Equilon - Sarah Raich - E-Book

Equilon E-Book

Sarah Raich

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Beschreibung

Was, wenn das System entscheidet, ob dein Leben zählt? Jenna hat es geschafft: Sie hat den Score für die »Eine Milliarde« geknackt und darf als eine von wenigen Privilegierten nach New Valley. Hier wurde EQUILON entwickelt, der Algorithmus, mit dem der von Armut und Klimawandel erschütterte Planet wieder bewohnbar gemacht werden soll. Als Rebellen eine Veranstaltung sprengen, erahnt sie erstmals die Schattenseite dieser glanzvollen Welt. Dorian aus Old LA hat es satt, denn sein Überleben ist abhängig vom Score der »Eine Milliarde« – und der fällt bei jeder Evaluation. Da trifft er auf die kleine Maggie, deren Mutter im Sterben liegt und ihm nicht nur Maggies Schicksal anvertraut, sondern auch etwas ungleich Wertvolleres: den Schlüssel für die »Eine Milliarde«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 499

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sarah Raich

EQUILON

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Anmerkung der Autorin

 

 

Dieses Buch behandelt Themen, die potenziell belastend wirken können.

 

Zentrale Themen dieses Buches sind struktureller und expliziter Rassismus, Klimarassismus, Ableismus, Sexismus und Transfeindlichkeit.

 

Es gibt explizite Schilderungen von Gewalt, sowohl gegen Menschen als auch gegen Tiere, ebenso Polizeigewalt. Die Erfahrung, misgegendert worden zu sein, wird beschrieben. Schwere Erkrankung, Krebs und Tod sind Themen dieses Buches. Teil der Handlung sind überdies zwei Selbsttötungsversuche, Schilderungen psychotischer Zustände sowie versuchter Femizid im Rahmen einer toxischen, immer gewaltvoller werdenden Beziehung.

 

Ich hoffe, dass ich diese Elemente sensibel und angemessen behandelt habe.

 

 

 

Für Malte, der die Beatles nicht ausstehen kann

1Jenna

Das Meer liegt unter mir wie ein paillettenbesticktes Tuch. Das Licht der Sonne bricht sich auf den Wellen, die von hier oben gar nicht zu sehen sind, nur das Funkeln schafft es zu mir hinauf. Ich stelle mir vor, wie schön es wäre, hineinzuspringen, in ein aufgewühltes Meer aus glitzernden Wasserspritzern. Abzutauchen zwischen bunten Fischen, das Kitzeln der aufsteigenden Luftblasen auf meiner Haut.

Die Wahrheit ist, ich war noch nie am Meer. Ich war noch nie irgendwo. Also an irgendeinem Ort, der zählt. Alles, was ich vom Meer weiß, habe ich von den Lightscreens am Breitscheidplatz in meiner Heimat Old B., wo ich mit meinen Freundinnen manchmal war. Obwohl ›Freundinnen‹ ein großes Wort ist. Wir haben uns gemeinsam abgelenkt vom Alltag und der Jagd nach dem Score. Und danach waren wir wieder Konkurrentinnen. Natürlich mochten wir uns. Aber es gibt kaum Plätze und jede wollte einen. Wenn sie erfahren, dass ich weg bin, werden sie sich bestimmt das Maul zerreißen. Ich nehme es ihnen auch gar nicht übel. Ich würde es wahrscheinlich genauso machen. Irgendwie muss man ja sein kümmerliches Ego am Leben halten in Old B.

Aber jetzt, Jenna! Jetzt bist du hier, über den Wolken!, schießt es mir durch den Kopf und mein Herz macht einen Sprung. Ich muss meine Augen zusammenkneifen, um nicht laut zu schreien. Es passiert wirklich. Ich habe den Score geknackt. Ich weiß nicht, wie, aber es ist passiert. Und jetzt sitze ich im Hyper-Glider nach New Valley in Alascanada. Von allen möglichen, eigentlich unerreichbaren Orten auch noch der großartigste. Ich wäre auch mit jedem Ort in Ice-Skandia, North China oder Nova Sirbia glücklich gewesen. Natürlich. Von New Valley habe ich kaum zu träumen gewagt. In der Region aller Regionen ist er der herausragendste aller Orte. Und doch. Es ist passiert. Ich sitze hier.

Ich lasse meine Hand über die glänzend weiße Verkleidung meiner Kabine gleiten. Es gibt keine Kanten, keine Fugen, ich bin umgeben von einer geschmeidigen Kapsel. Selbst die Ablage, auf der mein Notizbuch und die Mappe mit meinen Zeugnissen und den Skizzen von meinem Root-Crawler liegen, ist aus einem Guss, eine vorspringende Welle im Fluss der Form. Das Material ist glatt und hart und fühlt sich gleichzeitig so weich und kuschelig an, dass mir ein Schauer über den Rücken fährt. Warm ist es, geradezu lebendig.

In Power History habe ich gelernt, dass das Design der Hyper-Glider und aller anderen Transportmittel von New Valley eine Hommage an Steve Jobs ist, einem der Vordenker der MegaGoods. Die Materialien sind energetisch aufgeladen und geben bestimmte Schwingungen ab. Das erhöht das Wohlbefinden, heißt es in der Reise-Info auf meinem neuen BraceConnect, das für mich in der Kabine bereitlag. Ein umfassendes EmotionManagement ist ein zentraler Pfeiler des guten Lebens in New Valley, deshalb wird das Tragen der dafür entwickelten Devices, besonders aber der BrainDots, all unseren Neuankömmlingen dringend ans Herz gelegt. Die schon länger dort Wohnenden wird man nie ohne antreffen, lese ich. Für den Anfang ist das ältere, weniger invasive BraceConnect eine Möglichkeit, um sich an die neuen Technologien zu gewöhnen. Das mit schwarzgoldenen Schuppen besetzte Armband schmiegt sich jetzt um mein Handgelenk und bedeckt den halben Unterarm. In der Mitte ist der Screen, den ich bei Bedarf antippen kann, und dann projiziert er sein Bild in die Luft vor mich.

Natürlich wusste ich, dass es in New Valley diese Dinge gibt. Fotos davon habe ich im Unterricht gesehen, manchmal gab es auch Videos über das Leben, das uns Grenzlandleute bei der 1 Milliarde erwartet, aber ein BraceConnect und einen Hyper-Glider in echt zu sehen, sie zu fühlen, ist etwas ganz anderes. In Old B. haben wir mit gespendeten Tablets aus den 20er-Jahren gearbeitet. In New Valley weiß man wahrscheinlich gar nicht mehr, was das sein soll. Ein Screen, der nicht projiziert, der leicht zerbricht, den man nicht biegen kann … mit so etwas gibt sich da sicher keiner mehr ab.

Ich muss an den Code denken, den ich nicht fertig gemacht habe, getippt auf einem alten Laptop. Ob sie es schaffen, die App ohne mich fertigzustellen? Ich weiß, es geht für mich jetzt um anderes. Old B. liegt hinter mir. Aber gerade das ist es ja, was mir zu schaffen macht. Bis vor ein paar Stunden war Old B. meine ganze Welt. Eine staubige, karge Reststadt. Aber eben alles, was ich kenne. Alles, was mir etwas bedeutet in meinem Leben, ist dort.

 

Ich streiche über das glänzende Weiß der Wand neben mir. Diese Freude, dieses Kribbeln, schießt es mir durch den Kopf … ist die eigentlich ganz und gar meine? Oder haben die Schwingungen des BraceConnect auch damit zu tun? Müsste ich nicht ein bisschen besorgter sein? Oder trauriger? Ich denke an meine Großeltern, wie sie am Tisch sitzen. Bevor wir aßen, haben wir uns immer für ein paar Augenblicke an den Händen gehalten. Stumm. »Damit ein bisschen Liebe diesen Drecksfraß würzt«, hat meine Oma dann gesagt. Sie hat nie verwunden, dass ihr altes Leben vorbei ist. Sie war auch diejenige, die darauf bestand, das Bild meiner Eltern im Wohnzimmer hängen zu lassen. Ich habe an die beiden keine Erinnerungen, sie sind gestorben, als ich noch klein war. Opa wollte das nicht. Er fand, das hielte mich nur zurück, ich müsse an die Zukunft denken. Daran, wie ich wegkäme aus Old B. »Da ist ein alter Schmerz wie ein Klotz am Bein.« Oma hat dann immer geantwortet: »Der Mensch braucht Wurzeln, wie dein Quinoa und dein Kohl.« Und das Bild blieb hängen. Nur ich, ich bin jetzt weg.

Natürlich kommen mir die Tränen. War ja klar. Ich zwinge mich zu schlucken und presse mir auf den Nasenknochen. Das hilft mir fast immer, um die Tränen wegzudrücken. Ich habe Old B. ehrlich gesagt immer gehasst. Diese graue alte Stadt, die nichts mehr hat außer ihrer Vergangenheit. Und jetzt kriege ich auf einmal schreckliche Sehnsucht danach. Ich komme mir klein und dumm vor. Ich kenne doch nichts von der Welt.

