im Flur schlug mit einem Riesenknall die Tür zu –, »dass er uns in Ruhe lassen soll«, murmelte er.

»Durchzug«, sagte ich.

»Bei uns in Russland kann bereits ein Durchzug alles Mögliche auslösen, bis hin zum Bürgerkrieg«, brachte der Adlatus seine Befürchtungen zum Ausdruck.

»Warum ich?«, fragte ich den General.

»Sie haben da so was geschrieben über das Morgenrot einer neuen Offenbarung«, sagte er errötend.

»Es gibt da eine Interferenz«, fügte der Adlatus hinzu.

»So, wir gehen dann mal.« Pal Palytsch erhob sich vom Sofa. »Sascha«, nickte er in Richtung Adlatus, »untersteht Ihrem Kommando.«

»Halt! Sie sind nicht zufällig Idioten?«, fragte ich neugierig.

Die geilen Neunziger

Sascha erwies sich indes durchaus nicht als Idiot. Er war einer von denen, die in den geilen russischen neunziger Jahre Hunderte von Lebensformen ausprobiert hatten. Er spürte das Pfeifen und die Schnelligkeit der russischen Zeit, eine Stunde zählte wie ein Jahr, das gab es niemals zuvor und offenbar auch nicht danach. Er war einer von denen, die die Bedeutung von Energie begriffen und ihre passive Mentalität veränderten.

Kaum jemand im Russland der Neunziger lebte – fast alle waren mit Weinen beschäftigt. Aus unterschiedlichen Gründen. Sie weinten vor Freude, als sie die Freiheit bekamen. Die bestohlen wurden, weinten. Auf die geschossen wurde, weinten. Fast alle blickten sich ängstlich um, die Hand auf der Tasche, wollten nicht am Spiel teilnehmen und standen suchend am Straßenrand. Das in Geld schwimmende Moskau erschien diesen »fast allen« als die ärmste, verlorenste Stadt der Welt.

Unterdessen lagen die Geldscheine auf den Straßen und Plätzen der Stadt herum, flatterten mit dem Wind in die Hauseingänge, wirbelten in den Treppenhäusern umher. Man hätte sie mit dem Besen zusammenkehren können, aber es waren ja keine Straßenfeger da, es gab nur Anfänger und Amateure, die harkten zunächst ungeschickt und brav, und es war eine so ermüdende Tätigkeit, dass abends keine Zeit mehr blieb, um die Einnahmen nachzuzählen, sie wollten nur noch schlafen. Das Geld wurde in Eimern verwahrt, in Schüsseln und großen Töpfen, es waren Millionen und Abermillionen, sie wurden in grüne Scheine umgetauscht, man konnte innerhalb einer Woche eine Million grüne Scheine machen.

Die Wechselstube erlangte größere Macht als Goethes Faust. Sie arbeitete sieben Tage die Woche.

Doch für »fast alle« war das Geld unsichtbar, sie scheffelten es nicht, sie verloren es. »Fast alle« wussten genau, dass sie früher Tomaten gegessen und einmal sogar im mittlerweile nicht mehr existierenden Bekleidungsgeschäft »Ruslan« einen karierten belgischen Anzug gekauft hatten; jetzt reichte es kaum für Kartoffeln. »Fast alle« warteten geduldig vor dem Fernseher auf Aufklärung. Sie kamen nicht drauf, dass nirgendwo auf der Welt irgendwer irgendwem irgendwas erklärt, wenn auf den Straßen und Plätzen das Geld haufenweise herumliegt. Dann spuckten »fast alle« vor dem Fernseher aus und spuckten so lange, dass einige von ihnen zu Pennern wurden. »Fast alle« schleppten sich herum auf der Suche nach irgendeiner Wahrheit. Plötzlich gab es in den Geschäften alles. Das war besonders kränkend. Und »fast alle« sehnten sich nach den gewohnten leeren Regalen, sie wollten fort in die gute alte Welt der Warteschlangen.

Sascha begann mit Sockenverkauf in Unterführungen. Nach den Socken und der Verteidigung der Freiheit in der Menschenkette vor dem russischen Parlament, dem »Weißen Haus«, verkaufte er Zigaretten, Antiquitäten, ausländische Autos, besaß Warenlager und Geschäfte, illegale Waffen, gründete Banken, wollte die »Aeroflot« kaufen, baute stattdessen eine Ziegelei und eine Fabrik für Schals aus Ziegenhaar. Er ging in großem Stil unter, machte Bankrott, wollte sich im Badezimmer erschießen und vergoss nicht wenig von seinem eigenen Blut. Er überlebte, kehrte zum »Hütchenspiel« zurück, stieg ein ins Spielergeschäft, trug ein rotes Jackett, gründete eine Männerzeitschrift, ging wieder pleite, stand bei allen in der Kreide. Die Tschetschenen gruben ihn bei Moskau im Wald ein. Genauer gesagt, sie zwangen ihn, sich selbst mit der Schaufel einzugraben.

