Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung -  - E-Book

Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung E-Book

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Beschreibung

Menschen mit geistiger Behinderung werden in Deutschland ebenso wie die Bevölkerung insgesamt immer älter. Dadurch entstehen neue Fragestellungen rund um das Erwachsenwerden und -sein sowie die Bedürfnisse im Alter von Menschen mit geistiger Behinderung. Der Band greift diese Themen auf und setzt sich kritisch mit sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen von "Erwachsensein" im Spiegel von Autonomie, Unterstützung, Reife oder Verantwortung auseinander. Darauf aufbauend werden praktische Fragen und Aufgaben des Erwachsenwerdens mit geistiger Behinderung wie Partnerschaft und Familie, Wohnen, Arbeitswelt, kulturelle Teilhabe und politische Partizipation diskutiert.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort: Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung

Einleitung: Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung

Anforderungen, Ambivalenzen und Aufträge an das und im Erwachsenwerden von Menschen mit geistiger Behinderung

1 Erwachsenwerden und Erwachsensein

2 Allgemeine Aspekte des Erwachsenwerdens

3 Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung

4 Aufgaben und Ambivalenzen

Literatur

Erwachsenwerden unter besonder‍(nd)‌en Bedingungen. Gesellschaftliche und soziale Angebote und Erwartungen an junge Menschen mit geistiger Behinderung.

1 Einleitung

2 Der strukturelle Rahmen: Bestehende Benachteiligungen und diskursive Neuausrichtungen

2.1 Behinderung im kulturellen, historischen und sozio-ökonomischen Kontext: Benachteiligungen, Diskriminierung und Bevormundung als Konstanten

2.2 Sozialrechtliche Neuausrichtung: Systemwechsel mit neuen Anforderungsregimen

3 Institutionelle Dimension: Anspruch und Wirklichkeit

4 Die Interaktionelle Dimension: Die Rolle von Peers, Geschwistern und Eltern

5 Fazit und pädagogische Implikationen

Literatur

Selbstbestimmung und Erwachsenwerden bei geistiger und komplexer Behinderung zwischen Ansprüchen, Anerkennung und Antwortversuchen

1 Einleitung

2 Schlaglichter auf Ideen zur Selbstbestimmung

3 Selbstbestimmung und geistige Behinderung – Probleme und Spannungen

4 Die Selbstbestimmungsidee im Kontext von (geistiger) Behinderung

5 Phänomenologische Annäherungen an die Idee der Selbstbestimmung

6 Erwachsenwerden zwischen Ansprüchen und Antwortversuchen – Eine phänomenologische Perspektive

Literatur

Allgemeine und spezifische Gesundheitsbedürfnisse von erwachsen werdenden Menschen mit geistiger Behinderung

1 Einleitung

2 Aktuelle Befunde zur Gesundheitssituation und Gesundheitsveränderung von Menschen mit geistiger Behinderung im Erwachsenwerden

3 Aufgaben und Ambivalenzen

3.1 Gesundheitsbezogene Anforderungen

3.2 Umgang mit erhöhter Vulnerabilität

3.3 Pathologisierung der Lebenssituation

3.4 Autonomie- und Ablöseprozesse

3.5 Zugang zum Gesundheitssystem und zur Gesundheitsversorgung

4 Pädagogische Antwortversuche und Anforderungen an den professionellen Umgang mit Aufgaben und Ambivalenzen in personenorientierten Transitionsprozessen

4.1 Health Literacy und individuelle Gesundheitskompetenz

4.2 Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung

4.3 Gesundheitsbezogene Kommunikation und Interaktion

Literatur

Erwachsensein mit Behinderung vor Recht und Gesetz. Vom normativen Anspruch zu konkreten Unterstützungsleistungen für volljährige Menschen mit (geistiger und komplexer) Behinderung

1 Volljährig werden (mit Behinderung)

2 Selbstbestimmung und Teilhabe als Paradigma des modernen (Sozial-)‌Rechtes

2.1 Die UN-Behindertenkonvention

2.2 Das Betreuungsrecht

2.3 Das Bundesteilhabegesetz

3 Selbstbestimmt Leben auf Basis komplexer Leistungskonstellationen

3.1 Leistungen zur Sicherung der Existenz

3.2 Leistungen zur sozialen Teilhabe

4 Ein selbstbestimmtes und autonomes Leben: Zu hoher Anspruch oder eine (Bildungs-)‌Aufgabe für Alle?

5 Fazit

Literatur

Herausforderungen und Chancen in der Begleitung erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung aus der Perspektive ihrer familiären Bezugspersonen

1 Zur Rolle der Familien

1.1 Familien mit einem erwachsenen Kind mit geistiger Behinderung

1.2 Entwicklungsaufgaben von familiären Bezugspersonen und erwachsenen Kindern mit geistiger Behinderung

2 Herausforderungen und Belastungen: Die Vielschichtigkeit der Anforderungen an das familiäre Betreuungsumfeld

2.1 Familientypen

2.2 Emotionale Belastungen

2.3 Finanzielle Unsicherheiten und Ressourcenknappheit

2.4 Veränderte Lebensperspektiven und Ungleichheit in der gesellschaftlichen Teilhabe

3 Auf dem Weg zu einer unterstützenden Gemeinschaft?

Literatur

Onlinequellen

Erwachsen‍(d)‌e Räume. Der Auszug aus dem Herkunftshaushalt als Teil des Erwachsenseins und erwachsen werden im (alleine) Wohnen

1 Raum um erwachsen zu werden?

2 Verhältnis des (alleine) Wohnens zum Erwachsensein und -werden

3 Geplantes Erwachsenwerden – Auszug und alleine Wohnen im Kontext von geistiger und komplexer Behinderung

3.1 Ablösung und Neugestaltung

3.2 Verselbstständigung trotz Betreuung

3.3 Anerkennung als erwachsene Person

4 Theoretische Schlussfolgerungen und praktische Konsequenzen

Literatur

(Inklusive) Erwachsenenbildung

1 Zum Desiderat

2 Überlegungen zu einem nicht-ausschließenden Verständnis von (Erwachsenen-)‌Bildung

2.1 Zum Bildungsbegriff

2.2 Erwachsenenbildung für alle

2.3 Didaktische Perspektiven der (allgemeinen) Erwachsenenbildung

2.4 Funktionen und Inhalte der Erwachsenenbildung (bei Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung)

3 Prinzipien einer (inklusiven) Erwachsenenbildung

3.1 Adressat*innen- und Zielgruppenorientierung

3.2 Teilnehmendenorientierung

3.3 Sach- und Inhaltsorientierung

3.4 Handlungs- und Situationsorientierung

4 Erwachsenenbildung als lebenslanger selbstbestimmter Entwicklungs-‍, Entscheidungs- und Teilhabeprozess

4.1 Ermittlung lebensweltrelevanter Fragestellungen und Themen

4.2 Lebensweltliche »Expert*innen« als partizipative Möglichkeit für einen inklusiven Entwicklungsprozess

4.3 Ermöglichung der Entwicklung bildungsbezogener Bedürfnisse

4.4 Freiwilligkeit als zentrales Element

4.5 Möglichkeiten zur Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen als Ansatzpunkt zur Gestaltung inhaltlicher Perspektiven

5 Fazit

Literatur

(Unterstützte) Kommunikation im Erwachsenenalter

1 Kommunikation

2 Unterstützte Kommunikation

2.1 Methoden und Medien der UK

2.2 Unterstütze Kommunikation im Erwachsenenalter

3 Handlungsempfehlungen beim Umgang mit erwachsen werdenden Menschen mit geistiger Behinderung und Einschränkungen der Kommunikation

3.1 Transitionen als Schlüsselstelle

3.2 Hilfreiche Methoden bei der Umsetzung

4 Ausblick

Literatur

Sexualität bei erwachsen werdenden Menschen mit geistiger Behinderung zwischen Anforderungen, Bedürfnissen und Umsetzungen

1 Problematisierung

2 Vielfalt menschlicher Sexualität im Lebenslauf

3 Sexualität aus der ICF-Perspektive

4 Sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle Bildung

5 Vielfalt und Ambivalenzen sinnstiftender Funktionen von Sexualität

5.1 Beziehungs- und Sozialfunktion von Sexualität

5.2 Identitätsfunktion von Sexualität

5.3 Lustfunktion von Sexualität

5.4 Lebensschöpferische und Fortpflanzungsfunktion von Sexualität

6 Schlussfolgerungen

Literatur

Arbeit, Erwachsensein und geistige und komplexe Behinderung. Zum Verhältnis sich bedingender Kategorien und (begrifflichen) Herausforderungen