»Hey, Jenna!« Die Glastür ist lautlos aufgeglitten und vor mir steht eine perfekt geschminkte Frau mit Hochsteckfrisur und lächelt mich an. Ihre Haut erinnert mich an Mondschein, ihr Haar durchziehen regenbogenfarbene Strähnchen. Sie glitzern so sehr, dass ich mich frage, ob sie tatsächlich kleine Lichter darin stecken hat.

»Ich bin Thea«, sagt sie, hebt die Hand und spreizt den Ringfinger seitlich vom Mittelfinger, der Vulkaniergruß. Ich grinse ein bisschen dämlich zurück und lasse meine Hände im Schoß. Ich habe einfach Sorge, dass ich die Finger nicht an der richtigen Stelle auseinanderbekomme. In Old Europe geben wir uns meistens noch die Hand. Thea lächelt noch immer. Auf ihre graublaue Bluse ist ein Eisvogel gestickt, das Zeichen der Transition-Helper.

Sie legt mir eine Hand auf die Schulter und lächelt noch ein bisschen breiter. Ich kann meinen Blick kaum von ihren Zähnen abwenden. Sie sind so weiß und gerade, fast wie Juwelen.

»Schön, dass EQUILON dich ausgewählt hat. Herzlichen Glückwunsch! Du hast die Score-Hürde überwunden! Das ist eine Leistung, auf die jeder, der es geschafft hat, wirklich stolz sein kann!« Das sagt sie so unendlich freundlich, dass ich gar nicht weiß, wohin mit mir. In Old B. sind die Menschen nie so nett zueinander. Aber es ist auch schwer, nett zu sein, wenn man immer hungrig, müde und erschöpft ist.

Ich nicke, während sich vermutlich rote Flecken auf meinen Wangen ausbreiten. »Ja«, stammele ich wie eine Zwölfjährige. »Ich freu mich wirklich sehr.« Einen Moment lang spüre ich Ärger in mir aufsteigen. Ich bin immerhin 19 Jahre alt, habe die New-Future-Akademie absolviert, ich habe den Root-Crawler entwickelt, mit dem die Feldbewässerung perfektioniert werden kann, und ich habe mir selbst zehn Programmiersprachen beigebracht. Warum, zur Hölle, fühle ich mich gerade wie ein dummes Kind? Jenna, hör auf, sage ich mir in Gedanken. Du weißt, in New Valley ist das EmotionManagement superwichtig. Keine Aggressionen, Friendly Behavior Rules. Ich schlucke und zähle dabei bis zehn. Ich lächele so, dass ich glaube, es sieht souverän aus, und sage: »Ich freue mich sehr darauf, mich in New Valley produktiv einzubringen.«

»Wohin geht’s denn für dich?«, fragt Thea freundlich und legt ihren Kopf ein wenig schief. Jetzt sieht sie tatsächlich ein bisschen aus wie ein Vogel, der mich beäugt.

»Äh, nach New Valley?«, sage ich zögerlich, denn wir sitzen ja gemeinsam im Hyper-Glider, der auf dem Weg dorthin ist.

Thea lacht glucksend, was tatsächlich sehr nett klingt, aber ich weiß auch, dass ich wohl was ziemlich Dummes gesagt habe. Wieder schießt mir Blut warm ins Gesicht. Verdammt.

»Ich meine, welche Company, Jenna. Welcher von den MegaGoods hat dich ausgewählt?« Klar. Das will sie wissen. Jetzt geht es nicht mehr um New Valley. Jetzt geht es darum, wo ich in der neuen Hierarchie unterkomme. Ich werde wirklich noch eine Menge üben müssen, damit ich da drüben nicht als Witzfigur ende. Wenn ich so weitermache, wird sie glauben, dass ich mir den Platz irgendwie erschummelt habe.

»Äh, ich komme ins Ausbildungsprogramm bei VERO«, antworte ich leise.

»VERO?!« Thea zieht die Augenbrauen hoch und einen Moment lang ist ihr Gesicht gar nicht mehr so professionell. »Wow.« Dann setzt sie wieder ihr warmes Lächeln auf. »Bei den Entwicklern von EQUILON selbst, DEM Algorithmus, dem Fundament unserer Weltordnung.« Sie nickt mir aufmunternd zu. »Das ist schon beeindruckend. Ich wünsch dir, dass du das packst.«

Und jetzt weiß ich gar nicht, was ich fühlen soll, Freude oder Angst. Aber dann gewinnt die Freude, weil: Wie geil ist das denn?! VERO, die wichtigste der New-Valley-Firmen, hat mich, Jenna Mills, ausgewählt. Ich strahle Thea an und sage: »Danke. Ich schaff das schon.«

Thea nickt freundlich. »Ganz bestimmt«, sagt sie und ihre Finger tupfen an ihrer Frisur, als gäbe es da etwas zu korrigieren. Dabei sitzt sie noch immer vollkommen perfekt.

»Kann ich dir denn sonst irgendwie helfen, Jenna?« Ich schüttele den Kopf und muss wieder ihre weißen Zähne anschauen. Ich kriege die Frage nicht aus dem Kopf, ob ihre Zähne sich wohl so glatt anfühlen, wie sie aussehen?

»Weißt du, es ist wichtig, dass du die wenigen Stunden Flug gut nutzt und dich bestmöglich entspannst.« Das Lächeln auf Theas Gesicht verschwindet, und sie schaut mich ernst aus ihren großen Augen an. »Die Uhren im New Valley ticken einfach anders, weißt du? Es gibt viel zu lernen, auch in Bezug auf die Gestaltung deiner Freetime.«

Das Lächeln huscht zurück auf ihre Lippen und mir ist wieder wohler. Ich will nicht, dass Thea schlecht von mir denkt. Sie schreibt bestimmt auch einen Report vom Flug. »Am besten, du fängst gleich damit an«, sagt sie und schaut auf das BraceConnect, das meinen rechten Arm umfasst. »Wie wäre es mit ein bisschen Musik?« Prüfend schaut sie meinen Kopf an. »Du musst dafür aber noch die BrainDots anlegen.«

»Oh ja, stimmt. Die hatte ich ja noch gar nicht gesehen.« Sage ich und lache verlegen.

Die Wahrheit ist, dass mir die Vorstellung von den BrainDots ein bisschen unangenehm ist. Man klebt sich je einen links und rechts an die Schläfen und sie verknüpfen sich dann mit den Gehirnwellen.

Ich weiß, in New Valley ist das ganz üblich. Trotzdem. Ich arbeite gern mit Computern. Überlege mir, wie man eine Software noch besser bauen könnte oder wie das Zusammenspiel mit der Hardware am besten gelingt. Wie man das meiste aus dem System herausholt. Ich hätte gern den Prototyp des Root-Crawlers zu Ende gebracht. Hätte gern gesehen, ob er wirklich funktioniert und die Mikrobewässerung direkt an den Wurzeln klappt. Ich liebe Technik von ganzem Herzen. Aber meinen Kopf direkt mit einem Computer zu verbinden, diese Vorstellung ist mir doch unheimlich.

»Also, du solltest die Dots wirklich ankleben. Ohne die wird die Eingliederung in New Valley, nun ja, schwerer sein. Seit ein paar Jahren haben sie die BraceConnects fast vollständig abgelöst.« Sie zögert einen kleinen Moment. »Wusstest du, dass die BrainDots dir die passende Musik für dich und deine Stimmung heraussuchen können? Magst du das nicht mal ausprobieren, Jenna?« Wieder macht Thea diese ernsten runden Augen und ich nicke. Es ist vermutlich albern, sich anzustellen, immerhin ziehe ich gerade nach New Valley. Während ich das denke, hüpft mein Magen geradezu vor Staunen und Begeisterung. NEWVALLEY, JENNA! Die Erfüllung deiner allerallerkühnsten Träume!

Hastig krame ich die BrainDots aus der Verpackung und klebe sie mir an. In meinem Kopf ertönt ein freundlich bimmelndes Geräusch, das Wort CONNECTED projiziert sich hell leuchtend vor meine Augen. Einen Moment lang wird mir schwindelig und ich greife nach meiner Lehne.

Zuerst denke ich, das Ding ist kaputt, in meinem Kopf höre ich Kindergeschrei. Aber dann setzt doch Musik ein. Eine helle, klassische Elektromelodie, bald mischt sich dazu ein griffiger tieferer Sound, ein Schlagzeug hält den Beat. You were a child, crawling on your knees toward it, making mama so proud … Singt ein junger Mann. Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus und am liebsten würde ich tanzen. Was für ein Song! Die BrainDots scheinen wirklich genau zu wissen, was ich will.

»Na, siehst du«, sagt Thea lächelnd und schaut auf mein BraceConnect. »Kids von MGMT.« Sie nickt anerkennend. »Ein bisschen altmodisch, aber wirklich gute Vibes. Solche Leute kann New Valley immer gut gebrauchen. Ich glaube, da hat EQUILON bei dir ein weiteres Mal bewiesen, wie gut es funktioniert.« Sie zwinkert mir zu. »Übrigens brauchst du das BraceConnect gar nicht unbedingt, wenn du die BrainDots hast. Es läuft eigentlich alles über die Hirnströme.« Sie lächelt so freundlich und aufgeräumt, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass sie je auch nur einen einzigen negativen Gedanken hat.