Die Philosophie der Neunzigerjahre wurde das Computerspiel. Virtualität ballte sich in der Luft wie Frühlingsnebel. Jedem standen mehrere Leben zu, die Garderobe wurde nicht nach Saison gewechselt, sondern je nach Inspiration, Vögel flogen auf, Schwerter klirrten, lautes Kampfgeschrei allenthalben. Auf Sascha wurde geschossen, er schoss zurück, die Bohrlöcher sprudelten, er verschob Gelder in den Westen. Er legte sich Immobilien in London zu. Er hatte zunehmend Flausen im Kopf. Er befasste sich mit russischer Philosophie, wurde russisch-orthodox, setzte sich ab in den Altai, wurde Eremit, tauchte in den Buddhismus ein, tauschte Buddhismus gegen Hinduismus, tanzte, entschwand in den Astralleib. Er tauschte Hinduismus gegen Judentum (ohne Jude zu sein), eine gewisse Zeit quälte er sich als Atheist, dann wandte er sich dem einfachen Leben zu und wurde Vegetarier. Aus reinem Herzen tat er Buße, tauschte seinen Jeep gegen einen vergammelten Schiguli, verschärfte die Auseinandersetzungen, schwor sich, drei Jahre lang keine Frau anzurühren.

Es war das Jahrzehnt des russischen Körpers. Der Verlust des Materialismus führte zur Entdeckung des Materiellen. Mädchen wurden zu Jungen und umgekehrt. Die Bedürfnisse tendierten zu geschmeidigem Unisex. Sascha entdeckte zufällig bei sich eine Neigung zum Islam, eröffnete fünf Hamams und einen Harem, wechselte zu Voodoo, haute ab in die Karibik, von dort nach Nigeria, in Lagos kam er wie durch ein Wunder mit dem Leben davon, er kehrte zurück, tat Buße im Danilow-Kloster, wurde Adlatus. Er arbeitete bei der Staatssicherheit und entblödete sich nicht, mir gegenüber seine Begeisterung für die Heldentaten der sowjetischen KGBler zum Ausdruck zu bringen, er liebte Amerika, er hasste Amerika, nährte nostalgische Gefühle für die Vergangenheit und wollte die Vergangenheit nicht zurückhaben. Sascha war vor Kurzem dreißig geworden. Er fuhr fort zu experimentieren – mit einem gesunden Lebenswandel, Sex, Kino, Computern, Werbung. Sascha gab zu, die Lage sei beschissen.

»Ich beiß mir in den Arsch, wenn wir ihn nicht finden«, fügte er hinzu.

Zielscheibe

Ich bin eine Zielscheibe. Ein lebendiger warmer Klumpen, der gebückt über ein Feld rennt. Wer Lust hat, schießt auf mich. Mein Gesicht schmutzig und verschwitzt, die Kleider verdreckt, die Schuhe zerrissen, Blut unter den Fingernägeln. Vermutlich ein wahnsinniger Anblick. Keine Zeit und keine Kraft, um über mich selbst nachzudenken. Ich renne. Ohne jede Hoffnung auf Erfolg.

Einmal betrachtete ich vorrevolutionäre Fotografien in einem schönen englischen Bildband und ertappte mich bei dem schlichten Gedanken, jeder der hier Abgelichteten würde schon bald Zielscheibe eines Unglücks sein, das jeden aus der Bahn werfen würde. Bärtige Männer von der Wolga mit Glotzaugen, aufgetakelte Kaufmannsfrauen aus dem Moskauer Stadtviertel Samoskworetschje, ihre pöbelhaften speichelleckerischen Kommis im Schlepptau, der Imperator auf einem Baumstumpf, Nabokovs Vater mit erstaunt gerunzelter Stirn wie alle Liberalen, vier Tennisspielerinnen mit eiförmigen Tennisschlägern auf ihrem Charkower Landsitz, Offiziere, die in ihrer Freizeit über das Journal Das russische Wort diskutieren, Dorftrottel, die ins Objektiv schielen – allesamt wie geschaffen zum Leiden, ungeachtet ihrer Sorglosigkeit steht ihnen das Leiden schon ins Gesicht geschrieben. Mehr noch, die Bereitschaft zum Leiden. Keinerlei Widerstand, vielmehr zackiger Pioniergruß. Bereitschaft zur Erniedrigung. Zum Märtyrertod.

Ich empfand eine seltsame Unruhe. Eine solche Lesart der Fotografien wäre verständlich, würde man das Wissen um die Zukunft in Betracht ziehen. Aber ich konnte mich nicht von dem Gedanken lösen, dass zukünftiges Leiden in meinen Landsleuten schon objektiv vorhanden war, wer auch immer sie waren, unabhängig von ihrer Bosheit, Liebe und Anschauung, unabhängig von mir.

