Es begann 1941 - Konstantin Dressler - E-Book

Es begann 1941 E-Book

Konstantin Dressler

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Beschreibung

Am 22. Juni 1941 entfesselt sich die Hölle: Drei Millionen deutsche Soldaten stürmen über die sowjetische Grenze. Leutnant Friedrich "Fritz" Thibaut und seine Kameraden strotzen vor Siegesgewissheit, doch der Krieg verschlägt sie nicht nach Moskau, sondern in die trostlose Weite der russischen Steppe. Jahre des entfesselten Grauens, des immerwährenden Hungers und des erbarmungslosen Kampfes erwarten sie. Nichts ist wie erhofft. Die Sommer sind feurig heiß und die Winter eisig kalt. Die Gedanken an die ferne Heimat spenden Trost und zermürben zugleich. Inmitten des Infernos von Stalingrad stehen sie nicht nur Feind und Kälte gegenüber, sondern auch ihren eigenen inneren Dämonen. Am Ende sind es 200 Meter, die über alles entscheiden sollen. Der Sinn? Verloren in den Abgründen der Menschheit.

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VORWORT

Ist das kriegsverherrlichend? Ist das zu extrem geschrieben? Sollte ich das so schreiben?

Gedanken, die mir beim Schreiben des Romans immer wieder durch den Kopf gingen und damit direkt das ganze Unterfangen in Frage gestellt haben.

Besonders der Beginn des Romans birgt viele Äußerungen und Handlungen des Protagonisten oder seiner Mitmenschen in sich, die auf den ersten Blick vermuten ließen, dass auf den folgenden Seiten nichts weiter als eine Verherrlichung des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus stattfinden wird.

Eine Befürchtung, die ebenso die Lektorin dieses Werks, Sigrid Lehmann-Wacker, zu Beginn äußerte.

Ein Teil der Exposition des Buches haben wir daher im Nachhinein entschärft. Ein großer Teil der Schilderungen ist allerdings geblieben – ganz bewusst.

Denn, wer die Menschen im Zweiten Weltkrieg verstehen will – hier insbesondere die deutschen Soldaten – der muss das heutige Allwissen über diese Zeit ausblenden, sich auf eine Zeitreise, eine Gedankenwelt, einlassen, die mit unseren heutigen Werte- und Moralvorstellungen nicht kompatibel ist, aus der Sicht eines Individuums vor 82 Jahren jedoch nachvollziehbar wird.

Diese Erzählung soll demnach kein Blatt vor den Mund nehmen, auch, wenn Passagen befremdlich oder abstoßend wirken.

Ich bin davon überzeugt, dass wir historische Geschichten mit nahezu 100-prozentiger historischer Authentizität erzählen können, ohne dabei Abstriche im Spannungsbogen zu machen. Eine Herangehensweise in der Unterhaltungsindustrie, die ich persönlich in Film, Fernsehen und Büchern sehr vermisse. Das Leben schreibt immer noch die besten Geschichten, die wir im Nachhinein nicht mit unnötigem Epos oder Hollywood-Prunk verunstalten sollten

Nach diesem Grundsatz schreibe ich. Diesem einfachen Gedanken folgt diese Erzählung, in ihrer Unverblümtheit, Rohheit, ihrem Anspruch zu unterhalten und zeitgleich ein Werk der Aufklärung und Wissensvermittlung zu sein.

Allein zwei Jahre Recherche sollen sich allerdings nicht nur in Daten und Standorten wiederfinden, von denen dieses Buch lebt, sondern auch in den persönlichen Erfahrungen der Figuren, die teils auf wahren Begebenheiten beruhen.

Angefangen bei dem Protagonisten Friedrich Thibaut, der den Namen meines Urgroßvaters trägt, welcher als Leutnant der Reserve für die Wehrmacht in den Krieg nach Russland und Kroatien zog. Ein Mann, der schließlich in Deutschland bei den Amerikanern in Kriegsgefangenschaft geriet. Von ihm bleiben zehn Seiten Tagebuch über seine Erlebnisse in der Gefangenschaft, ansonsten nur das beständige Schweigen über die Ereignisse ab 1939.

Aber auch andere ungehörte Geschichten finden in diesem Werk ihren Platz. Es sind Zeitzeugenerzählungen von Kriegskindern oder deren Familienmitgliedern aus dem persönlichen Umfeld meines Großvaters. Teilweise wirken sie so fantastisch, dass man diese gar nicht als echt erkennen mag.

Für mich persönlich fühlte es sich immer so an, als gebe es nicht genug fiktive Geschichten über den Zweiten Weltkrieg, die die Sicht der deutschen Seite darstellten oder zumindest, aus historischer Sicht, nicht authentisch und differenziert genug. Dies mag vielleicht nur meine persönliche Auffassung sein. Trotzdem waren sie und die kurzen Erfahrungsberichte der Zeitzeugen schließlich der ausschlaggebende Punkt, diese Geschichte zu schreiben. Eine, die die Seite des Aggressors portraitiert. Dabei sollen die Fehler und Vorkommnisse der Vergangenheit jedoch nicht relativiert, verherrlicht oder umgeschrieben werden.

