Erzähl mir von der Liebe - Robert Ide - E-Book

Erzähl mir von der Liebe E-Book

Robert Ide

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Beschreibung

In diesem Buch steckt Liebe drin

Über nichts sprechen Menschen lieber als über die Liebe. Und nichts erzählt mehr über die Brüche, Umbrüche und Aufbrüche in unserem Leben. Jede Liebesgeschichte inspiriert zum Nachdenken über das eigene Leben: Was würde ich in einer ähnlichen Situation tun oder auch nicht? Was würde ich für eine Liebe ändern? Wie bleibe ich zusammen mit jemand anderem ich selbst?
Vielleicht auch deshalb weiß jede:r mindestens ein außergewöhnliches Erlebnis über die Liebe zu erzählen. Weil sie Hoffnung vermittelt in unsicheren Zeiten, Trost gibt in scheinbar aussichtslosen Lagen, das Unmögliche doch noch möglich macht.

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Das ist das Cover des Buches »Erzähl mir von der L iebe« von Robert Ide, Joana Nietfeld, Helena Piontek

Über das Buch

In diesem Buch steckt Liebe drinÜber nichts sprechen Menschen lieber als über die Liebe. Und nichts erzählt mehr über die Brüche, Umbrüche und Aufbrüche in unserem Leben. Jede Liebesgeschichte inspiriert zum Nachdenken über das eigene Leben: Was würde ich in einer ähnlichen Situation tun oder auch nicht? Was würde ich für eine Liebe ändern? Wie bleibe ich zusammen mit jemand anderem ich selbst?Vielleicht auch deshalb weiß jede:r mindestens ein außergewöhnliches Erlebnis über die Liebe zu erzählen. Weil sie Hoffnung vermittelt in unsicheren Zeiten, Trost gibt in scheinbar aussichtslosen Lagen, das Unmögliche doch noch möglich macht.

Robert Ide Joana Nietfeld Helena Piontek

Erzähl mir von der

Liebe

hanserblau

Für alle, die uns von der Liebe erzählen

Vorwort

Drei Worte. Sind sie nicht längst abgenutzt? Zu oft gesagt, nicht immer so gemeint. Zu oft verkitscht, in Herzform verkauft auf Tassen und Kissen. Doch sie funktionieren noch immer. Können alles verändern. Ich liebe dich. Darauf folgen Umzüge, Trennungen, Hochzeiten, Affären. Menschen schmeißen ihr Leben um, von einem Moment auf den anderen.

Dabei ist Liebe schwer zu erklären. Sie ist flüchtig, ungewiss. Für sie gibt es kein Tutorial, keine Anleitung in zehn Schritten. Nie stellen wir uns selbst so sehr infrage wie dann, wenn wir nach der Liebe suchen. Nie verhalten wir uns so bekloppt, egoistisch und kompromisslos wie dann, wenn wir sie gefunden haben. Liebe lässt uns Hunger, Müdigkeit und beste Freundinnen vergessen. Sie macht uns zu fröhlichen Gefangenen oder traurigen Befreiten, zu großen Kindern oder kleinen Berserkern.

Weil die Liebe so vielfältig ist, wie sie unergründlich erscheint, gibt es kaum ein spannenderes Thema als sie. Nichts erzählt mehr über die Brüche, Umbrüche und Aufbrüche im Leben. Deshalb erzählen wir hier von ihr.

In diesem Buch schreiben wir 20 wahre Geschichten von echten Menschen, beschreiben ihre Gefühlsverwicklungen und intimen Geheimnisse. Unter ihnen ist der Mann, der sich so sehr eine intakte Beziehung wünscht, aber jahrelang betrogen wird. Die Frau, die immer Mutter sein wollte, aber dann nicht schwanger wird. Das Paar, das nach Jahrzehnten den verpassten Kuss nachholt. Vier Erwachsene, die eine Familie gründen.

In jeder Liebesgeschichte stecken emotionale, experimentelle und existenzielle Fragen: Lässt sich wahre Liebe teilen? Wie fühlen sich flüchtige Gefühle an? Gibt es Liebe auf den ersten Blick? Was sagt Sex über unsere Zuneigung zueinander aus? Kann aus Freundschaft Liebe werden — und umgekehrt? Auf jede dieser Fragen findet jede und jeder eine andere Antwort. 