Auf den Gesichtern lag der Schatten des Opfers, weitaus stärker noch als der Schatten des Todes, der in einer jeden Fotografie naturgemäß vorhanden ist. Ich dachte: Der Vorhang lüftet sich. In Russland existiert eine besondere Zugabe zur gewöhnlichen Sterblichkeit, und sogar in einem harmlosen Fotoalbum sind die russischen Gesichter schön durch jene Ausdrucksstärke, die nur ein gewaltsames Ableben gewährleistet. Ihre Durchsichtigkeit, ihre Blässe wie der Widerschein einer Totenmaske, eines demütigen Daliegens im Sarg mit zerschossenem Gesicht, stellen einen schönen Kontrast dar zur Selbstgefälligkeit fremdländischer Physiognomien. Und auf unseren besten einfühlsamen Porträts, bei Kramskoi zum Beispiel, entdeckt man ein sich am Leiden Ergötzen.

Die Zukunft war angelegt, durchschaut und vorgestellt, sie musste nur noch eintreten. Und eben weil sie in den Russen gegenwärtig war, konnte sie möglich sein. Alles kam zusammen.

Ein Windhauch lässt uns erschauern. Russe sein heißt Zielscheibe sein. Die Opferbereitschaft der Opfer ist auch eine Funktion in einer Welt, in der wir von anderen Verpflichtungen befreit sind, die wir, wenn es denn sein muss, schlampig, flüchtig und nebenbei erfüllen. Es gibt seltene Perioden, in denen die Russen ihren Passivmodus vergessen und anfangen, andere Völker in ihrem schöpferischen Beginnen nachzuahmen, irgendetwas zu bauen, nach irgendetwas zu streben. Jedes Mal endet das kläglich. Das russische Leben ist dazu angetan, die Menschen vom Leben abzulenken. Der Widerstand der erstarrten Mutter Russland unterstreicht nur ihre Bedeutung. Russland muss sein, wie es ist, ebenso wie der Ekklesiastes der Ekklesiastes ist, also eines der Bücher der Bibel.

Davon abgesehen, dass Russland seine reine, äußerlich christliche Erfahrung an andere Länder mit anderer Bestimmung weitergeben wollte, und darum quälte es sie lange und vergeblich.

Unter den gegenwärtigen Bedingungen wirkt Russland verloren, steht auf der Verliererseite im Verhältnis zum Rest der Welt, wo das aktive Beginnen auf organische Weise erklärt wird. Russland indes ist geschaffen für Gebet, Schwermut und Unglück. Russland ist eine Art Land, das menschliches Unglück produziert. Historisch gesehen sind alle Bedingungen gegeben, dass unser Land ununterbrochen unglücklich sei. Die russischen Regierenden bewältigen getreulich ihre Aufgaben, welcher Orientierung auch immer sie angehören. Russland ist gut im Entwerfen utopischer Projekte, die offenkundig nicht zu verwirklichen sind und deren Umsetzung viele Opfer fordert. Mehr kann man kaum erwarten, nicht einmal von einem so großen Land.

Wie jedes andere Land muss man auch Russland nach seinen eigenen Ressourcen und dem endgültigen Resultat beurteilen. Mag auch das Resultat vom Standpunkt des Westens negativ aussehen. Mag es auch aus östlicher Sicht seltsam sein. Aber in Russland existiert eine positive Unfähigkeit zu einem sogenannten normalen Leben. Jeder Zar hat seinen Rasputin. Russland hat die Extreme der menschlichen Natur demonstriert und die Vorstellung von einer goldenen Mitte zerstört. Es hat die Unmöglichkeit der menschlichen Freiheit gezeigt. Man muss ihm einfach Respekt zollen für seine Treue gegenüber sich selbst.

Nach wie vor ist der Stil der Schriftsteller, die über Russland schreiben, vorwiegend bestimmt von mitfühlender Gefühlsduselei. Der Fehler sowohl der Westler als auch der Slawophilen besteht darin, dass sie Russland Glück wünschen. Seit Tschaadajews Zeiten haben berühmte Persönlichkeiten also Unrecht mit ihrer tief verwurzelten Sorge um die verzweifelte Lage des eigenen Staates. Die Angst vor der Angst, die Furcht davor, mit Genuss tief in sie einzutauchen, ist der Mehrheit der russischen Intelligenzija eigen. Die ewige und hilflose Idee, Russland gegen seinen Willen am Schopf herauszuziehen, begegnet einem in der Literatur auf Schritt und Tritt und wird allmählich zumindest lästig.