»Danke«, antworte ich. »Ich schau mal.«

Thea nickt mir aufmunternd zu. »Ich glaube, zu deiner Music-Line passt am besten ein Vanilla-Milkshake, was meinst du?« Milch … ich wusste es ja, dass es die hier gibt. Aber jetzt überwältigt es mich doch, dass ich tatsächlich welche haben kann.

»Soll ich dir einen bringen lassen?«

Ich räuspere mich. »Ja, danke«, sage ich, »das wäre nett«, und versuche, möglichst lässig zu klingen. Ich frage mich, warum wir eigentlich so wenig darüber gelernt haben, wie wir uns in New Valley verhalten sollen. Wenn wir es schaffen. Wir haben so viel gelernt. So viele Projekte vorangetrieben, Devices entwickelt, das Klima studiert. Aber wie ich hier mit erhobenem Haupt durchkomme, ohne mich wie die letzte Pfeife zu fühlen, weiß ich leider nicht. Ich lächle.

»Schöne Reise noch, Jenna«, sagt Thea und zwinkert mir zu. Lautlos gleitet die Glastür hinter ihr zu. Ich bin wieder allein.

Ich sinke in meinem Sitz zurück, der gleich reagiert und mich langsam in eine halb liegende Position bringt. Der Hyper-Glider hat seine Flugrichtung gedreht und nun sehe ich von meinem Fenster aus direkt in die Sonne, die jetzt knapp überm Horizont steht. Sie breitet ihr warmes Morgenlicht über alles vor ihr aus. Der Flieger ist nun so hochgestiegen, dass ich die Krümmung der Erde sehen kann. Auf einmal kann ich die Zerbrechlichkeit der Kugel unter uns erahnen. In Old B. schien mir die Welt wie eine gigantomanische Maschine, gegen die ich kämpfen muss, die uns langsam zermürbt und zerstört, mit ihren Stürmen, der Dürre, der verschmutzten Luft. Hier oben wirkt es ganz anders. Was für ein komplexes Geflecht das alles ist, die Welt.

Wie das grundsätzlich funktioniert, weiß ich natürlich schon lange. Klimamodellierung war in der Future Academy eines meiner Prime-Fächer und für das Projekt mit dem Root-Crawler musste ich auch viel über chemisch-biologische Zusammenhänge studieren. Aber beim Blick aus dem Fenster überkommt mich ein Gefühl, als könnte ich mein theoretisches Wissen erstmals spüren. Die Komplexität all dieser Einheiten, die vorher vor allem Zahlen in Tabellen waren, ist jetzt überall um mich herum und ich kann sie zum ersten Mal wirklich sehen: die Wolken, die Winde, die Wellen, das Licht, das sich in ihnen bricht, die Wärme, die das Wasser zu Dampf werden lässt, der wieder zu Wolken wird. Die Erde, die das Wasser aufnimmt und wieder freigibt, Pflanzen, Tiere, Menschen, darin verwoben, in jeden Wassertropfen, jeden Funken Licht.

Ich schließe die Augen vor der blendenden Helligkeit dort draußen und es bleibt ein warmes Dunkelrot, das durch meine Lider dringt.

»Jenna, die Welt ist viel schöner, als du es dir vorstellen kannst, glaub es mir«, höre ich die Stimme meines Opas. »Auch jetzt noch. Du musst nur hinschauen.« Er hat es mir oft und oft gesagt. Ich habe jedes Mal die Augen verdreht und »Ja, ja, früher mal« gesagt. Aber jetzt, hier, von ganz oben, kommt mir der Gedanke, dass er recht hat.

Eine Erinnerung blitzt auf, hell und klar. Mein Opa, wie er mit mir im staubüberzogenen Gemüsebeet steht. Er lächelt, obwohl gerade einer der Sandstürme unsere Arbeit vernichtet hat. Die Sonne blendet mich, überall ist Wärme. Mein Opa, ich und das gelbe Licht. Wir wischen gemeinsam vorsichtig den Staub von den Pflänzchen, damit sie vielleicht doch noch weiterwachsen können. Trotz des Sturmes. Des Sandes. Der Trockenheit.

Vor dem Kollaps, bevor EQUILON die Welt reorganisiert hat und die MegaGoods die Führung der Menschheit übernommen haben, war mein Opa Wissenschaftler. Biologe. Gemeinsam haben wir in dem kleinen Gartenstück daran geforscht, wie man auch in der Steppe Pflanzen anbauen und Tiere ernähren kann. »Das Leben, Jenna«, hat er immer gesagt. »Das Leben findet immer einen Weg. Daran musst du denken, bei allem, was du tust.« Und tatsächlich haben wir ganz gute Techniken entwickelt und unsere Pflanzen haben überlebt. Kohlpflanzen, Quinoa, Erdnüsse, solche Sachen. Ich habe mir Programmieren beigebracht. Er mit seinem Wissen über Pflanzen, ich mit meinen Codes – zusammen waren wir einfach das beste Team. Er würde nicht wollen, dass ich traurig bin und an früher denke. »Du bist das Morgen, Jenna. Und wenn du hier rauskommst, dann verschwende keine Gedanken mehr an Old B. und an mich oder Oma, hörst du? Das musst du mir versprechen. Kein Blick zurück. Keine Tränen.«

Und plötzlich schlägt die Traurigkeit über mir zusammen, dass ich laut aufschluchze. Ich werde meinen Opa wahrscheinlich nie wiedersehen. Er ist viel zu alt, um im Algorithmus noch unter die 1 Milliarde zu kommen. EQUILON wird ihn niemals auswählen, egal, wie gut er ist, so viel ist klar. Und wer einmal in New Valley ist, oder einem anderen der Safe Places, der kehrt nicht mehr zurück. Besuche sind nicht vorgesehen. E-Mails, Telefonverbindung, Post oder irgend so etwas gibt es nicht für Privatmenschen. Alle Leitungen sind gekappt. Weil das zu viel Verwirrung stiftet. In New Valley zählt nur die Zukunft. Und ich werde ein Teil davon sein. Ich werde meinen Opa stolz machen. Auf jeden Fall. Er hat so viel dafür getan, dass ich hier sitzen kann.

Es klingelt freundlich, »Der Music-Stream wird deiner Stimmung angepasst«, sagt eine Stimme und ein neuer Song ertönt.

Ein tiefer Bass spielt eine ruhige Melodie, nach und nach finden andere Instrumente leise dazu, eine Frau mit rauchiger, sanfter Stimme … Nothing’s gonna hurt you, baby, singt sie und ich weine leise. Meine Finger streichen über die nahtlose, glanzweiße Verkleidung meiner Kabine und dann muss ich lachen, weil es ja so unendlich albern und so typisch Jenna ist zu weinen, wenn man gerade auf dem Weg nach New Valley ist.

»New Valley, Jenna«, flüstere ich. »Du hast es wirklich geschafft.«

Es war ja auch alles ziemlich viel, denke ich mir. Alles so schnell und plötzlich. Ich war gerade noch auf dem Weg zum Breitscheidplatz, um mit meinen Freundinnen einen Film auf den Light-Screens anzuschauen. Da fährt plötzlich der Truck vor und zwei freundliche Herren laden mich ein mitzukommen. Sobald du den nötigen Score erreichst und EQUILON dein Profil zu der 1 Milliarde hochlädt, geht es los. Irgendwo in den Tiefen des Quantencomputers macht es ›KLICK‹ und alles wird in Gang gesetzt. Dann gibt es kein Zurück. Ein Abschied ist nicht vorgesehen. Und es ist ja auch egal. Du kehrst eh nie zurück. Was bringen da die Tränen. Und ja, dieses unangenehme Gefühl von Trauer, es weicht mehr und mehr zurück.

»Du hast es geschafft«, flüstere ich noch einmal. Und dann gleitet die Tür auf, der Servicewagen steht dort und schiebt ein Tablett zu mir. Darauf steht ein verschnörkelter Becher mit weißer Creme darin. Mit Sahne und roter Kirsche. Der Vanilla-Shake sieht aus, als sei er direkt aus einem der Filme von früher hierhergebracht worden.

»Danke«, murmle ich, weil es mir komisch vorkommt, nichts zu sagen, auch wenn es ja eigentlich nur eine Maschine ist, und nehme das schwere Glas in meine Hände. Ich sauge an dem rot-weiß gestreiften Strohhalm und der Geschmack der cremigen Süße explodiert in meinem Kopf wie buntes Feuerwerk. »Wow, wie krass ist das denn«, sage ich vor mich hin und bin wirklich froh, dass ich gerade alleine bin und keiner sieht, wie ich mich auf das Getränk stürze.

Es dudelt wieder freundlich. »Sie wollen sich über die kulinarische Kultur in New Valley informieren«, sagt die Stimme. Dann beginnt vor meinen Augen eine Sendung, in der ein junger Mann mit Schürze vor einer hohen Theke steht und sehr aufgeregt erzählt, dass er nun ein fantastisch frisches Kürbis-Gazpacho zubereiten wird. Er beginnt, die einzelnen Zutaten aufzuzählen. Ich habe zwar gar keine Ahnung, wovon er redet, aber ich schaue ihm begeistert zu und trinke den Rest von meinem Vanilla-Shake. Kürbis-Gazpacho. Das Wort allein klingt so aufregend.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie hinter dem Meer das Land auftaucht, ein grüner Schimmer am Horizont. Es stimmt also wirklich. Hier gibt es Wälder. Da unter mir stehen Bäume dicht an dicht und ihr Grün leuchtet bis zu mir hinauf. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer und endlich ist sie wieder da, diese Freude, diese unbändige Freude. »Du hast es wirklich geschafft, Jenna«, sage ich noch ein letztes Mal zu mir.

