Erinnerungen des Waldes (Band 2) - Mickaël Brun-Arnaud - E-Book

Erinnerungen des Waldes (Band 2) E-Book

Mickaël Brun-Arnaud

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Beschreibung

Waghalsig, warmherzig, wertvoll, waldig!   Buchhändler Archibald Fuchs liebt die Ruhe in seiner Buchhandlung. Doch die währt nicht lange: Er bekommt Besuch von einem Wolf der ihm eröffnet, die Buchhandlung gehöre offiziell gar nicht Familie Fuchs, sondern Familie Wolf. Kurzerhand wirft er Archibald hochkant raus. Der völlig verzweifelte Fuchs dachte immer, die Buchhandlung sei von seinem Großvater Cornelius gegründet und an die nächste Generation vererbt worden. Zusammen mit seinem Neffen Bartholomeus will Archibald die Wahrheit herausfinden und sie beginnen in den Tagebüchern des Großvaters zu lesen. Schnell merken sie jedoch, dass wichtige Teile fehlen, die es nun zu suchen gilt. Werden sie die Buchhandlung retten können?   Band 2 der charmanten Erfolgsreihe aus Frankreich. Wundervoll atmosphärisch illustriert!

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Seitenzahl: 217

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Mickaël Brun-Arnaud

Erinnerungen des Waldes

Aus dem Französischen übersetzt von Julia Süßbrich

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Mémoires de la forêt. Les souvenirs de Ferdinand Taupe bei l’école des loisirs, Paris.

 

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe: Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Text © Mickaël Brun-Arnaud

Cover und Illustrationen: Sanoe

© 2023, l’école des loisirs, Paris

Aus dem Französischen übersetzt von Julia Süßbrich

Lektorat: Barbara Schlichtmann

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03967-012-3

 

www.WooW-Books.de

www.instagram.com/woowbooks_verlag

 

 

 

Für Victor, dessen Vorname nie abgekürzt werden sollte

Prolog

Das Geheimnis von Cornelius Fuchs

Vor zwanzig Jahren, in einer kühlen Septembernacht in Schönrinde …

Eingekuschelt in sein Bett in der Klinik der Familie Igel, fragte sich Cornelius Fuchs, wie er sich wohl unbemerkt aus seinem Zimmer davonstehlen könnte. Auf den verschlafenen Fluren unterbrachen handgefertigte Laternen die Dunkelheit – seltsame hängende Glaslampen mit marmeladeverschmierten Kolben, in denen verfressene Glühwürmchen sich um den Zucker stritten und dabei die Dunkelheit mit ihrem lebhaften Herumtollen erhellten. Im Zimmer am Ende des Ganges ließ das dröhnende Schnarchen von Doktor Igel die Bodenplanken knarzen, die Fenster vibrieren und die Marmeladenschälchen aus Porzellan, in denen die Krankenschwestern ihre Arzneimittel aufbewahrten, klirren.

»Aprikose aber auch!«, fluchte Cornelius Fuchs, als er seine Tür einen Spalt öffnete. »Dieser Igel schnarcht lauter als ein Bär! Allerdings gibt mir das auch eine gute Gelegenheit, mich aus dem Staub zu machen …«

Während er sich seines karierten Schlafrocks entledigte und in seine Alltagskleidung schlüpfte, war Cornelius, das älteste Mitglied der Familie Fuchs, fest entschlossen, auszubüxen und die Aufgabe zu Ende zu führen, die er sich selbst gestellt hatte. In einem Bündel, das er mit seinen eigenen Krallen aus dem Vorhang geschnitten und an seinen Stock geknüpft hatte, nahm er die Zimtschnecken mit, die er nachmittags zurückbehalten hatte, und außerdem seine Bettlektüre – Arsène Langohr, der Gentleman unter den Karottendieben, von Moritz Weißwolf –, seine Lieblingsschreibfeder, sein kleines Tintenfass und die paar Blätter Papier, die auf der Kommode herumlagen.

»Ich muss mich beeilen, bevor ich den nächsten Anfall bekomme. Sie dürfen nicht in die falschen Hände geraten«, murmelte er hastig, während er seine Bettlaken mit dem Kissenbezug verknotete und Letzteren am Schrankfuß befestigte, um sich eine Strickleiter zu basteln.