Dabei ist das Nachdenken über die Liebe zeitlos, aber auch immer ein Spiegel der Zeit. Dekadente Affären oder dekadenlange Ehen, Liebe bis in den Tod oder Verliebtheit nur für einen Augenblick, polyamore Beziehungen oder hedonistische Liebesmodelle, bisexuelle Hochzeiten oder homosexuelle Familien, verpasste Augenblicke und doch noch eingefangene Blicke. Heute hat sich nahezu jede Beziehungskonstellation emanzipiert vom Verbot über das Naserümpfen der Nachbarn hin zum allgemeinen Achselzucken. Und doch bleiben Beziehungshaushalte, so aufgeräumt sie auch erscheinen mögen, Privatsache, besonders in Deutschland.

Über die Liebe zu berichten, heißt deshalb auch, das Leben besser verstehen zu lernen. Denn ehrlich gesagt kennt niemand die Realität des anderen genau. Wer weiß schon, wie es wirklich in der Ehe der Kollegen aussieht? Wer kennt die zahllosen unbeantworteten Nachrichten in der Dating-App? Nach dem Gespräch beim Paartherapeuten postet kein Paar ein Selfie, vom romantischen Date schon. In diesen Geschichten sind wir nicht nur auf der Suche nach den Abgründen der Liebe, aber eben auch. Wir erzählen die echten Geschichten, die unperfekten, die sich anfühlen, wie mit den Fingerkuppen über eine raue Oberfläche zu streichen.

Unsere Protagonisten haben wir nicht in Interessensvertretungen gefunden. Schließlich gibt es keine Lobby der Verlassenen, keinen Club der Frischverliebten. Stattdessen stolpern wir über die Geschichten in sozialen Netzwerken, schnappen sie auf Partys auf, hören von ihnen auf Familienfeiern oder in privaten Gesprächen. Manchmal sind sie kaum zu glauben, zuweilen ist gerade ihre scheinbare Normalität das Besondere. Menschen zu finden, die in einer heiklen Lebenslage ihre Empfindungen offenbaren, dauert oft monatelang. Für einen Moment der Wahrheit lohnt es sich jedoch immer.

Liebe ist nie einfach, aber immer universell. Sie vermittelt Hoffnung in unsicheren Zeiten, gibt Trost in scheinbar aussichtslosen Lagen, lässt das Unmögliche doch noch möglich werden. Eigentlich weiß jede und jeder mindestens eine außergewöhnliche Geschichte von der Liebe zu erzählen. Wir müssen uns nur trauen, sie zu ergründen.

35 Jahre bis zum ersten Kuss

Elìzabeth und Thomas

Reue hat zwei Gesichter: Das Bedauern, einen Fehler gemacht zu haben, und das Gefühl, etwas gar nicht getan zu haben. Thomas kennt beides.

Es ist 1986, Thomas ist siebzehneinhalb. Vier Wochen schon tingelt er mit seinem Chor aus West-Berlin durch Brasilien, Argentinien und Chile. Ein gewaltiges Abenteuer. Die letzte Station ist in Santiago de Chile, Thomas wird beim dortigen deutschen Botschaftsrat untergebracht. Als die letzten drei Tage vor dem Rückflug angebrochen sind, nimmt ihn der Sohn seines Gastgebers mit auf eine Party. Und da steht sie, Elìzabeth.

Dunkle Locken, lange, schmale Nase und ein warmes Lächeln auf dem Gesicht. Sie unterhalten sich über Volleyball — wie kann jemand mit so schönen Fingern überhaupt Volleyball spielen, fragt sich Thomas. Viel Spanisch kann Thomas damals nicht, doch Elìzabeth verbrachte einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in Bonn, ihr Deutsch ist nahezu perfekt. Den ganzen Abend schlürft Thomas an einer einzigen Flasche Cola, mehr gibt sein schmales Reisebudget nicht mehr her. Aber das ist ihm egal. Eigentlich denkt er nur: Hoffentlich ebbt das Gespräch mit Elìzabeth nicht ab.

Elìzabeth geht es ähnlich. Ihr Kumpel brachte diesen gut aussehenden deutschen Jungen mit zur Party. Kurze blonde Haare, ein lieber Blick. Er ist witzig und sehr respektvoll. Elìzabeth ist auf Anhieb verknallt.

