Erstes Drittel - Alex Gfeller - E-Book

Erstes Drittel E-Book

Alex Gfeller

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Beschreibung

Für einige wenige Glückliche hat sich diese geistige und kulturelle Isolation durchaus gelohnt, versteht sich, und zwar ganz massiv, denn jemand profitiert immer, jemand ist immer da, der Kasse macht, sonst hätte jegliche gesellschaftliche Entwicklung gar keinen Sinn. Alex Gfeller, Schriftsteller und Landschaftsmaler, geboren 1947 in Bern, lebt in Biel.

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für Hermann Burger

Die für das hässliche Gesamtbild des grauen Stacheldraht- und Zeitzünderzentrums entschieden ungewöhnliche Fassade der beiden englischen Stararchitekten mit ihren mittlerweile stadtbekannten vier violetten Pudeln, die sich bis über das versteckte Flachdach hinzieht, verleiht dem neuerstellten Parkhaus – allerdings nur von außen und aus einer gewissen Distanz betrachtet – tatsächlich den Anflug eines silbernen, mitten im belebten Stadtzentrum gestrandeten Riesenfisches, und die durch die Sonneneinstrahlung wellenartig aufgedunsene, also eindeutig beschädigte Zone am Ende des Fahrbahnkorridors ist ordnungsgemäß und korrekt durch übliche, signalfarbene Plastikbänder vom übrigen, vom stets eiligen Publikum bereits eifrig genutzten Teil des neuen Parkhauses deutlich sichtbar abgesperrt und somit klar und eindeutig erkennbar abgegrenzt worden, wie die polizeilichen Ermittlungen im Anschluss an den eher ungewöhnlichen Unfall schnell ergeben werden, denn wie die böse Direktorin die Göttin Nemesis in der Gestalt ihrer rachsüchtigen Freundin Artemis aus dem kleinen, hellblauen Auto steigen sieht, das verzerrte Gesicht kotzgrün, die Augenhöhlen leer und schwarz, mit flatterndem Haargewürm und einem blutigen Büschel dampfender Stierhoden auf entblößter Brust, schreit sie erst einmal in akuter Panik auf; ihr durchdringend hohes Kreischen hallt gellend durch die ganze vierte Etage des Karpfens. Danach dreht sie sich blitzschnell um, rennt mit ausgestreckten Armen in ihrem flatternden, gelben Jackenkleid weg, verliert auf der kurzen Strecke bis zum Ende des Fahrbahn-Korridors ihre Handtasche und einen Schuh und stürzt blindlings über die Abschrankung aus billigem Plastikband vier Parkhaus-Stockwerke tief ins Leere.

Im versteckten, engen Hinterhof gegen die Schuss hin kracht sie rücklings auf den regennassen Motorfahrrad-Anhänger eines ahnungslosen Aushilfe-Postboten, der dort unten, vermeintlich fern aller neugierigen Blicke, soeben umständlich sein Gefährt abgestellt hat. Er hat sich auf seinem täglichen Rundgang wie jeden Morgen eine kleine Pause gönnen und sich in aller Ruhe einen Selbstgedrehten mit seinem liebevoll gezogenen Balkongras genehmigen wollen. Doch daraus wird jetzt wohl nichts werden, kapiert er sofort, denn die ältere Frau in ihrem grellgelben Kleid, die vor seinen Füßen quer über dem Anhänger auf dem Rücken liegt, ist mit gebrochenem Genick und Rückgrat mausetot.

Der bedauernswerte, versteinerte Postbote hat immer noch das brennende Feuerzeug in der einen und den kleinen Joint, den er sich heute Morgen vor Arbeitsantritt zärtlich gebastelt hat, in der anderen Hand und starrt verständlicherweise völlig sprachlos, verstört und käsebleich auf die unschöne, dunkelrote Blutlache vor seinen Füßen, die sich soeben unter den beiden jetzt ganz unfunktionell gespreizten Speichenrädern seines Anhängers langsam breit macht und sich mit den Regenpfützen auf dem unebenen Untergrund aus nachlässig verlegten Betonplatten vermischt.

Nemesis schaut sich verwundert das große Loch in der Fassade an. Die Arbeiter der heftig angegriffenen Erstellerfirma haben tags zuvor ausgerechnet an dieser Stelle die Milchglasfassade des neu erstellten innerstädtischen Parkhauses wieder entfernt und so eine übermannshohe Öffnung geschaffen, die vom Boden bis fast zur Decke reicht, um den Arbeitsplatz besser belüften und um den abgehobelten Asphaltabfall leichter wegschaffen zu können. Sie haben den erst neulich asphaltierten Boden genau dort, wo der breite Korridor zwischen den engen Parkreihen endet, schon halbwegs wieder aufgerissen, denn gestern sind hier endlich die in der örtlichen Tagespresse, das heißt, die im Beiler Tagblatt längst angekündigten, in vielen hämischen Leserbriefen teils erbittert und überaus kontrovers diskutierten, teils polemisch angeprangerten, jedenfalls schon seit langem lauthals geforderten, kostspieligen Nachbesserungsarbeiten in Gang gekommen, diese erst nach langwierigen juristischen Vorgeplänkeln beschlossenen, durch die Ersteller-Garantie indes vollauf gedeckten Korrekturarbeiten am überteuerten Neubau, lästiges Flickwerk auf Garantiebasis also, das allerdings ausgerechnet heute, an diesem kühlen, arbeitsfreien und regnerischen Samstagmorgen, ruhen muss.

Verblüfft kehrt Nemesis zu ihrem unscheinbaren, hellblauen Kleinwagen zurück, den sie sich erst vor drei Tagen angeschafft hat, schließt ihn ordnungsgemäß ab und geht vorsichtig über den von einer schweren Baumaschine schon gänzlich aufgehobelten Asphaltbelag hinweg, an der zerfetzten provisorischen Bauabschrankung, die im kräftigen Durchzug lautlos flattert, vorbei zur großen Öffnung in der schuppenartigen Milchglasfassade des neuen Parkhauses hinüber. Dort schaut sie vorsichtig, sehr überrascht und neugierig zugleich in den kleinen, versteckt gelegenen Hinterhof hinunter, wo das verhasste Weibsstück wie eine geknickte Kakerlake unvorteilhaft quer auf dem kleinen, plattgedrückten Postanhänger zu liegen gekommen ist.

Nemesis indes, immer noch in der vierten Etage des neuen Parkhauses, ist mit ihrem einfachen Vorgehen und dem unerwartet effizienten Ergebnis überaus zufrieden und wendet sich bald erleichtert um. Sie geht aufrecht, jetzt wieder in der Gestalt eines untersetzten, älteren Herrn mit Vollglatze, zu den neuen, noch ganz ungewohnt unverschmierten und unzerkratzten Aufzügen aus poliertem Aluminium und rostfreiem Edelstahl hinüber, drückt ohne zu zögern auf die Leuchttaste mit dem grünen Pfeil, der nach unten zeigt, und wartet geduldig. Sie hat keine Eile, und sie will nicht, dass später ein unerwünschter Zufallszeuge der Polizei zu Protokoll geben könnte, er habe an besagtem Samstagmorgen gesehen, wie sich eine überaus verdächtig wirkende Person, die überdies dem ehemaligen sowjetischen Staats-, Regierungs- und Parteichef Nikita Chruschtschow aufs Haar geglichen habe, eilig, geduckt und verschämt aus dem neuen Parkhaus verdrückt habe.