1 Arbeit und geistige und komplexe Behinderung – ein schwieriges Verhältnis

2 Teilhabe an Arbeit – Teilhabe woran?

3 Arbeit und Erwachsensein – (M)‌einen Platz in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung einnehmen

3.1 Be-hinderte Teilhabe – be-hinderte Identität

3.2 Arbeit und Demokratie – Teil von Arbeit sein ist Teil von Demokratie sein

4 Schlussfolgerungen

Literatur

Politische Partizipation

1 Gegenstandsbestimmung: Politische Partizipation

2 Grundlagen des Rechts auf politische Partizipation

3 Unterscheidungsformen der politischen Partizipation von Menschen mit geistiger Behinderung

3.1 Allgemeine Formen der politischen Partizipation

3.2 Die partizipativ-lebensweltliche Teilhabeform Werkstattrat

3.3 Das politische Gremium des (kommunalen) Behindertenbeirats

4 Politische Bildung im schulischen Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

5 Barrieren und Gelingensbedingungen politischer Partizipation

5.1 Ergebnisse zu Partizipation in Selbstvertretung und Behindertenbeirat

5.2 Allgemeine politische Partizipation

6 Die politisch geprägte Lebenswelt

7 Die Ermöglichung politischer Partizipation bei Menschen mit komplexer Behinderung

8 Der Mensch als politisches Wesen

Literatur

Die Autorinnen und Autoren

Der Herausgeber

Tobias Bernasconi ist Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik und Rehabilitation bei geistiger und komplexer Behinderung an der Universität zu Köln.

Tobias Bernasconi (Hrsg.)

Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung

Autonomie, Unterstützung, Verantwortung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043630-5

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-043631-2epub: ISBN 978-3-17-043632-9

Vorwort: Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung

Susan Balandin

Das Erwachsenwerden bzw. der Übergang zum und ins Erwachsenenalter kann ein steiniger Weg sein, und dies gilt insbesondere für Menschen mit geistiger Behinderung. Im Laufe der Jahre wurden und werden ihre Unabhängigkeit und ihre Rechte als Erwachsene hart erkämpft. Oft kämpfen sie mit Systemen, einschließlich des Gesundheitssystems, die ihr Erwachsensein, ihre Sexualität, ihr Recht auf freie Entscheidung und ihr Recht, in der Gemeinschaft ihrer Wahl zu leben und zu funktionieren, nicht anerkennen.

Wann sind wir erwachsen? Mit 18? Wenn wir die Schule verlassen, von zu Hause ausziehen oder zu arbeiten beginnen? Oder werden wir jemals wirklich erwachsen, da wir ständig aus neuen Erfahrungen und natürlich auch aus unseren Fehlern lernen.

Das Aufwachsen ist ein undurchsichtiges Konzept, das oft im Rahmen von Bildung, Gesundheit oder altersabhängigen gesetzlichen Rechten wie dem Wahlrecht oder dem Kauf von z. B. Alkohol definiert wird. Wir können das Erwachsenwerden anhand enger biologischer Marker wie der Pubertät betrachten, aber dabei werden all die anderen Faktoren außer Acht gelassen, von denen wir wissen, dass sie wichtig sind, wie der Lebensraum, sozioökonomische Faktoren und die verschiedenen Kontexte, in denen das Erwachsenwerden stattfindet. Folglich gibt es keine endgültige Definition dafür, wann der Prozess des Erwachsenwerdens abgeschlossen ist oder was es bedeutet, erwachsen zu sein. Dennoch wissen wir, dass das Erwachsenwerden für Menschen mit einer geistigen Behinderung besonders schwierig sein kann.

Man kann argumentieren, dass das Gerüst, das Kindern beim Aufwachsen hilft, einschließlich der Schule, der Interaktion mit Gleichaltrigen und der Integration in die Gemeinschaft, vielen Kindern mit geistiger Behinderung fehlt. Das Vertrauen darauf, dass Menschen mit geistiger Behinderung unabhängig werden oder in der Lage sind, ihr eigenes Leben zu gestalten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft zu leisten, mag begrenzt sein. In der Tat ist es oft ein schmaler Grat zwischen angemessener oder zu viel Unterstützung, notwendiger Hilfe oder der Beseitigung jeglicher Unabhängigkeit. Diese und viele weitere Fragen müssen für jede Person individuell im Rahmen der Rechte und der sozialen Gerechtigkeit gelöst werden. Wir wissen, dass Erwachsensein oder das Erreichen des Erwachsenenalters etwas anderes ist als die Kindheit. Menschen mit geistiger Behinderung werden jedoch möglicherweise nicht als erwachsen wahrgenommen, sondern eher als Menschen, die in einer asexuellen Kindheit steckengeblieben sind. Infolgedessen haben sie möglicherweise nur eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdiensten für Erwachsene, z. B. zu Brust- oder Prostatauntersuchungen, und haben kaum die Möglichkeit, sich ihre Betreuer selbst auszusuchen oder ihre Wünsche in Bezug auf Unterkunft, Arbeit oder Freizeit zu äußern. Oft werden sie in ihrer sexuellen Entfaltung behindert und haben kein Recht auf einen Partner. Es kann auch sein, dass viele Entscheidungen auf allen Ebenen für sie und nicht mit ihnen getroffen werden, von der Frage, was es zu essen gibt, bis hin zu der Frage, ob sie einen medizinischen Eingriff ablehnen.

Menschen, die mit einer geistigen Behinderung aufwachsen, sind oft einsam und haben nur wenige Freunde. Ihre Freundschaften konzentrieren sich möglicherweise nicht auf Gleichaltrige, sondern eher auf Freunde ihrer Eltern oder enge Familienmitglieder. Es ist wahrscheinlich, dass sie Schwierigkeiten haben, eine befriedigende und sinnvolle Arbeit zu finden, und dass sie mit einer nicht immer positiven, überfürsorglichen oder ausgrenzenden Wahrnehmung in der Gemeinschaft konfrontiert sind. Für viele ist der Wechsel aus dem schulischen Umfeld mit etwa 18 Jahren sowohl für sie als auch für ihre Familien traumatisch. Plötzlich stehen möglicherweise keine spezialisierten Dienste mehr zur Verfügung, und junge Erwachsene mit geistiger Behinderung und ihre Familien sind möglicherweise schlecht darauf vorbereitet, mit dem Erwachsenenalter und den verschiedenen Systemen, die von der allgemeinen Gemeinschaft genutzt werden, umzugehen.

Junge Menschen mit geistiger Behinderung müssen in der Lage sein, ihre Hoffnungen mitzuteilen, Entscheidungen zu treffen und zu verstehen, wie sie die nächsten Schritte auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden bewältigen können. Hoffnungen, Sorgen und Vorlieben mitzuteilen und soziale Interaktionen zu genießen, ist für viele nach wie vor problematisch. Möglicherweise hatten sie in jungen Jahren keinen Zugang zu einem funktionalen Kommunikationssystem und verfügen nicht über ein geeignetes System oder sind nicht ausreichend geschult, um es zu nutzen, wenn es ihnen zur Verfügung gestellt wird. Einige warten immer noch auf ein Kommunikationssystem, das sie und andere nutzen können. Darüber hinaus haben sie oft keine anderen Kommunikationspartner als Familienmitglieder oder bezahlte Mitarbeiter. Daher erleben viele nur selten Interaktionen, die über die Äußerung von Wünschen, Bedürfnissen und Anweisungen hinausgehen. Soziale Beziehungen und soziale Interaktionen sind die Grundpfeiler für ein erfolgreiches Älterwerden – doch viele Menschen, die mit einer geistigen Behinderung aufwachsen, haben immer noch Schwierigkeiten, diese herzustellen.

Inklusion ist kein neues Konzept mehr, doch viele Menschen mit geistiger Behinderung werden in ihren Gemeinschaften immer noch ausgeschlossen. Diejenigen, die jetzt aufwachsen, können daher immer noch als Pioniere betrachtet werden, die Neuland betreten und für ihre Rechte kämpfen, die im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2006) klar formuliert sind.