Sie verbringen jeden einzelnen der letzten drei Tage miteinander, und weil sie abends nicht rechtzeitig nach Hause aufbrechen, auch die ganze Nacht vor der Abreise. Zu Zeiten von Pinochets Militärdiktatur herrschte Ausgangssperre in Chile.

Sie lachen viel und reden, aber nur zu zweit sind sie nie. Als es in den frühen Morgenstunden kühl wird, legen sie eine große Decke über sich. Ihre Hände berühren sich flüchtig, es fühlt sich an, als durchzuckte sie ein Blitz. Und dann — passiert nichts.

Ein paar Stunden später hebt Thomas ab und landet 12.517 Kilometer weiter in Berlin-Tegel. Siebzehneinhalb, untröstlich verliebt und sauer auf sich selbst. Wie kann man nur so schüchtern sein? So gern hätte Thomas ihren Kopf zu sich herangezogen und sie geküsst, doch er traute sich einfach nicht. Einige Tage später liegt ein Brief in Thomas’ Briefkasten. Elìzabeth schreibt darin: »Ich bin verliebt in dich. Ich träume davon, an deine Tür in Berlin zu klopfen und dich zu überraschen.«

Thomas kann kaum fassen, was Elìzabeth da in mutigen Zeilen aufgeschrieben hat. Genau so fühlt er doch auch. Was für ein überwältigendes Gefühl, wenn Liebe auf Gegenliebe stößt. Wie fatal, zu begreifen, dass die Chance, dem Gefühl nachzugehen, in unerreichbare Entfernung gerückt ist. »35 Jahre lang habe ich mir vorgeworfen, sie nicht geküsst zu haben.«

Zwei Jahre lang schreiben sich die beiden, die eigentlich anders heißen, Briefe, schicken dem anderen Bilder. Thomas’ Freunde finden das höchstens nett, meist einfach nur naiv. Einen Besuch hätte sich damals keiner der beiden leisten können, und auch Ferngespräche sind viel zu teuer. Thomas geht in Deutschland noch zur Schule, Elìzabeth hat gerade ihr Architekturstudium begonnen. In einigen der Briefe überlegen sie, ob Elìzabeth nicht in Deutschland studieren könnte, und verwerfen es schließlich doch. Wäre das nicht total verrückt? Auf der Rückseite eines Fotos notiert Elìzabeth: »Vergiss nie, hier gibt es jemanden, der dich sehr lieb hat.«

Dann, nach und nach, werden die Briefe seltener, und irgendwann ist das letzte Papier verschickt.

Thomas und Elìzabeth verlieben sich in andere Menschen. Beide finden schließlich eine Person, mit der sie ihr Leben verbringen möchten. Beide heiraten. Beide werden Eltern von je zwei Kindern. Die ersten Schritte, der erste Schultag, die eigene Karriere, die Beziehung. Beide verlieren sich im manchmal aufregenden, oft banalen, meist schönen Alltag des Lebens. 35 Jahre lang. Sie in Chile, er in Deutschland.

An einem Tag im Herbst 2020 sitzt Thomas zu Hause in seinem Büro und hört südamerikanische Musik. Jahrelang hat er diese Playlist schon nicht mehr angeklickt. Und seine Gedanken wandern zu Elìzabeth. Was wohl aus ihr geworden ist? Sie müsste wie er Anfang 50 sein, bestimmt hat auch sie Familie und Kinder, denkt sich Thomas und tippt ihren Namen in die Suchmaschine ein.

Es ist nicht das erste Mal seit seiner Jugend, dass Thomas an Elìzabeth denkt. Sie war seine erste Liebe, und auch wenn ihr weitere folgten, bleibt sie doch diese eine Person, bei der er sich fragt: Hätte aus uns nicht doch etwas werden können? »The one that got away«, beschreibt im Englischen genau das: Diese eine Person, die man einfach nicht vergessen kann, diese eine Liebe über die man nie so richtig hinwegkommt, egal wie lange sie zurückliegt.

Für die meisten bleibt das eine Überlegung — Gedanken, die zur Realität hätten werden können. Vielleicht in einem anderen Leben. Doch Thomas geht ihnen nach.