Die allseits bekannten, weil im Beiler Tagblatt genüsslich breitgeschlagenen, baubedingten und trotz vieler gegenteiliger Behauptungen durchaus vorhersehbaren Nachbesserungsarbeiten am Großen Karpfen haben Nemesis unverhofft geholfen, ihren ersten delikaten Auftrag auf unerwartet einfache Weise zu erfüllen. Einzig auf Grund hässlicher Belagsverformungen sind diese baulichen Korrekturen nötig geworden, hat das Tagblatt gestern geschrieben, angeblich durch die ungewöhnlich intensive Sonneneinstrahlung und durch die starke Erwärmung in der unmittelbaren Nähe der durchaus kühnen, schuppenartigen Milchglasfassade auf der im Sommer zeitweise stark besonnten Südseite gegen den Schuss-Kanal hin hervorgerufen, also gegen den kümmerlich mickerigen Fluss hin, der die kleine Doppelstadt Beil-Benne in zwei etwa gleich große Hälften teilt.

Den Arbeitern der Baufirma kann also kein juristisch relevanter Vorwurf der Nachlässigkeit gemacht werden; allenfalls der abrupte, besonders bei direkter Einstrahlung der Morgen- und Mittagssonne unvermeidlich brüske Übergang von hell zu dunkel, respektive von dunkel zu hell im Bereiche des Korridors gegen die Glasfassade hin könnte unter ungünstigen Umständen, so der spätere, vielleicht etwas vorschnelle, aber ganz ausführliche Untersuchungsbericht, eine der möglichen Ursachen für die fatale Täuschung gewesen sein, die leider zum bedauerlichen, aber sturzeshalber unvermeidlichen Unfalltod der gewesenen, überaus verdienten Direktorin des „Beiler Instituts für forensische Euthanasie“, des BIFFE selig geführt habe, starke Sonneneinstrahlung also, obschon jedermann weiß, dass gerade zu jener Zeit der Himmel seit Wochen grau verhangen war und es an besagtem Samstagmorgen zudem unablässig geregnet hat.

Nemesis hat sich also, nach ihrem überraschend kurzen, doch überaus wirksamen und vor allem erfolgreichen Auftritt als rachsüchtige und gerechtigkeitsbewusste Gottesübermuttergottes Artemis, ihrer vielleicht doch noch etwas mangelhaften und noch nicht ganz befriedigenden Vorstellung gemäß, lediglich in die vermeintlich bescheidene und unauffällige Person eines durchschnittlichen Stadtbewohners zurückverwandelt, in diejenige eines untersetzten, älteren, glatzköpfigen Mannes, eines ganz gewöhnlichen Rentners, der an diesem Samstagmorgen, wie hundert andere samstägliche Rentner auch, seinen bescheidenen Kleinwagen im neuen, zentralen Parkhaus geparkt hat, um einkaufen zu gehen.

Ein normaler, alltäglicher Vorgang also; sie, Nemesis, also er, Chruschtschow, sei in dieser Gestalt, so hat sie zuvor ahnungslos gefunden, nicht nur unauffällig, sondern auch unverdächtig. Sie hat zudem nicht die kontraproduktive Absicht gehabt, diesen wenn auch etwas ungewöhnlichen, so doch recht banalen und eindeutigen Unfall der gelben Kakerlake vor den Untersuchungsorganen, die hier sicher bald eintreffen werden, wie ein Verbrechen aussehen zu lassen, denn das kann ganz bestimmt nicht im göttlichen Interesse gelegen haben. Die giftgelbe Glubschäugige sei einfach, dämlich wie sie nun mal in ihrer inhärenten Hysterie gewesen ist, über die unwirksame Absperrung gestürzt, wird man sich in den vielen Cafés der Stadt später genüsslich erzählen; sie habe sich im neuen Parkhaus einfach verlaufen, die blöde Kuh, habe sich in der Richtung geirrt, die schreckliche Tante, habe nicht mehr gewusst, wo sich der Ausgang befinde, die hässliche Torte, wird man hämisch annehmen; sie habe zwischen den Autoreihen einfach die Orientierung verloren, habe die neuen, blitzblanken und noch ungewohnten, modernen Aufzüge am falschen Ende des Korridors gesucht, erklären die einen schadenfreudig, und jetzt sei sie halt mausetot, die furchtbare Schlampe, meinen die andern achselzuckend und betont beiläufig, doch nicht ohne erkennbare Schadenfreude. Schließlich sei ihr jetzt das zugestoßen, was sie längst verdient habe, finden dritte verschmitzt, jedoch ohne dies laut auszusprechen, versteht sich, denn das laute Sprechen hat man sich im Scheinland längst abgewöhnt, gerade als Arbeitnehmer, und dies völlig zu Recht, ebenso wie das unbedachte Äußern eigener Ansichten, sofern man welche hat und sofern sie sich nicht einwandfrei mit der Haltung der Freiheizlichen Bewegung FB treffen, denn zu groß ist die Zahl der Mitbürger, die einzig auf die Möglichkeit einer lukrativen Denunziation warten.

Der bedauernswerte Aushilfe-Postbote indes, der einzige Zufallszeuge des Geschehens, ein braver und fleißiger Astrophysik- und Philosophiestudent im späten achtzehnten Semester, der zur ambulanten Schockbehandlung vorsichtshalber in Polizeigewahrsam genommen worden ist, wird bald einmal als ein in flagranti ertappter Drogenproduzent und Drogenkonsument in einen schweren und schier ausweglosen Erklärungsnotstand geraten, das arme Schwein. Das hat man davon.

Zwei alte Männer haben Nemesis gestern, als sie beim Frisör gesessen ist und sich hat rasieren und kopfmassieren lassen, zwar bereits ganz indiskret darauf hingewiesen, dass sie, also er, exakt wie der längst historisch gewordene Nikita Sergejewitsch aussähe, untersetzt, sinnlich, goldzahnig, stämmig, lebenslustig und markant glatzköpfig, also vital wie ehedem. Aus einer sehr abgelegenen Gehirnwindung muss Nemesis dieses ungewohnte Bild eines Durchschnittsrentners unbewusst hervorgenommen haben, als sie sich seit langem wieder einmal in eine sterbliche Person verwandelt hat, nur um sich diesen billigen, hellblauen Kleinwagen auf Pump beschaffen zu können. Dass dieser weltberühmte, aber längst verstorbene Sterbliche vielen alten Leuten auch in diesem doch recht abseitigen Land immer noch in Erinnerung ist, hat sie allerdings nicht gewusst und auch nicht ahnen können. Wie auch?