Während er die zusammengebundene Bettwäsche aus dem Fenster warf, bekam der alte Fuchs aufs Neue diese verflixten Schwindelanfälle, die ihn zuvor zum Ausruhen gezwungen hatten. Verfluchte Rübe, dachte er und rieb sich die Ohren. Ich werde nicht zulassen, dass du mich daran hinderst, zu tun, was ich zu tun habe, Buchhändler-Ehrenwort! Knoten für Knoten und eine Pfote nach der anderen setzend, kletterte Cornelius vorsichtig hinunter zum Fuß des Bauwerks, das aus Ästen und Blättern bestand – die berühmte Klinik von Doktor Hippokrates Igel, in dessen Familie der Vater den Arztberuf an seine Söhne und Töchter weitergab. Die Tiere des Waldes konnten hierherkommen, um sich zu erholen, wenn sie den Ast, auf dem sie saßen, abgesägt hatten oder sich zur Winterruhe zurückgezogen und dabei vergessen hatten, die Tür ihres Baus zu schließen, sodass der Wind und der Regen hereinfegten und ihre Socken feucht werden ließen … Brrr!

Die Wolken, die sich über dem Dorf auftürmten, ließen sintflutartigen Regen und ein heftiges Gewitter erwarten. Der Fuchs richtete seinen Schal und die zu dünne Wollstrickjacke, die seine Schultern bedeckte. Dann machte er sich beim ersten Wetterleuchten auf den Weg. Es wurde auch Zeit, denn in den stillen Gängen der Klinik hatte das Schnarchen inzwischen aufgehört.

»Cornelius?«, wagte sich eine sehr tiefe Stimme im oberen Stockwerk vor, »sind Sie derjenige, der wie ein hungriger Tiger schnarcht, oder ist das Gewitter schon losgebrochen? Möchten Sie eine Spritze, um wieder einschlafen zu können?«

»Mir geht es gut«, antwortete der Fuchs von dem Waldweg, den er gerade einschlug. »Ich schlafe wie ein Baby!«

»Ich kann Sie sehr schlecht verstehen, Cornelius … Wo sind Sie denn? Oh! Beim Stachelschwein aber auch!«

Anhand des Lärms, den der alte Fuchs hörte, begriff er, dass Doktor Igel aus seinem Sessel gefallen war und alles mit sich gerissen hatte, was sich auf seinem Schreibtisch befunden hatte: medizinische Nachschlagewerke, die kalt gewordene Tasse Kakao, das Hämmerchen für die Reflexe … Cornelius knöpfte seine Strickjacke bis oben zu und wagte sich ohne zu antworten hinaus in die Nacht: Nichts – weder das Gewitter noch seine Krankheit oder sein Anstand – konnte ihn jetzt noch aufhalten.

Als er sich auf leisen Sohlen in das mit Blauregen bewachsene Landhäuschen schlich, das sein Sohn Gerwin und dessen Gattin bewohnten, war er nass bis auf die Knochen. Der Fuchs unterdrückte das Bedürfnis, sich heftig zu schütteln, um das Wasser aus seinem Fell zu schleudern, denn er hielt es für wenig hilfreich, im Haus gleich das nächste Donnerwetter hervorzurufen … Da er sich noch an den Ort erinnerte, an dem er sie versteckt hatte, begab Cornelius sich zu der riesigen Bücherwand im Wohnzimmer. Mithilfe der Bambusleiter erreichte er das oberste Fach und fand, was er suchte. Er hatte es einst versteckt, und zwar hinter einer seiner liebsten Romanserien: Die fabelhaften Wald-Detektive. Dutzende Male hatte er diese Romane gelesen, daher strich er nun sanft über ihre rissigen Pilzleder-Einbände. Vor seinem inneren Auge tauchten blasse Bilder aus alten Tagen auf, und Musik von damals spielte in seinem Kopf wie ein Grammofon, dessen Kurbel man nicht anhalten konnte. Wer genau hinsah, konnte sehen, wie sich in einer Träne in seinem Augenwinkel Erinnerungen spiegelten: Es waren Bilder von einer Baumhütte, einem prächtigen Landhaus am See, Tabletts mit hausgemachter Zitronenlimonade und Kandierter-Ingwer-Plätzchen, umherlaufenden Kindern, einem Fluss, der unzufrieden immer lauter und lauter toste … Da es Cornelius manchmal zu sehr schmerzte, an das zu denken, was passiert war, und vielleicht auch, weil er es sich selbst nie verziehen hatte, öffnete er nun sein in der Klinik geschnürtes Bündel und fügte ihm seine Schätze hinzu. Indem er sie schnell darin versteckte, konnte er den Erinnerungen entkommen, die sie in ihm auslösten. Derjenige, der diese Schätze eines Tages in die Pfoten bekommen würde, käme in den Besitz des größten Reichtums – aber jeder Schatz bringt immer die fürchterlichsten Verfluchungen mit sich, das haben alle Abenteuer-Erzählungen stets bewiesen.