»Ich bin Thomas. Erinnerst du dich an mich?«, schreibt er. »Ich habe dich nie vergessen.« Seine Mail landet im Spam-Ordner. 14 Tage später schreibt er ein zweites Mal von einer anderen Adresse. Sie antwortet sofort: »Natürlich erinnere ich mich. Ich habe hier ein Foto von dir, du trägst einen Hut mit Federn dran.«

Auf die erste Nachricht folgt eine zweite, bald das erste Telefonat, und nach über 30 Jahren sehen sich auf den Bildschirmen ihrer Computer wieder. Sie reden jeden Tag stundenlang, meist nachts wegen der Zeitverschiebung. Elìzabeth erzählt von ihrem Leben in Chile, ihrer Arbeit als Architektin, ihren erwachsenen Kindern, ihrer Ehe, die schon vor Jahren in die Brüche gegangen ist. Thomas erzählt von seinem Leben in Berlin, seinen zwei Kindern, die an der Schwelle zum Erwachsenenleben stehen, und seiner Ehe, in der er und seine Frau schon lange eher nebeneinander als miteinander leben.

Doch auch in festgefahrenen Beziehungen fällt auf, wenn sich etwas tut. Seine Frau will wissen, mit wem Thomas immer wieder telefoniert und über was sie sprechen. Thomas windet sich und sagt, es sei eine alte Bekannte, sagt, sie sprächen über die gesundheitlichen Probleme von Elìzabeths Sohn. Das stimmt, doch die ganze Wahrheit ist es nicht. Sie bittet ihn, den Kontakt abzubrechen, doch Thomas kann nicht. Wenn er nachts in seinem Bett liegt, trifft er Elìzabeth jetzt heimlich über den Bildschirm seines Mobiltelefons. Lange schon schlafen er und seine Frau in getrennten Zimmern. »Ich habe mir das schöngeredet«, sagt Thomas heute. »Ich dachte: Wenn sie mich nicht erwischt, ist es, als wäre nichts passiert. Aber natürlich hat sie gespürt, dass etwas nicht stimmt. Damit habe ich sie noch mehr verletzt.«

Über die Entfernung fällt es leichter, offen zu sein, sie in Chile, er in Deutschland. Was soll denn schon passieren? Schnell werden die Gespräche tief, und Schicht für Schicht scheinen die Gefühle von damals wieder an die Oberfläche zu kommen. Sieben Wochen geht das so. Dann sagt Elìzabeth: »Wir müssen uns sehen. Wir müssen herausfinden, ob wir eine Chance haben.« Thomas ist klar: Das würde alles verändern. Das Leben, das er bislang führte, würde nie wieder das gleiche sein. Kann er seiner Familie das antun? Da ist die Verantwortung gegenüber dem Leben, das er gewählt hat, seiner Beziehung, den Kindern. Aber er spürt auch die Verantwortung gegenüber sich selbst und seinem persönlichen Glück. Ist das denn nichts wert? Thomas weiß: An seiner Entscheidung hängt ein hoher Preis. Und er sagt: Ja.

Einen Monat später steht er mit Blumen in der Hand am Flughafen. Sie umarmen sich lange, als sie sich endlich gegenüberstehen. Auf der Fahrt redet Thomas zu viel, Elìzabeth streichelt seine Hand. Das Auto vollgepackt, fahren sie zum Supermarkt. Als der Motor auf dem Parkplatz verstummt, traut sich Thomas, wovon er als Jugendlicher nur träumte. Er zieht ihr Gesicht zu sich heran und küsst sie. Nach 35 Jahren.

Die nächsten Wochen sind wie magisch. Berlin liegt ungewöhnlich still im ersten Coronawinter. Unter einer dicken Schneeschicht scheint die sonst rastlose Stadt fast versöhnlich. Nachts erkunden beide das leere Berlin, das Elìzabeth zum ersten Mal besucht. In der Ferienwohnung kommen sie sich nahe, reden, lachen, kochen, genießen die Zweisamkeit. Zwischen ihnen ist eine Vertrautheit, die zwischen zwei eigentlich Fremden nicht sein dürfte. Nicht erst gegen Ende von Elìzabeths Zeit in Berlin ist beiden klar, was sie anfangs nur gehofft hatten.

So schön die Erkenntnis, so erschreckend ist sie auch. Bislang war der Wetteinsatz der beiden nicht besonders hoch: Ein paar Wochen in Deutschland — eine willkommene Abwechslung. Ein paar Wochen mit einer anderen Frau — nichts, was man nicht mit gemeinsamem Willen in einer Ehe wieder kitten könnte. Doch jetzt? Spätestens jetzt hat die gegenseitige Anziehung reale Konsequenzen. Wenn sie sich füreinander entscheiden, gibt es kein Zurück.