Sie alle wollen ein glückliches Russland mit leckerem Festtagsbrot, Osterkuchen und Stör auf dem Tablett serviert haben. Sprotten in Tomatensoße sind nichts für sie. Zumindest sind Sprotten nicht ihre Idealvorstellung.

Russland ist zweifellos ein gefährliches Land. Aber hier muss man Nietzsche zustimmen, der dazu aufruft, »gefährlich zu leben«. Ein Aufschimmern entschiedenen Nationalbewusstseins, eine Mischung aus Peitsche und süßlicher Bigotterie sehe ich beim späten Gogol, doch nicht einmal er hatte genug Kraft, den Gedanken zu Ende zu führen. Verräter und einige Ausländer haben sich aufrichtig bemüht, Russland als Land des Bösen und des Unglücks darzustellen, aber sie haben das nur aus politischem oder touristischem Interesse getan, und darum waren sie nicht konsequent genug. Wir zucken jedes Mal zusammen bei neuen Beweisen dafür, dass hier jeder eine Zielscheibe ist. Doch es kommt die Zeit, da das Land der wandelnden Zielscheiben sich als nicht konkurrenzunfähig erweist und die Arbeit aller, die auf Angst und Opferbereitschaft basiert, die ständigen Neustarts nicht mehr aushält.

Wenn man in dem Stil weitermacht, wird das »Legoland« mit Namen Russland vermutlich vom Erdboden verschwinden. Wie das antike Hellas, dessen Götter sich in erbauliche Spielsachen verwandelten. Eine Parallele zwischen Griechenland und uns ist ein nicht besonders heiliger Geist. Griechenland verbrannte durch religiösen Formalismus, Russland brennt durch formale Religiosität.

In der Ökonomie des menschlichen Geistes wird der Verlust Russlands unersetzbar sein, nicht weniger, aber auch nicht mehr als das.

Matrjoschka

Glaubt man der Matrjoschka, dann ist das Leben eine Rolle rückwärts in den Mutterleib. Im Zentrum der russischen Welt ein Embryo. Alles Übrige ist Verhüllung, Prana, Verschleierung. Was für tolle Weiber große Matrjoschkas auch sein mögen, sie sind oberflächlich und selbstgefällig. In ihnen sitzt die statische Eitelkeit des Lebens.

Nimmt man eine Matrjoschka in die Hand, kann man nicht aufhören, sie aufzudrehen und auseinanderzunehmen. Man möchte bis zur Wahrheit vordringen. Die Matrjoschka basiert auf dem primären Spiel, das schon das Kleinkind kennt und an dem sich auch der wesentliche sexuelle Effekt von Kleidung festmacht – dem Versteckspiel. Die Wahrheit ist im Geheimnis begraben. Die Wahrheit fordert Opfer. Die großen Matrjoschkas sind schwanger mit den kleinen wie mit ihrem eigenen mehrfachen Tod. Sie quietschen, die Köpfe fliegen zum Vergnügen. Je weiter nach innen, desto weniger Farben, schwächer die Fantasie, müder der Künstler. Die Matrjoschka ist Zeichen von chronischer Übermüdung und Lichtscheu. Das kleinste Figürchen, der aus Platzmangel schlecht bemalte, winzige hölzerne Embryo, hat das Rührende eines »Kindchens«. Ein kurzes Aufwallen von Rührung. Verlangen nach den Eltern. Im Gesicht keine Falten, sondern irgendein Spinngewebe, wie Reibeisen die Hände. Man weiß nicht, handelt es sich um eine Frau oder einen Mann. Die rauen mütterlichen Hände möchte man küssen und die väterlichen Falten glätten. Aber die russische Integrität ist zu winzig für Emotionen, die Intaktheit hilflos, all das sind nur Fantasien, und die kleinste Puppe rollt jedes Mal unter den Tisch.

Feuchtigkeit

Aus dem Korb heraus purzelten die Ljoschkas, Wasskas, Ninkas, Kostiks, Mischutkas und alle möglichen kleinen Pawliks, zufällig fanden sich ein Toljan und ein mürrischer Serafim, dann kamen erstklassige Iwans, rundgesichtige Olgas, auch der gehenkte Bahnarbeiter mit dem hochmütigen Gesicht fiel heraus, des Weiteren kamen Nikolai Nikolajewitschs, Frola Timofejewitschs zum Vorschein. Bei den Russen ist alles feucht, roh, nicht durchgebraten, ohne Pfeffer. Die Gesichter, die Seele, die Mutter Erde.

Die Wälder sind feucht. Wir alle sind Russulae, Täublinge.

Ich sitze in der Metro und fühle, dass mir dieses nach Schweiß riechende Gesindel widerlich ist. Träges, duckmäuserisches, pickeliges Pack.

Will ich, dass Russland in Stücke zerbricht?

Dass sich die Tatarei von Mordwinien abspaltet?