Doch sie beschließt nach kurzer Überlegung, diesem urkomischen Umstand, wie Nikita Sergejewitsch Chruschtschow auszusehen, keine besondere Bedeutung beizumessen, denn es muss ja jedermann sofort klar sein, dass dieser kleine, dicke Mann, der wie Chruschtschow aussieht und der soeben auf seinen kurzen, dicken Beinen zügig ins Straßencafé gegenüber des neuen Parkhauses schreitet, um endlich in Ruhe die örtliche Tageszeitung lesen und einen Kaffee trinken zu können, gewiss nicht der ehemalige, schlaue und cholerische, muntere und stets hellwache sowjetische Staats-, Polizei-, Geheimdienst-, Militär-, Partei- und auch Regierungschef mit dem schüchternen, halbherzigen, völlig wirkungslosen und deshalb sehr russischen Reformwillen sein kann. Er ist ja, wie gesagt, längst verstorben, obwohl man natürlich nie genau wissen kann, ob diese Typen nicht doch in einer schönen, alten Villa am Schwarzen Meer oder gar in einer schicken Seniorenresidenz im sonnigen Florida drüben völlig unerkannt, weil gesichtsbereinigt, eine ruhige Kugel schieben und somit die Weltgeschichte weiterhin gründlich verarschen können.

Sollte ich zur Sicherheit vielleicht das Auto wechseln? fragt sich Nemesis plötzlich, und, überrascht von diesem Gedanken, schaut sie, immer noch als alternder, bereits etwas nackensteifer Chruschtschow, über die randlose, halbrunde Lesebrille von ihrer Zeitung, dem Beiler Tagblatt (viele Beiler sagen zu ihrem freiheizlichen Käseblatt abschätzig „Beiler Kackblatt“), der einzigen Tageszeitung in der kleinen Stadt, hoch. Sie denkt immer noch an die unmittelbar bevorstehende, polizeiliche und vielleicht auch labortechnische Untersuchung des ungewöhnlichen Vorfalls, schaut unschlüssig durch die Regenschauer zum Fenster hinaus über die Straße zum Parkhaus hinüber, und sie guckt sich in ihrer Liebe für schöne Autos voller Neid und Bewunderung ein schickes Coupé der Luxusklasse aus, einen eleganten Ferrari 599 GTB, gefahren von einer stadtbekannten, sehr erfolgreichen Edeldomina, ein feuerrotes, sauteures und sauschnelles Gefährt, das soeben mit viel Schwung in den frisch geteerten Einfahrtsbereich des Karpfens mit den leuchtend weißen Bodenmarkierungen einbiegt.

Im gleichen Augenblick hört man schon von weitem die schrillen Signalhörner von Polizei, Feuerwehr und Ambulanz, die mit einer etwa viertelstündigen Verspätung am Ort des Geschehens auftauchen. Doch wo ist jetzt das rote Sportcoupé hingefahren? Nemesis legt zögerlich die aufgeschlagene Tageszeitung hin, beugt sich weit vor, blickt sich ratlos um und späht schließlich angestrengt durch die regennassen Schaufensterscheiben auf die belebte Straße hinaus.

Dies ist exakt dasselbe, was soeben, wenn auch eine Spur aufgeregter, alle übrigen Gäste im recht gut besetzten Frühstückscafé auch tun. Sie sind zum Teil sogar beunruhigt aufgestanden, sind zu den hohen, gardinenlosen Fenstern geeilt und müssen sich nun über das ungewohnte und auffällig laute Geschehen auf der gegenüberliegenden Straßenseite wundern. „Waz mag nur pazziert zein?“ fragen sich alle erschrocken und aufgeregt. „Izt im neuen Parkhauz womöglich etwaz eingeztürzt?“ „Eine Zwizchendecke?“ „Izt ein Treppenhauz eingebrochen?“ „Izt ein Aufzug abgeztürzt?“ „Izt die zchwere Milchglazfazzade nun doch heruntergefallen, wie manche befürchtet oder gar prophezeit haben?“ „Aber nein! Zie zteht ja noch!“ „Waz izt ez dann?“ „Izt ez vielleicht die Fazzade auf der Rückzeite gegen die Zchuzz hin, dort, wo die Bauarbeiter daz Loch für die Baumazchinen und den Zchutt gemacht haben?“ „Waz könnte denn zonst noch Zchrecklichez gezchehen zein?“ „Oder izt daz Ganze nur eine kombinierte Rettungzübung von Polizei, Feuerwehr und Zanität?“

Niemand könnte sich jetzt vorstellen, dass ausgerechnet der kleine, ältere, dicke, unscheinbare, glatzköpfige Gast, der zudem als einziger im Café nicht sichtlich überrascht ist, genau weiß, was auf der gegenüberliegenden Straßenseite abgeht. Auch er hat seine Zeitung hingelegt und ist mittlerweile wie alle andern aufgestanden und zu den Fenstern hinübergegangen, und auch er schaut jetzt, wie alle anderen Gäste, gespannt nach links und nach rechts. Er will jedoch nicht wissen, was Polizei, Feuerwehr und Ambulanz hier machen, sondern sucht vergeblich den auffälligen Ferrari, der ihm so gefallen hat. Doch das Objekt seiner Begehrlichkeit ist nirgendwo zu sehen; es ist spurlos verschwunden, respektive vom Karpfen verschluckt, nimmt er an. Es ist aber auch möglich, dass die eilig herbeilaufenden, ungewohnt aufgeregten Polizisten, die den längst heillos ins Stocken geratenen Verkehr vor der Parkhaus-Einfahrt umständlich umzuleiten versuchen, damit die roten Feuerwehr-, die weißen Ambulanz- und die blauen Polizeifahrzeuge endlich freie Zufahrt haben, den schönen Ferrari haben wegweisen müssen, ohne dass es Nemesis bemerkt hat. So ein attraktives Fahrzeug wie diesen eleganten Renner wird sie hier nie wiederfinden, bedauert sie, denn nur zu gerne hätte sie das rasante Fahrzeug unter anderen, ruhigeren, also günstigeren Umständen unauffällig an sich genommen.

Sie hat nun mal eine antikgriechisch gesehen völlig unkorrekte Schwäche für schöne und schnelle Autos, auch wenn dies heutzutage, wo man den Personenkraftwagen leichterdings die ganze Schuld am schleichenden Untergang der Welt geben kann, nicht mehr ganz einwandfrei sein mag. Ein Wermutstropfen bleibt ihr: Aus Sicherheitsgründen kann sie es sich nicht mehr gestatten, im Parkhaus nach ihrem eigenen Auto Ausschau zu halten, glaubt sie zu wissen, denn das ungewöhnliche Gebäude wimmelt jetzt natürlich von Polizisten aller Art, die zudem sicher alle Personen und alle geparkten Wagen systematisch überprüfen werden, vor allem auf der vierten Etage. Die städtische Liegenschaft wird zudem von jetzt an bestimmt Tag und Nacht überwacht werden, und deshalb muss sie sich als erstes nach einem neuen Auto umsehen, findet sie aufgeräumt.

Die grellgelb gekleidete Direktorin ist bereits mausetot gewesen, noch bevor Nemesis sie im Halbdunkel des Mittelkorridors mit einer großen, glühenden Zange hätte erwürgen können, was sie ursprünglich vorgehabt hat, und sie erinnert sich der eigenartig geschliffenen Gläser der randlosen Brille, welche die wässerigen, blassblauen, vor Falschheit strotzenden Augen der giftgelben Ex-Direktorin und Ex-Diktatorin grotesk vergrößert haben. Genau so, also mit diesem wässerigkalten, ausdruckslosen Blick, hat sie jeweils leidenschafts-, gnaden- und wortlos ihre Opfer über den breiten, hässlichen Kunststoff-Schreibtisch hinweg gemustert, bevor sie die bedauernswerte Person hat verheizen lassen, wie eine Giftschlange, die gelassen auf den unausweichlichen Tod ihres Opfers wartet, nachdem sie blitzschnell und fast beiläufig ihren tödlichen Biss angebracht hat.

Es ist nicht auszuschließen und auch nicht undenkbar, dass sie in ihrer schrankenlosen Machtbesessenheit ein stets verheimlichtes und allenfalls vehement abgestrittenes Vergnügen daran gefunden hat, Herrin über Leben und Tod zu sein. Als Direktorin des örtlichen Instituts für forensische Euthanasie ist sie eine wahre und effiziente Meisterin der psychologischen Kriegsführung geworden, die an ihrer delikaten Aufgabe zudem sichtlich gewachsen ist. Ihr angeborener, bösartiger Intrigenreichtum hat ihr dabei immer einen uneinholbaren Vorsprung gegenüber ihren wehrlosen Opfern verschafft. So hat sie unzählige Menschenleben ohne Gewissensbisse zerstört, hemmungslos, uneinsichtig und stets selbstgerecht, zum Ruhme ihres eigenen Lebenswerkes, des BIFFE, und somit ihrer selbst, und sie ist dabei in ihrer ganzen Gier nach Macht immerzu unersättlicher geworden.

Ein typischer Fall von weiblicher Hysterie, hat auf Anfrage Hippokrates achselzuckend gemeint, also ein eindeutiger Fall von klimakterischer Uteruswanderung (Hystera!), denn diese ihre Machtbesessenheit wiederum müsse ihren Ursprung in einem perfiden Racheakt gehabt haben, in einer verspäteten Rache der bösartigen Tochter an ihrer warmherzigen Mutter, der liebenswürdigen Frau Bankdirektorin selig. Als einzige habe diese ihre hasserfüllte und unersättliche Brut, ihre undankbare Tochter also, jemals zu mäßigen und zu beschwichtigen versucht. Doch die Tochter, ehedem per Geburtszange aus dem gequälten Mutterleib gezogen, soll, der Tochter eigener Einschätzung gemäß, schon als Kind nie gekriegt haben, was sie eigentlich hätte kriegen müssen und was ihr als Tochter eines Bankdirektors zugestanden hätte, nämlich stets angemessen, also ausreichend Taschengeld, dazu ein schickes, weißes Kabriolett, sowie einen ausgesucht attraktiven, maskulinen Freund aus der gleichen gesellschaftlichen Klasse wie sie selber, der aber hätte Gitarre spielen und französische Chansons singen können müssen, womit sie bei ihren damaligen Klassenkameradinnen hemmungslos hätte aufschneiden können. So sah damals ihr ehrgeiziges, doch nie verwirklichtes Teenager-Programm aus, und jetzt rächt sie sich dafür an der ganzen scheinländischen, also beil-bennerischen Gesellschaft, und dies mit der ihr eigenen Effizienz.

Wenn die giftig Glubschäugige also jemals etwas beherrscht hat in ihrem verdorbenen Leben, dann ist es das Machtspiel in all seinen Unterspielarten gewesen, das sie schon als ungezogenes Kind an ihrer eigenen, geplagten Mutter ausführlich geschult hat. Sie ist schon immer eine Meisterin des Druckmachens und Unter-Druck-Setzens gewesen, und niemand im ganzen Institut für forensische Euthanasie, ja, niemand in der ganzen Stadt hat die hohe Kunst, Unschuldige derart gnadenlos gegeneinander auszuspielen, so dass ihnen anschließend der eigene Tod wie eine erlösende Belohnung oder wie eine unverdiente Vergünstigung vorgekommen ist, derart perfekt beherrscht, wie sie selbst. Eine mustergültige Machiavellin.

So hat sie auch die Lautersten unter ihren Opfern innert kürzester Zeit spielend zur Verzweiflung und somit in ihr Institut zur finalen Elimination und energetischen Umwandlung bringen können. „Weibliche Tücke“ hätte man unter anderen Umständen diese äußerst zweifelhafte Begabung verharmlosend nennen mögen, wenn diese wahrhaft wenig erfreuliche charakterliche Veranlagung nicht weit über jede bekannte weibliche Tücke Sterblicher hinausgegangen wäre.

Die furchtbare Frau ist in der Tat nur mörderisch gewesen, und dieser wahrlich ekelerregende Umstand hat denn auch den Entscheid der Götter, allen voran der Göttermutter Artemis, der Rachsüchtigen, diese schandbare Figur umgehend aus ihrem Angesicht, also vom Globus und somit vom Orbis terrarum, vom Antlitz der Erde zu entfernen und somit endgültig zu beseitigen, enorm erleichtert.

Kopfschüttelnd muss man in der Götterwelt immer wieder zur Kenntnis nehmen, welch unheimliche Folgen menschliche Bösartigkeit haben kann, denn die meist schicksalshaften, oft unübersehbar gewordenen Folgen menschlicher Dummheit sind, so weiß Nemesis, enorm nachhaltig, heute erstaunlicherweise mehr denn je, und man kann sich über den verheerenden, gänzlich unüberschaubar gewordenen, tödlichen Einfluss, den zum Beispiel die gelbe Kakerlake auf ihre geplagte und geschundene Umwelt ausgeübt hat, eigentlich nur wundern.

Dass der giftgelbe Dreck aber auf das zugegebenermaßen etwas ungewöhnliche Erscheinen von Nemesis in der Gestalt von Artemis derart hysterisch reagieren würde, ist ganz gewiss nicht zu erwarten gewesen, findet sogar Nemesis selbst, und dass sie im Parkhaus keinen Finger hat rühren müssen, um ihren allerersten göttlichen Auftrag zu erledigen, hat sie weder ahnen, noch voraussehen können, auch wenn sie jetzt durchaus zufrieden mit dem Ergebnis ist.

Als kahlhäuptiger Chruschtschow findet sie sich hier an ihrem bequemen Fensterplatz im Frühstückscafé wieder, und sie hat gewiss nicht die Absicht, die angenehme Örtlichkeit so bald wieder zu verlassen.