»Großvater, bist du das?«, fragte ein ganz zartes Stimmchen hinter ihm.

In der Wohnzimmertür schlackerte ein liebenswerter Fuchswelpe in einem zu großen Baumwollpyjama, mit einer Stoffpuppe in der Hand. Das Gewitter hatte ihn sicher geweckt, aber seine Äuglein sahen so müde aus, als würde er jeden Moment wieder einschlafen können.

»Psst, mein Großer«, antwortete Cornelius und drückte ihn liebevoll an sich, während er einen neuen Schwindelanfall verdrängte. »Du möchtest doch deinen Papa und deine Mama bestimmt nicht aufwecken … Und ich übrigens auch nicht. Du weißt ja, wie knurrig dein Vater sein kann, wenn man ihn nicht ausschlafen lässt …«

»Was machst du hier, Großvater?«, fragte der kleine Fuchs, als sie in der Sicherheit seines Zimmers waren. »Bist du gekommen, um dir ein Buch von uns zu leihen? Ist dir in der Klinik von Familie Igel so langweilig?«

»Vielleicht hat mir mein kleiner Archibald zu sehr gefehlt, sodass ich Lust hatte, sein Gesicht zu sehen, bevor ich wieder ins Bett gehe, oder ihn ein bisschen zu kitzeln …«, neckte ihn Cornelius, während er seine Krallen über die Pfotenballen seines Enkels krabbeln ließ. »Jetzt aber mal im Ernst, mein liebes Füchschen, kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«

»Ja sicher!«, antwortete Archibald und hob seine Pfote eifrig hoch. »Das schwöre ich dir auf die vier Haselnüsse in meiner Spardose! Großvater, geht es dir gut? Möchtest du, dass ich dir Geld leihe?«

Auf der Bettkante sitzend kämpfte Cornelius gegen einen heftigen Kopfschmerz, der bis in die Spitze seiner Schnauze strahlte. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, bis sein inneres Gewitter ihn wieder wer weiß wohin in seinem Hirn verschlagen würde …

»Das brauchst du nicht, mein Großer. Behalte deine kostbaren Ersparnisse. Ich möchte, dass du mir versprichst, niemandem irgendetwas von meinem Besuch heute Nacht zu verraten, einverstanden? Es wird unser Geheimnis bleiben. Du darfst weder deinem Vater noch deiner Mutter davon erzählen. Verstanden?«

»Großes Ehrenwort! Du kannst mir vertraaauuuuuuuen«, gähnte er und riss dabei das Maul weit auf.

»Jetzt ist Schlafen angesagt. Und vergiss nicht, Archibald, nichts ausplappern!«

»Nichts aus… ja. Gute Nacht, Großvater …«

»Gute Nacht, mein Großer«, murmelte Cornelius und sah noch einmal nach, ob die Kerze in dem Windlicht, das als Nachtleuchte diente, auch ja nicht bald auszugehen drohte.

Dann verließ er das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Sein Bündel fest an sein Herz gedrückt, dachte der Buchhändler an all die Erschütterungen, die diese einfachen Papierbögen in seinem Umfeld würden auslösen können. Aber er gab deswegen nicht auf. Trotz der Kälte, trotz des Regens und seiner Schläfen, die wie eine schlagende mechanische Wanduhr dröhnten, tat der alte Fuchs das, was getan werden musste.