2Dorian

Mir ist vor allem eins: scheißkalt. Und ein bisschen enttäuscht bin ich auch. Ich hatte mir das Ganze irgendwie schöner vorgestellt. Schön ist vielleicht das falsche Wort, wenn man sich umbringen will. Ich meine eher sinnvoller oder erhellender. Deshalb stehe ich hier. Weil das alles keinen Sinn mehr macht. Und ich hatte gehofft, dass ich jetzt, auf den letzten Metern, einen Hinweis bekomme. Irgendwas, das ein schöner Schlusssatz wäre. Ich meine, wenigstens das könnte das Leben am Ende noch liefern. Einen guten Abgang. Als Ausgleich für all den Dreck davor.

Aber nein. War klar. Es ist einfach nur dunkel und kalt. Danke für nichts, scheiß Welt. Dann ist das Ende also genauso beschissen wie alles davor. »Tja, Dorian«, murmele ich zu mir selbst, »das war’s dann wohl.«

Eine Wächterin zieht surrend über meinen Kopf. Ich kann die kleinen Kameraaugen sehen, wie sie hin- und herhuschen, alles aufzeichnen, was unter ihr passiert. Mich nimmt sie natürlich auch auf. Und wahrscheinlich sehen die Augen auch, dass ich auf der falschen Seite des Brückengeländers stehe. Passieren wird nichts. Das interessiert eine Wächterin nicht. Sie schaut nur, ob wir leben, wie viele von uns – und ob wir etwas Illegales tun. Plastik verbrennen, um nachts warm zu bleiben, zum Beispiel. Selbstmord ist nicht illegal. Es gibt ja eh zu viele von uns. Wie gern würde ich ihr jetzt einen fetten Stein zwischen ihre miesen Roboterlinsen schmeißen. Nur bringt es nichts, sie hat natürlich einen Schutzschild. Und ich kriege noch einen Elektroschock verpasst oder sie alarmiert eine OrderUnit und die sammelt mich ein, und am Ende lande ich kurz vor Schluss noch in einem Wasteland und muss ein paar Monate Seltene Erden abbauen, bevor ich jämmerlich verrecke. Surrend verschwindet die Wächterin in der Dunkelheit, ohne weiter von mir Notiz zu nehmen. Drecksding.

Ich greife mit den Händen hinter mich ans Geländer und lass mich nach vorn hängen. Es ist dunkel, und ich kann die Schlucht unter mir nicht sehen. Das ist der Andreasspalt, da geht es locker ein paar Hundert Meter hinunter, vielleicht ein paar Tausend. Und da wartet dann kochendes Magma aus dem Erdinnern. Wer da runterspringt, der hat es wirklich hinter sich.

Das haben schon viele vor mir ausprobiert. Deswegen heißt das hier ja auch Jumpin’ Jack Flash Point. Jedenfalls unter uns, die sich im New-Future-Plan abstrampeln, hier in ExCal, Old LA. Sonst kennt diesen Ort niemand und es interessiert auch niemanden. Denn dieser Ort ist verloren, und wir haben nur die Wahl, uns abzustrampeln und abzuwarten, ob wir es noch rechtzeitig hier heraus schaffen, oder den Exit über den Jumpin’ Jack Flash Point zu nehmen.

Ich schaffe es jedenfalls nicht hier heraus. Das steht fest, auch wenn es mir keiner ins Gesicht sagt. Ich bin einfach zu weit unten. Ich habe nichts zu bieten. Kein Forschungsprojekt. Keine guten Noten. Keine Beziehungen ins New Valley. Keine Ideen. Kein gar nichts. Ich bin eine Null.

Eine warme Brise steigt plötzlich aus dem Graben auf. Der Atem der Erde, schießt es mir durch den Kopf, und ich merke, wie mir die Tränen kommen.

Ich will da nicht reinspringen. Ich will gar nicht tot sein. Aber das hier. Das Leben in so einem beschissenen Grenzland auf einem vollkommen fertigen Planeten, der keinen Platz für mich hat, das will ich auch nicht. Das ist eigentlich schon alles. Ich weiß einfach nicht, wohin.

»Das ist aber gefährlich, was du da machst! Da geht’s ganz schön weit runter!«, schreit hinter mir eine helle Stimme.

Ich erschrecke mich so sehr, dass ich mit einer Hand vom Geländer abrutsche. Einen Moment lang hänge ich nur an einem Arm über dem dunklen Abgrund, aber meine Kraft reicht, ich ziehe mich zurück an die Brüstung.

»Hast du sie noch alle? Ich wäre da beinahe runtergefallen!«, brülle ich und hänge mich mit dem Oberkörper über das Geländer. Vor meinen Augen dreht sich alles. Ich kneife sie zu, Lichtfunken blitzen durch das Schwarz. Mein Herz schlägt so wild, dass ich Angst habe, es stößt mich gleich ein zweites Mal in Richtung Abgrund.

Ich atme tief durch und schaue hoch.

Vor mir steht ein dickliches Mädchen mit Brille. Sie ist vielleicht neun oder zehn, höchstens zwölf Jahre alt. Und sie starrt mich an, ihr Mund steht ein bisschen offen. Um das Bein hat sie eine seltsame Metallschiene.

»Siehst du? Hab ich doch gesagt, das ist gefährlich!«

Sie schiebt die Brille ein Stück hoch und beißt in den Nahrungsblock, den sie mit beiden Händen festhält, als wolle ihr jeden Moment irgendjemand dieses widerliche Ding wegnehmen.

»Soll ich dir helfen?«, fragt sie mit vollem Mund. Ich kann den Riegel riechen, Kohl und Erdnüsse, und muss würgen. Dieses Zeug ist einfach total ekelhaft. Wer sich das ausgedacht hat, der bräuchte für den Rest seines Lebens täglich ein paar Ohrfeigen. Um ehrlich zu sein, die Nahrungsblöcke allein wären schon Grund genug, in den scheiß Andreasspalt zu springen.

»Nein!«, schreie ich. »Bleib bloß weg! Da gehe ich am Ende nur bei drauf!« Sie bleibt stehen und kaut. Blödes Gör, denke ich. Ich hasse einfach alles.

Ich versuche, mich auf die andere Seite zu hieven. Aber ich krieg mein Bein nicht richtig hoch, und dann muss ich plötzlich heulen. Und zwar so richtig. Die Schluchzer purzeln nur so aus mir raus, mein ganzer Körper schüttelt sich. Was für eine Riesenscheiße das alles ist. Ein gigantomanischer Haufen stinkender, widerlicher Kacke. Und ich mittendrin. Ich würde gern schreien, aber stattdessen schluchze ich nur ein bisschen lauter.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie das Mädchen sich den Rest des Riegels in den Mund stopft und zu mir läuft. Ihre schwarzen Korkenzieherlocken hüpfen bei jedem Schritt, ihr Blick ist fest entschlossen, ihre Schiene quietscht und klackert leise. Wie eine kleine, dicke Superheldin sieht sie aus, nur ohne Kostüm. Sie packt meine Jacke mit einer Kraft, die mich total überrascht, und zerrt mich über das Geländer, bis ich auf dem krümeligen Asphalt der Straße lande wie ein Sack voll toter Ratten.

»Danke«, keuche ich und heule noch ein bisschen. Aber plötzlich geht es mir besser.

»Magst du?«, fragt sie, als sei gerade gar nichts passiert, und hält mir einen frischen Nahrungsblock unter die Nase.

»Ne, danke. Lass mal«, sage ich und setze mich auf. Ich atme tief ein und rieche den Schmutz der Straße und sogar das Meer, das nur ein paar Hundert Meter von hier entfernt ist, auch wenn wir dort niemals hindürfen. Sperrgebiet. Mir ist wirklich nicht nach Essen. Aber nach Sterben ist mir auch nicht mehr.

»Wo wohnst du denn?« Das Mädchen hat mir eine Hand auf die Schulter gelegt und guckt mich forschend an. Als sei ich ein krankes Tier. Ich drehe meinen Körper so, dass ich ihrer fürsorglichen Hand entkomme, und richte mich auf.

Meine Klamotten sind ganz staubig und ich fühle mich, als wäre ich locker einen Marathon gerannt. Dass es das mal gab. Menschen, die den ganzen Tag rumgerannt sind. Einfach nur so. Und das für 40 Kilometer und mehr. Macht natürlich keine Sau mehr. Wahrscheinlich ist es sogar verboten. Energieverschwendung.

»Also, ich wohne da drüben«, sagt das Mädchen und zeigt über das ausgemergelte Feld, auf dem ein paar verstreute Quinoa-Pflanzen der Hitze und dem Sand trotzen. Dahinter sind Bretterbuden. Dort wohnen die Unsorted von Old LA. Die, die wirklich keiner mehr will. Die, die außerhalb von allem stehen.