Dieses Buch ist ein Denkanstoß und eine willkommene Ergänzung der Literatur, die sich mit Menschen mit geistiger Behinderung befasst, und stellt Fragen, liefert aber auch neue Ideen zu den vielen Facetten des Erwachsenwerdens.

Susan BalandinProfessor EmeritusDeakin Universität, Melbourne

Einleitung: Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung

Tobias Bernasconi

Erwachsenwerden stellt eine zentrale Entwicklungsaufgabe in der Biografie jedes Menschen dar. Im Rahmen der unterschiedlichen Ablösungs- und Veränderungsprozesse, die die Zeit des Erwachsenwerdens charakterisieren, steht oftmals die Ablösung vom Elternhaus, der Beginn einer eigenen selbstständigen Lebensgestaltung sowie die Gründung einer Familie und der Eintritt ins Berufsleben im Mittelpunkt. Dabei ist der »Erwachsene« vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er die notwendigen Fähigkeiten für eine eigenständige Lebensführung erworben hat. Diese Entwicklungsaufgaben gelten grundsätzlich auch für Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung. Dennoch hat dieser Personenkreis mit der besonderen Herausforderung zu tun, so dass sie häufig ein Leben lang auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Demzufolge kann ihnen unterstellt werden, diesen Entwicklungsaufgaben nicht gewachsen zu sein (vgl. Emmelmann/Greving 2019, 13). Mit Blick auf gesellschaftliche Erwartungen, Strukturen und Anforderungen entstehen zudem Spannungsfelder, die im Kern die Frage betreffen, durch was sich Erwachsenwerden und Erwachsensein letztlich beschreiben lassen: Sind es vor allem die beobachtbaren Fertigkeiten, wie ein bestimmtes Maß an Kompetenzen, Selbständigkeit und Verantwortungsbewusstheit, die letztlich das Kind vom Erwachsenen unterscheiden? Oder spielt auch die Entwicklungen hin zu einer individuellen »Reife« dabei eine Rolle? Im Kontext der Pädagogik von Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung stellt sich zudem die Frage, ob die Aufgaben und Prozesse auf dem Weg zum Erwachsenwerden wirklich grundlegend und vordergründig durch das Vorhandensein einer kognitiven Einschränkung beeinflusst werden? Oder sind vor allem soziale, gesellschaftliche und kulturelle Vorstellungen von Autonomie, Unterstützung, Reife oder Verantwortung ausschlaggebend für die Ableitung eines ›besonderen Weges‹ beim Erwachsenwerden von Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung?

Im Kern dieser Fragen scheinen mit Blick auf unterschiedliche Lebenssituationen und -bereiche Spannungsfelder auf, insbesondere auch mit Blick auf eine inklusive Gesellschaft. Nach der UN-BK haben Menschen mit Behinderung in allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen das Recht auf Teilhabe, Selbstverwirklichung und Zugehörigkeitsgefühl (vgl. Bernasconi 2022). Erwachsenwerden bedeutet dann aber auch das stetige und erweiterte Einlösen des lebenslangen Anspruchs auf Bildung, Kommunikation und Interaktion sowie Selbstverwirklichung in persönlichen und gesellschaftlich-sozialen Handlungsfeldern, wie Partnerschaft und Sexualität, Habilitation oder politischer Partizipation.

Der vorliegende Band greift diese Themen und Fragestellungen auf, indem ein bisher nur randständig bearbeitetes Gebiet in den Blick genommen und aus verschiedenen Perspektiven bearbeitet wird.

Tobias Bernasconi stellt grundlegende Anforderungen, Ambivalenzen und Aufträge an das Erwachsenwerden von Menschen mit geistiger Behinderung dar und macht deutlich, dass es vor allem gemeinsame Aufgaben beim Erwachsenwerden von Menschen mit geistiger Behinderung sind, die die Ebenen der Person, der privaten und professionellen Bezugsysteme und sozialen Kontexte bedenken müssen. Nur so können notwendige Handlungsstrategien und Konzepte entwickelt werden, gleichzeitig umfassende Angebote geschaffen und dennoch besondere Bedürfnisse und Notwendigkeiten anerkannt werden.

Timo Dins analysiert die sozialen und gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen und Herausforderungen im und während des Erwachsenwerdens. Dabei werden (makro-)‌strukturelle Ausgangsbedingungen skizziert, institutionelle Teilaspekte (Meso-Ebene) analysiert, um die interaktionelle Dimension (Mikro-Ebene) genauer zu beschreiben und pädagogische Implikationen zu entwickeln.

Theresa Stommel greift die grundlegende Ambivalenz der Selbstbestimmung auf und stellt diese in den spezifischen Problemhorizont geistiger und komplexer Behinderung. Dabei wird auf Ambivalenzen hingewiesen, die sich in Bezug auf Selbstbestimmung als Begriff zwischen (sonder-)‌pädagogischem Leitprinzip und modernem Ideenhorizont entfalten lassen und die einen Einfluss auf (Vor-)‌Annahmen zum Erwachsenwerden im Kontext geistiger und komplexer Behinderung haben. Selbstbestimmung und Erwachsenwerden werden dann aus (leib-)‌phänomenologischer Perspektive pointiert und Möglichkeiten einer kritischen Zuwendung und Diskussion mit Blick pädagogisches Handeln skizziert.

Lena Grüter und Tobias Bernasconi stellen aktuelle Befunde zur gesundheitlichen Lage und Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung dar. Ausgehend von einem salutogenetischen Ansatz entwickeln sie Fragen, Ansprüche und Aufgaben für die pädagogische Begleitung in der Phase der Erwachsenwerdens.

Julia Fischer-Suhr und Oliver Totter widmen sich in ihrem Beitrag dem Thema des Erwachsenenseins aus rechtlicher Perspektive. Dabei geht es um die rechtlichen Veränderungen, die sich mit dem Eintritt in die Volljährigkeit für jeden Menschen ergeben, um daraufhin im Einzelnen deren Bedeutung und Auswirkung auf die Lebenssituation von volljährigen Menschen mit geistiger Behinderung darzustellen.

Michaela Naumann widmet sich in ihrem Beitrag der Rolle der Bezugspersonen sowie den spezifischen Herausforderungen und Chancen, die sich bei der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung in das Erwachsenenalter ergeben können. Dabei wird insbesondere die Komplexität der Lebenssituation, in der sich die Familien befinden, deutlich. Es zeigt sich aber auch, dass es hier keine allgemeinen Hinweise für die Unterstützung geben kann, sondern immer individuelle Lösungen gesucht werden müssen.

Annalena Ziemski analysiert in ihrem Beitrag zur Arbeit, dass der zugrunde liegende Arbeitsbegriff maßgeblich bestimmt, welche Möglichkeiten und Potentiale für Menschen mit geistiger Behinderung im Kontext von Arbeit gesehen, zugelassen und ermöglicht werden. Dabei stellt sie ausgehend von theoretischen Überlegungen sowohl begriffliche Herausforderungen als auch konkrete Umsetzungsmöglichkeiten vor.

Caren Keeley macht in ihrem Beitrag zur (Inklusiven) Erwachsenenbildung deutlich, dass Bildung, verstanden als lebenslanger Prozess und Aufgabe eines jeden Menschen, zentral zum Erwachsenwerden und Erwachsensein gehört. Mit Fokus auf den Kontext der Erwachsenenbildung stellt sie Aufgaben, Ansprüche und Herausforderungen dar, vor allem mit Blick auf die Gestaltung von Möglichkeiten und Zugängen für Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung.

Im Beitrag zur Unterstützen Kommunikation stellt Tobias Bernasconi dar, wie wichtig eine kontinuierliche und Transitionen überdauernde Begleitung und Versorgung mit Maßnahmen der Unterstützten Kommunikation ist, wenn Menschen ohne Lautsprache kommunizieren oder sich im Laufe des Erwachsen- und Älterwerdens neue kommunikative Herausforderungen ergeben.

Mit einer multiperspektivischen Herangehensweise widmet sich Lena Grüter Fragen im Kontext der Entwicklung von Sexualität, Veränderungen mit dem Eintritt ins Erwachsenenleben und den Barrieren in der Sexualität und der sexuellen Gesundheit von erwachsen werdenden Menschen mit geistiger Behinderung, um anschließend Ideen für vermehrte Teilhabe in diesem Kontext zu beschreiben.