In dieser Nacht klopfte Cornelius an die Türen von vier Tieren, veränderte für immer deren Schicksal und teilte, unter ihrer freundlichen Mitwirkung, seinen Schatz in Einzelstücke auf. Wer auch immer die Wahrheit über seine Geschichte erfahren wollte, über die der Familie Fuchs und der Buchhandlung von Schönrinde, würde sich auf eine wahrhaftige Spurensuche begeben müssen. Als er beim zarten Licht des Morgengrauens in seine Baum-Buchhandlung kam und den vertrauten Geruch der ledergebundenen Bücher und der gewachsten Regalbretter einsog, konnte Cornelius sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er wusste, dass er vielleicht zum letzten Mal hier in der Eiche, in seinem Zimmer über dem Laden, schlafen würde. Erschöpft von seiner Rundreise, kritzelte er ein letztes Wort nieder, klopfte auf den Deckel seiner Truhe, legte sich danach auf sein Kissen und schlief gleich ein. Draußen hatte der Regen aufgehört. Die Sonne ging an einem wolkenlosen Himmel auf. Doch im Kopf des Fuchses brach nun ein Gewitter los, das ihn für immer ins Gefängnis seines Geistes sperrte.

Zur Feder greifen

Heutzutage, in Schönrinde …

In seinem eleganten, altmodischen, mit Stickereien geschmückten Sessel sitzend, dachte Archibald Fuchs darüber nach, wie er seine eigene Geschichte beginnen sollte. Ein guter Teil des Sonntags war schon verstrichen, und doch waren die Papierbögen auf dem knotigen Holz seines Schreibtisches leider noch hoffnungslos leer. Solange ihm der Duft des Erdbeer-Rhabarber-Kuchens, der im Ofen goldbraun wurde und dabei Karamelldüfte verströmte, in die Nase stieg, lief ihm das Wasser in der Schnauze zusammen. Da war nichts zu machen! Mit so einem Hunger würde es der angehende Schriftsteller niemals schaffen, mehr als diese paar bereits geschriebenen Zeilen auf die Reihe zu bekommen!

»Ach, mein lieber Opa Cornelius … Da frage ich mich doch wirklich, ob du dein Siegel auf die bescheidenen Seiten deines Fuchswelpen gedrückt hättest«, seufzte er und betrachtete dabei das Porträt seines Großvaters, das über dem Bücherregal hing.

Die Geschichte, die Archibald vorhatte aufzuschreiben, war anders als alle anderen. Und genau das war auch der Grund, weshalb der Fuchs beschlossen hatte, zur Feder zu greifen. Einige Wochen zuvor, als der Sommer angebrochen war, hatte er die Geborgenheit Schönrindes verlassen, um seinem Freund Ferdinand Maulwurf zu helfen. Ferdinand litt unter der Alles-Vergessen-Krankheit und wollte damals das Buch seiner Erinnerungen und damit seine Frau Mathilde wiederfinden. Das Buch hatte Archibald verkauft, ohne sich den Namen des Käufers aufzuschreiben. Auf den duftenden Waldpfaden hatten der Fuchs und der Maulwurf großartige Landschaften durchquert und die Wege außergewöhnlicher Tiere gekreuzt. Ebenjene waren ihre Freunde geworden und hatten Ferdinand geholfen, seine aufregende Spurensuche durchzustehen. Im Laufe dieser großen Abenteuerreise hatte der Maulwurf sehr viel mehr wiedergefunden als eine Erinnerung: seinen kleinen, inzwischen groß gewordenen Sohn Rotbert Maulwurf. Dieser umsorgte ihn nun in ihrem hübschen Häuschen am Schönrinder Waldrand, dort, wo der Wald lichter wurde, um üppig blühenden Wiesen Platz zu machen. Mathilde war nicht mehr da, aber etwas von ihr lag in jedem gemeinsamen nachmittäglichen Kuchenessen und jedem Herumirren Ferdinands, in seinen Träumen tagsüber und nachts. Es war wie eine Prise Zucker auf den Erdbeeren der Erinnerung, die die Zeit immer zu schnell verschlang.

»Nun gut, dann ist heute also nicht der Tag, an dem ich es schaffen werde, unseren Reisebericht zu verfassen«, murmelte der Fuchs, während er das Tintenfass zuschraubte und das Bild nahm, auf dem sein Reisegefährte mit Rotbert posierte. »Ich würde Ihnen und Ihrer lieben Mathilde so gern diese Ehre erweisen … Aber ich höre schon meinen Vater sagen: ›Wie kannst du überhaupt daran denken, ein Buch zu schreiben? Du bist nicht Schriftsteller, sondern der Buchhändler von Schönrinde und derjenige, dem ich diese unsere edle Aufgabe anvertraut habe. Falls du glauben solltest, dass sich irgendjemand für das Buch eines Ladenbesitzers interessiert, dann irrst du dich gewaltig!‹ Nanu?«, unterbrach er sich, als er jemanden an die Tür klopfen hörte.