Gelb ist die Farbe bösartiger Insekten; Wespen tragen Gelb und reagieren heftig und aggressiv auf Gelb, und auch die gelbe Direktorin hat zweifellos ihren giftigen Stachel besessen, den sie überall und jederzeit hemmungslos eingesetzt hat, wenn es um die Durchsetzung ihrer ehrgeizigen Pläne und eigensinnigen Ziele gegangen ist. Sie hat immer vorgegeben, „mit Leib und Seele“, „Tag und Nacht“ und „zweihundertprozentig“ einzig im Dienste des BIFFE zu stehen und durch all ihr Tun und Lassen ausschließlich dessen technisches und wirtschaftliches Vorankommen durch eine stete Steigerung der städtischen und außerstädtischen Sterbe- und Selbstmordwilligkeit unter den überflüssigen Teilen einer überalterten und überteuerten Bevölkerung zu befördern. All ihre überaus gefügigen Mitarbeiter, also all die naturgemäß massiv eingeschüchterten Arbeitnehmer und Angestellten im BIFFE, wollen es jetzt plötzlich längst gewusst haben, jetzt, nachdem sich die sensationelle Nachricht vom rapiden Abgang der gefürchteten Vorgesetzten in Windeseile in der ganzen Stadt verbreitet und auch bestätigt hat. Sie wollen den gewaltsamen, doch durchaus erfreulichen Tod ihrer äußerst unberechenbaren und abgrundtief verhassten Vorgesetzten sogar vorausgesehen haben, wie gesagt, ohne diese Vermutung jedoch jemals laut auszusprechen gewagt zu haben, versteht sich, denn dies ist nicht das Land, wo man sich die Wahrheiten einfach ins Gesicht sagen darf, ohne mit langfristigen, schlimmen Spätfolgen rechnen zu müssen.

„Zie hat ihre Ztrafe bekommen“, nuscheln die Leute deshalb erleichtert auf den abgeschlossenen Klosetts und Pissoirs, Räuspern sich dazu bedeutsam hinter dünnen Trennwänden, um ihre Rede zusätzlich zu verundeutlichen, pissen erleichtert ihre Blasen leer und scheißen genussvoll ihre Därme aus.

„Ztrafe muzz zein“, murmeln sie achselzuckend. „Zie hat zwar daz BIFFE aufgebaut und zu dem gemacht, waz ez heute izt, einverztanden, aber daz war’z auch zchon.“

Das ist völlig richtig: Das einzige Fortkommen, an welchem der bösartigen Glubschäugigen jemals wirklich und wahrhaftig gelegen hat, ist ausschließlich ihr eigenes Fortkommen gewesen, auch wenn sie in der Öffentlichkeit immerzu das Fortkommen des BIFFE, ihres angeblich großen Lebenswerkes, in den Vordergrund geschoben hat. Zum einen hat sie jahrelang, wie alle wichtigen Entscheidungsträger, von allen Seiten ganz banal und steuerfrei massive Zusatz-, Überschuss-, Schweige-, Schmiergeld- und Benefizzahlungen von geradezu unglaublicher Höhe kassiert (man spricht von immerhin 500 Millionen insgesamt, unterste Schätzung), sowie von reichlichen Schwarzzahlungen aus allen Teilen und Sparten des Scheinlandes, des „Landes des falschen Lachens“, wie man im Ausland sagt, entsprechend des von ihrem raffgierigen Vater, des alten Bankdirektors ererbten Zwanges, sich in äußerlich klaren und reinen, also unbeschmutzten Zahlenreihen von geheimen Kontoabrechnungen positiv bestätigt sehen zu dürfen, ein weit verbreiteter Zwang übrigens, geboren aus einem heftigen und überaus ungesunden Geltungsdrang, der stets in einen Rechtfertigungs- und Beweiszwang auf unwiderruflicher Zahlenbasis hinausläuft. Zum andern ist das auch bei ihr ganz einfach der numerische Ausdruck einer schweren moralischen und emotionalen, jedenfalls psychischen Mangelerscheinung gewesen, und zudem ist die Direktorin im Parkhaus, so sagt sich Nemesis im Nachhinein mit einer gewissen Erleichterung, ja freiwillig in ihr eigenes Verderben gelaufen, ohne äußeren Druck, auf ihren eigenen Beinen, denn unaufgefordert, also ohne jede verbale Nötigung oder körperliche Gewalteinwirkung, ist sie allein beim zugegebenermaßen furchteinflößenden Anblick von Nemesis als Artemis, der Rächenden, also beim bloßen Anblick dieser furiosen und furibunden Artemisgestalt, sofort und entschlossen ins Leere gerannt und blindlings ins Nichts gesprungen, als hätte sie geahnt, dass sie der griechischen Rachegöttin gewiss nicht gewachsen ist, doch ohne für einmal auch nur eine einzige Sekunde lang überlegt, abgewiegelt oder sonstwie gezögert zu haben, wie sie es sonst macht, gerade so, als hätte sie genau gewusst, was sie jetzt erwartet. Sie hat also für ihre grenzenlose Bosheit in unkontrollierter Hysterie mit ihrem eigenen Leben bezahlt, und das ist gut so, findet Nemesis zufrieden, denn allein darin liegt bereits ausreichend gerechte Vergeltung, stellt sie zudem als Göttin der gerechten Vergeltung befriedigt fest, zum Glück und zur unbestrittenen Erleichterung für die gesamte Menschheit, wenn auch nur von derjenigen hier in diesem schäbigen Beil-Benne, in diesem düsteren Industrie- und Sündenkaff mit dem pompösen, offiziellen Namen „Beil an der Schuss und Benneles-Bains und Umgebung“, doch als klarer Ausdruck einer einmaligen und definitiven göttlichen Abrechnung, also aus reiner Göttlichkeit.

Im großen und durchaus eindrücklichen Gebäude gegenüber, im silbern schimmernden Parkhaus, im Karpfen also, scheint sich die Lage inzwischen zu beruhigen. Die Polizisten rollen die signalroten Absperrbänder wieder ein, die vielen Ambulanzen, die Feuerwehr- und die Polizeifahrzeuge stellen ihre schrillen blauen, roten und gelben Dreh- und Blinklichter endlich ab und verziehen sich, und das Parkhaus mit seiner milchgläsernen Fassade ist für die ganz normale Samstagmorgen-Nutzung endlich wieder geöffnet, wie man auf einer großen, elektronischen Tafel über der Einfahrt lesen kann und was jetzt vom Publikum zur besten samstäglichen Einkaufszeit wie vorgesehen emsig genutzt wird. Viele Fahrzeuge fahren bereits wieder ununterbrochen ein und aus; ein gewohntes, markant hektisches und gleichzeitig zögerliches Kommen und Gehen wie an jedem Samstagmorgen, der wie überall auf der Welt von vielen Leuten fürs wöchentliche Großeinkaufen genutzt wird.