Im Beitrag zum Wohnen steht für Annalena Ziemksi vor allem die Phase des Auszugs aus dem Elternhaus bzw. der Herkunftsfamilie im Fokus. Erwachsenwerden wird hier auch gesehen als Erschließen von Räumen und die zunehmende Übernahme von gesellschaftlichen Rollen sowie das Herausbilden von individuellen Entwicklungspotentialen.

Torsten Dietze beschreibt das Feld der politischen Partizipation im Kontext des Erwachsenwerdens. Ausgehend von allgemeinen Überlegungen zur politischen Partizipation wird auf Häufigkeiten und Ausprägungen bei Menschen mit geistiger Behinderung eingegangen und es werden Barrieren und Gelingensbedingungen thematisiert. Hieraus ergeben sich Möglichkeiten und Empfehlungen für eine individuelle Unterstützung.

Anforderungen, Ambivalenzen und Aufträge an das und im Erwachsenwerden von Menschen mit geistiger Behinderung

Tobias Bernasconi

1 Erwachsenwerden und Erwachsensein

Der Weg in das Erwachsenenleben ist für junge Menschen Aufgabe, Herausforderung und Entwicklungsfeld in einem. In der Jugend werden zentrale Prozesse der Autonomie- und Identitätsentwicklung angestoßen, die im Erwachsenwerden weiter ausgebildet werden und so das künftige Leben, aber auch Teilhabe- und Entwicklungsschancen beeinflussen und bestimmen. Das Erwachsenwerden ist zudem eine Phase der Ablösung von Vertrautem, Gewohntem und der zunehmenden Individuation. Wie alle Lebensphasen ist auch die Phase des Erwachsenwerdens keine statische, sondern eine Phase im Lebenslauf des Menschen, die sich chronologisch zwischen Jugend und Alter einsortiert, ohne dabei an ein festes Alter gebunden zu sein. Sie verläuft zudem keinesfalls bei allen Menschen gleich. Vielmehr »impliziert sie ständige Weiterentwicklung, die sich nicht in gesetzmäßigen Stufentheorien festlegen lässt, [ ... sondern] ist durch individuelle Entwicklungsprozesse gekennzeichnet, die die Auseinandersetzung mit sog. Entwicklungsaufgaben (Havighurst 1982) mit sozialen, psychischen und physischen Anforderungen beinhaltet« (Stöppler, 2013, 116). Erwachsenwerden ist damit ein komplexer Prozess, der keinen festen Regeln oder genauen Zeitpunkten unterliegt, an denen Menschen als »erwachsen« gelten. Auch existiert immer weniger ein einheitliches Bild eines ›Erwachsenen‹, da »das Erwachsenenalter [...] längst einer offenen Entwicklungsdynamik unterworfen« (Böhnisch, 2023, 185) ist.

Erwachsensein bzw. das Erwachsenenalter als Lebensphase impliziert entsprechend eher die Übernahme verschiedener Rollen und Funktionen innerhalb des gesellschaftlichen Lebens, wenngleich diese unterschiedlich ausgestaltet werden und ebenfalls als fluid betrachtet werden müssen. Erwachsen sind Menschen damit nicht einfach irgendwann – sondern erwachsen werden Menschen im Laufe des Lebens durch Übernahme von Rollen und Funktionen der ›Erwachsenen‹. Das Erwachsenenalter ist aktuell jedoch einer »offenen Entwicklungsdynamik unterworfen« (ebd., 185), die häufig von Diskontinuität, Neuanfängen, nur eingeschränkt planbaren Wegen und einem durchweg prozesshaften Charakter gekennzeichnet ist, bei dem das Erwachsenwerden vor allem den Übergang von der Jugend ins Erwachsensein durch bestimmte Prozesse und Ereignisse begleitet. Diese sind z. B. das Ende der Schulzeit und der Eintritt in die ausbildungsbezogene Bildung, der Auszug aus dem Elternhaus oder zumindest die stärkere räumliche Ablösung von den Eltern, Partnerschaften, sexuelle Erfahrungen und ggf. Familiengründung und schließlich das zunehmende Ausfüllen der Rolle einer mündigen Person, die ihre Bürgerrechte z. B. im Rahmen von politischer Partizipation oder zunehmender selbstständigen Lebensführung gestaltet. Im Erwachsenwerden erwerben Menschen dabei die Verhaltensmuster, Normen und Einstellungen, die für die Kultur und Gesellschaft relevant sind, in der die Menschen aufwachsen bzw. hineinwachsen und leben (Hurrelmann 2007). In Abgrenzung zum Erwachsensein wird in der Phase der Jugend oft der Fokus auf die Identitätsentwicklung, das Selbstständigwerden und die zunehmende Unabhängigkeit von der Elterngeneration gelegt. Dabei haben die Personen jedoch noch weniger Verpflichtungen als Erwachsene, insbesondere was eine finanzielle unabhängige Lebensführung betrifft. Vielmehr steht die Entwicklung eines zunehmend internalisierten moralischen Bewusstseins im Mittelpunkt und es werden erste Vorstellungen der Berufswahl und des späteren Lebens entwickelt bzw. konkretisiert (vgl. Berngruber & Gaupp, 2021, 9; Oerter & Montada, 1995).

Im Gegensatz zur Betrachtung einzelner Phasen und Abschnitte im Leben eines Menschen legt die Lebenslaufforschung einen etwas anderen Blick auf das Erwachsenwerden an. Die Lebenslaufforschung sieht ihr Ziel darin, gesellschaftlich bedingte Muster zwischen einzelnen Lebensereignissen abzubilden (Elder, 1978, 21). Dabei werden der Zeitpunkt, die Dauer und die Entstehung bestimmter biografischer Ereignisse beschrieben, um letztlich normative Rahmenbedingungen einer Gesellschaft zu beschreiben und so Aspekte herauszuarbeiten, die das Erwachsenwerden konstituieren. Da viele Ereignisse im Leben zeitlich miteinander in Zusammenhang stehen und sich wechselseitig bedingen, bietet die Lebensverlaufsperspektive einen Zugang, unabhängig vom Alter bzw. einem konkreten Aspekt das Erwachsenwerden zu beschreiben.

Als ›klassische‹ Lebensereignisse junger Menschen zählen in ähnlicher Art wie oben dargestellt Schritte von der Schule in den Beruf und damit hin zur finanziellen Selbstständigkeit (z. B. Abschluss der Schule, Beginn und Abschluss einer Ausbildung bzw. eines Studiums, Beginn einer Erwerbstätigkeit), das eigenständige Wohnen (z. B. Auszug aus dem Elternhaus) sowie Schritte hin zur Familiengründung (z. B. Eingehen von Partnerschaften, Zusammenziehen mit Partner*innen, Heirat, Geburt von Kindern) (vgl. Konietzka, 2010).

Neben dem Begriff ›Lebensereignis‹ wird auch der Begriff ›Statusübergang‹ genutzt, der biografische Lebensereignisse charakterisiert und verdeutlicht, dass die mit dem Ereignis einhergehenden Veränderungen (z. B. emotionaler Art) oft einen gewissen Zeitraum umfassen (Huinink, 1995). Ein Statusübergang ist »ein zentrales Lebensereignis, das zu einer signifikanten Veränderung der sozialen Position und der Lebensorganisation eines Akteurs führt. Es hat weitreichende Auswirkungen auf den weiteren Lebensverlauf« (ebd., 155).

Ähnlich werden Statusübergänge auch im Rahmen der Transitionsforschung betrachtet, die diese Statusübergänge bzw. Transitionen sieht als »komplexe, ineinander übergehende und sich überblendende Wandlungsprozesse [...], in denen das Individuum dabei Phasen beschleunigter Veränderungen und eine besonders lernintensive Zeit durchmacht« (Griebel & Niesel, 2004, 35). Die Reaktionen auf die individuelle Bewältigung können dabei positive Entwicklungen nach sich ziehen, es kann aber auch zu einer Stagnation oder Entwicklungsbeeinträchtigung kommen (vgl. Reichmann, 2010).

Gelingende Transitionsprozesse sind in besonderem Maße von Interaktion und Kooperation zwischen den einzelnen Systemen, z. B. Familie, Schule oder Arbeitsstätte abhängig. Als kritisches Ereignis im Leben sind Transitionen immer mit Chancen und Risiken für die Biographie behaftet. Die gegenseitige Abstimmung der einzelnen Systeme ist dabei essentiell, um anschlussfähige Bedingungen zu schaffen.