Dahin muss man es erst mal schaffen. Denn eigentlich wohnen wir in den Collectives. Hochhäuser aus Containerboxen oder Häuser von früher, die noch stehen und sich umbauen ließen. Jedem stehen 3 Quadratmeter zu. Und Zugang zu einem Feeding-Room, in dem die Nahrungsblöcke und ab und zu sogar echtes Essen ausgegeben werden. Reisflocken, Trockenmaniok, manchmal sogar Dörrfisch. Wer in einem Collective lebt, der bekommt genug zum Überleben. Damit wir uns um unsere Projekte kümmern können, um Weiterentwicklungen, die dieser Welt helfen sollen. Die Unsorted, die bekommen nichts.

»Komm, du kannst erst mal bei uns eine Pause machen, wenn du willst.« Das Mädchen fummelt an meiner Hand rum und zieht und zupft, bis ich schließlich doch zufasse und mich von ihr führen lasse. »Ich bin übrigens Margaret, aber alle nennen mich Maggie«, sagt sie. »Meine Mama hat mich nach irgendeiner Frau von früher benannt, eine Politikerin. Meine Mama sagt, die war genauso stur wie ich.« Sie lächelt mich schief an. »Aber ich bin netter, sagt meine Mama.«

Maggie steuert auf das Feld zu. Wir bahnen uns einen Weg durch die Quinoa-Pflanzen. Der letzte Sandsturm hat ihnen ziemlich zugesetzt. Sie stehen weit auseinander, wir können bequem zwischen ihnen hindurchgehen. Manchmal streift meine Jacke eine und ihre Blätter knistern wie Papier im Feuer.

»Wie heißt du denn?«, fragt Maggie in fröhlichem Singsang.

»Dorian«, flüstere ich halb. Ich hätte jetzt echt gern meine Ruhe. Vor meinen Augen blitzt immer wieder das Bild des gähnenden Abgrunds auf, und hin und wieder frage ich mich, ob ich vielleicht doch gesprungen bin und das hier ist jetzt das Leben danach. HAHA. Wenn ich mir mein scheiß Pech vorstelle, dann ist das gar nicht so unwahrscheinlich. Angekommen in der Ewigkeit. Der Moment deines Todes, nur für immer. Was für eine Horrorvorstellung. Ich schüttele mich kurz. Die kleine Maggie schnattert einfach weiter, als sei nichts weiter passiert und wir würden durch einen Park spazieren.

»Dorian …« Sie zieht das »N« in die Länge, als würde sie gleich anfangen, ein verdammtes Lied aus meinem Namen zu machen. »Klingt ganz hübsch. Hab ich aber noch nie gehört, glaube ich. Warum heißt du denn so?«

»WARUMHEISSTDUDENNSO?! Was für eine bescheuerte Frage!«, schnauze ich sie an. »Weil meine Eltern mich so genannt haben, du Superhirn!«

Ich mache mich von ihrer Hand los. Wir stehen mitten auf dem Feld und schauen uns an. Sie stemmt ihre Hände in die Seiten und schaut mich grinsend an, als hätte sie mein ganzes Geschrei nicht gehört.

»Ja, aber WARUM haben dich deine Eltern so genannt?«, fragt sie und reckt triumphierend ihren Zeigefinger in die Höhe, als hätte sie gerade die Relativitätstheorie neu berechnet.

Ich verdrehe die Augen und gehe einfach weiter auf die Baracken zu. »Keine Ahnung«, murmele ich mehr zu mir selbst. »Meine Eltern sind tot.« Und wenn Miss Maggie hier mich weiter so vollquakt, dann schmeiße ich sie eigenhändig in den Andreasgraben.

»Meine Eltern sind auch tot«, sagt sie nicht mehr ganz so fröhlich, aber doch ziemlich unbefangen.

»Hä? Du hast doch gesagt, du bringst mich zu deiner Mama?«

»Ja, na ja, das ist Hannah. Hannah ist schon meine Mama. Aber sie hat mich nicht geboren. Ich sage einfach Mama zu ihr. Das ist einfacher.« Sie zuckt mit den Schultern und ich schüttele den Kopf. Was für ein merkwürdiges Kind. Ich beschließe, mich auf meinen Weg zu konzentrieren, auf meine eigenen zwei Beine. Es ist eh am besten, für sich zu bleiben. Dann kann einem auch niemand im Weg stehen.

»Wir sind da«, ruft Maggie mir hinterher, und ich merke jetzt erst, dass ich an den Baracken vorbeigelaufen bin, immer schön zwischen dem Quinoa hindurch.

Maggie lehnt an einer Brettertür. Man kann dahinter funzelige Lichter erahnen.

»Hm«, grunze ich und gehe das kurze Stück wieder zurück. So lässig es geht. Obwohl ich mir schon ziemlich dämlich vorkomme. Was für ein absoluter Dreckstag.

3Jenna

Ich fühle mich, als würde ich über meinem Körper schweben, meine Gedanken sind wie Watte. Das muss die Müdigkeit sein.

Alles scheint mir so unwirklich. Als würde ich durch ein Bild laufen, in dem alles makellos ist, alle Farben aufeinander abgestimmt, jedes Licht perfekt gesetzt, auch die letzte Ecke weiß und rein. Immer wieder kneife ich die Augen zusammen, weil ich ihnen irgendwie nicht traue.

»Welcome to the Airport of NEWVALLEY, the future of the world«, klingt eine sanfte Frauenstimme aus unsichtbaren Lautsprechern.

Der Flughafen ist ein Gebäude aus Glas und Stahlrohren und wirkt so leicht, als wolle das Dach über mir gleich abheben und losfliegen. Die Metallstreben, die alles stützen, sind so dünn, dass es fast nicht zu glauben ist, dass das alles hält. So ein stabiles, leichtes Material würde in Old B. ziemlich helfen. Ich habe dort immer überlegt, wie man eine ultraleichte, zugleich aber starke Drohne bauen könnte, um Kranke zu unserer einzigen Medizinstation zu bekommen. Mit solchem Metall könnte es klappen. Ich fange an zu überlegen, wie man die Rotorblätter bauen könnte – wenn man das Metall dünn auswalzt, könnte es funktionieren, allerdings müssten die Rotorblätter mehrere Meter lang sein … –, aber dann geht Thea an mir vorbei und sagt: »Husch, husch! Wir müssen uns beeilen, dein Transport kommt bestimmt sehr pünktlich. Hier in New Valley sind alle immer on time! Da geht’s nicht so locker zu wie bei euch im Grenzland. Je schneller du dich daran gewöhnst, desto besser!« Sie lacht und ich gehe ihr hinterher, den Gang entlang.

Obwohl wir drinnen sind, ist das Licht golden und warm. Ich schaue mich nach den Lampen um. Es dauert eine Weile, bis ich verstehe, dass es keine einzelne Lichtquelle gibt. Über uns schwebt eine Wolke aus winzigen goldleuchtenden Punkten. Beinahe glaube ich, ich träume, und kneife wieder die Augen zusammen, aber da sind sie noch immer, diese goldenen Mini-Sternchen. Wie winzige Feen, denke ich. Wie magische Wesen aus einer anderen, besseren Welt. Ich zeige hinauf und bringe nur ein »Was …?« heraus.

Thea tritt neben mich und drückt sacht meinen Arm hinunter. Sie grinst mich an und zwinkert. »Wenn du dich nicht überall als NewEntry bloßstellen willst, dann musst du dein Staunen aber noch ein bisschen in den Griff bekommen.« Sie streicht mir sacht über die Wange. »Aber ich mag eure Unschuld, wenn ihr kommt«, murmelt sie, wie zu sich selbst. Wie meinst du das?, will ich erst fragen, aber das scheint mir unhöflich.

»Aber was ist das?«, frage ich stattdessen.

»Das?« Thea schaut nach oben und ich mit ihr, und es sieht noch immer so wunderschön aus, dieses Schweben aus Licht. »Das sind die Lights in the Sky«, sagt sie und zieht mich sacht weiter in Richtung Ausgang. »Seit fünf Jahren ersetzen sie nach und nach die meisten Lichtquellen in New Valley. Im Prinzip sind es Mikro-LEDs, die extrem leicht sind und mithilfe von Magnetismus und Luftströmungen aus den Klimaanlagen in der Schwebe gehalten werden. So ganz genau kann ich es dir nicht erklären.« Thea wirft noch einen letzten Blick nach oben. »Ja, sie sind wirklich sehr hübsch, aber man gewöhnt sich halt an alles.« Ich gucke noch ein bisschen länger. Ich meine, was für eine absolut fantastische Idee! Ich würde gern die Leute kennenlernen, die die Lights in the Sky entwickelt haben.

Wir treten aus dem Flughafengebäude. Nach den vielen Stunden in klimatisierten Räumen und dem Hyper-Glider ist die warme Luft wie eine Wand, gegen die ich laufe. Ich fühle feine Feuchtigkeit auf meiner Haut, wie ein Regen, aber viel, viel weniger. Und da fällt mir ein, dass ich ja jetzt am Meer bin und nicht mehr in der Steppe, die Old B. umgibt. In meinem Bauch kribbelt es.