Elìzabeth fliegt nach Hause, sagt ihrer Familie, dass sie nach Deutschland ziehen wird, und kündigt ihren Job. Thomas sagt seiner Frau und den Kindern, wie er die letzten Wochen wirklich verbracht hat. Dass er sich von ihr trennen möchte und ausziehen wird. Ja, das Leben hat doch eine gewisse Klumpenartigkeit. Da gibt es ganze Phasen, manchmal Jahre, manchmal Jahrzehnte, da ruckelt es hin und wieder, aber im Wesentlichen passiert doch lange nichts. Und dann gibt es Momente im Leben, da scheint sich alles zur gleichen Zeit zu bewegen. Eine Konzentration von Ereignissen und Emotionen, zusammengepresst, ganz dicht beieinander. Schönes neben Traurigem, Wut neben Euphorie.

War Thomas feige, oder versuchte er, die Familie vor der unbequemen Wahrheit zu schützen, bis er sich selbst ganz sicher war? Liebe, heißt es, verliert nicht an Wert, nur weil sie endet. Die größte Zeit der gemeinsamen Jahre mit seiner Frau war weder schlecht noch vergeudet. Sie haben tolle Kinder und hatten sich nicht zufällig einander versprochen. Doch würde diese Geschichte aus einer anderen Perspektive erzählt, wäre Thomas der Bösewicht. 25 Jahre Ehe, ein gemeinsames Leben und dann so ein Paukenschlag.

»Ich habe mich moralisch falsch verhalten, und das bereue ich. Das haben sie nicht verdient«, sagt Thomas heute. »Ich habe unnötig Schmerz verursacht.« Aber was hätte er auch tun sollen? Der Kinder wegen in der Beziehung bleiben, obwohl er nicht glücklich ist? Oder wäre es besser gewesen, sich zu trennen, ohne eine andere Frau zu haben? Kann man 25 Jahren Ehe überhaupt schmerzlos trennen? Nein, wenn eine Liebe endet, tut das immer weh. Allen Beteiligten.

35 Jahre bastelten Thomas und Elìzabeth an einem Leben, das sie jetzt zu großen Teilen hinter sich lassen. Ist das eine Midlife-Crisis oder ein Manifest für die Zeitlosigkeit der Liebe? Sie konnten nicht ahnen, dass ihr Leben diese Wendung nehmen würde. Thomas’ Nachricht an Elìzabeth hätte ungelesen oder unwillkommen bleiben können. Und während die einen ihre Köpfe schütteln über die Entscheidung, finden andere darin eine der bezauberndsten Liebesgeschichten, die sie je gehört haben.

Fast zwei Jahre leben Elìzabeth und Thomas jetzt schon in ihrer gemeinsamen Wohnung in Berlin. Elìzabeth hat einen neuen Job, und Thomas’ Scheidung ist endlich durch. Eine große Erleichterung für beide. Manchmal schien es in den letzten Monaten, als lebten sie zu dritt in ihrem neuen Zuhause, die Ex-Frau zumindest gedanklich mit im Raum anwesend. Wenn Thomas von der Arbeit kam, warteten die Hausaufgaben für seinen Anwalt. Er macht viele Zugeständnisse, manchmal hadert er, ob es zu viele sein könnten. Doch der Wunsch, die Trennung möglichst konfliktfrei zu gestalten, ist ihm wichtiger, auch den Kindern zuliebe. Die Beziehung zu ihnen bleibt belastet, vor allem sein Sohn, das jüngere der beiden Kinder, tut sich schwer. Er wohnt noch zu Hause, sitzt oft zwischen den Stühlen. Wenn Thomas ihn trifft, lässt er seinen Sohn wählen, ob er die Zeit zu dritt mit Elìzabeth oder lieber zu zweit verbringen mag. In letzter Zeit entscheidet er sich immer öfter für die erste Option. Thomas weiß, dass es noch dauern wird, bis das Verhältnis wieder wird, wie es einmal war. Er freut sich über jeden kleinen Schritt.