Der Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter ist in diesem Kontext eine Transition bzw. ein Statusübergang, die mit einer Neustrukturierung der Lebensumstände einhergeht. Dieser Übergang in ein neues Stadium wird in der Regel als positiver, spannender Fortschritt und als Herausforderung angesehen. Gleichsam können Veränderungen aber auch beängstigend und verunsichernd wirken, da vertraute Muster und Gewohnheiten wegfallen und durch Neues und Unbekanntes abgelöst werden (vgl. Bleeksma, 2014, 22). Der Prozess verläuft dabei nicht linear, sondern Menschen entwickeln in unterschiedlichem Tempo in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Reifegrade. Während Erwachsenwerden der Prozess der zunehmenden Aneignung einer neuen Lebensphase ist, kann Erwachsensein verstanden werden als Teilhabe am Erwachsenenleben, was bedeutet, Zugang zu haben zu allen wesentlichen Bereichen, Aufgaben- und Handlungsfeldern von Erwachsenen, wenngleich unterschiedliche Intensitäten und Ausprägungen vorhanden sein können.

2 Allgemeine Aspekte des Erwachsenwerdens

Auch wenn Erwachsenwerden ein letztlich lebenslanger Prozess ist, der nicht an ein bestimmtes Alter gekoppelt ist, kann dieser über allgemeine Aspekte beschrieben werden, die mit dem Erwachsenwerden verbunden sind und sich durch Veränderungen im physischen, sozialen, emotionalen und kognitiven Bereich zeigen (vgl. Berngruber & Gaupp, 2017 sowie eigene Ergänzungen).

Physisch erwachsen zu werden wird gemeinhin mit der körperlichen Reife, dem körperlich Ausgewachsensein verbunden, oftmals auch im Kontext von Gesundheit. Dabei geht es um die Erreichung der körperlichen Geschlechtsreife, der Fähigkeit zur Selbstversorgung und Aufrechterhaltung der eigenen Gesundheit.

Emotionale Reife meint das Erreichen einer emotionalen Entwicklung, in der zentral die Fähigkeit, Emotionen zu erkennen, zu verstehen und konstruktiv mit ihnen umzugehen, als ein wichtiger Aspekt des Erwachsenwerdens gesehen wird.

Mit dem Erwachsenwerden geht oft eine größere soziale Unabhängigkeit einher, die gleichsam die Ausbildung von sozialer Kompetenz erfordert. Dies meint die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, Konflikte zu bewältigen und Verantwortung in sozialen und beruflichen Beziehungen zu übernehmen. In diesem Zusammenhang kommt den unterschiedlichen sozialen Beziehungen eine wichtige Rolle zu. Peerbeziehungen können eher feste Freundschaftsbeziehungen sein, informelle Gruppen in schulischen oder außerschulischen Kontexten umfassen dabei das Einnehmen von Rollen und das Übernehmen von Gruppennormen und sind nicht festgeschrieben, weshalb sie oftmals von organisierten bzw. institutionalisierten Gruppen z. B. Schulklassen oder Vereinsgruppen abgegrenzt werden (vgl. Grunert, 2021, 104 f.). In diesem Zusammenhang spielt auch eine zunehmende Verantwortungsübernahme für eigene Handlungen und das Tragen von Konsequenzen von Entscheidungen im Rahmen persönlicher sowie gesellschaftlicher Kontexte eine Rolle.

Finanzielle bzw. wirtschaftliche Selbstständigkeit grenzt Jugendliche und Erwachsene derart voneinander ab, das letztere in der Lage sind, für ihre finanziellen Bedürfnisse selbst zu sorgen. Unterschiedliche theoretisch-konzeptionelle Blickwinkel beschreiben auch die Relevanz ökonomischer Aspekte für das Erwachsenwerden. Dabei werden z. B. die Fähigkeit zur Nutzung von Geld- und Warenmarkt und die ökonomische Selbstversorgung als zwei der Entwicklungsaufgaben benannt (vgl. z. B. Hurrelmann, 2007, 37). Andere, eher entwicklungspsychologische Perspektiven fokussieren finanzielle Unabhängigkeit als Teil der beginnenden und sich ausbauenden Selbstständigkeit mit der Perspektive der Ablösung und der Autonomieentwicklung. Die Erlangung von finanzieller Selbstständigkeit ist zudem ein wichtiger Transitionsschritt. Finanzielle Ressourcen von jungen Erwachsenen gehen daher mit einer Erweiterung von Handlungsspielräumen einher: »Ökonomische Ressourcen eröffnen Spielräume, über die der Erwerb von Gütern in den Diensten individueller Distinktion, Selbstpositionierung, der Gestaltung der eigenen Präsenz und Identität und die Unabhängigkeit gegenüber den Eltern gelingen soll« (van Santen & Tully, 2021, 91).

Bildung bzw. lebenslanges Lernen stellt einen weiteren Aspekt des Erwachsenseins dar und fokussiert die Bereitschaft und Fähigkeit, sich kontinuierlich zu entwickeln, Wissen und Fähigkeiten zu erwerben, z. B. im Kontext formaler Bildung, beruflicher Weiterbildung oder persönlicher Entwicklung.

Mit dem 18. Lebensjahr erwerben Menschen in Deutschland die rechtliche Volljährigkeit bzw. Eigenverantwortung vor dem Recht, die mit rechtlichen Verantwortlichkeiten und Pflichten, aber auch dem Einwerben von Rechten einhergeht. Der 18. Geburtstag ist damit eine wichtige Grenzziehung zwischen Jugend und Erwachsenenalter, da Menschen hier wesentliche Rechte wie bspw. die volle Geschäftsfähigkeit oder auch das aktive und passive Wahlrecht erhalten.

Erwachsenwerden beinhaltet als einen zentralen Schritt die Entwicklung von Unabhängigkeit von Eltern oder Erziehungsberechtigten, häufig verbunden mit der Entwicklung von Fähigkeiten zur Selbstversorgung und zur eigenständigen Entscheidungsfindung.

Auch beim Erwachsenwerden steht die Identitätsbildung weiterhin im Fokus, indem die Suche nach einer eigenen Identität und das Verstehen der eigenen Werte, Überzeugungen und Ziele fortwährend bearbeitet und entwickelt wird. Dabei haben unterschiedliche, parallel ablaufende Entwicklungsaufgaben eine zentrale Bedeutung, z. B. die Entwicklung der sexuellen Orientierung (vgl. Wendt, 2009), die Entwicklung schulischer Perspektiven und die Fragen beruflicher Perspektiven (vgl. Keeley in diesem Band).

Die hier einzeln skizzierten Bereiche hängen in der Praxis eng zusammen. Hinzu kommt, dass Aspekte der Herkunftsfamilie teilweise das weitere Leben beeinflussen können, z. B. mit Blick auf berufliche oder finanzielle Möglichkeiten. Zwar existieren hier teilweise Befunde, die auf einen Prozess der sogenannten ›sozialen Vererbung‹ verweisen, womit vor allem ein Fortsetzen bestimmter struktureller Aspekte gemeint ist; dieser ist aber weder theoretisch in einfachen Modellen zu beschreiben noch vollständig empirisch erforscht (vgl. auch Schels, 2021).

Dass die einzeln beschriebenen Bereiche letztlich miteinander zusammenhängen, wird aber auch beim Blick auf praktische Situationen, Aufgaben und Handlungsfelder deutlich. So ist z. B. das Erwachsenwerden und -sein u. a. durch vielfältige räumliche Mobilitätspraktiken charakterisiert: »Das Bewegen im geografischen Raum stellt einen zentralen Verselbstständigungsschritt junger Menschen dar« (Klein-Zimmer, 2021, 131). Dabei entstehen die notwendigen Freiräume für Entdecken von Neuem, Erfahren, Experimentieren, Grenzüberschreitungen usw., die letztlich erst durch Möglichkeiten des Mobilseins und die Erweiterung des räumlichen Horizonts ermöglicht werden (vgl. ebd.). Mobilitätserfahrungen benötigen jedoch nahezu alle der genannten Aspekte, d. h. eine gewisse physische und emotionale Reife, soziale Kompetenz und Verantwortungsübernahme. Gleichsam sind finanzielle Ressourcen und Möglichkeiten sowie rechtliche Aspekte zu beachten. Und durch Mobilitätserfahrungen wird schließlich Identitätsentwicklung und Persönlichkeitsbildung sowie eine Erweiterung des geistigen Horizonts angestoßen.