Das Meer … mein Leben lang habe ich vom Meer geträumt. Als Baby war ich wohl schon einmal dort, aber dann haben die MegaGoods die Welt neu organisiert und es wurden die Sektoren eingeführt. Seitdem kostet das Reisen Punkte im Score, und zwar viele. Also habe ich weiter nur vom Meer geträumt. Niemand in den Grenzländern reist. Denn niemand von uns würde Punkte opfern, solange wir nur die kleinste Chance auf die 1 Milliarde haben.

Aber jetzt werde ich hier leben, direkt am Meer. Ich kann es schon in der Luft spüren. Die Feuchtigkeit, das Salz. Ich höre ein Kreischen und drehe mich um. Hinter mir landet ein großer weißer Vogel auf dem Vordach des Ausgangs. Seine Flügel sehen aus wie aus dem kostbarsten Stoff gewebt. Der Schnabel ist knallgelb und hat einen roten Punkt.

»Eine Möwe«, sagt Thea lachend. »Nimm dich vor den Biestern bloß in Acht. Sie sind extrem diebisch. Und verwöhnt. Wie alle Wildtiere genießen sie die höchste Schutzstufe.« Ich nicke und freue mich schon darauf, wenn ich in einem unbeobachteten Moment einen dieser Vögel mit Futter zu mir locken kann. Vielleicht schaffe ich es auch, sein Gefieder zu berühren?

Als hätte die Möwe meine Gedanken gehört, hebt sie den Flügel, macht sich dort mit dem Schnabel zu schaffen, und eine zarte Feder schwebt zu mir herab. Ich strecke die Hände aus und fange sie auf. Sie hat tatsächlich kein Gewicht und ist vollkommen weiß. Hastig umschließe ich die Feder mit meiner Faust und stecke sie in die Tasche meines Kleides, dort, wo ich auch die BrainDots deponiert habe. Sie sind mir einfach noch ein wenig unangenehm. Ich schaue mich nach Thea um. Sie ist ein paar Schritte weitergegangen und scheint nach etwas Ausschau zu halten.

Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen, aber sie schwirren in meinem Kopf umher, flatterhafte Geister, die sich auflösen, sobald ich sie greifen will.

Obwohl der Flug selbst nur 10 Stunden gedauert hat, bin ich seit über 24 Stunden wach. In Old B. wäre jetzt Nacht. Oder schon früher Morgen? Sosehr ich auch nachdenke, es fällt mir einfach nicht ein, wie die Zeitzonen funktionieren. Der fehlende Schlaf liegt wie Schleifpapier auf allem. Panik kriecht in mir hoch und schiebt sich dunkel und schwer vor die Aufregung und Freude in mir. Ich bin am anderen Ende der Welt und ich bin mutterseelenallein.

»Da ist es!«, ruft Thea in diesem Moment mit staunenden Augen. »Du hast ja wirklich die Wahrheit gesagt!« Ich blicke suchend ihrem Finger hinterher und schaue auf ein flaches Gefährt, das durch die Luft auf uns zuschwebt. »Das ist das Pickup-Taxi von VERO!«

Und nun sehe ich die Schrift, die über dem Taxi in die Luft projiziert wird: WELCOMEJENNAMILLS.

 

Und dann ist es da. Das Meer. Nicht spektakulär. Weniger funkelnd und exotisch, als es vorhin schien. Und doch unermesslich und wunderschön. Wie kann man das beschreiben, das Gefühl, dass es nichts gibt, was im Weg steht? Dass man nur schauen kann, endlos schauen, und unter dem Blick wogt sanft das Wasser und rauscht an den Strand, wo die Wellen dann erschöpft auf den Sand taumeln und verschwinden.

Die Kabine des Flugtaxis ist aus gebogenem Glas, nur der Boden und der gewärmte Sitz erinnern mich daran, dass ich nicht frei in der Luft schwebe. Über mir wirbeln lautlos Dutzende Rotoren und halten das Gefährt in der Luft. Wenn ich mich an die Scheibe drücke, kann ich mir für ein paar Momente vorstellen, wie sich die Möwe fühlen muss. Frei, nur umgeben von Luft und unter sich die schier grenzenlose Welt. Und dann wird mir klar, ich bin ja eigentlich wie die Möwe. Ich bin hier, am Meer, und die Welt ist nun grenzenlos für mich. Endlich. Ich spüre, wie ein Lachen meine Augen zusammendrückt und meinen Mund in die Breite zieht. Ich kann nichts dagegen tun.

• •

VERO ist die wichtigste Firma in New Valley, und deshalb hat sie wohl auch die schönste Location. Das Gelände liegt direkt am Meer auf einer kleinen Halbinsel, umgeben von Klippen, nur an der nordwestlichen Seite ist ein Sandstrand.

Das Taxi macht eine Drehung. Ein bisschen seltsam ist es schon, dass da niemand sitzt, der das Ding steuert – aber so sind die Dinge in New Valley eben. Eine Technik, die so perfekt ist, dass sie wirkt wie Zauberei. Daran werde ich mich schon gewöhnen. Vor allem freue ich mich darauf, dahinterzublicken. Zu verstehen, wie alles funktioniert. Und dann, wenn ich genug weiß, die Welt noch besser zu machen. Hier. Und vielleicht auch in den Grenzländern.

Das Taxi macht eine 180-Grad-Kurve und geht in den Sinkflug – und mir bleibt der Mund offen stehen. Vor mir liegt ein riesiges Gelände unter einer gigantischen gläsernen Kuppel. Die weißen Gebäude darunter wie geschliffene Steine, umgeben von Grün. VERO sieht unwirklich aus und wunderschön. Und dort, genau dort, werde ich arbeiten!

Ich möchte schreien vor Glück, aber ich bin nicht allein. Am Landeplatz begrüßen mich zwei junge Frauen.

»Willkommen, Jenna«, sagen die beiden. Sie winken herzlich zu mir herüber und lächeln so, als würden wir uns ewig kennen. Auch sie haben diese schrecklich weißen Zähne und blondes Haar mit glitzernden Strähnen darin. Ich gehe auf sie zu und strecke ihnen die Hand entgegen, aber ein tiefes Brummen ertönt und ich bekomme einen sanften Stromschlag, der nicht wehtut, aber vor Schreck reiße ich meine Hand zurück.

»Entschuldige, das ist ein Distancer. Wir bringen dich erst zur AnkunftsWellness, danach ist er nicht mehr nötig«, sagt die etwas Größere und beide erheben die Hand zum Vulkaniergruß. Ich nicke stumm und frage mich, wie man es schafft, dass sich die Spannung dieses Distancers nicht weiter überträgt. Denn eigentlich ist Elektrizität ja nicht aufzuhalten, wenn sie erst mal freigesetzt ist. Es muss ihnen also gelungen sein, die Übertragung zu stoppen, wahrscheinlich mithilfe eines nicht leitfähigen Gases? Aber vielleicht funktioniert es auch ganz anders. Von Nano-Technologie habe ich eher wenig Ahnung. Meine Stärke ist das Programmieren.

»Mein Name ist übrigens Mary«, schiebt die Größere hinterher und geht langsam vorweg. »Und das ist Katie.« Katie lächelt mich an. Sie sieht aus wie die etwas niedlichere Version von Mary. Sie ist kleiner und hat eine Stupsnase, aber sonst sehen sie sich ziemlich ähnlich. Beide haben hellbraunes Haar, rosig glänzende Wangen und herzförmige Gesichter. Ob sie Schwestern sind?

Womöglich denke ich das aber auch, weil sie so gleich gekleidet sind. Beide tragen hellgraue, eng anliegende Oberteile, hochgeschlossen und an der Schulter geknöpft. Marys hat enge, lange Ärmel, und Katies weite, kurze. Der Stoff schimmert sanft bei ihren Bewegungen. Beide tragen schmale dunkle Hosen. An den Seiten ist ein netzartiges Material eingearbeitet. Und dazu Turnschuhe, wieder in Hellgrau. Bis auf ihre Frisuren und ihr Make-up sehen sie aus, als könnten sie gleich losjoggen – und gleichzeitig wirken sie so stilvoll dabei, als seien sie Filmdivas aus vergangenen Zeiten.

Die feinen Stoffe umspielen ihre Körper, während sie vor mir hergehen, ihre Bewegungen präzise und elegant zugleich.

Mir wird mein adrettes Kostüm bewusst. Am liebsten würde ich es herunterreißen. Meine Oma hat dafür extra eines ihrer alten Kleider umgearbeitet. Aus der Zeit von vorher ist der Stoff, Wolle und Seide, was wohl schon damals etwas Besonderes war. In Old B. war ich so stolz darauf, es schien mir todschick. Nun komme ich mir darin altbacken und verloren vor. Seltsam, wie mein altes Ich hier zerbröselt. Ich war eigentlich immer die Coole. Die, die wusste, wie es läuft. Die, die immer eine Lösung hatte. Hier bin ich vor allem klein und unwissend.

Die beiden lassen sich nichts anmerken, obwohl ich aussehen muss wie das fehlerhafte Teil, das man aus einer harmonischen Reihe heraussortieren muss. »Komm«, sagt Mary. Ihre Stimme ist jetzt ganz sanft. »Wir zeigen dir den Weg.«

Wir gehen durch ein Tor in die durchsichtige Kuppel, die das Grundstück von VERO umgibt.