»Ich hoffe, dass unser Leben jetzt wieder an positivem Gewicht, an Leichtigkeit gewinnen kann«, sagt er. Gemeinsam kochen sie, tanzen Salsa, fahren Fahrrad und entdecken die Stadt. Eigentlich ist Thomas gar nicht so unternehmungslustig, aber er ist einfach gerne bei Elìzabeth. Mit ihr fühlt er sich frei, lebendig. Er mag es, mit ihr all die kleinen Dinge neu auszuloten. Sie lachen viel gemeinsam. Manchmal überlegt er, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn das mit ihm und Elìzabeth schon früher, vor 35 Jahren geklappt hätte. Wenn er sie statt der Mutter seiner Kinder geheiratet hätte. »In meinem Kopf weiß ich, es wäre ein kurzes loderndes Feuer gewesen, wir waren beide nicht reif genug für uns als Paar.« Jetzt sind sie es. Jetzt begegnen sie sich mit tiefer Neugierde und Wohlwollen. Sie sind gelassener als früher, weniger abgelenkt vom Klein-Klein des Alltags.

»Wir sind über 50 Jahre alt, es ist ein Geschenk, dass wir noch eine solche Möglichkeit haben und uns auch noch getraut haben«, sagt Elìzabeth. »Jetzt wollen wir einfach die Zeit, die wir noch zusammen haben, genießen.« Schicksal und Bestimmung sind große Worte, doch beide fühlen, dass sie von etwas begleitet werden. Das sie führt, auch durch die Widerstände von außen. »Wir sind in einem wunderbaren Strom, fließen gemeinsam und lassen uns treiben. Wir sind gewillt, jedem Sturm, der da kommt, entgegenzutreten«, sagt Thomas. Er blickt auf Elìzabeth und fängt an zu schmunzeln: »Eigentlich warten wir jetzt beide darauf, dass der andere den Antrag macht.«

Von der Kleinstadt ins wilde Berlin

Annett und Rico

Das kann gar nicht klappen: sich immer aufregend zu finden, egal wie lange man schon zusammen ist. Irgendwann kennt man jede Regung, Anregung und Erregung des anderen Menschen, jede Reizbarkeit der Haut und auch der Seele, wenn man sich aneinander reibt. Man kann und will schon längst nicht mehr ohneeinander leben. Was aber könnte, sollte, möchte man miteinander noch alles erleben? Jedes Paar fragt sich das besser früher als später, damit die Sehnsucht nach neuer Aufregung nicht ihre eigenen Wege nimmt — weg von dem Menschen, den man doch eigentlich liebt.

Was will der denn hier? Rico steht vor dem Haus von Annetts Familie, er hat einen Blumenstrauß von der Tanke geholt. Billig war der nicht, aber was will man machen sonntags in einem sächsischen Straßendorf? Annett brummt noch der Kopf, die Party gestern war einfach eins drüber: die Hitze, zu wenig gegessen, die vielen geleerten Flaschen. Ein tolles Sommerfest im Garten ihrer Freundin, die ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert hat. Auch wenn Annett irgendwann auf den Rasen kotzen musste.

Ich geh nach Hause, sagt sie, aber sie schwankt. Rico ist auch da, den hat sie schon mal gesehen bei der Mädelsrunde am Männertag, er legt den Arm um sie und begleitet sie bis zum Haus ihrer Eltern. Mir ist kalt, sagt Annett, obwohl ihr nicht kalt ist. Rico legt ihr seine Lederjacke um. Sie schauen sich kurz zu lange an. Rico ergreift den Moment und küsst sie. »Es fühlte sich richtig an«, schwärmt Annett heute noch. »Es fühlte sich falsch an«, sagt Rico. »Sie war betrunken. Das auszunutzen, ist gar nicht mein Stil.«

Er läuft rüber zum Haus seiner Eltern, in seinem Jugendzimmer beschließt er: Morgen kaufe ich ihr Blumen. Als sie das Tor öffnet, kann sie es nicht glauben — ein junger Kerl aus dem Dorf, der sich für einen Kuss entschuldigen will. »Da hab ich ihn gleich noch mal geküsst.«

Auf dem Dorf läuft das so: Man ist schnell mal zusammen mit jemandem. Wenn es doch nicht der Richtige ist, guckt man weiter. Vielleicht hat der Freund ja einen netten Freund. Doch wie bewahrt man eine Liebe? Annett und Rico wollen es herausfinden. Sie ist 20 und noch Jungfrau. Er hatte schon ein paar Freundinnen von hier.