Es wird deutlich, wie die einzelnen Entwicklungsaufgaben beim Erwachsenwerden letztlich als komplexes Bedingungsgefüge zu sehen sind, das gleichsam deutlich macht, wie vielschichtig der Prozess ist, wie unterschiedlich er verlaufen kann und welche immense Anforderung, aber auch welche Chancen und Potentiale er für die einzelne Person und das Umfeld ,in dem diese lebt, bedeutet.

3 Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung

Wenn in diesem Band immer wieder von Menschen mit geistiger Behinderung gesprochen wird, so muss deutlich gemacht werden, dass für diese Beschreibung keine einheitliche und exakte Definition des Personenkreises vorliegt. Der Begriff geistige Behinderung ist vielmehr ein »Sammelbegriff für ein Phänomen mit oft lebenslangen, aber verschiedenen Äußerungsformen einer unterdurchschnittlichen Verarbeitung von Kognitionen und Problemen mit der sozialen Adaption« (Stöppler, 2017, 18). Die American Association on Intellectual and Developmental Disabilities (AAIDD 2019) spricht von deutlichen Einschränkungen sowohl des Intellekts als auch des adaptiven Verhaltens, die bereits vor dem Erwachsenenalter beobachtet werden können. Daran anknüpfend werden Handlungskompetenzen benannt, die z. B. abstrakte Fähigkeiten wie Sprache, Lese- und Schreibfähigkeit, Geld- und Zeitverständnis oder generelles Zahlenverständnis umfassen; soziale Fähigkeiten, die soziale Kompetenz, soziale Verantwortung, Selbstwertgefühl oder den Sinn von Regeln erkennen und diese befolgen; praktische Fähigkeiten mit Blick auf Tätigkeiten des täglichen Lebens im Bereich Hygiene, Gesundheit und Sicherheit oder den Gebrauch von Geld (vgl. Stöppler & Haveman, 2021, 21). Adaptives Verhalten ist ebenfalls ein Sammelbegriff für unterschiedliche kognitive und soziale Fähigkeiten. Die kognitiven Funktionen bestimmen dabei neben den sozialen Fähigkeiten und den sozialen Entwicklungsbedingungen maßgeblich das adaptive Verhalten. Adaptives Verhalten wird oftmals mit Blick auf ein bestimmtes Entwicklungsalter beschrieben: »Adaptive behavior is indexed on chronological age because as a society, we have different expectations of all members of our community as they age« (Tassè, 2017, 3). Hier gilt im oben beschriebenen Sinne anzumerken, dass Entwicklung nicht primär altersabhängig, sondern ganzheitlich kontextabhängig und sozial determiniert gedacht werden sollte. Unter adaptivem Verhalten darf zudem nicht verstanden werden, dass es bei der Unterstützung darum geht, Menschen mit geistiger Behinderung an »gesellschaftliche Erwartungen anzupassen, vielmehr geht es um die Person, die – soweit dies möglich ist – zu einer selbstständigen Lebenswirklichkeit befähigt werden soll« (Stöppler & Haveman, 2021, 21). Dies geschieht immer in Interaktion mit anderen. »Der pädagogische Anknüpfungspunkt ist nicht seine Schädigung oder Behinderung, sondern sein zu verwirklichendes Entwicklungs- und Lernpotenzial« (Speck 2005, 48).

Zudem müssen immer weitere Aspekte wie das jeweilige kulturelle und soziale Umfeld des Menschen berücksichtigt werden. »Behinderung« ist damit nicht ein Aspekt, der direkt an einer Person festzumachen ist, sondern es sind – neben einer möglicherweise vorhandenen organischen Schädigung – gleichbedeutend kulturelle und soziale Umweltfaktoren, die eine Person behindern können.

Die Perspektive auf den individuellen Bedarf an Unterstützung für ein möglichst selbstbestimmtes Leben impliziert immer auch die Überwindung der behindernden Bedingungen des Umfeldes. Damit kommen die sozialen Bedingungen i. S. der Lebenslage in den Blick (vgl. Behrisch, 2016). Die Behindertenrechtskonvention der Vereinigten Nationen (UN-BRK; vgl. BgBl 2008) legt in ihrer Präambel das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) zugrunde. In diesem wird Behinderung definiert als Mangel an Teilhabe an Aktivitäten im konkreten Alltag. Sie entsteht folglich aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit einer Beeinträchtigung und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, woraus die wirksame und gleichberechtigtn Teilhabe an der Gesellschaft verhindert wird (vgl. Bernasconi 2023).

Auch Erwachsenwerden vollzieht sich in komplexen bio-psycho-sozialen sowie kulturell bedingten Kontexten, in denen personale, soziale und umweltbedingte Aspekte miteinander verschränkt sind. Das Erwachsenwerden und das Erwachsensein bei Menschen mit geistiger Behinderung kann damit auch nicht an einem Kriterium oder einem bestimmten zeitlichen Aspekt festgemacht werden. Menschen mit geistigen Behinderungen sind grundsätzlich genauso individuell wie Menschen ohne Behinderungen, weshalb der individuelle Entwicklungsverlauf zu respektieren und zu unterstützen ist. »Die Arbeit mit älteren und alten Menschen stellt im Kontext der Behindertenhilfe [jedoch noch] ein Novum dar« (Stöppler, 2017, 116). Neuere Forschungen und Konzepte fokussieren dabei vor allem den Bereich des Alterns bzw. der Geragogik bzw. der Gerontologie. Für die Phase zwischen Jugend und Alter, dem Erwachsenwerden und -sein existieren dagegen nur wenige konzeptionelle oder theoretische Entwürfe oder empirische Studien. Für den Prozess des Erwachsenwerdens bei Menschen mit Behinderungen kann angenommen werden, dass dieser in vielen Aspekten durchaus ähnlich ist wie bei Menschen ohne Behinderung, gleichsam gibt es Herausforderungen und Bedürfnisse, die sich aus der komplexen Lebenssituation der Menschen ergeben und die zu Unterschieden im Erwachsenwerden führen können (vgl. Bleeksma, 2014).

So kann sich z. B. eine weitgehende Unabhängigkeit bei Menschen mit geistiger Behinderung nur entfalten, »wenn die soziale Umgebung die bei diesem Personenkreis ebenfalls existenten Bedürfnisse nach Loslösung, Unabhängigkeit etc. ernst nimmt« (Stöppler 2013, 116).

Zur sozialen Umgebung gehören bei Menschen mit geistiger Behinderung immer auch Institutionen, da sich das Leben der Menschen durch alle Lebensphasen aktuell immer noch mehrheitlich in Institutionen abspielt. Schuppener et al. (2021, 225) sehen Institutionen zum einen in Anlehnung an (Schroeder, 2015, 145) als »konstitutiver Teil des geschichtlichen Prozesses zur Fundierung der Fachpädagogik«, zum anderen aber auch »als beständige Orte der Selektion und der strukturellen Diskriminierung«. Institutionen kommt auch mit Blick auf das Erwachsenwerden eine ambivalente Rolle zwischen notweniger Unterstützung und eigener Legitimation durch Festschreibung bestimmter notwendiger Institutionen und Handlungsfelder zu.

Auch Böhnisch (2023, 222) sieht Probleme, die entstehen, wenn »die Sozialadministration, die behinderte Menschen einstuft, an Betreuungsinstitutionen weist und die Effizienz von Behindertenarbeit evaluiert«, da hier oftmals »Grundprobleme des Behindertenseins« übergangen werden und Ausgrenzung verstärkt wird, anstatt eine selbstbestimmte Lebensführung zu unterstützen.

Hinzu kommen weitere strukturelle und aus der Lebenssituation entstehende Aspekte, die den Prozess des Erwachsenwerdens bei Menschen mit geistiger Behinderung beeinflussen können. Diese sind z. B.