Drinnen ist die Luft ganz ruhig, ich höre die Geräusche von Vögeln, exotisch und geheimnisvoll. Ich habe bisher selten Vögel gehört, und diese klingen ganz anders als die, die ich schon kenne. Einer macht ein melodisches Geräusch, das in einem hohen Quietschen endet. Der Nächste singt ein langes, kompliziertes Lied, klangvoll und ein bisschen traurig. Zwischen den Gebäuden wachsen hohe Büsche mit riesigen kelchförmigen Blüten. In der Luft liegt ein feiner süßlicher Geruch. Schmetterlinge schweben umher. Es muss ziemlich aufwendig sein, diese fast tropische Welt aufrechtzuerhalten. Und eigentlich scheint es mir ein bisschen übertrieben. Warum reicht nicht das Meer vor der Tür? Aber natürlich ist es schön. Sehr, sehr schön. Wie ein Zauberland. Und vielleicht ist das ja der Grund: dass wir uns hier alle ein wenig wie magische Wesen fühlen sollen. Magische Wesen, für die alles möglich ist. Damit wir dann wirklich alles möglich machen. Wir sollen hier schließlich die Welt retten, hat man uns auf der Future Academy beigebracht.

Ich lasse meinen Blick schweifen. Das Glas über uns ist kaum zu erahnen. Und dennoch kann ich es spüren. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht ist es der fehlende Wind. Vielleicht liegt es daran, dass sich Geräusche verändern, wenn sie in einem geschlossenen Raum sind. In einem solch großen umschlossenen Areal fällt es wahrscheinlich nicht stark auf. Aber es muss doch einen Effekt haben, dass der Raum nicht offen ist, bis hinauf zum Weltall.

Ein Gefühl von Geborgensein breitet sich in mir aus. Alles hier fühlt sich so sanft und mild an. Ich kann mir nicht vorstellen, dass an diesem Ort je etwas Unangenehmes passiert. »Und das ist jetzt dein Zuhause«, murmelt eine Stimme in meinem Kopf, und ich muss unwillkürlich grinsen.

»Eigentlich hat New Valley ein recht angenehmes Klima«, sagt Mary und zeigt nach oben. Sie muss meinen Blick bemerkt haben. »Aber unser Gründer wollte die perfekte Atmosphäre schaffen, die für die menschliche Natur beim Arbeiten am angenehmsten ist. Darauf sind Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Licht genau abgestimmt. Bei VERO ist nichts zufällig. Deshalb das Glas.«

Nach wenigen Metern bleiben wir vor einer Tür stehen, ein Blumenkranz hängt über dem Rahmen. Ich spüre den kurzen, aber heftigen Impuls, sie herunterzureißen und ihnen Wasser zu geben. Blumen! Und so wunderschöne! Gelb und rosa sind sie, in verschiedenen Schattierungen. Jemand hat sie mit dunkelgrünen Blättern zu einer Girlande gewunden. Warum hängt man sie so auf, ohne Wasser, sodass sie kaum einen Tag durchhalten können? Das will mir nicht in den Kopf. Aber vermutlich gibt es hier in New Valley auch dafür eine Erfindung, irgendetwas, das die Blumen wie durch Zauberhand am Leben erhält.

»Willkommen, Jenna. Sprich, Freund, und tritt ein«, säuselt eine dunkle Männerstimme aus dem Nichts. Mary zwinkert mir zu. »Ein kleiner Scherz unseres Entwicklungsleiters. Dahinter ist die AnkunftsWellness. Du musst ›Mellon‹ sagen. Dann geht die Tür auf.«

»Mellon?«, wiederhole ich langsam. Was für ein merkwürdiges Wort.

»Ach, nicht so wichtig. Das hat er aus einem alten Buch. Sag es einfach. Wir holen dich in einer Stunde wieder hier ab.« Ihr Blick wandert für den Bruchteil einer Sekunde an mir hinab. Aber ich weiß sofort, was los ist. »Neue Kleider bekommst du natürlich auch«, sagt sie und lächelt milde. Das Blut schießt mir in den Kopf. Aber bald habe ich das ja hinter mir.

• •

Kaum bin ich durch die Tür gegangen, nehmen mich zwei ältere Damen in Empfang. Ihre Haare sind kurz und schwarz, ihre Haut erinnert mich an die Kastanien, die wir in Old B. früher gesammelt haben. Sie führen mich in eine Art Umkleidekabine. Das Licht ist sanft und gedämpft, auch hier schwebt eine schimmernde Wolke der Lights in the Sky über uns und ihr Licht bricht sich in den glatten beige-goldenen Wänden. Es duftet würzig und schwer, so, wie ich mir den Geruch eines Waldes vorstelle.

Bevor ich verstehe, was los ist, beginnen die beiden Frauen, mir die Kleider auszuziehen.

Ich kann mich vor Überraschung und Scham kaum rühren. Es dauert einen Moment, aber dann verstehe ich, dass die beiden Roboter sind. Woran ich es merke, ist nicht leicht zu sagen. Ihre Bewegungen sind ein klein wenig mechanisch. Sie schauen mich und einander nicht an. Zwischen ihnen scheint es gar keine Bindung zu geben, keine kleinen Blicke, keine Reaktionen aufeinander. Und dabei sind nur sie beide hier. Sie müssten sich in- und auswendig kennen. Jedenfalls entspanne ich mich sofort, als mir klar wird, dass das eben Maschinen sind, wenn auch sehr, sehr hoch entwickelte. Maschinen ist es egal, ob ich nackt bin oder ob ich ein hässliches Kleid trage.

»Bitte heben Sie die Arme!«, sagt die eine und ich gehorche ihr. Die Stimme klingt ganz und gar menschlich, aber wie sie mit mir redet, mich anschaut und eigentlich doch nicht ansieht, ist einfach nicht so, wie es mit einem Menschen wäre.

Dass in New Valley jede risikoreiche Tätigkeit von Robotern übernommen wird, habe ich schon oft gehört. Dass mir das mal passieren würde, das hätte ich nie gedacht.

Natürlich bin ich ein Risiko. Weil ich aus einem Grenzland komme. Bei uns gibt es immer wieder Ausbrüche neuer Krankheiten, wiederkehrende Seuchen, die jedes Jahr viele Menschen das Leben kosten. Die wollen sie hier natürlich nicht. Ich entspanne mich und lasse mich von den beiden entkleiden, als wäre ich ein kleines Kind, bis ich schließlich ganz nackt vor ihnen stehe.

Die beiden Roboterfrauen nehmen mich in ihre Mitte und führen mich in einen Raum mit glatten Wänden ohne Fenster. Es ertönt eine beruhigende Musik, die hauptsächlich aus vollen Gongklängen besteht und den lang gezogenen Tönen einer Flöte.

Es hat etwas Heiliges. So stelle ich mir die Kirchenmusik von früher vor, von der mir meine Oma erzählt hat. Wie es ihr wohl geht? Ich kämpfe gegen die Erinnerung an. Lass dich nicht von der Vergangenheit aufhalten, Jenna, sage ich zu mir.

Auf einmal fühle ich meinen Herzschlag im ganzen Körper. Ich bin mir sicher, gleich wird etwas Besonderes passieren. Ein wohliger Schauer überfällt mich. Ob es hier auch diese Schwingungen gibt, die das Wohlbefinden steigern? So wie im Hyper-Glider?

Das Licht wird plötzlich dunkler, es bleibt nur ein rötlicher Schimmer, und einen Moment lang überkommt mich Panik, wie ein stummer Schrei. Ich drehe mich zur Tür, doch die ist zugeglitten, die Roboter sind fort.

»Lass los, Jenna«, wispert eine Stimme. Ich bin mir nicht sicher, ob sie aus meinem Inneren kommt oder von außen. Dampf steigt vom Boden auf, ein seltsam scharfer Geruch liegt darin. Mein Körper beginnt vor Angst zu zittern. Ich versuche, ihn wieder unter Kontrolle zu kriegen. Ich sage mir, dass alles in Ordnung ist. Wenn mich jemand umbringen wollte, dann hätte er das in Old B. wirklich leichter haben können. Dafür muss man keinen Menschen um die halbe Welt fliegen, noch dazu im Hyper-Glider. Aber es hilft nichts, ich zittere und zittere, Angst schnürt mir die Kehle zu, ich kann kaum schlucken.

»Lass los, Jenna, lass los«, wispert die Stimme erneut, und dann rieselt Wasser von der Decke. Ein warmer Regen, wie ein Streicheln. Der Geruch verändert sich, wird milder und schließlich blumig und zart. Von der Musik bleibt nun ein voller Ton, der sich zu einer Ewigkeit auszudehnen scheint. Meine Haut kribbelt, als wolle sich mein Inneres nach außen kehren oder sich auflösen oder beides auf einmal. Meine Zähne klappern aufeinander, ich krieg sie einfach nicht unter Kontrolle, sosehr ich auch versuche, meine Kiefer aufeinanderzupressen. Dann kann ich meine Blase nicht mehr kontrollieren und Tränen fließen aus meinen Augen, ich kann sie in dem Wasser schmecken, das mir in den Mund rinnt.