Heute, mehr als 20 Jahre später, führen Annett und Rico ein ganz anderes Leben. Hand in Hand laufen sie durch Berlin, feiern durch die Nächte, knutschen mit anderen herum, mal gemeinsam, mal nicht. In ihrer Heimat kennt sie so niemand.

Sie sind verheiratet. Und treffen beide noch jemand anderen. Nur zum Spaß. Aber auch zum Reden, Gedanken teilen, Alltag vergessen. Meistens im Hotel. Freundschaft plus nennt sich das heute. »Ich mag ihn sehr, aber ich liebe ihn nicht«, sagt Annett über ihren zusätzlichen Freund. »Es ist so, dass ich mich sexuell anders ausleben kann«, sagt Rico über seine zusätzliche Freundin. Eifersüchtig aufeinander ist das Paar nicht, jedenfalls nicht mehr ganz so sehr.

Wenn man Annett und Rico trifft, wirken sie auf den ersten Blick eher unscheinbar. Aber ihre Beziehung, die jugendlich verträumt und schüchtern begann, ist alles andere als gewöhnlich. Und vielleicht deshalb immer noch aufregend. Vom Dorf gekommen, haben sie sich die Stadt erobert — und sich danach ein turbulentes Liebesleben erschaffen. Sie haben gemeinsam ihre jeweiligen Grenzen ausgetestet und immer mehr ausgeweitet. Heute sind sie dafür umso entspannter. Weil sie zwischen sich noch Spannung spüren. Und klar, auch Spannungen.

Die erste andere Nacht fühlt sich für Annett merkwürdig an. Ihr Plus-Freund lädt sie zu einem ausgesuchten Essen ein, danach in ein schickes Hotelzimmer. Er hat Sex-Appeal, ist zuvorkommend, gibt sein Geld genüsslich aus. »Es war merkwürdig, einfach dazubleiben bei einem fremden Mann im Bett und nicht nach Hause zu gehen«, erzählt Annett. »Ich habe kaum geschlafen. Es fühlte sich richtig und falsch an.«

Die erste andere Nacht fühlt sich für Rico aufregend an. Er gibt sich hin. Doch die Sache gerät schnell aus der Bahn. Das Paar gerät in eine Krise, über die es noch eine Menge zu reden gibt. »Wir haben plötzlich viel gestritten, viel geweint«, berichtet Annett. »Obwohl es nur diese eine Nacht war, hat sie unsere Ehe ganz schön ins Wanken gebracht.« So ist sie also, die Eifersucht. Die Angst, den anderen zu verlieren — und mit ihm die ganze Welt, die man sich zusammen erschaffen hat.

Annett und Rico sitzen vor einem entspannten Café an einer trubeligen Straße in Berlin-Friedrichshain. Zum ersten Gespräch über ihre Liebe haben sie Fotoalben mitgebracht. »Meine ersten Ausgehschuhe«, zeigt Annett. Ein Foto schwarzer Hackenschuhe — warum klebt man so etwas in ein Album? »Wir sehen uns heute mit anderen Augen«, sagt Rico. Mit wilderen.

Im Swingerclub sind sie längst Stammgäste. Sie schauen gerne anderen Paaren zu, die in Dessous miteinander tanzen und sich dabei ein weiteres Paar anlachen. Dann geht’s gemeinsam in den Pool und später auf die Spielwiese, wo wildfremde Menschen wild übereinander herfallen. Mit Kondom. Mit einer Sicherheitsfrage vor jedem Schritt: Ist das okay für dich? Hinterher kommt eine Frau vom Club und wischt die Matratze trocken.

In Berlin gibt es nicht wenige von diesen Läden, manche Touristen reisen nur deshalb an. Anfangs sind Annett und Rico bloß zum Staunen hier, dann schlafen sie mit wechselnden Partnern, inzwischen beschränken sie sich auf Leute, die sie kennen — zum Beispiel ihre Plus-Freundschaften. »Wir waren auch schon zu viert im Club. Dann teilen wir uns auf und laufen uns zwischendurch über den Weg«, erzählt Rico. »Nur direkt nebeneinander — nee, das geht nicht für mich«, sagt Annett. Ihre Beziehung haben sie schließlich auch noch, ihren gemeinsamen Alltag, die Urlaube, das Ehebett, in das kein anderer reindarf. Der Kern ihres wilden Lebens, er soll nicht aufbrechen.