Ein erhöhter Bedarf an institutioneller Unterstützung, da Menschen mit geistiger Behinderung oftmals lebenslange Unterstützungssysteme benötigen, um ihre alltägliche Teilhabe, ihre weitgehende Unabhängigkeit und eine angemessene Lebensqualität zu erhalten und zu sichern (vgl. Fornefeld, 2008). Besondere Relevanz in den Unterstützungssystemen haben dabei neben Angehörigen, Freunden und Peers auch Pflegekräfte, Therapeuten, spezialisierte Einrichtungen oder gemeindenahe Dienste, wobei private und professionelle Unterstützer*innen sich vermischen und ein breiteres Netzwerk benötigt wird. Zudem vermischen sich die Grenzen zwischen familiärer oder freundschaftlicher Unterstützung und professioneller Begleitung, wenn auch Pflege und Therapie von Familienangehörigen mit übernommen wird.

Die Fähigkeit zur Teilhabe am Arbeitsmarkt ist für das Erwachsenwerden und die Unabhängigkeit von Menschen mit geistigen Behinderungen von entscheidender Bedeutung. Dabei besteht das Spannungsfeld zwischen beschützenden Arbeitsplätzen und dem ersten Arbeitsmarkt, der Spannungsfelder und offene Fragen enthält (siehe Ziemski in diesem Band).

Studien belegen, dass Menschen mit geistiger Behinderung weniger Möglichkeiten zur selbst gestalteten Freizeit haben (vgl. Schuck 2017, Markowetz 2012) und sich die Freizeitgestaltung häufig nicht an ihren Interessen orientiert (vgl. Bergeest & Boenisch, 2019, 364). Dies hat einen Einfluss auf die Möglichkeiten zur sozialen Integration und weitergehend der Entwicklung von sozialen und kommunikativen Fähigkeiten. Gleichsam ist die Teilhabe an sozialen Aktivitäten ein wichtiger Aspekt des Erwachsenwerdens, was kommunikative Möglichkeiten und Freizeitmöglichkeiten im Alltag erfordert.

Für Menschen mit geistiger Behinderung sind rechtliche Fragen im Zusammenhang mit Betreuung und rechtlicher Vertretung von Bedeutung. Dabei werden Konstrukte wie Volljährigkeit, rechtliche Verantwortlichkeit etc. in Frage gestellt bzw. diskutiert, die einen Einfluss auf den Grad der Selbstbestimmungs- und Teilhabemöglichkeiten haben können.

Um die unterschiedlichen Aufgaben und Handlungsfelder des Erwachsenwerdens zu betrachten, kann die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) genutzt werden. Dieser »erste universelle Völkerrechtsvertrag, der den anerkannten Katalog der Menschenrechte, wie er in der internationalen Menschrechtscharta zum Ausdruck kommt, auf die Situation behinderter Menschen zuschneidet« (Degener, 2009, 264). liefert durch die von Deutschland 2009 vollzogene Ratifizierung eine rechtliche Grundlage für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft. Die UN-BRK wird dabei durch ein menschrechtliches Modell von Behinderung getragen, welches auf der Annahme und Erkenntnis basiert, »dass die weltweit desolate Lage behinderter Menschen weniger mit körperlichen, intellektuellen oder psychischen Beeinträchtigungen als vielmehr mit der gesellschaftlich konstruierten Entrechtung (gesundheitlich) beeinträchtigter Menschen zu erklären ist« (Degener, 2009, 272). Entsprechend muss mit Blick auf das Erwachsenwerden von Menschen mit geistiger Behinderung immer auch die Frage nach den tatsächlichen Chancen und Möglichkeiten gestellt werden, um den durch die UN-BRK gesetzten, unhintergehbaren Anspruch aller Menschen auf gleichberechtigten und umfänglichen Zugang zu allen gesellschaftlich relevanten Bereichen zu unterstützen.

Zentral ist dabei die Fähigkeit, aber auch die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens. Damit ist gemeint, dass allen Menschen »auf der einen Seite Möglichkeiten zu einem lebenslangen Lernprozess vorzuhalten [sind]. Auf der anderen Seite hat jeder Mensch die Potentiale, sich ein Leben lang weiter zu entwickeln« (Emmelmann & Greving, 2019, 23). Dabei gilt, dass Menschen sich im Verlauf des Lebens immer weiterentwickeln, entsprechend benötigen sie auch fortwährend Angebote zur Weiterentwicklung, die nicht nur im Rahmen von institutionalisierten Angeboten über die Lebensspannen (Schulen Ausbildung, Arbeit), sondern auch in außerinstitutionellen, informellen Zusammenhängen bestehen müssen. Hof sieht deshalb in der »Schaffung geeigneter institutioneller Rahmenbedingungen« (Hof, 2009, 68) eine essentielle Aufgabe von heilpädagogischen Einrichtungen, denen hier eine Transferfunktion zukommt. Erwachsene Menschen mit Behinderung, die in institutionalisierten Settings leben bzw. ihr Erwachsensein entfalten, brauchen Möglichkeiten, Anregungen und Unterstützungsangebote, um sich in unterschiedlichen, subjektiv bedeutsamen Informations-‍, Tätigkeits- und Handlungsfeldern entwickeln zu können.

Im Rahmen des Erwachsenwerdens und insbesondere des Erwachsenseins entstehen dabei durchaus Spannungsfelder, die z. B. danach fragen, wie spezialisiert eine Unterstützung von Menschen mit geistiger Behinderung sein sollte oder ob nicht eine zu starke Spezialisierung wieder Ausschluss durch die Festlegung von Kategorien, Zuschreibungen und (vermeintlichen) angenommen Defiziten produziert.

4 Aufgaben und Ambivalenzen

Im Prozess des Erwachsenwerdens bei Menschen mit geistiger Behinderung ergeben sich Ambivalenzen, die den Prozess an sich als problematisch darstellen können. So spielen z. B. Definitionen des Erwachsenenstatus von Menschen ohne Behinderung, Fremdbestimmung über Bedürfnisse bzw. eingeschränkte Mitbestimmungsmöglichkeiten, Zentralisierung des Alltags und Institutionalisierung des Lebens, aber auch eine »Selbstdefinition der Helfer über die Hilfsbedürftigkeit der Menschen mit geistiger Behinderung, die zur Infantilisierung, Überbehütung und -versorgung führen können« (Stöppler, 2013, 118), eine Rolle. Hinzu kommt, dass die oben genannten Anforderungenk, wie finanzielle Unabhängigkeit, Eintritt in eine Erwerbstätigkeit, das Leben in einer eigenen Wohnung etc., für viele Menschen mit geistiger Behinderung nach wie vor schwer erreichbare Ziele sind, wobei weiterhin nicht abschließend geklärt ist, inwieweit dies auf personale oder eher soziale Ursachen zurückzuführen ist.

Auch wenn der Prozess individuell verläuft, lassen sich für das Erwachsenwerden von Menschen mit geistiger Behinderung bestimmte Aufgaben und Herausforderungen beschreiben, die je nach Lebenssituation, Hintergrund und Kontext unterschiedlich gewichtet sind, gleichsam aber auf grundlegende Spannungsfelder und Herausforderungen hinweisen. Anhand der Analyse von Ambivalenzen lassen sich dann Aufgaben für ein erfolgreiches Erwachsenwerden von Menschen mit geistiger Behinderung skizzieren.