Nemesis, immer noch in der unauffälligen Gestalt von Nikita Chruschtschow, beschließt ganz spontan, sicherheitshalber das Auto zu wechseln. Das kann, objektiv gesehen, allerdings nur ein Vorwand sein; in Tat und Wahrheit will sie dies nicht unbedingt aus Sicherheitsgründen tun, sondern vielmehr aus Langeweile und aus Neugier. Das kleine, blaue Auto im vierten Stock oben will sie einfach stehen lassen, auch wenn dies viel auffälliger sein wird, als es von dort möglichst schnell wieder wegzuholen. Die spontane Absicht zeugt also von wenig Sicherheitsbewusstsein, muss man annehmen, denn spätestens in zwei oder drei Tagen (oder auch erst in zwei oder drei Wochen) wird die vollelektronische Parkhaus-Überwachung auf den hellblauen, bereits leicht verstaubten, fabrikneuen Kleinwagen aufmerksam werden; jedenfalls wird man das vergessene oder verlassene Fahrzeug mit Sicherheit polizeilich kontrolliert aufschließen, wird es juristisch einwandfrei aufbrechen und routinemäßig nach verräterischen Fingerabdrücken, Speichelproben, Faserresten, Spermaspritzern, Straßendreck und Ähnlichem absuchen, wird jedenfalls alles daran setzen, den Besitzer des Wagens ausfindig zu machen, und man wird somit schnell merken, dass dieser rätselhafte Besitzer unbekannt, ja, geradezu inexistent ist.

Griechische Götter haben von ihrem ganzen Naturell her ein wenig profiliertes Sicherheitsbewusstsein, und die Vorsicht ist gewiss nicht ihre ausgeprägteste Eigenschaft, muss man wissen; sie haben ja als Götter zum Glück nichts zu befürchten, rein gar nichts, weil sie eben unsterblich sind.

Die überaus wandelbare Nemesis, ergo Chruschtschow, steht also auf, bezahlt ihre vier Tassen Kaffee, die sie im Verlaufe der letzten beiden Stunden konsumiert hat, rollt die Zeitung korrekt zusammen, legt sie ordentlich in den Zeitungsständer zurück und geht danach achtsam und aufmerksam in den Karpfen hinüber, wo sie am Automaten erst mal ihr Parkticket ordnungsgemäß einlöst und den Betrag in lauter kleinen Münzen einwirft. Darauf fährt sie mit dem neuen, leisen Aufzug angenehm schnell hoch, allerdings nur bis ins zweite, statt bis ins vierte Geschoss, wo ihr Kleinwagen steht. Sie guckt sich sehr schnell einen geräumigen und sehr komfortablen Oberklassewagen aus. Kleinwagen sind zwar in der Tat klein und unauffällig, aber sie sind auch recht unbequem und ziemlich eng, ganz abgesehen von der bescheidenen Motorenleistung, findet Nemesis jetzt abschätzig, ausgerechnet sie, die sie ja als der ehemalige, breit gebaute Staats- und Parteivorsitzende Chruschtschow bekanntermaßen an schwere, schwarze Staatslimousinen mit geklöppelten Vorhängen und gepanzerten Scheiben, extra dicken Blechen, schweren Schnurtelefonen und steifen Wimpeln gewöhnt ist. Deshalb gratuliert sie sich zufrieden zu ihrem neuen Automobil, das sich überdies überraschend leicht fahren lässt, viel leichter jedenfalls als der billige Kleinwagen, den sie jetzt innerlich endgültig aufgegeben hat und dem sie in keiner Weise nachtrauert.

Der ständige Gedanke an den untersetzten, cholerischen, russischen Goldbezahnten fällt ihr allerdings als unübersehbare historische Hypothek langsam schwer, und so beschließt sie bereits an der Ticketschranke, also noch vor der Ausfahrt aus dem Parkhaus, eine diesem Wagentyp angemessene und angepasste äußere Erscheinungsform anzunehmen. Somit fährt sie gleich anschließend in der beeindruckenden Gestalt einer eleganten und äußerst gepflegten Dame aus der hiesigen, sehr dünnen Oberschicht, also in der Gestalt einer Industriellengattin aus dem örtlichen Zeitzündermilieu aus dem neuen Parkhaus und markiert somit gekonnt eine dieser wohlhabenden Personen, die soeben vom Großeinkaufen nach Hause in ihr diskret abgelegenes Villenviertel hoch oben am dicht bewaldeten Schorihang zurückfahren will, an den sich die graue Stadt etwas müde lehnt, in eines dieser kleinen, schicken, gut bewachten Garten- und Villenviertel, die nur ganz knapp unterhalb, manchmal aber doch knapp oberhalb der ständigen Nebelgrenze in einem alten Bergbuchen-, Zwergeichen- und Haselnusswald voller Eichhörnchen, Wiesel, Bergfinken, Haselmäuse, Eichelhäher, Füchse, Igel, Krähen, Dachse, Siebenschläfer und Hasen gelegen sind.

Solcherart steuert Nemesis den neuen Wagen unter der gehobenen Schranke hindurch ins Freie und gleich in den lebhaften Stadtverkehr hinein, der zu dieser Zeit, da es bereits gegen Mittag geht, ganz deutlich zugenommen hat. Sie muss sich jetzt gedanklich von der giftgelben Kakerlake abwenden, denn sie hat noch viel zu tun. Sie habe heute noch viel vor, redet sie sich ständig ein, genau so, wie dies Gattinnen reicher Industrieller unablässig tun, obschon sie in Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun haben, denn eigentlich nicht einmal einkaufen müssen sie. Sie tun es nur aus Langeweile.

Doch Nemesis selbst hat tatsächlich viel vor, und sie muss sich allmählich sputen, denn sie muss noch dreizehn oder vierzehn nach den artemisischen Prinzipien ausgesuchte Individuen göttlich bestrafen, genau hier in dieser so grauenhaft langweiligen Industriestadt am Fuße der dunkelgrün gewellten Schorihügel.

Bei dieser unbedeutenden Doppelstadt, in welcher wir uns gegenwärtig befinden, handelt sich um eine der vielen kleinen, landestypischen Industrie- und Bankenstädte, um einen aus zwei allerdings recht unterschiedlichen Teilen bestehenden und deshalb – typisch scheinländisch – seit jeher leicht schizophrenen Ort, nämlich um das fleißige Beil und das lasterhafte Benne. Beil ist der geschäftliche und industrielle Teil mit einem ausgeprägten Bankenviertel, einem geradezu ungesund fleißigen Handwerksviertel und einer alteingesessenen, traditionsreichen Großindustrie, während Benne mit seinen vielfältigen Hotels, Casinos, Bädern und Bordellen vorwiegend und fast ausschließlich den lokalen, regionalen und überregionalen Vergnügungen dient.

Grenzenloser Industriefleiß neben der maß- und schrankenlosen Sünde: Diese bemerkenswert deutliche Auf- und Zweiteilung hat ihre wirtschaftlichen Ursachen, ihre psychologischen Zwänge, ihre historischen Wurzeln und ihre sozialen Hintergründe, auf die wir hier vorerst nicht näher eingehen wollen, weil uns diese Phänomene längst nicht mehr interessieren. Kurz, bei der Doppelstadt Beil-Benne handelt es sich um einen erschreckend phantasielosen, zu billig und zu schnell gebauten Ort ohne jeden Reiz und Charme, ohne jede Sehenswürdigkeit zudem, ohne alle Kultur und ohne nennenswerte Geschichte, wenn man von den zahllosen Großbordellen, den teuren Absteigen, den vielen Spielcasinos, den unübersehbaren Massagesalons, den zweifellos mehrdeutigen Bädern, Pools und Kontaktbars, den Swingerklubs und gemischten Saunen und den mehr als zwielichtigen Dancing-, Varieté- und Kabarett-Betrieben mal absieht. Es ist in Wahrheit ein geradezu tödlich ödes Kaff ohne jeden Tiefgang inmitten dieses quälend freudlosen Scheinlandes, in einem vom übrigen Europa völlig isolierten Territorium ohne besondere oder gar herausragende geistige oder kulturelle Eigenschaften, Merkmale oder Fähigkeiten, in einem überaus engherzigen und egoistischen, politisch abgesonderten und von der übrigen Welt vorsätzlich gemiedenen und bereits vergessenen, winzigen aber ausnehmend bösartigen Binnenland ohne Stil, Klima, Kultur oder Geschichte, kurz, in einem Land ohne Götter. Das ist der Punkt. Genau diese unattraktive Kleinstadt also, diese beliebig austauschbare, plan- und charakterlose, billige Häuseransammlung ohne authentische Vergangenheit, bedeutungsvolle Gegenwart oder nennenswerte Zukunft, diese überaus hässliche Durchschnitts-Stadt der kulturellen Wüste und des industriellen Zufalls, also des ausschließlichen Geldverdienens, bezeichnet sich selbst in ihrer vollmundigen Eigenwerbung seit neuestem als „Stadt des Gesprächs“, weil hier wegen der zentralen Lage und einer zwanzigjährigen Steuerbefreiung seit einigen Jahren drei sich nur moderat konkurrenzierende Telefongesellschaften ansässig geworden sind und im Bahnhofsviertel ihre steuergünstig gelegenen Hauptsitze eingerichtet haben, von wo aus sie sich eher spaßeshalber einen bescheidenen, nicht allzu ruinösen Preiskampf in diesem kleinen Hochpreisbinnenland liefern, wenn wir mal von all den reichen Steuerflüchtlingen absehen, die auf einer der vielen hiesigen Privatbanken ihr ganzes Geld vor ihrem eigenen Fiskus verstecken, nebst all den anderen obskuren Geldern aus aller Welt, die aus ganz bestimmten, doch ungenannten Gründen so oder so versteckt werden müssen, ganz außerordentlich enorme Summen indes, von denen tunlichst niemand etwas wissen darf, noch wissen soll, aus Gründen also, die uns besser nicht interessieren sollten, wenn uns an unserer eigenen Existenz etwas liegt, in einem wirtschaftlich ungewohnt milden, ruhigen und vor allem rechtlich abgesicherten Umfeld, wo sich richtige Preiskämpfe, sowie andersartige Auseinandersetzungen gar nicht erst lohnen.

Von Gesprächen oder Ähnlichem, was Interaktionen Sterblicher ansonsten zu prägen pflegt, ist allerdings weder in dieser Stadt, noch in diesem Land etwas zu spüren. Ganz im Gegenteil: Sowohl auf den ersten, als auch auf den zweiten Blick beschleicht die unvoreingenommene Beobachterin das äußerst unangenehme und reichlich verstörende Gefühl, einer ungewöhnlich verschlossenen, unfreundlichen und abweisenden, ja hinterhältigen Bevölkerung ausgesetzt zu sein, und die irritierende Gewissheit macht sich breit, dass man sich in einem Land befindet, wo man nicht nur völlig unerwünscht ist, sondern wo aus unverständlichen Gründen alle Bewohner einander pausenlos zu hassen scheinen. Ist es Neid? Geiz? Missgunst? Eifersucht? Habgier? Argwohn? Ist es Kleinkariertheit, oder ist es einfach nur ganz gewöhnliche Bosheit? Schwer zu sagen, wirklich schwer zu sagen; jedenfalls ist das bemerkenswert angespannte Klima unter seinen Bewohnern für Außenstehende doch sehr gewöhnungsbedürftig.

Nemesis selber, die als weitgereiste Göttin wirklich viele einzigartige Städte in vielen großartigen Ländern überall auf dieser vielfältigen Welt kennen und schätzen gelernt hat, ist bislang noch nie eine so bedeutungslose Kleinstadt, noch nie eine so schäbige und von der menschlichen Entwicklung derart vergessene Ortschaft auf einem so verlorenen Flecken des Globus untergekommen, wie sie das kümmerliche Beil-Benne darstellt; nirgendwo gibt es ihres Wissens mehr unfreundliche, träge, verschlossene, unbewegliche, abweisende, misstrauische, abgestumpfte, feindlich gesinnte, hinterhältige, unhöfliche und mürrische Bewohner an einem Haufen zu sehen, als ausgerechnet hier, in dieser grämlichgrauen Nebelstadt, die vorwiegend und fast ausschließlich vom Export von Stacheldraht und von der Massenproduktion von Zeit- und Aufschlagzündern aller Art lebt, sowie von den weltbekannten Army Knifes und Offiziers-Kugelschreibern, die angeblich einen Atomschlag von bis zu 50 Megatonnen aushalten können sollen, ganz abgesehen vom extrem dominanten, exorbitant lukrativen Bankengeschäft, versteht sich, das sich indessen seit jeher still, diskret und unauffällig im Hintergrund zu halten beliebt, so dass es selbst hier in diesem doch recht ausführlichen Bericht kaum jemals Erwähnung finden wird.

Die sauertöpfischen und ungastlichen Einwohner haben es sich in diesem „freiheizlichen und demokrazischen“ Klima längst angewöhnt – und haben es auch seit langem verinnerlicht – einfach mehr oder weniger konsequent den Mund zu halten, auch wenn sie in ganz seltenen Ausnahmefällen vielleicht tatsächlich etwas zu sagen oder zu vertreten hätten – wenn überhaupt. Sie bringen normalerweise kein persönliches Wort über die stets verkniffenen Lippen, und zwar, wie schon erwähnt, aus purer Angst, ungewollt etwas Falsches, Missliebiges, Schädliches, Unerwünschtes, Unpassendes, Unangenehmes oder auch nur Auffälliges zu sagen und anschließend unweigerlich von Hunderten von Nachbarn, Arbeitskollegen, Bekannten, Verwandten oder Vorgesetzten denunziert und von der Polizei, einem traditionell überaus vitalen Zweig dieses ausgeprägten Überwachungsstaates – politisch anfänglich und ursprünglich nur eine banale, winzige Militärdiktatur, übrigens auch heute noch, jetzt aber reichlich veraltet, verblödet und dementsprechend morbid – oder gar von der auch in Friedenszeiten überraschend aktiven und einflussreichen Militärpolizei behelligt zu werden, denn selbst militärische Stand- und Sondergerichte, außerhalb jeglicher Legalität stehend, funktionieren hier unverständlicherweise immer noch bestens, also auch im tiefsten Frieden – es ist nicht zu fassen. Oder sie werden von einem der zahllosen hiesigen Geheimdienste überwacht, oder gleich von mehreren, welche die anonyme Denunziation mangels richtiger Feinde zu ihrem einzigen und wichtigsten Geschäftsprinzip erhoben haben.

Man wird als grundsätzlich unfreier und deshalb auch unfroher Bürger dieses in seiner selbstgewählten, irrationalen Isolation völlig verdorbenen und verklemmten Landes selbstverständlich ständig staatlich überwacht, von der Wiege bis zur Bahre, wie man sagt, von der Mutterbrust bis ins IFFE, zunächst von der Polizei oder von einer dieser vielen äußerst vitalen Geheimpolizeien, einschließlich mehrerer halbprivater, privater und ganz privater Geheimdienste und geheimer Geheimverschwörungsorganisationen, die das defektuöse Innenleben dieses Landes intravenös beleben, dann aber auch und vor allem von der FB, von der alles dominierenden „Freiheizlichen Bewegung“ FB.

Man wird als Verdächtiger als erstes umgehend „fichiert“, wie man die Kriminalisierung, also die kriminaltechnische Diskriminierung, die juristische Diffamierung, die amtliche Isolierung, die staatliche Observierung und die lückenlose Registrierung aller angeblichen oder auch wirklichen Gegner dieses morbiden Systems bezeichnet, und deshalb schweigen die Bürger vorwiegend und sicherheitshalber („Ich habe dazu nichz zu zagen!“), die tapferen, aber verstockten Bewohner dieses eigenbrötlerischen Staates („Ich habe nichz gezehen und nichz gehört!“), der, obwohl mitten im europäischen Kontinent gelegen, nicht einmal zu Europa gehören will („Daz geht unz nichz an!“), obschon er ironischerweise in jeder Beziehung einzig vom Wohlwollen dieses nahezu ignorierten, ja, geradezu verachteten Kontinents abhängig ist, („Ich habe damit nichz zu tun!“), und zwar aus gutem Grund („Daz betrifft mich nicht!“). Sie schweigen sich beharrlich aus („Ich will nichz gezagt haben!“), verharren geduldig in der Anonymität („Dazu kann und will ich nicht Ztellung nehmen!“), und das ist vielleicht sogar besser so („Ich will und kann mich zu einem laufenden Verfahren nicht äuzzern!“), umso mehr, als sie sowieso grundsätzlich nichts zu sagen hätten („Daz kommt mir nicht inz Protokoll!“), zumal sie, ganz abgesehen von ihrem katastrophal schlechten, propagandistisch bereits hoffnungslos vermanipulierten und somit geradezu erschreckend tiefen Informationsstand („Ich weizz von nichz!“), meist nicht einmal ihre verhältnismäßig primitive Rudimentär-Sprache beherrschen, wie wir bereits deutlich festgestellt haben mögen, das regional sehr unterschiedlich gefärbte „Kartoffelstockisch“, geschweige denn einer amtlichen Amtssprache, also einer anerkannten Hochsprache oder sonst einer gängigen europäischen Sprache mächtig wären.

Ihr sprachliches Defizit drückt nichts anderes als ihr mentales Manko aus, also ihr geistiges Defizit, aber dies hinlänglich, denn hinzukommt, dass das, was sie sich allenfalls tatsächlich zu sagen hätten, falls sie sich denn überhaupt etwas zu sagen hätten, sowieso nur der blanke Stumpfsinn und die reine Kacke wären; davon kann man sogar unbesehen ausgehen.

Wir stellen, ganz nebenbei, einen flächendeckenden und ganz generellen, lispelartigen Sprachfehler fest, der, linguistisch gesehen, über alle früh-, mittel- und späthochdeutschen Lautverschiebungen hinweg, mehr als nur ein Aussprachefehler ist, über den wir uns jedoch aus Diskretionsgründen gar nicht erst äußern wollen, so wie wir uns auch nicht unschicklich über Augenfehlfunktionen, Gesundheitsprobleme, Stottern, Landesverteidigung, O-Beine, Hasenscharten, Einkommen, Nasenbohren, Besitzverhältnisse, Schuppenbefall, Steuerhinterziehung Selbstmordraten, Fußpilz, Beruf, Masturbationsfrequenz, Übergewichtigkeit, Altersflatulenz, Kirchen und Religion äußern wollen. Nur so viel: Dieser offensichtlich landesweite Sprachfehler ist von unabhängigen, also ausländischen Fachkräften eindeutig als ein klarer Ausdruck einer generellen, inkurablen Gehirndisfunktion diagnostiziert worden. Zwar vergleichen die Phonetiker, die Phonemiker und die Linguisten den landestypischen Laut „z“ mit einem „kurzen, feuchten Furzen“, und die Phonemiker haben ihn bereits in ihre Liste der menschlichen Laute als „Kurzfurz“ aufgenommen, wissenschaftlich „Ventus brevis“, eine weltweit einzigartige Lautform, die nur in diesem abgeschiedenen Land zur Anwendung kommt und die von Aussenstehenden, also Ausländern, vulgo „Aussassen“, im Gegensatz zu den „Insassen“, kaum imitiert werden kann.

Dessen Ursprünge führen die einen auf Altindisch, wo es vor gut 12'000 Jahren tatsächlich eine abgeschwächte Form dieses eigenartigen Lautes gegeben haben soll, die andern auf Urafghanisch, die Dritten auf Mesopotamisch-Zwischenstromländisch, andere auf Gebirgsäthiopisch und einige sogar kühn und keck auf Zentralafrikanisch-Dschungelkongolesisch zurück. Doch der wahre Ursprung dieses absonderlichen Lautes bleibt letztlich unbekannt, zumal einige Wissenschafter, insbesondere aus dem humanmedizinischen Bereich, von ganz anderem als von lauthistorischen Wurzeln sprechen: Sie führen diesen ausdrucksstarken, flächendeckenden Sprachdefekt übereinstimmend und stillschweigend auf die angeblich gesunde, in Wirklichkeit aber fungizidisch völlig verdorbene Milch aus einheimischer Produktion zurück, auf die sogenannte Wampenmilch, die allen scheinländischen Kindern von Staates wegen in Kinderhorten und Kindergärten, Schulen, Ferienlagern und Freizeitanlagen, aber auch in den Familien selber, chloriert und jodiert, nitriert und fluoriert, zyankalisiert und liophylisiert, sowie destilliert und homogenisiert verordnet und verabreicht wird.

GEZUNDE KÜHE

GEZUNDE MILCH

GEZUNDE KINDER

GEZUNDEZ LAND

Dies ist seit bald hundertfünfzig Jahren der offizielle, also staatliche Slogan, der die obligatorische Milchabgabe begleitet und den alle Einheimischen, alle „Insassen“, wie man hier trefflich sagt, von Kindsbeinen an kennen und verinnerlicht haben. Ausgerechnet dieser flächendeckend verordnete Milchkonsum soll also, laut neuester Gehirnforschung, die eigentliche Ursache für die landesweite, anatomisch unerklärliche Disfunktion des hiesigen Lautapparates sein, das „labiodental-gutturale Zerebralsyndrom“, dessen organische Voraussetzung erstaunlicherweise bereits während der Zerebralisation entsteht, also bereits kurz nach der Fekondation, was die herkömmliche Milchthese auf neurologischer Basis allerdings nicht vollumfänglich stützen würde.