Das Geschäft, das alle unter dem Namen Buchhandlung von Schönrinde kannten, öffnete seine Türen an jedem Wochentag zum größten Vergnügen der Leseratten, aber auch zur Freude von bücherliebenden Mäusen, Fröschen, Hirschkühen, Wildschweinen, Stuten, Dachsen sowie Iltissen. Sonntags jedoch war es geschlossen, damit Archibald Erledigungen nachgehen, seinen Kopf durchlüften und sich der Lektüre von Werken hingeben konnte, die er im Lauf der Woche hereinbekommen hatte. Es ergab sich daher nur sehr selten, dass ein Tier sonntags an die Scheiben der Ladentür klopfte. Aber warum hätte ausgerechnet Archibald sich über die überraschenden Lesegelüste anderer lustig machen sollen?

»Ich komme schon, ich komme schon!«, rief er dem Tier zu, das ungeduldig wurde und immer heftiger anklopfte. »Da bin ich, es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen. Einen guten Tag wünsche ich Ihnen, Herr … Herr? Ist da jemand?«

Das fragliche Tier war nicht groß genug, um an das holzgerahmte Fensterchen heranzuragen, durch das der Fuchs fast seine ganze Schnauze schob, doch sein zitterndes Stimmchen und der Lärm des durcheinanderpurzelnden Krimskrams in seiner Nussschale ließen keinen Zweifel daran, wer vor der Tür stand.

»Ich weiß nicht mehr genau, wo wir sind, was wir hier wollen oder wem diese Schnauze voller Reißzähne gehört, aber ich muss gestehen, dass es in Ihrem Haus irgendwie sehr lecker nach Erdbeer-Rhabarber-Kuchen riecht, mit einer Prise Zimt und … Nein, nein …«, plapperte es weiter und schnupperte herum, »zwei Prisen Zimt, einem Klecks Butter und … ein paar Körnchen Salz?«

»Das haben Sie alles richtig erraten, Ferdinand! Apfel aber auch, was für eine Freude ist es mir, Sie wiederzusehen, mein Freund!«

Vor der Tür für die großen Tiere standen zwei Maulwürfe in ihrer Sonntagskleidung – mit ihren Initialen bestickte Sakkos und Fliegen – und warteten darauf, hereingelassen zu werden. Während der eine ganz stolz und aufrecht dastand in seinem Anzug aus feinster Wolle, beugte sich der andere über seinen Stock und reckte die Schnauze in die Luft, um sich an den köstlichen Düften zu berauschen, die aus dem Ofen strömten. Im Nullkommanichts löste Archibald die goldene Türkette und entriegelte das Schloss, um Ferdinand in seine Arme zu schließen. Da dessen Erinnerungen durcheinander waren, zuckte dieser freundlich die Schultern und zappelte mit den Hinterpfoten in der Luft, während sein Freund ihn an sich drückte. Der Maulwurf warf dabei seinem Sohn Blicke zu, als wollte er ihm sagen: ›Ich weiß nicht mehr genau, wer das ist, aber ich mag es ja eh, in den Arm genommen zu werden, daher …‹ Der Fuchs allerdings strahlte. Wie hatten ihm seine Freunde gefehlt!

»Ich hatte meine Schnauze dermaßen in meine Schreiberei versenkt, da hatte ich völlig vergessen, dass wir zum Tee verabredet sind! Was bin ich doch für ein Schussel!«

»Ach, wissen Sie, mit dem Gedächtnis ist es wie mit allen anderen Dingen: Das muss man pflegen«, schaltete sich Ferdinand Maulwurf mit vollem Ernst ein und knuffte ihn mit dem Ellbogen. »Zu versuchen, die Namen der Leute zu behalten, denen man begegnet, ist eine sehr gute Übung. Und wo wir gerade dabei sind, nehmen Sie es mir nicht krumm, werter Freund, aber … wer sind Sie?«

»Ach, Papa«, antwortete Rotbert verlegen. »Du weißt doch genau – das ist Archibald, dein Freund! Der, mit dem du im Sommer ein großes Abenteuer erlebt hast. Erinnerst du dich noch?«

»Ach, also … Nein«, erwiderte der Maulwurf betreten. »Wenn es allerdings etwas gibt, das ich nie vergesse, dann die Kuchenzeit am Nachmittag!«