Gerade als ich denke, jetzt halte ich das alles nicht mehr aus, tut es in mir einen stummen Knall, wie eine umgekehrte Explosion, und alles wird ganz ruhig, sogar meine Gedanken. Stille breitet sich in mir aus, wie ein weiter, dunkler See.

 

Und dann ist plötzlich alles vorbei. Die Musik verstummt, das Licht wird wieder hell und freundlich, es regnet kein Wasser mehr auf mich herab. Zurück bleibt wohlig warmer Dampf. Die Türen gleiten lautlos auf, stumm hüllen mich die beiden Roboter in dicke Handtücher, als sei nichts passiert. Sie sagen wie mit einer Stimme: »Willkommen, Jenna Mills. Wir werden Sie nun einkleiden.«

Ich genieße es, wie sie zu zweit um mich herumhuschen, mich mit gekonnten Griffen eincremen, mir die Haare föhnen, als könnte ich das nicht selbst. Natürlich könnte ich das alles selbst. Aber es ist einfach ein schönes Gefühl, so ganz und gar geborgen zu sein, versorgt von zwei Robotern, denen jeder Makel an meinem Körper gleichgültig ist, die keinen Neid und keine Enttäuschung kennen, vor denen ich mich nicht schlecht fühlen muss, dass sie sich um mich kümmern, anstatt um sich selbst. Denn sie brauchen ja nichts, sie wollen nichts und sie fühlen nichts.

Auch ich bekomme eine blassgrau schimmernde Bluse. Meine hat Puffärmel, die an den Unterarmen eng zugeknöpft sind. Und auch die Hosen und Schuhe gleichen denen von Katie und Mary.

Schließlich macht mir eine der Roboterfrauen eine Frisur, während die andere sich an meinem Gesicht zu schaffen macht. Im Spiegel kann ich zuschauen, wie ich mich auf eine seltsame Art verwandle, wie sich Strich für Strich und Tupfer für Tupfer ein neues Gesicht zusammensetzt.

Ich ähnele mir noch, aber ich erkenne mich kaum. Meine Haut wird ebenmäßig bemalt, die blassen Wangen werden rosig gepudert. Ich muss an ein Ferkel denken, als ich mich betrachte. Aber nein, Jenna, versuch es positiver, vielleicht erinnert meine Gesichtsfarbe jetzt auch an eine Hibiskusblüte. Darunter setzt der Roboter sehr präzise eine dunkle Markierung, ein Rotbraun wie erdverschmierte Rüben, und die Form meines Gesichts scheint sich seltsam zu verändern. Weniger pausbäckig. Erwachsener.

Meine Wimpern werden mit schwarzer Farbe gebürstet, die Augenbrauen zurechtgezupft, die Lider mit glänzenden Farben betupft, dunkle näher ums Auge herum, zu den Brauen hin wird die Farbe rosig hell. Mein Blick bekommt etwas Hungriges, die Müdigkeit fällt kaum noch auf. Die Lippen bestreichen sie mit einem mattdunklen Rot, das mich an das Märchen von Schneewittchen erinnert. Als hätte ich gerade aus meinem Mund geblutet, muss ich denken, fast unheimlich. Meine Haare werden in Wellen gelegt und bekommen auch diese glitzernden Strähnchen, die einfach mit einer Art Stift hineingemalt werden.

Jede einzelne dieser kleinen Veränderungen würde für sich vermutlich kaum etwas ausmachen, vielleicht sogar lächerlich wirken. Doch alles miteinander fügt sich zu einem Bild. Am Ende kann ich es kaum fassen, was aus mir geworden ist. Ich trete an den Spiegel und betaste sacht mein Gesicht. Mein Spiegelbild tut dasselbe. Es ist real. Und doch fällt es mir schwer zu glauben, dass das wirklich ich bin, als habe mir jemand eine neue Haut übergezogen, ein neues Ich.

Ich wusste natürlich von Make-up. Aber in Old B. ist das schon lange eine überflüssige Maßnahme. Auf dem Schwarzmarkt kann man welches bekommen, klar, doch niemand, der sich Chancen auf den EQUILON-Score ausrechnet, würde jemals welches tragen. Denn es weiß ja keiner, wie das genau bewertet wird. Wir werden regelmäßig gefilmt, in den Bildungseinrichtungen, unseren Projektarbeitsplätzen, sicher auch an anderen Orten. Warum sollte die KI, die die Bilder auswertet, nicht auch einen Make-up-Scanner installiert haben? Es wäre ja ein klarer Verstoß gegen die geltenden Gesetze, und das gibt immer einen Punktabzug.

Ich wusste, dass es möglich ist, sein Äußeres zu beeinflussen. Aber dass es solch eine Veränderung sein würde, das hätte ich nicht gedacht. Ich sehe aus, als lebte ich in einem Märchen.

»Ihre AnkunftsWellness ist abgeschlossen, Jenna Mills«, sagt einer der Roboter und dreht den Spiegel zur Seite. Ich werfe mir einen letzten Blick zu, ein wohliger Schauer überfällt mich. Hier bin ich, es kann beginnen. Meine Zukunft hat angefangen.

Sie führen mich zum Ausgang. Meine Kleider, will ich sagen, was wird aus denen? Und ich denke an die kleine, gewichtslose Feder, die ich mir vorhin in die Tasche gesteckt habe. Aber dann schweige ich und lasse mich fortführen, denn eigentlich ist es ja auch egal. Was soll ich hier mit den alten Fetzen.

4Dorian

»Mama, ich bin zu Hause!« Ich zucke zusammen. Die Kleine hat ein ziemliches Organ. Vorsichtig tapse ich hinter Maggie in die kaum beleuchtete Hütte.

Die Luft nimmt mir fast den Atem. Nicht, dass es in Old LA sonst wahnsinnig gut riechen würde. Aber das hier, das ist krass. Es riecht nach Moder und ungewaschenen Menschen. Nach altem Essen, nach Schimmel und irgendetwas, das ich kaum benennen kann, aber das noch schlimmer ist als alle anderen Gerüche zusammen. Es riecht nach Tod.

»Wo bleibst du denn?« Maggie zerrt mich am Ärmel in die Hütte. Ich unterdrücke ein Würgen und gehe weiter ins Dunkel hinein.

»Ich will dir Mama vorstellen!«, sagt sie und klingt dabei so stolz, dass mir gleich wieder zum Heulen ist. Mit ein paar Schritten haben wir die Hütte durchquert.

Überall stapeln sich alte Kisten, Berge von Klamotten, schiefe Schränke. Maggie muss meinen Blick bemerkt haben. »Mama sagt nie Nein. Sie nimmt jedes Geschenk an, auch wenn es eigentlich nur Mist ist.« Sie zuckt mit den Schultern. »Und dann liegt das Zeug hier halt rum.«

»Ah«, sage ich, obwohl ich keine Ahnung habe, wovon sie da redet. Aber vielleicht ist das auch egal.

Was mache ich hier eigentlich? Ich sollte auf dem Hacken umdrehen und zusehen, dass ich wegkomme. Ich bin auch einfach zu dämlich, kein Wunder, dass ich nicht klarkomme. Anstatt entweder in den Andreasgraben zu springen oder an meinem verdammten Score zu arbeiten, schlurfe ich durch eine stinkende Bretterhütte bei den Unsorted. Es geht das Gerücht um, dass man registriert wird, wenn man sich mit Unsorted abgibt. Das gibt Abzüge beim Score, und zwar heftige. Genau weiß ich es natürlich nicht, niemand weiß genau, was alles Punktabzüge gibt. Aber bei meinem Glück ist man für immer aus dem Score raus, wenn man mit Unsorted erwischt wird.

Maggie schiebt eine Art Vorhang beiseite. Es sind aneinandergeheftete Stofffetzen, die zusammen groß genug sind, einen Teil der Baracke abzutrennen.

Hinter dem Vorhang brennt eine kleine, aber sehr helle Lampe. Sonst ist es dunkel. Ich erkenne ein Lager. Das Licht bescheint ein fahles, eingefallenes Gesicht, das auf einigen ausgestopften Säcken ruht. In mir zieht sich alles zusammen.

»Hallo, Mama!«, flötet Maggie und hüpft auf das Bett zu. »Hast du gut geschlafen?«

Das fahle Gesicht bewegt sich auf dem Kissen und die Augen öffnen sich.

»Hilfst du mir, mein Kind?«

Maggie weiß offenbar, was zu tun ist. Sie zieht an den Armen der Gestalt, bis sie aufrecht sitzt.

»Schau mal, ich habe wen mitgebracht. Dorian heißt er. Ich glaube, er könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen.« Maggie zeigt auf mich. »Stell dir vor, er war so dumm und ist bei der Brücke fast in den Andreasspalt gefallen.« Sie schüttelt heftig den Kopf, als könne sie wirklich kaum glauben, wie dumm ich bin.

Hilfe? Denke ich. Wer soll mir denn hier helfen? Die können sich doch selbst nicht helfen!

»Ich wollt gar nicht stören«, sage ich und versuche, sehr, sehr fröhlich und heiter zu klingen. »Mir geht’s prima. Ist ja nichts passiert.«