Selbstbestimmung vs. Abhängigkeit: Wie alle Menschen streben auch Menschen mit geistiger Behinderung nach Unabhängigkeit und Autonomie, die für das Erwachsenwerden und das Erwachsensein ›typisch‹ sind. Auf der anderen Seite ist das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung oftmals durch eine erhöhte Abhängigkeit von anderen Menschen auf Unterstützung und Pflege angewiesen (vgl. Böhnisch, 2023). Entscheidend ist hier, dass Abhängigkeit dabei kein Wesensmerkmal von Menschen mit geistiger Behinderung ist, sondern grundlegendes Merkmal des Menschen, also doch verbindenden Charakter besetzt (Fornefeld, 2021). Gleichsam ist die Abhängigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung aufgrund institutioneller Prozesse und Strukturen, aber auch aufgrund gesellschaftlicher und sozialer Vorstellungen, Stigmatisierungen und Annahmen über die Menschen erhöht. Dies kann im Extrem dazu führen, die Abhängigkeit als zentrales Merkmal des Personenkreises zu formulieren und so im Sinne einer vorauseilenden Annahme auch Lebenssituationen beeinflussen. Für die Menschen selbst führt die z. T. lebenslang erlebte Abhängigkeit dazu, dass wenig Zutrauen aufgebaut wird, die Vorstellungen von anderen über sie u. U. zu ambivalenten Gefühlen führen, da Selbstständigkeit ggf. auch verunsichernd wirkt bzw. nicht als Ziel angenommen wird sowie vermehrt nach Unterstützung gesucht wird. Der Wunsch nach Unabhängigkeit kann zudem mit dem Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz kollidieren. Insbesondere bei Eltern von Menschen mit geistiger Behinderung zeigen sich ambivalente Gefühle mit Blick auf Fragen des Auszugs aus dem Elternhaus und Sorgen über mögliche Risiken (Hennies & Kuhn, 2004). Das Dilemma besteht dabei darin, dass die erwachsen werdenden Menschen selbstständig werden wollen bzw. sich hin zur Selbstständigkeit entwickeln sollen, gleichsam sind sie gerade von den engen Bezugspersonen insbesondere in ihrer alltäglichen Lebensgestaltung am meisten abhängig und bleiben oftmals auf Unterstützung angewiesen. Die Angewiesenheit auf andere kann dabei dazu führen, dass eigene Wünsche oder auch Dinge, die nicht erwünscht sind, nicht oder zu spät formuliert werden (vgl. Böhnisch, 2023, 223). Das Abhängigkeitsverhältnis kann entsprechend nicht einfach aufgelöst werden, vielmehr erfordert es eine Umgestaltung (vgl. Uphoff et al, 2010).

Inklusion vs. Identität. Inklusion in die Gesellschaft und die Teilnahme an Aktivitäten des Alltags sind grundlegende Ziele der Behindertenpolitik sowie der Pädagogik und Rehabilitation bei geistiger Behinderung. Gleichzeitig leben Menschen mit geistiger Behinderung nach wie vor vornehmlich in institutionalisierten Welten, in denen mehrheitlich Menschen mit (geistiger) Behinderung leben. Menschen mit Behinderung erleben dabei oftmals Einsamkeit und wenig Kontakt zu Menschen ohne Behinderung (vgl. Bergeest & Boenisch 2019, 373). Auf der anderen Seite suchen Menschen mit (geistiger) Behinderung nicht zwingend den Kontakt zu Menschen ohne Behinderung, sondern z. T. auch gezielt zu Peers oder Partner*innen, die in ähnlichen Lebenswelten leben.

Selbstwirksamkeit vs. Herausforderungen. Erwachsenwerden beinhaltet den Aufbau von Selbstwirksamkeit und die Bewältigung von Herausforderungen. Menschen mit geistiger Behinderung können jedoch auf zusätzliche Barrieren und Hindernisse stoßen, die ihre Selbstwirksamkeit beeinträchtigen können. Dies kann zu ambivalenten Gefühlen der Hoffnung und Frustration führen.

Gesellschaftliche Erwartungen vs. Selbstbild. Vorurteile gegenüber Menschen mit geistigen Behinderungen können die Entwicklung eines positiven Selbstbildes erschweren und zu ambivalenten Gefühlen führen (vgl. Bleeksma, 2014). Menschen mit geistiger Behinderung erleben häufiger Vorurteile und Diskriminierung im Alltag und im Speziellen mit Blick auf die Möglichkeiten zu Bildung und Teilhabe.

Ein besonderer Bereich im Kontext der Ambivalenzen, aber auch mit Blick auf das Erwachsenwerden im Allgemeinen ist dabei die Frage nach der Entwicklung und Gestaltung von Selbstbestimmung. Dabei besitzt zunächst jeder Mensch eine individuelle Autonomie, die im ersten Schritt bedeutet, dass Menschen »die Fähigkeit oder das Vermögen, sich selbst die Gesetze geben zu können, nach denen wir handeln und die wir selbst für richtig halten« (Rössler, 2017, 30).

Damit diese individuelle Autonomie gelingen kann, müssen zuvor auch Fragen thematisiert werden, die vor allem die Vorstellungen davon betreffen, wie Menschen leben wollen, wie sie leben können und ggf. wie sie leben sollen. Auch Menschen mit Behinderung sollten dabei die grundsätzliche Freiheit zu Entscheidungen haben, wenngleich Wünsche, Ideen und Vorstellungen dann immer auch in Abgleich mit tatsächlichen Möglichkeiten und Gegebenheiten gebracht werden müssen. Zur Entwicklung von Perspektiven und Handlungsoptionen können z. B. das Freiraumkonzept (vgl. Emmelmann & Greving, 2019) oder Methoden der persönlichen Zukunftsplanung (vgl. Doose, 2008; 2019) genutzt werden.

Die skizzierten Ambivalenzen zeigen sich insbesondere in der zentralen Herausforderung beim Erwachsenwerden, der Ablösung aus dem Elternhaus bzw. der Eintritt in ein zunehmend selbstbestimmtes und gestaltetes Leben. Der Auszug aus dem Elternhaus und der Eintritt ins Arbeitsleben führt dabei zu einer neuen Unabhängigkeit, bringt aber auch die Notwendigkeit von Entscheidungen, neue Aufgaben und vor allem Ablösungsprozesse mit sich. Ablösungsprozesse beschreiben einen Prozess, der in der Jugend beginnt und sich im Erwachsenenalter fortsetzt und wiederkehrend in unterschiedlicher Intensität vollzogen wird (Emmelmann & Greving, 2019, 18). Dabei bestehen neben den Herausforderungen, die eine Veränderung des Lebens mit sich bringt, auch Chancen und Potentiale für die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung. Im Ablösungsprozess setzen sich Menschen immer wieder mit ihrer Identität und ihrem Selbstbild auseinander und entwickeln sich so im Bereich von Persönlichkeit weiter:

»Oft muss man dabei von vertrauten, wohl bekannten Dingen Abschied nehmen, aber neue, schöne und interessante Möglichkeiten tun sich auf. Wenn du z. B. selbstständig wohnst, hast du viel mehr Freiheiten. Du kannst essen, was und wann du willst, kannst Freunde einladen und besuchen, ohne jemandem darüber Rechenschaft geben zu müssen. Du kannst alles Mögliche ausprobieren. Gleichzeitig entbehrst du die Gemeinsamkeit, die zu Hause selbstverständlich war. Es bedeutet auch, dass du nun Dinge allein erledigen musst wie einkaufen, kochen und abwaschen. Du musst die Miete bezahlen, dich darum kümmern, dass die Tür abgeschlossen ist usw. Damit umgehen zu lernen ist eine Entwicklungsaufgabe des jungen Erwachsenenalters« (Bleeksma, 2014, 22).

Einige Studien haben sich der Frage nach Ablösungsprozessen von Menschen mit (geistiger) Behinderung und der Veränderung der Beziehungsgestaltung zu den Eltern gewidmet (z. B. Langner, 2008; Fischer, 2008; Stamm, 2009) und machen deutlich, dass Ablöseprozesse im Kontext der Beziehungsgestaltung von Eltern von Kindern mit Behinderung zusätzlich durch gewachsene Beziehungen, institutionelle und strukturelle Aspekte beeinflusst und z. T. erschwert werden. Dabei können Schwierigkeiten entstehen, wenn während des Ablöseprozesses bei Menschen mit geistiger Behinderung ein Auseinanderdriften von körperlich-psychischer und intellektueller Entwicklung der jungen Erwachsenen entsteht:

»Menschen mit geistiger Behinderung machen in Pubertät und Adoleszenz die gleichen körperlichen und vergleichbare psychische Umstrukturierungs- und Reifungsprozesse durch wie Jugendliche ohne Behinderung, allerdings unter erschwerten Bedingungen. Dazu gehören die meist deutliche Diskrepanz zwischen Sexual- und Intelligenzalter und die häufig eingeschränkten intellektuellen und kognitiven Verarbeitungs- und Bewältigungsmöglichkeiten« (Hennies & Kuhn, 2004, 134).

Der Zugang zu hilfreichen Ressourcen wie Peer-Gruppen, Freizeitaktivitäten oder anderen Erwachsenen, die als Orientierungspersonen fungieren können, ist dagegen oftmals eingeschränkt, da die eingeschränkte Mobilität von Menschen mit geistiger Behinderung und die nicht immer mögliche Selbständigkeit dazu führen, dass diese Beziehungen außerhalb der Familien nicht in gleichem Maße aufgebaut werden können.