»So kommen Sie nur herein, mein lieber Ferdinand, und machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte ihn Archibald, während er seine Freunde einließ. »Es liegt doch allein bei uns, zu einem neuen Abenteuer aufzubrechen und uns gemeinsam neue Erinnerungen zu schaffen. Was sagen Sie dazu?«

»Ich sage dazu, dass das Stück, welches Sie gerade abschneiden, viel zu klein ist, Herr Fuchs! Ich bedaure zutiefst, sie darauf hinzuweisen, aber ich fände es ganz fürchterlich, wenn Sie mir mehrmals nachlegen müssten …«

Die Tischrunde brach in schallendes Gelächter aus. Was an der Alles-Vergessen-Krankheit erstaunlich sein konnte, war, dass sie einem jegliche Fähigkeit nahm, die Zähne zusammenzubeißen und unhöfliche Bemerkungen ganz hinten in der Schnauze zurückzuhalten. Das hieß nicht, dass Ferdinand weniger sympathisch gewesen wäre, und es war auch keine Sache der Freundlichkeit. Es bedeutete nur, dass er laut aussprach, was man sonst ganz leise dachte. Und manchmal, wie an diesem schönen Oktobernachmittag, bescherte ihm das ein größeres Stück Kuchen. Also hatte er sicher keinen Grund, darüber zu klagen!

»Es freut mich sehr, dass Sie hergekommen sind, meine Freunde. Ich verzweifelte eben gerade an meinem Manuskript. Niemals hätte ich gedacht, dass Schreiben so schwierig ist«, seufzte der Fuchs und zeigte auf seine Papierbögen.

»Wollen Sie uns immer noch nicht verraten, was Sie verfassen?«, fragte Rotbert verschmitzt, während er Tee nachschenkte.

»Noch nicht, noch nicht, es wird eine Überr…«

Aber ihm blieb keine Zeit, seinen Satz zu vollenden.

»Na, wo etwaf, wie weltwam«, unterbrach ihn Ferdinand mit der Schnauze voller Kuchen und deutete auf das Porträt über der Bücherwand. »Diewer Herr wagt mir irgempwaf. Iff daf jemamp auf Ihwer Familie, Herr Fupf? Iff ’im wicher, ihm fom ma gewehen fu haben …«

»Papa, man unterbricht doch niemanden, der gerade spricht«, wies Rotbert ihn freundlich zurecht.

»Machen Sie sich keine Gedanken, Rotbert, ich weiß ja, dass er es nicht absichtlich tut … Dieser Fuchs ist mein Großvater Cornelius, von dem ich die Buchhandlung und meine Neugier auf Bücher geerbt habe! Sie sind ihm in Ihrer Jugend sicher begegnet, wenn Sie vorbeikamen, um Lesestoff zu kaufen. Ach übrigens, wo ich gerade daran denke …«, murmelte Archibald und strich sich gedankenversunken über die Barthaare. »Wahrscheinlich war er derjenige, dem Sie Ihre Erinnerungen aus Unter-Erde anvertraut haben. Bei der Gelegenheit werden Sie ihm sicher begegnet sein. Erinnert Sie das alles an irgendetwas, mein Freund?«

Doch Ferdinand, der vom Tisch aufgestanden war, hatte in seinem Geist schon längst einen anderen Weg eingeschlagen.

»Wahrfeimliff, if weif daff nich mehr … Gehen wir jetzt nach Hause? Ich habe aufgegessen und jetzt ein bisschen Bauchweh«, jammerte er, als er sich seinem Sohn zuwandte.

»Archibald, Sie sind uns doch nicht böse, wenn wir …?«, fragte Rotbert höflich.

»Selbstverständlich nicht. Die Sonne geht schon unter. Der Sommer ist so schnell vorüber gewesen …«

Sie umarmten sich, und auch wenn Ferdinand nicht verstand, warum, tat er es dennoch gern.

»Umarmungen wimp wirkwiff wehr angenehm«, sagte er noch einmal, während er Rotberts Pfote ergriff und in ein Stück Erdbeerkuchen biss, das er gerade in seiner Jackentasche gefunden hatte.

Mit seinem bestickten Taschentuch winkte Archibald vor seinem Baum den Freunden hinterher, bis sie in der Ferne verschwanden. Bestimmt würden sie bald wieder zusammen Kuchen essen. Später, als er in seinem Sessel saß, den Blick fest auf das Porträt seines Großvaters gerichtet, konnte er nicht anders, als an seine Kindheit zurückzudenken, in der er den Anekdoten dieses lustigen Vorfahren gelauscht hatte. Würde auch er eines Tages in der Lage sein, Geschichten zu erspinnen, die kleine Tiere zum Träumen brachten? Über diesen Gedanken nickte er ein, den Magen randvoll mit Kuchen.

Ferdinand Maulwurf döste in seinem Haus bereits seit einigen Stunden vor sich hin, als er plötzlich aufschreckte. Ihm war gerade die Erinnerung an den Tag wiedergekommen, an dem er Cornelius Fuchs getroffen hatte. Während er wieder einschlief, nahm er sich fest vor, am nächsten Tag seinem Freund alles zu erzählen. Beim Aufwachen jedoch fiel ihm nur noch eines ein: Es war endlich Zeit zu frühstücken!

Herr Wolf

Als Conrad Wolf aus dem Dampfautobus stieg, war das Herbstfest in vollem Gange. Zu diesem Anlass waren die Straßen von Schönrinde mit Körben voller Gemüse, geschnitzten Kürbislaternen und bunten Lampions geschmückt, die, sobald der Abend angebrochen war, mit ihrem Leuchten die Sterne in den Schatten stellten. In den Geschäften herrschte fröhliches Treiben, und in ihren Schaufenstern hatten die Ladeninhaber vergnüglich mit einigen liebenswerten Szenen den Wald nachgebaut, aus Holzfiguren, die stolz auf roten Pilzen mit aufgemalten weißen Punkten saßen. Die Dorf-Zeitung schrieb es geradeheraus: Dieses Herbstfest würde das schönste werden, das die Tiere von Schönrinde jemals erlebt hatten! Bonaparte Waldmaus, der zweiundsiebzigste Bürgermeister in der Geschichte des Dorfes, sah für sich in diesem besonderen Fest eine Aufgabe von höchster Wichtigkeit!

Nach den Auskünften der Tiere, die Conrad nach dem Weg gefragt hatte, befand sich die Buchhandlung am Rand, fern vom Tumult der Einkaufsstraßen, neben dem Pfad, der zum Fluss führte.

An diesem festlichen Montagmorgen war Archibald schon eifrig damit beschäftigt, die zahlreichen Kunden seines Geschäfts zufriedenzustellen. Erdrückt von einem wachsenden Bücherberg, den Anastasia Laubfrosch ihn bat zur Kasse zu tragen, war der Fuchs weit davon entfernt, zu ahnen, dass die zähflüssigen Schleimspuren, die seine amphibische Kundin hinterließ, leider nicht die unangenehmste Erfahrung seiner Woche bleiben würden.

»Ich gla-a-a-a-aube, ich hä-ä-ä-änge schon se-e-e-e-ehr an diesem Bu-u-u-u-uch«, rief Anastasia dem Buchhändler zu und wackelte hinter ihm her.

»Das kann ich verstehen«, antwortete Archibald begeistert. »Wirklich sehr gefährliche Liebschaften von Benedicta Stachelschwein ist in der Tat ein grauenerregendes Buch, aber man kann die Pfoten nicht davon lassen! Also, ich weiß nicht, ob dieser Ausdruck hier so angemessen ist …«

»Das gla-a-a-aaaube ich Ihnen, Herr Fuchs«, sagte sie und schüttelte energisch ihre Vorderbeine. »Aber ich gla-a-a-aaube auch wirklich ganz ehrlich, dass es an meinen Fingern festpa-a-a-aappt …«

»Apfel aber auch, Anastasia, lassen Sie mich Ihnen helfen! Ja, Frau Elster, ich komme sofort zu Ihnen, entschuldigen Sie bitte! Ich muss nur eben diesen Bücherstapel … Herr Biber, ich bin gleich bei Ihnen … Ach, Apfel noch mal!«

Da er sich alle Mühe gab, das Unmögliche möglich zu machen, um seine Kunden zufriedenzustellen, verlor der Fuchs im selben Moment das Gleichgewicht und damit seine Traumvorstellung, überall gleichzeitig sein zu können: Er fiel hin und konnte nicht verhindern, dass die Bücher, die Anastasia ausgewählt hatte, wie ein Schwarm Vögel aufflogen und dann schwer auf seinem Magen landeten … Gerwin Fuchs, sein Vater, hatte ihn immer gewarnt: Egal, mit wem oder in welcher Situation man sich unterhielt, das Gewicht von Worten durfte man nie unterschätzen!

»Ich gla-a-a-aube, Sie sind hingefallen, Archibald«, beobachtete die Laubfroschdame mit den roten Augen.

»Sie sind absolut scharfsinnig, meine liebe Anastasia«, antwortete der Fuchs, der sich wieder aufzurappeln versuchte, mit angeekeltem Gesicht, denn er hatte unglücklicherweise seine Pfoten in den grünlichen Schleim gesetzt, den sie absonderte. »Gestatten Sie mir, dass ich mich schnell frisch machen gehe?«

»Ich daa-aa-aachte, Säugetiere würden sich sa-a-auber-le-cken?«

»Da haben Sie recht, Anastasia, aber ich hebe meine Zunge lieber für etwas … feinere Aufgaben auf, wie Tee oder Plätzchen zum Beispiel. Ich komme sofort, der Herr«, sagte er zu der imposanten Gestalt, die gerade den Laden betreten und dabei die Glocke an der Tür der großen Tiere zum Läuten gebracht hatte.

Als Archibalds Blick zum ersten Mal den von Conrad Wolf traf, dachte der Buchhändler sofort, dass dieser Kunde Bücherliebe und Leidenschaft für Literatur in sich trug. Vielleicht erkannte er es daran, wie dieser behutsam über die Buchrücken strich, oder an der Art, wie er umsichtig die Bücher so aus den Regalen nahm, dass er ihren Schutzumschlag nicht beschädigte – er zog sie immer seitlich heraus und nie am oberen Ende. In wirklich jeder seiner Gesten und jedem Schritt durch den Laden behandelte der immerhin doch stattliche Wolf mit langen Gliedern und hervortretender Muskulatur diese heiligen Gegenstände genau mit der Vorsicht, die man ihnen schuldete. Gerührt von dieser Achtsamkeit, wischte der Fuchs sich schnell die Pfoten sauber und trat freudig auf den Wolf zu.

»Guten Tag, der Herr, und herzlich willkommen in dieser Buchhandlung! Seien Sie versichert, dass ich nicht der einzige Buchhändler in der Grafschaft bin und auch meine Kollegen in Zartstein und Luftstadt reichlich schöne Entdeckungen zu bieten haben. Ich nutze selbst die Gelegenheit, ihre Regale zu durchstöbern, wenn ich einige Tage Urlaub nehme und … Nun, ich weiß nicht, ob Sie schon dort waren … Haben Sie sie schon aufgesucht? Es lohnt wirklich einen Abstecher«, fuhr er fort, ohne auf eine Antwort des Wolfs zu warten. »Aber ich hoffe, auch die Dorfbuchhandlung von Schönrinde wird Ihre Entdeckerlust befriedigen können, sodass Sie hier schöne Literatur für Ihre Sammlung finden. Kann ich Ihnen denn eigentlich helfen? Sind Sie eher Leser von Abenteuerromanen, auf der Suche nach Grusel …?«

Ohne zu verstehen, warum, bemerkte Archibald, dass er nervös war: Jetzt hatte er auch noch angefangen, von seinen Urlauben zu erzählen und jemandem die Pfote auf die Schulter zu legen, dem er noch nie begegnet war!

»Ich danke Ihnen für den herzlichen Empfang, aber ich glaube, mehrere Tiere warten bereits seit einigen Minuten auf Ihre Ratschläge …«, erwiderte der Wolf mit einer gewissen verlegenen Distanz.

»Apfel! Die hatte ich vergessen! Ich bin gleich wieder bei Ihnen. Das Herbstfest hat meine Kundschaft dazu angeregt, nach schönen Lektüren zu suchen, die man in dieser Jahreszeit gern am gemütlichen Kaminfeuer bei einer guten Tasse heißer Mäusespeck-Schokolade genießt! Da bin ich, Frau Elster! Sofort, Herr Biber! Nein, ich bin nicht sicher, ob ich genug Haselnüsse habe, um Ihnen auf eine Eichel herauszugeben, Anastasia. Und außerdem ist die voller Schleim. Wären Sie so reizend, sie vorher abzuwischen?«



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