Natürlich muss eine glückliche Beziehung nicht zwangsläufig eine wilde Komponente haben. Und selbst eine solche braucht Regeln, damit die Liebe nicht aufgeregt durcheinanderwirbelt.

Diese Regeln auszutarieren, die gegenseitige Inbeziehungsetzung immer wieder neu auszubalancieren, ist eine der größten Aufgaben, die eine lange Verbindung bereithält. Denn beim Balancieren kann man leicht vom Drahtseil fallen. Und in wessen Armen landet man dann?

Annett ist 14 und schüchtern, als ihre Eltern in das sächsische Straßendorf ziehen. Sie findet eine Freundin, mit der sie zum Schulbus läuft. Die Clique im Jugendclub kennt sie nicht. Sie steht oft abseits, einige halten sie für arrogant in ihren Stadtklamotten. Also bleibt sie meist in ihrem Zimmer; liest, guckt Fernsehen oder aus dem Fenster. Schräg gegenüber steht das Haus von Ricos Eltern. Der ist immer draußen, spielt Fußball, macht Blödsinn, badet im Steinbruch, sprengt Sachen in die Luft, eckt an, hat Freundinnen und Sex. Sechs Jahre lang wohnen sie nebeneinander, aber treffen sich nie.

Schlager auf den Dorffesten, die Diskotheken abgerockt. Im Fernsehen sieht Rico die Loveparade in Berlin: Da muss man hin. Und Annett gibt sich ein Versprechen: Wenn ich erwachsen bin, hau ich hier ab. Als er mit den Blumen von der Tanke vor ihr steht, ist er fast mit seiner Lehre fertig, sie mit ihrem Abi. Aber der Heimat, der schönen, entkommt man nicht so leicht.

Annetts Mutter lehnt ihn ab. Rico, der Typ aus dem viel zu lauten Jugendclub? Der manchmal nach Dresden fährt und sich im Fußballstadion bei Dynamo kloppt? Du hast was Besseres verdient, mein Kind! Er wird nicht eingeladen zu Familienfesten. Annett hält schon aus Trotz zu ihm.

Dann zieht sie um, endlich selbst gewählt. Annett geht zur Ausbildung in eine Kleinstadt, in die erste WG. Rico ist erst mal arbeitslos, viel gibt es nicht zu tun im sächsischen Gebirge nach dem Umbruch der 90er, er meldet sich bei der Armee. Ausgerechnet Annetts Mutter führt im Nachbardorf die Musterung durch und schickt ihn in eine Kaserne an die Ostsee — möglichst weit weg. Wär doch gelacht, wenn man die beiden nicht auseinanderkriegt.

Es ist aber alles zum Heulen. Schicksalsschläge treffen Annetts Familie. Rico tröstet, spricht Mut zu, legt Annett wieder eine Jacke aus Zuneigung um. Sie treffen sich an den Wochenenden in ihrer neuen Kleinstadt, spazieren Arm in Arm, um Schönes zu sehen. Wenn sie durch Schlossparks wandeln, malen sie sich aus, wie es wäre zusammenzuwohnen. Vielleicht sogar in einer großen Stadt. Sie gehen nett essen, ins Kino, suchen ihre Welt. Das Credo: Uns bringt nichts auseinander. Und irgendwann klappt es — sie ziehen nach Berlin.

An jeder Ecke eine neue Welt. Gärten, Parks, wuseliges Treiben. Auf dem Dorf bekommt man abends um acht nichts mehr zu essen, hier machen die Clubs um Mitternacht erst auf. Annett und Rico erwandern sich die Stadt, immer drei S-Bahn-Stationen am Stück, beim nächsten Mal von da aus weiter. Die Menschen hier erleben sie als freier, freimütiger. Scheu, jemanden in einem schönen Moment zu küssen, hat offenbar kaum jemand. Annett und Rico heiraten. Und schwören sich: Hier bleiben wir.

Wie viele Neuanfänge braucht eine Beziehung, damit sie lange hält? Muss sie sich ausweiten, um ganz bei sich zu bleiben? Die Sprünge von Rico und Annett sind gewaltige: vom Dorf in die Stadt, von der Zweisamkeit in die Offenheit, von geheimen Gelüsten zur geteilten Lust. Jetzt also Ehe plus wilde Nächte plus Freundschaft plus. Wenn sie sich abends in ihr Ehebett kuscheln, schreiben sie ihren zusätzlichen Partnern noch eine Nachricht: