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Wedekind selbst spielte auf der Bühne den Dompteur seiner »Schlange« Lulu, ein anderes Mal Lulus Mörder. Doch das Faszinosum Lulu lässt sich nicht bändigen - bis heute. Lulu scheint aus dem Nichts zu kommen. Ihr Wesen betört die Männer - egal, ob Arzt, Künstler oder Zuhälter - rasch so sehr, dass sie ihr verfallen und tragisch enden. Ist diese geheimnisvolle Frau deshalb so begehrt, weil jeder Mann in ihr sich selbst und sein eigenes Wunschbild lieben kann? In den Lulu-Dramen führt Frank Wedekind die Gestalt jedenfalls nicht nur bei ihrem strahlenden Aufstieg, sondern auch in ihrem Verfall vor. Sie gerät erst in die Prostitution und schließlich in die mörderischen Hände des Serienkillers Jack. Es stellt sich die Frage: Ist Lulu die männerfressende Femme fatale oder Opfer männlich geprägter Machtverhältnisse? Mit seinem Lulu-Dramen hat Frank Wedekind eine hellsichtige Analyse der Geschlechterbeziehungen, aber auch der Wirtschafts- und Machtstrukturen seiner Zeit geschrieben, die nichts an Aktualität verloren hat. Die Lulu-Dramen »Erdgeist« und »Die Büchse der Pandora« zählen immer noch zu den bekanntesten deutsch-sprachigen Dramen und werden weltweit gespielt. Lulus Erotik und Gleichgültigkeit, Stärke und Schwäche wirken noch heute verführerisch und verstörend - auf jeden Fall faszinierend.
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Seitenzahl: 305
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FRANK WEDEKIND
Werke in Einzelbänden
Herausgegeben von Ariane Martin
Editions- und Forschungsstelle
Frank Wedekind (Mainz)
Frank Wedekind
ErdgeistDie Büchse der Pandora
Die Lulu-Doppeltragödie
Herausgegeben vonANDREA BARTL
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2022
www.wallstein-verlag.de
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf, unter Verwendung einer Illustration von Aubrey Beardsley »Cinesias Entreating Myrrhina to Coition« (1869)
ISBN (Print) 978-3-8353-3865-4
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4587-4
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4588-1
Erdgeist.Tragödie in vier Aufzügen
Prolog
Erster Aufzug
Zweiter Aufzug
Dritter Aufzug
Vierter Aufzug
Die Büchse der Pandora.Tragödie in drei Aufzügenmit einem Prolog
Vorwort
Prolog in der Buchhandlung
Erster Aufzug
Zweiter Aufzug
Dritter Aufzug
Anhang
Editorische Notiz
Erläuterungen
Selbstzeugnisse
Dokumente
Nachwort
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Zeittafel
Register
»Mich schuf aus gröberm Stoffe die Natur,
Und zu der Erde zieht mich die Begierde.
Dem bösen Geist gehört die Erde, nicht
Dem guten. Was die Göttlichen uns senden
Von oben, sind nur allgemeine Güter;
Ihr Licht erfreut, doch macht es keinen reich,
In ihrem Staat erringt sich kein Besitz.
Den Edelstein, das allgeschätzte Gold
Muß man den falschen Mächten abgewinnen,
Die unterm Tage schlimmgeartet hausen.
Nicht ohne Opfer macht man sie geneigt,
Und keiner lebet, der aus ihrem Dienst
Die Seele hätte rein zurückgezogen.«
Willy Grétor gewidmet
MEDIZINALRAT DR. GOLL
DR. SCHÖN, Chefredakteur
ALWA, sein Sohn
SCHWARZ, Kunstmaler
PRINZ ESCERNY, Afrikareisender
SCHIGOLCH
RODRIGO, Artist
HUGENBERG, Gymnasiast
ESCHERICH, Reporter
LULU
GRÄFIN GESCHWITZ, Malerin
FERDINAND, Kutscher
HENRIETTE, Zimmermädchen
EIN BEDIENTER
Die RolleHUGENBERGwird von einem Mädchen gespielt.
Rechts und links vom Schauspieler.
Ein Tierbändiger tritt, nachdem der aufgezogene Vorhang einen Zelteingang hat sichtbar werden lassen, in zinnoberrotem Frack, weißer Krawatte, langen schwarzen Locken, weißen Beinkleidern und Stulpstiefeln, in der Linken eine Hetzpeitsche, in der Rechten einen geladenen Revolver, unter Zimbelklängen und Paukenschlägen aus dem Zelt.
Hereinspaziert in die Menagerie,
Ihr stolzen Herrn, ihr lebenslust’gen Frauen,
Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen
Die unbeseelte Kreatur zu schauen,
Gebändigt durch das menschliche Genie.
Hereinspaziert, die Vorstellung beginnt! –
Auf zwei Personen kommt umsonst ein Kind.
Hier kämpfen Tier und Mensch im engen Gitter,
Wo jener höhnend seine Peitsche schwingt
Und dieses, mit Gebrüll wie Ungewitter,
Dem Menschen mörderisch an die Kehle springt;
Wo bald der Kluge, bald der Starke siegt,
Bald Mensch, bald Tier geduckt am Estrich liegt;
Das Tier bäumt sich, der Mensch auf allen vieren!
Ein eisig kalter Herrscherblick –
Die Bestie beugt entartet das Genick
Und läßt sich fromm die Ferse drauf postieren.
Schlecht sind die Zeiten! – All die Herrn und Damen,
Die einst vor meinem Käfig sich geschart,
Beehren Possen, Ibsen, Opern, Dramen
Mit ihrer hochgeschätzten Gegenwart.
An Futter fehlt es meinen Pensionären,
So daß sie gegenseitig sich verzehren.
Wie gut hat’s am Theater ein Akteur!
Des Fleischs auf seinen Rippen ist er sicher,
Sei auch der Hunger ein ganz fürchterlicher
Und des Kollegen Magen noch so leer. –
Doch will man Großes in der Kunst erreichen,
Darf man Verdienst nicht mit dem Lohn vergleichen.
Was seht ihr in den Lust- und Trauerspielen?! –
Haustiere, die so wohlgesittet fühlen,
An blasser Pflanzenkost ihr Mütchen kühlen
Und schwelgen in behaglichem Geplärr,
Wie jene andern – unten im Parterre:
Der eine Held kann keinen Schnaps vertragen,
Der andre zweifelt, ob er richtig liebt,
Den dritten hört ihr an der Welt verzagen,
Fünf Akte lang hört ihr ihn sich beklagen,
Und niemand, der den Gnadenstoß ihm gibt. –
Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier,
Das – meine Damen! – sehn Sie nur bei mir.
Sie sehen den Tiger, der gewohnheitsmäßig,
Was in den Sprung ihm läuft, hinunterschlingt;
Den Bären, der, von Anbeginn gefräßig,
Beim späten Nachtmahl tot zu Boden sinkt;
Sie sehn den kleinen amüsanten Affen
Aus Langeweile seine Kraft verpaffen;
Er hat Talent, doch fehlt ihm jede Größe,
Drum kokettiert er frech mit seiner Blöße;
Sie sehn in meinem Zelte, meiner Seel’,
Sogar gleich hinterm Vorhang ein Kamel! –
Und sanft schmiegt das Getier sich mir zu Füßen,
Wenn – (er schießt ins Publikum) – donnernd mein Revolver knallt.
Rings bebt die Kreatur; ich bleibe kalt –
Der Mensch bleibt kalt! – Sie ehrfurchtsvoll zu grüßen.
Hereinspaziert! – Sie traun sich nicht herein? –
Wohlan, Sie mögen selber Richter sein!
Sie sehn auch das Gewürm aus allen Zonen:
Chamäleone, Schlangen, Krokodile,
Drachen und Molche, die in Klüften wohnen.
Gewiß, ich weiß, Sie lächeln in der Stille
Und glauben mir nicht eine Silbe mehr –
(Er lüftet den Türvorhang und ruft in das Zelt)
He, Aujust! Bring mir unsre Schlange her!
(Ein schmerbäuchiger Arbeiter trägt die Darstellerin der Lulu in ihrem Pierrotkostüm aus dem Zelt und setzt sie vor dem Tierbändiger nieder.)
Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften,
Zu locken, zu verführen, zu vergiften –
Zu morden, ohne daß es einer spürt.
(Lulu am Kinn krauend)
Mein süßes Tier, sei ja nur nicht geziert!
Nicht albern, nicht gekünstelt, nicht verschroben,
Auch wenn die Kritiker dich weniger loben.
Du hast kein Recht, uns durch Miaun und Fauchen
Die Urgestalt des Weibes zu verstauchen,
Durch Faxenmachen uns und Fratzenschneiden
Des Lasters Kindereinfalt zu [v]erleiden!
Du sollst – drum sprech’ ich heute sehr ausführlich –
Natürlich sprechen und nicht unnatürlich!
Denn erstes Grundgesetz seit frühster Zeit
In jeder Kunst war Selbstverständlichkeit!
(Zum Publikum)
Es ist jetzt nichts Besondres dran zu sehen,
Doch warten Sie, was später wird geschehen:
Mit starkem Druck umringelt sie den Tiger;
Er heult und stöhnt! – Wer bleibt am Ende Sieger?! –
Hopp, Aujust! Marsch! Trag sie an ihren Platz –
(Der Arbeiter nimmt Lulu quer auf die Arme; der Tierbändiger tätschelt ihr die Hüften.)
Die süße Unschuld – meinen größten Schatz!
(Der Arbeiter trägt Lulu ins Zelt zurück.)
Und nun bleibt noch das Beste zu erwähnen:
Mein Schädel zwischen eines Raubtiers Zähnen.
Hereinspaziert! Das Schauspiel ist nicht neu,
Doch seine Freude hat man stets dabei.
Ich wag’ es, ihm den Rachen aufzureißen,
Und dieses Raubtier wagt nicht zuzubeißen.
So schön es ist, so wild und buntgefleckt,
Vor meinem Schädel hat das Tier Respekt!
Getrost leg’ ich mein Haupt ihm in den Rachen;
Ein Witz – und meine beiden Schläfen krachen!
Dabei verzicht’ ich auf des Auges Blitz;
Mein Leben setz’ ich gegen einen Witz;
Die Peitsche werf’ ich fort und diese Waffen
Und geb’ mich harmlos, wie mich Gott geschaffen. –
Wißt ihr den Namen, den dies Raubtier führt? – –
Verehrtes Publikum – – Hereinspaziert!!
(Der Tierbändiger tritt unter Zimbelklängen und Paukenschlägen in das Zelt zurück.)
Geräumiges Atelier. – Rechts hinten Entreetür, rechts vorn Seitentür zum Schlafkabinett. In der Mitte ein Podium. Hinter dem Podium eine spanische Wand. Vor dem Podium ein Smyrnateppich. Links vorn zwei Staffeleien. Auf der hinteren das Brustbild eines jungen Mädchens. Gegen die vordere lehnt eine umgekehrte Leinwand. Vor den Staffeleien, etwas gegen die Mitte vorn, eine Ottomane. Darüber ein Tigerfell. Rechts an der Wand zwei Sessel. Im Hintergrund eine Trittleiter.
SCHÖN(auf dem Fußende der Ottomane sitzend, mustert das Brustbild auf der hinteren Staffelei) Wissen Sie, daß ich die Dame von einer ganz neuen Seite kennen lerne?
SCHWARZ(Pinsel und Palette in der Hand, steht hinter der Ottomane) Ich habe noch niemanden gemalt, bei dem der Gesichtsausdruck so ununterbrochen wechselte. – Es war mir kaum möglich, einen einzigen Zug dauernd festzuhalten.
SCHÖN(auf das Bild deutend, ihn ansehend) Finden Sie das darin?
SCHWARZ Ich habe das Erdenklichste getan, um durch meine Unterhaltung während der Sitzungen wenigstens etwas Ruhe in der Stimmung hervorzurufen.
SCHÖN Dann verstehe ich den Unterschied.
SCHWARZ(taucht den Pinsel ins Ölnäpfchen und überstreicht die Gesichtszüge).
SCHÖN Glauben Sie, es wird dadurch ähnlicher?
SCHWARZ Man kann nicht mehr tun, als es mit der Kunst so gewissenhaft wie möglich nehmen.
SCHÖN Sagen Sie mal …
SCHWARZ(zurücktretend) Die Farbe ist auch wieder etwas eingeschlagen.
SCHÖN(ihn ansehend) Haben Sie jemals in Ihrem Leben ein Weib geliebt?
SCHWARZ(geht auf die Staffelei zu, setzt eine Farbe auf und tritt auf der anderen Seite zurück) Der Stoff ist noch nicht genügend abgehoben. Man sieht noch nicht recht, daß ein lebender Körper darunter ist.
SCHÖN Ich zweifle nicht daran, daß die Arbeit gut ist.
SCHWARZ Wenn Sie hierher treten wollen.
SCHÖN(sich erhebend) Sie müssen ihr wahre Schauergeschichten erzählt haben.
SCHWARZ So weit wie möglich zurück.
SCHÖN(zurücktretend, stößt die an die vordere Staffelei gelehnte Leinwand um) Pardon …
SCHWARZ(den Rahmen aufhebend) O bitte …
SCHÖN(betroffen) Was ist das …
SCHWARZ Kennen Sie sie?
SCHÖN Nein.
SCHWARZ(setzt das Bild auf die Staffelei. Man sieht eine Dame als Pierrot gekleidet mit einem hohen Schäferstab in der Hand.) Ein Kostümbild.
SCHÖN Die ist Ihnen aber gelungen.
SCHWARZ Sie kennen sie?
SCHÖN Nein. Und in dem Kostüm?
SCHWARZ Es fehlt noch die ganze Ausführung.
SCHÖN Na ja.
SCHWARZ Was wollen Sie. Während sie mir steht, habe ich das Vergnügen, ihren Mann zu unterhalten.
SCHÖN Sagen Sie …
SCHWARZ Über Kunst natürlich, um mein Glück zu vervollständigen.
SCHÖN Wie kommen Sie denn zu der reizenden Bekanntschaft?
SCHWARZ Wie man dazu kommt. Ein steinalter, wackliger Knirps fällt mir hier herein, ob ich seine Frau malen könne. Nun natürlich, und wenn sie runzlig wie Mutter Erde ist. Andern Tags Punkt zehn fliegen die Türen auf, und der Schmerbauch treibt dies Engelskind vor sich her. Ich fühle jetzt noch, wie mir die Knie schwankten. Ein stocksteifer, saftgrüner Lakai mit einem Paket unter dem Arm. Wo die Garderobe sei. Denken Sie sich meine Lage. Ich öffne die Tür da (nach rechts deutend). Nur ein Glück, daß schon alles in Ordnung war. Das süße Geschöpf huscht hinein, und der Alte postiert sich als Schanzkorb davor. Zwei Minuten darauf tritt sie in diesem Pierrot heraus. (Den Kopf schüttelnd) Ich habe nie so was gesehen. (Geht nach rechts und starrt an die Schlafzimmertür hin.)
SCHÖN(der ihm mit dem Blick gefolgt) Und der Schmerbauch steht Schildwache?
SCHWARZ(sich umwendend) Der ganze Körper im Einklang mit dem unmöglichen Kostüm, als wäre er darin zur Welt gekommen. Ihre Art, die Ellbogen in die Taschen zu vergraben, die Füßchen vom Teppich zu heben – mir schießt oft das Blut zu Kopf …
SCHÖN Das sieht man dem Bild an.
SCHWARZ(kopfschüttelnd) Unsereiner, wissen Sie …
SCHÖN Hier führt das Modell die Konversation.
SCHWARZ Sie hat den Mund noch nicht aufgetan.
SCHÖN Ist’s möglich!
SCHWARZ Erlauben Sie, daß ich Ihnen das Kostüm zeige. (Nach rechts ab.)
SCHÖN(allein, vor dem Pierrot) Eine Teufelsschönheit. (Vor dem Brustbild) Hier ist mehr Fond. (Nach vorn kommend) Er ist noch etwas jung für sein Alter.
SCHWARZ(kommt mit einem weißen Atlaskostüm zurück) Was das für Stoff sein mag?
SCHÖN(den Stoff befühlend) Atlas.
SCHWARZ Und alles in einem Stück.
SCHÖN Wie kommt man denn da hinein?
SCHWARZ Das kann ich Ihnen nicht sagen.
SCHÖN(das Kostüm bei den Beinen nehmend) Diese riesigen Hosenpfeifen!
SCHWARZ Die linke rafft sie hinauf.
SCHÖN(auf das Bild sehend) Bis übers Knie!
SCHWARZ Sie macht das zum Entzücken.
SCHÖN Und transparente Strümpfe?
SCHWARZ Die wollen nämlich gemalt sein.
SCHÖN Oh, das können Sie.
SCHWARZ Dabei von einer Koketterie!
SCHÖN Wie kommen Sie auf den entsetzlichen Verdacht?
SCHWARZ Es gibt Dinge, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. (Trägt das Kostüm in sein Schlafzimmer.)
SCHÖN(allein) Wenn man schläft …
SCHWARZ(kommt zurück, sieht nach der Uhr) Wenn Sie übrigens ihre Bekanntschaft machen wollen …
SCHÖN Nein.
SCHWARZ Sie müssen im Augenblicke hier sein.
SCHÖN Wie oft wird denn die Dame noch sitzen müssen?
SCHWARZ Ich werde die Tantalusqual wohl noch ein Vierteljahr zu erdulden haben.
SCHÖN Ich meine die andere.
SCHWARZ Entschuldigen Sie. Dreimal höchstens. (Ihn zur Tür geleitend) Wenn mir die Dame dann nur ihre Taille dalassen will.
SCHÖN Mit Vergnügen. Lassen Sie sich bald wieder bei mir sehen. (Stößt in der Tür auf Dr. Goll und Lulu) In Gottes Namen!
SCHWARZ Darf ich vorstellen …
GOLL(zu Schön) Was treiben denn Sie hier?
SCHÖN(Lulu die Hand küssend) Frau Medizinalrat.
LULU Sie wollen doch nicht schon gehen?
GOLL Welcher Wind führt denn Sie hierher?
SCHÖN Ich habe mir das Bild meiner Braut angesehen.
LULU(nach vorn kommend) Ihre Braut ist hier?
GOLL Sie lassen hier also auch arbeiten?
LULU(vor dem Brustbild) Sieh da! Bezaubernd! Entzückend!
GOLL(sich umsehend) Sie halten sie wohl hier irgendwo versteckt?
LULU Das ist also das süße Wunderkind, das Sie zu einem Menschen gemacht …
SCHÖN Sie sitzt meistens am Nachmittag.
GOLL Und davon erzählen Sie einem nichts?
LULU(sich umwendend) Ist sie denn wirklich so ernst?
SCHÖN Wohl noch die Nachwirkung der Pensionszeit, gnädige Frau.
GOLL(vor dem Brustbild) Man sieht, daß Sie eine tiefgehende Wandlung durchgemacht haben.
LULU Nun dürfen Sie sie aber auch nicht mehr länger warten lassen.
SCHÖN In vierzehn Tagen denke ich unsere Verlobung bekanntzumachen.
GOLL(zu Lulu) Laß uns keine Zeit verlieren. Hopp!
LULU(zu Schön) Denken Sie, wir fuhren im Trab über die neue Kaibrücke. Ich habe selber kutschiert.
SCHÖN(will sich verabschieden).
GOLL Nein, nein. Wir sprechen nachher weiter. Geh, Nelli. Hopp!
LULU Jetzt kommt’s an mich!
GOLL Unser Apelles leckt sich schon die Pinsel ab.
LULU Ich hatte mir das viel amüsanter vorgestellt.
SCHÖN Sie haben dabei immerhin die Genugtuung, uns den seltensten Genuß zu bereiten.
LULU(nach rechts gehend) Na, warten Sie nur.
SCHWARZ(vor der Schlafzimmertür) Wenn Frau Obermedizinalrat so freundlich sein wollen. (Schließt die Tür hinter ihr und bleibt davor stehen.)
GOLL Ich habe sie in unserm Ehekontrakt nämlich Nelli getauft.
SCHÖN So? – Ja.
GOLL Was halten Sie davon?
SCHÖN Warum nennen Sie sie nicht lieber Mignon?
GOLL Das wäre auch was. Daran habe ich nicht gedacht.
SCHÖN Glauben Sie, daß der Name soviel dabei ausmacht?
GOLL Hm – Sie wissen, ich habe keine Kinder.
SCHÖN(sein Zigarettenetui aus der Tasche nehmend) Sie sind doch aber auch erst ein paar Monate verheiratet.
GOLL Danke. Ich wünsche mir keine.
SCHÖN Rauchen Sie eine Zigarette?
GOLL(sich bedienend) Ich habe an dem einen vollkommen genug. (Zu Schwarz) Sagen Sie mal, was macht denn eigentlich Ihre kleine Tänzerin?
SCHÖN(sich nach Schwarz umwendend) Sie und eine Tänzerin?
SCHWARZ Die Dame saß mir damals nur aus Gefälligkeit. Ich kenne die Dame von einem Ausflug des Cäcilienvereins her.
GOLL(zu Schön) Hm – ich glaube, wir kriegen anderes Wetter.
SCHÖN Das geht wohl nicht so rasch mit der Toilette?
GOLL Das geht wie der Blitz! Die Frau muß Virtuosin in ihrem Fach sein. Das muß jeder von uns in seinem Fach, wenn das Leben nicht zur Bettelei werden soll. (Ruft) Hopp, Nelli!
SCHWARZ(an der Tür) Frau Obermedizinalrat!
LULU(von innen) Gleich, gleich.
GOLL(zu Schön) Ich begreife solche Stockfische nicht.
SCHÖN Ich beneide sie. Diese Stockfische kennen nichts Heiligeres als ihr Hungertuch. Sie fühlen sich reicher als unsereiner mit 30 000 Mark Renten. Sie können übrigens nicht über einen Menschen urteilen, der von Kindesbeinen an von der Palette in den Mund gelebt hat. Nehmen Sie es auf sich, ihn zu finanzieren. Es ist ein Rechenexempel. Mir fehlt der moralische Mut. Man verbrennt sich auch leicht die Finger …
LULU(als Pierrot aus dem Schlafzimmer tretend) Da bin ich.
SCHÖN(wendet sich um, nach einer Pause) Superb!
LULU(tritt näher) Nun?
SCHÖN Sie beschämen die kühnste Phantasie.
LULU Wie gefall’ ich Ihnen?
SCHÖN Ein Bild, vor dem die Kunst verzweifeln muß.
GOLL Finden Sie nicht auch?
SCHÖN(zu Lulu) Sie wissen doch wohl nicht recht, was Sie tun.
LULU Ich bin mir meiner vollkommen bewußt!
SCHÖN Dann dürften Sie etwas besonnener sein.
LULU Ich tue ja doch nur meine Schuldigkeit.
SCHÖN Sie sind gepudert?
LULU Was fällt Ihnen ein!
GOLL Sie hat eine weiße Haut, wie ich sie noch nirgends gesehen habe. Ich habe unserem Raffael auch gesagt, er möge sich mit dem Fleisch nur ja so wenig wie möglich abgeben. Ich kann mich einmal für die moderne Klexerei nicht begeistern.
SCHWARZ(an den Staffeleien, seine Farben präparierend) Dem Impressionismus dankt es die heutige Kunst jedenfalls, daß sie sich alten Meistern ohne Erröten an die Seite stellen darf.
GOLL Für ein Stück Schlachtvieh mag sie ja ganz angebracht sein.
SCHÖN Nur um Gottes willen keine Aufregung!
LULU(fällt Goll um den Hals und küßt ihn).
GOLL Man sieht dein Negligé. Du mußt es herunterziehen.
LULU Ich hätte es am liebsten weggelassen. Es geniert nur.
GOLL Er wäre imstande und malte es hin.
LULU(nimmt den Schäferstab, der an der spanischen Wand lehnt, auf das Podium steigend, zu Schön) Was würden Sie jetzt sagen, wenn Sie zwei Stunden Parade stehen müßten?
SCHÖN Meine Seele verschriebe ich dem Teufel, um mit Ihnen tauschen zu dürfen.
GOLL(sich rechts setzend) Kommen Sie hierher. Hier ist nämlich mein Beobachtungsposten.
LULU(das linke Beinkleid bis zum Knie hinaufraffend, zu Schwarz) So?
SCHWARZ Ja …
LULU(es um eine Idee höher raffend) So?
SCHWARZ Ja, ja …
GOLL(zu Schön, der auf dem Sessel neben ihm Platz genommen hat, mit einer Handbewegung) Ich finde sie nämlich von hier aus noch vorteilhafter.
LULU(ohne sich zu rühren) Ich bitte sehr! Ich bin von allen Seiten gleich vorteilhaft.
SCHWARZ(zu Lulu) Das rechte Knie weiter vor, bitte.
SCHÖN(mit einer Geste) Der Körper zeigt vielleicht feinere Linien …
SCHWARZ Die Beleuchtung ist heute zum mindesten halbwegs erträglich.
GOLL Sie müssen sie flott hinwerfen! Fassen Sie Ihren Pinsel etwas länger!
SCHWARZ Gewiß, Herr Medizinalrat.
SCHÖN Behandeln Sie sie als Stilleben!
SCHWARZ Gewiß, Herr Doktor. (Zu Lulu) Sie pflegten den Kopf um eine Idee höher zu halten, Frau Medizinalrat.
LULU(den Kopf hebend) Malen Sie mir die Lippen etwas geöffnet.
SCHÖN Malen Sie Schnee auf Eis. Wenn Sie sich dabei erwärmen, dann wird Ihre Kunst sofort unkünstlerisch.
SCHWARZ Gewiß, Herr Doktor!
GOLL Die Kunst, wissen Sie, muß die Natur so wiedergeben, daß man wenigstens geistig dabei genießen kann!
LULU(den Mund etwas öffnend, zu Schwarz) So – sehen Sie. So halte ich sie halb geöffnet.
SCHWARZ Sobald die Sonne kommt, wirft die Mauer von gegenüber warme Reflexe herein.
GOLL(zu Lulu) Du mußt dich in deiner Stellung überhaupt so verhalten, als ob unser Velasquez hier gar nicht vorhanden wäre.
LULU Ein Maler ist doch auch eigentlich gar kein Mann.
SCHÖN Ich glaube nicht, daß Sie von einer rühmlichen Ausnahme so ohne weiteres auf die ganze Zunft schließen dürfen.
SCHWARZ(von der Staffelei zurücktretend) Ich hätte mir im vergangenen Herbst doch lieber ein anderes Atelier mieten müssen.
SCHÖN(zu Goll) Was ich fragen wollte – haben Sie die kleine O’Morphi schon als peruanische Perlenfischerin gesehen?
GOLL Morgen sehe ich sie mir zum viertenmal an. Der Fürst Polossow führte mich hin. Sein Haar ist vor Entzücken schon wieder dunkelblond geworden.
SCHÖN Sie finden sie also auch so fabelhaft?
GOLL Wer will das je im voraus beurteilen!
LULU Ich glaube, es hat geklopft.
SCHWARZ Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. (Geht zur Türe und öffnet.)
GOLL Du darfst ihn getrost etwas unbefangener anlächeln.
SCHÖN Dem macht das gar nichts.
GOLL Und wenn! – Wozu sitzen wir beide denn hier!
ALWA(noch hinter der spanischen Wand) Darf man eintreten?
SCHÖN Mein Sohn.
LULU Das ist ja Herr Alwa!
GOLL Kommen Sie nur ungeniert herein!
ALWA(vortretend, reicht Schön und Goll die Hand) Herr Medizinalrat … (Sich nach Lulu umwendend) Seh ich recht? – Wenn ich Sie doch nur für meine Hauptrolle engagieren könnte!
LULU Ich würde für Ihr Stück wohl kaum gut genug tanzen.
ALWA Aber Sie haben doch einen Tanzlehrer, wie man ihn an keiner Bühne Europas findet!
SCHÖN Was führt dich denn hierher?
GOLL Sie lassen hier wohl auch insgeheim irgend jemanden porträtieren?
ALWA(zu Schön) Ich wollte dich zur Generalprobe abholen.
SCHÖN(erhebt sich).
GOLL Lassen Sie denn heute schon in vollem Kostüm tanzen?
ALWA Versteht sich. Kommen Sie mit. In fünf Minuten muß ich auf der Bühne sein. (Zu Lulu) Ich Unglücklicher!
GOLL Ich habe ganz vergessen – wie nennt sich doch Ihr Ballett?
ALWA Dalailama.
GOLL Ich glaubte, der wäre im Irrenhaus.
SCHÖN Sie meinen Nietzsche, Herr Sanitätsrat.
GOLL Sie haben recht. Ich verwechsle die beiden.
ALWA Ich habe dem Buddhismus auf die Beine geholfen.
GOLL An den Beinen erkennt man den Bühnendichter.
ALWA Die Corticelli tanzt den jugendlichen Buddah, als hätte sie am Ganges das Licht der Welt erblickt.
SCHÖN Solang die Mutter noch lebte, tanzte sie mit den Beinen …
ALWA Als sie dann frei wurde, tanzte sie mit dem Verstande …
GOLL Jetzt tanzt sie mit dem Herzen!
ALWA Wenn Sie sie sehen wollen?
GOLL Danke.
ALWA Kommen Sie doch mit!
GOLL Unmöglich!
SCHÖN Wir haben übrigens keine Zeit zu verlieren.
ALWA Kommen Sie mit, Herr Medizinalrat. Im dritten Akt sehen Sie Dalailama in seinem Kloster, mit seinen Mönchen …
GOLL Mir wäre es lediglich um den jugendlichen Buddah zu tun.
ALWA Was hindert sie denn?
GOLL Es geht nicht. Es geht nicht.
ALWA Wir gehen nachher zu Peters. Da können Sie Ihrer Bewunderung Ausdruck geben.
GOLL Dringen Sie nicht weiter in mich. Ich bitte Sie.
ALWA Sie sehen die zahmen Affen, die beiden Brahmanen, die kleinen Mädchen …
GOLL Bleiben Sie mir nur um Gottes willen mit den kleinen Mädchen vom Halse!
LULU Reservieren Sie uns eine Proszeniumsloge auf Montag, Herr Alwa!
ALWA Wie konnten gnädige Frau daran zweifeln.
GOLL Wenn ich zurückkomme, hat mir der Höllenbreugel das ganze Bild verpatzt!
ALWA Das wäre doch kein Unglück. Das läßt sich übermalen.
GOLL Wenn man dem Caravacci nicht jeden Pinselstrich expliziert …
SCHÖN Ich halte Ihre Befürchtungen übrigens für unbegründet.
GOLL Das nächste Mal, meine Herren!
ALWA Die Brahmanen werden ungeduldig! Die Töchter Nirvanas schlottern in ihren Trikots!
GOLL Verdammte Klexerei!!
SCHÖN Man wird uns auszanken, daß wir Sie nicht mitbringen.
GOLL In fünf Minuten bin ich zurück. (Stellt sich links vorn hinter Schwarz und vergleicht das Bild mit Lulu.)
ALWA(zu Lulu) Mich ruft leider die Pflicht, gnädige Frau.
GOLL(zu Schwarz) Sie müssen hier ein wenig mehr modellieren. Das Haar ist schlecht. Sie sind nicht genug bei der Sache …
ALWA Kommen Sie.
GOLL Nun nur hopp! Zu Peters bringen mich keine zehn Pferde.
SCHÖN(Alwa und Goll folgend) Wir nehmen meinen Wagen, der unten steht.
SCHWARZ(beugt sich nach links, spuckt aus) Pack! – Wäre doch das Leben zu Ende! – Der Brotkorb! – Brotkorb und Maulkorb! Jetzt bäumt sich mein Künstlerstolz. (Nach einem Blick auf Lulu) Diese Gesellschaft! – (Erhebt sich, geht nach rechts hinten, betrachtet Lulu von allen Seiten, setzt sich wieder an die Staffelei) Die Wahl würde einem schwer. – – Wenn ich Frau Obermedizinalrat ersuchen darf, die rechte Hand etwas höher.
LULU(nimmt den Schäferstab so hoch sie reichen kann, für sich) Wer hätte das für möglich gehalten!
SCHWARZ Ich bin wohl recht lächerlich?
LULU Er kommt gleich zurück.
SCHWARZ Ich kann nicht mehr tun als malen.
LULU Da ist er.
SCHWARZ(sich erhebend) Nun?
LULU Hören Sie nicht?
SCHWARZ Es kommt jemand …
LULU Ich wußte es ja.
SCHWARZ Es ist der Hausmeister. Er fegt die Treppe.
LULU Gott sei Dank.
SCHWARZ Sie begleiten Herrn Obermedizinalrat wohl auf seine Praxis?
LULU Das fehlte mir noch!
SCHWARZ Weil Sie es nicht gewohnt sind, allein zu sein.
LULU Wir haben zu Hause eine Haushälterin.
SCHWARZ Die Ihnen Gesellschaft leistet?
LULU Sie hat viel Geschmack.
SCHWARZ Wofür?
LULU Sie zieht mich an.
SCHWARZ Sie gehen wohl viel auf Bälle?
LULU Nie.
SCHWARZ Wozu brauchen Sie denn dann die Toiletten?
LULU Zum Tanzen.
SCHWARZ Sie tanzen wirklich?
LULU Csardas – Samaqueca – Skirtdance …
SCHWARZ Widert Sie denn das nicht an?
LULU Sie finden mich häßlich?
SCHWARZ Sie verstehen mich nicht. – Wer gibt Ihnen denn den Unterricht?
LULU Er.
SCHWARZ Wer?
LULU Er.
SCHWARZ Er?
LULU Er spielt Violine. – – –
SCHWARZ Man lernt jeden Tag ein neues Stück Welt kennen.
LULU Ich habe in Paris gelernt. Ich nahm Stunden bei Eugenie Fougère. Sie hat mich auch ihre Kostüme kopieren lassen.
SCHWARZ Wie sind denn die?
LULU Grünes Spitzenröckchen bis zum Knie, ganz in Volants, dekolletiert natürlich, sehr dekolletiert und fürchterlich geschnürt. Hellgrüner Unterrock, dann immer heller. Schneeweiße Dessous mit handbreiten Spitzen …
SCHWARZ Ich kann nicht mehr …
LULU Malen Sie doch!
SCHWARZ(mit dem Spachtel schabend) Ist Ihnen denn nicht kalt?
LULU Gott bewahre! Nein. Wie kommen Sie auf die Frage? Ist Ihnen denn so kalt?
SCHWARZ Heute nicht. Nein.
LULU Gottlob kann man atmen!
SCHWARZ Wieso …
LULU(atmet tief ein).
SCHWARZ Lassen Sie das, bitte! – (Springt auf, wirft Pinsel und Palette weg, geht auf und nieder) Der Stiefelputzer hat es wenigstens nur mit ihren Füßen zu tun. Seine Farbe frißt ihm auch nicht ins Geld. Wenn mir morgen das Abendbrot fehlt, fragt mich kein Weltdämchen danach, ob ich mich aufs Austernschlecken verstehe.
LULU Ist das ein Unhold!
SCHWARZ(nimmt die Arbeit wieder auf) Was jagt den Kerl auch in diese Probe!
LULU Mir wäre es auch lieber, er wäre dageblieben.
SCHWARZ Wir sind wirklich die Märtyrer unseres Berufes!
LULU Ich wollte Ihnen nicht weh tun.
SCHWARZ(zögernd, zu Lulu) Wenn Sie links – das Beinkleid – ein wenig höher …
LULU Hier?
SCHWARZ(tritt zum Podium) Erlauben Sie …
LULU Was wollen Sie?
SCHWARZ Ich zeige es Ihnen.
LULU Es geht nicht.
SCHWARZ Sie sind nervös … (Will ihre Hand fassen.)
LULU(wirft ihm den Schäferstab ins Gesicht) Lassen Sie mich in Ruhe! (Eilt zur Entreetür) Sie bekommen mich noch lange nicht.
SCHWARZ Sie verstehen keinen Scherz.
LULU Doch, ich verstehe alles. Lassen Sie mich nur frei. Mit Gewalt erreichen Sie gar nichts bei mir. Gehen Sie an Ihre Arbeit. Sie haben kein Recht, mich zu belästigen. (Flüchtet hinter die Ottomane.) Setzen Sie sich hinter Ihre Staffelei.
SCHWARZ(will um die Ottomane) Sobald ich Sie für Ihre Launenhaftigkeit bestraft habe.
LULU(ausweichend) Dazu müssen Sie mich aber erst haben. Gehen Sie, Sie erwischen mich doch nicht. – In langen Kleidern wäre ich Ihnen längst in die Hände gefallen. – Aber in dem Pierrot!
SCHWARZ(sich der Länge nach über die Ottomane werfend) Habe ich dich!
LULU(schlägt ihm das Tigerfell über den Kopf) Gute Nacht! (Springt über das Podium, klettert auf die Trittleiter) Ich sehe über alle Städte der Erde weg …
SCHWARZ(sich aus der Decke wickelnd) Dieser Balg!
LULU Ich greife in den Himmel und stecke mir die Sterne ins Haar.
SCHWARZ(ihr nachkletternd) Ich schüttle, bis Sie herunterfallen.
LULU(höher steigend) Wenn Sie nicht aufhören, werfe ich die Leiter um. Werden Sie meine Beine loslassen. – Gott schütze Polen! (Bringt die Leiter zu Fall, springt auf das Podium und wirft Schwarz, wie er sich vom Boden aufrafft, die spanische Wand an den Kopf. Nach vorn eilend, an den Staffeleien) Ich habe Ihnen ja gesagt, daß Sie mich nicht bekommen.
SCHWARZ(nach vorn kommend) Lassen Sie uns Frieden schließen. (Will sie umfassen.)
LULU Bleiben Sie mir vom Leib, oder … (Sie wirft ihm die Staffelei mit dem Brustbild entgegen, daß beides krachend zu Boden stürzt.)
SCHWARZ(schreit auf) Barmherziger Gott!
LULU(links hinten) Das Loch haben Sie selber hineingeschlagen.
SCHWARZ Ich bin ruiniert! Zehn Wochen Arbeit, meine Reise, meine Ausstellung. – Jetzt ist nichts mehr zu verlieren. (Stürzt ihr nach.)
LULU(springt über die Ottomane, über die umgestürzte Trittleiter, kommt über das Podium nach vorn) Ein Graben! – Fallen Sie nicht hinein! (Stapft durch das Brustbild) Sie hat einen neuen Menschen aus ihm gemacht! (Fällt vornüber.)
SCHWARZ(über die spanische Wand stolpernd) Ich kenne kein Erbarmen mehr.
LULU(im Hintergrund) Lassen Sie mich jetzt in Ruhe. – Mir wird schwindlig. – – O Gott, o Gott … (Kommt nach vorn und sinkt auf die Ottomane.)
SCHWARZ(verriegelt die Tür. Darauf setzt er sich neben sie, ergreift ihre Hand und bedeckt sie mit Küssen, hält inne; man sieht ihm an, daß er einen inneren Kampf kämpft).
LULU(schlägt die Augen auf) Er kann zurückkommen.
SCHWARZ Wie ist dir?
LULU Als wäre ich ins Wasser gefallen …
SCHWARZ Ich liebe dich.
LULU Ich liebte einmal einen Studenten.
SCHWARZ Nelli …
LULU Mit vierundzwanzig Schmissen …
SCHWARZ Ich liebe dich, Nelli.
LULU Ich heiße nicht Nelli.
SCHWARZ(küßt sie).
LULU Ich heiße Lulu.
SCHWARZIch werde dich Eva nennen.
LULU Wissen Sie, wieviel Uhr es ist?
SCHWARZ(nach der Uhr sehend) Halb elf.
LULU(nimmt die Uhr und öffnet das Gehäuse).
SCHWARZ Du liebst mich nicht.
LULU Doch … Es ist fünf Minuten nach halb elf.
SCHWARZ Gib mir einen Kuß, Eva!
LULU(nimmt ihn am Kinn und küßt ihn, wirft die Uhr in die Luft und fängt sie auf) Sie riechen nach Tabak.
SCHWARZ Warum sagst du nicht »du«?
LULU Es würde unbehaglich.
SCHWARZ Du verstellst dich!
LULU Sie verstellen sich selber, wie mir scheint. – Ich mich verstellen? Wie kommen Sie nur darauf? – Das hatte ich niemals nötig.
SCHWARZ(erhebt sich, fassungslos, sich mit der Hand über die Stirn fahrend) Allmächtiger! Ich kenne die Welt nicht …
LULU(schreit) Bringen Sie mich nur nicht um!
SCHWARZ(sich rasch umwendend)Du hast noch nie geliebt …!
LULU(sich halb aufrichtend)Sie haben noch nie geliebt …!
GOLL(von außen) Machen Sie auf!
LULU(ist aufgesprungen) Verstecken Sie mich! O Gott, verstecken Sie mich!
GOLL(gegen die Tür polternd) Machen Sie auf!
SCHWARZ(will zur Tür).
LULU(hält ihn zurück) Er schlägt mich tot.
GOLL(gegen die Tür polternd) Machen Sie auf!
LULU(vor Schwarz niedergesunken, umfaßt seine Knie) Er schlägt mich tot. Er schlägt mich tot.
SCHWARZ Stehen Sie auf …
(Die Tür fällt krachend ins Atelier.)
GOLL(mit blutunterlaufenen Augen stürzt mit erhobenem Stock auf Schwarz und Lulu los) Ihr Hunde! – Ihr … (Keucht, ringt einige Sekunden nach Atem und schlägt vornüber auf die Diele.)
SCHWARZ(wankt in den Knien).
LULU(hat sich zur Tür geflüchtet. – Pause.)
SCHWARZ(tritt an Goll heran) Herr – Herr Medi – Herr Medizi – Herr Medizinal – Herr Medizinalrat.
LULU(in der Tür) Bringen Sie doch bitte erst das Atelier in Ordnung.
SCHWARZ Herr Obermedizinalrat. (Beugt sich nieder) Herr … (Tritt zurück) Er hat sich die Stirne geritzt. Helfen Sie mir, ihn auf die Ottomane legen.
LULU(bebt scheu zurück) Nein, nein …
SCHWARZ(sucht ihn umzukehren) Herr Medizinalrat.
LULU Er hört nicht.
SCHWARZ Helfen Sie mir doch nur.
LULU Wir heben ihn zu zweit auch nicht.
SCHWARZ(sich emporrichtend) Man muß zum Arzt schicken.
LULU Er ist furchtbar schwer.
SCHWARZ(seinen Hut nehmend) Seien Sie doch bitte so freundlich und richten Sie, bis ich zurück bin, die Stellagen ein wenig zurecht. (Ab.)
LULU Auf einmal springt er auf. – (Eindringlich) Bussi! – – Er läßt sich nichts merken. – (Kommt in weitem Bogen nach vorn) Er sieht mir auf die Füße und beobachtet jeden Schritt, den ich tue. Er hat mich überall im Auge. – (Sie berührt ihn mit der Fußspitze.) Bussi! – (Zurückweichend) Es ist ihm ernst. – – Der Tanz ist aus. – – Er läßt mich sitzen. – – Was fang’ ich an? – – (Beugt sich zur Erde) Ein wildfremdes Gesicht! – (Sich aufrichtend) Und niemand, der ihm den letzten Dienst erweist. – Ist das trostlos …
SCHWARZ Noch nicht wieder zur Besinnung gekommen?
LULU(links vorn) Was fang’ ich an …
SCHWARZ(über Goll gebeugt) Herr Medizinalrat.
LULU Ich glaube beinah, es ist ihm ernst.
SCHWARZ Reden Sie doch anständig!
LULU Er würde mir das nicht sagen. Er läßt sich von mir vortanzen, wenn er sich nicht wohl fühlt.
SCHWARZ Der Arzt muß im Augenblick hier sein.
LULU Arznei hilft ihm nicht.
SCHWARZ Aber man tut doch in solchem Falle, was man kann.
LULU Er glaubt nicht daran.
SCHWARZ Wollen Sie sich denn nicht wenigstens umziehen?
LULU Ja. – Gleich.
SCHWARZ Worauf warten Sie denn noch?
LULU Ich bitte Sie …
SCHWARZ Was denn …?
LULU Schließen Sie ihm die Augen.
SCHWARZ Sie sind entsetzlich.
LULU Noch lange nicht so entsetzlich wie Sie!
SCHWARZ Wie ich?
LULU Sie sind eine Verbrechernatur.
SCHWARZ Rührt Sie denn dieser Moment gar nicht?
LULU Mich trifft es auch mal.
SCHWARZ Ich bitte Sie, jetzt schweigen Sie endlich mal!
LULU Sie trifft es auch mal.
SCHWARZ Das brauchten Sie einem in einem solchen Augenblick wirklich nicht noch zu sagen.
LULU Ich bitte Sie …
SCHWARZ Tun Sie, was Ihnen nötig scheint. Ich kenne das nicht.
LULU(rechts von Goll) Er sieht mich an.
SCHWARZ(links von Goll) Mich auch …
LULU Sie sind ein Feigling!
SCHWARZ(schließt Goll mit dem Taschentuch die Augen) Es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich dazu verurteilt bin.
LULU Haben Sie es denn Ihrer Mutter nicht getan?
SCHWARZ(nervös) Nein.
LULU Sie waren wohl auswärts?
SCHWARZ Nein!
LULU Oder Sie fürchteten sich?
SCHWARZ(heftig) Nein.
LULU(bebt zurück) Ich wollte Sie nicht beleidigen.
SCHWARZ – Sie lebt noch.
LULU Dann haben Sie doch noch jemanden.
SCHWARZ Sie ist bettelarm.
LULU Das kenne ich.
SCHWARZ Spotten Sie meiner nicht!
LULU Jetzt bin ich reich …
SCHWARZ Es ist grauenerregend. (Geht nach links) Was kann sie dafür!
LULU(für sich) Was fang’ ich an.
SCHWARZ(für sich) Vollkommen verwildert! (Schwarz links, Lulu rechts, sehen einander mißtrauisch an.)
SCHWARZ(geht auf sie zu, ergreift ihre Hand) Sieh mir ins Auge!
LULU(ängstlich) Was wollen Sie …
SCHWARZ(führt sie zur Ottomane, nötigt sie, neben ihm Platz zu nehmen) Sieh mir in die Augen!
LULU Ich sehe mich als Pierrot darin.
SCHWARZ(stößt sie von sich) Verwünschte Tanzerei!
LULU Ich muß mich umziehen …
SCHWARZ(hält sie zurück) Eine Frage …
LULU Ich darf ja nicht antworten.
SCHWARZ(wieder an der Ottomane) Kannst du die Wahrheit sagen?
LULU Ich weiß es nicht.
SCHWARZ Glaubst du an einen Schöpfer?
LULU Ich weiß es nicht.
SCHWARZ Kannst du bei etwas schwören?
LULU Ich weiß es nicht. Lassen Sie mich! Sie sind verrückt!
SCHWARZ Woran glaubst du denn?
LULU Ich weiß es nicht.
SCHWARZ Hast du denn keine Seele?
LULU Ich weiß es nicht.
SCHWARZ Hast du schon einmal geliebt –?
LULU Ich weiß es nicht.
SCHWARZ(erhebt sich, geht nach links, für sich) Sie weiß es nicht!
LULU(ohne sich zu rühren) Ich weiß es nicht.
SCHWARZ(mit einem Blick auf Goll) Er weiß es …
LULU(sich ihm nähernd) Was wollen Sie wissen?
SCHWARZ(empört) Geh, zieh dich an!
LULU(geht ins Schlafkabinett).
SCHWARZ Ich möchte tauschen mit dir, du Toter! Ich gebe sie dir zurück. Ich gebe dir meine Jugend dazu. Mir fehlt der Mut und der Glaube. Ich habe mich zu lange gedulden müssen. Es ist zu spät für mich. Ich bin dem Glück nicht gewachsen. Ich habe eine höllische Angst davor. Wach auf! Ich habe sie nicht angerührt. Er öffnet den Mund. – Mund auf und Augen zu wie die Kinder. Bei mir ist es umgekehrt. Wach auf! Wach auf! (Kniet nieder und bindet ihm sein Taschentuch um den Kopf) Hier flehe ich zum Himmel, er möge mich befähigen, glücklich zu sein. Er möge mir die Kraft geben und die seelische Freiheit, nur ein klein wenig glücklich zu sein. Um ihretwillen, einzig um ihretwillen.
LULU(tritt aus dem Schlafkabinett, vollständig angekleidet, den Hut auf, die rechte Hand unter der linken Achsel; zu Schwarz, den linken Arm hebend) Würden Sie mich hier zuhaken. Meine Hand zittert.
Sehr eleganter Salon. Rechts hinten Entreetür. Vorne rechts und links Portieren. Zu der links führen einige Stufen hinan. An der Hinterwand über dem Kamin in prachtvollem Brokatrahmen Lulus Bild als Pierrot. Links ein hoher Spiegel. Davor eine Chaiselongue. Rechts ein Schreibtisch in Ebenholz. In der Mitte einige Sessel um ein chinesisches Tischchen.
LULU(in grünseidenem Morgenkleid steht regungslos vor dem Spiegel, runzelt die Stirn, fährt mit der Hand darüber, befühlt ihre Wangen, trennt sich vom Spiegel mit einem mißmutigen, halb zornigen Blick, geht nach rechts, sich mehrmals umwendend, öffnet auf dem Schreibtisch eine Schatulle, zündet sich eine Zigarette an, sucht unter den Büchern, die auf dem Tisch liegen, nimmt eines zur Hand, legt sich auf die Chaiselongue, dem Spiegel gegenüber, läßt, nachdem sie einen Moment gelesen, das Buch sinken, nickt sich ernsthaft zu, nimmt die Lektüre wieder auf).
SCHWARZ(Pinsel und Palette in der Hand, tritt von rechts ein, beugt sich über Lulu, küßt sie auf die Stirn, geht nach links die Stufen hinan, wendet sich in der Portiere um)Eva!
LULU(lächelnd) Befehlen?
SCHWARZ Ich finde, du siehst heute außerordentlich reizend aus.
LULU