Im Gegenteil, neben der Unterhaltung soll das Werk die Abgründe der Menschheit, sowie im selben Zuge die Teilnehmenden als Individuen mit eigenen Köpfen zeigen, aufklären und insbesondere die Echtheit wahren.

Allerdings sollte nicht der Fehler gemacht werden, dieses Buch als Erfahrungsbericht abzustempeln.

Es ist eine historisch authentische Geschichte mit wahrem Kern, die stellvertretend für die Erfahrungen der Person Friedrich Thibaut und darüber hinaus allen Soldaten im Zweiten Weltkrieg steht und die Erinnerung an die Geschehnisse wahren soll.

Bevor ich hier nun einen Punkt hinter die Erklärungen zum Buch und dessen Entstehung setze, will ich noch meiner Familie und Freunden danken, die mich während der Entstehung begleitet und unterstützt haben. Sie mussten sich immer wieder einzelne Passagen anhören, waren ungefragt einen Faktenhagel bezüglich des Zweiten Weltkriegs ausgesetzt und wurden im Zuge des Schreibens und Recherchierens versetzt.

Der innigste Dank gilt allerdings meinem größten Unterstützer und Befürworter, meinem Großvater Kuno, der die treibende Kraft hinter der Publikation dieses historischen Romans ist.

INHALT

I. Prolog

II. Das Jahr 1941

Frühling 1941

Sommer 1941

Herbst 1941

Winter 1941

III. Das Jahr 1942

Winter 1942

Frühling 1942

Sommer 1942

Herbst 1942

Winter 1942

IV. Das Jahr 1943

Winter 1943

Frühling 1943

V. Epilog

I. PROLOG

Der Mann stapfte durch den tiefen Schnee. Der dicke Mantel, überzogen mit Eis und Frost. Das Wachs der kleinen Kerze, welche er in der Hand hielt, bahnte sich schon seinen Weg durch den Stoff des dünnen Handschuhs und brannte sich in seine Hand. Die Flamme flackerte wild im eisigen Sturm, bald schon sollte sie erlöschen und der Mann leblos in das kalte Weiß fallen.

Neben dem Leichnam lag ein kleines ledernes Bündel, ein Buch. Was auch immer sein Inhalt war, es sollte von Schnee und Eis verschluckt werden, sodass als Letztes noch der Ledereinband seinen Weg in den Frühling finden sollte, um dann von Maden und Würmern zerfressen zu werden. Wäre einige Minuten später nicht dieser eine Wanderer gewesen.

Er quälte sich durch das eisige Treiben bis hin zum regungslosen Körper, um letztendlich den Tod festzustellen. Das Büchlein jedoch nahm er auf und setzte seinen beschwerlichen Weg in Richtung des abgelegenen Landhofes fort, dessen Lichter schwach in dunkler Ferne schimmerten.

Das Wohnhaus erreicht, fiel er erschöpft durch die Tür. Mit Mühe streifte er sich den Wintermantel und die dicken Stiefel ab. Der Schnee rieselte von ihnen nieder und schmolz, aufgrund der Wärme, zu einer Pfütze im Eingangsbereich.

Dann eilte der Unbekannte über den warmen Teppichboden hinüber zum, von Sesseln umringten, Kamin, um sich am Feuer zu wärmen.

Die Zeit verging und fast hätte er es vergessen, hätte ihn sein Blick nicht auf den einfachen Einband gelenkt. So hob er das Büchlein auf. Für einen ersten Eindruck begann er geschwind damit, die ersten Seiten aus vergilbtem Papier zu überfliegen.

Der Blick des Mannes flog geschwind über das Geschriebene, von Wort zu Wort, von Satz zu Satz, Seite zu Seite. Und, je mehr die Anzahl dieser Seiten stieg, desto strenger kniff er die Augen zusammen. Die Brauen neigten sich. Die Stirn warf Falten. Seine Miene, voll Finsternis und Unverständnis.

Was musste er da lesen?

Seiten voll Euphorie, Kriegslust, Überheblichkeit, das Zeugnis von einem eitlen, heroischen Selbstverständnis des Deutschtums, welches er nach den Jahren des Krieges so satt hatte.

Und, alsbald der nächste Satz schon mit den Worten: „Wir wussten, dass wir gut waren, die Besten der Welt …“, begann, schleuderte er das Büchlein in seiner Hand angewidert zu Boden.

Er schnaubte empört. Sein Herz raste und der Kopf dröhnte von den naiven Worten auf dem Papier, die sich auf der einen Seite gar nicht, auf der anderen doch irgendwie mit den Erfahrungen, die er selbst gemacht hatte, glichen.

Kopfschüttelnd schloss er die Augen, während seine Finger einige Male unkontrolliert verkrampften und sich wieder entspannten.

Nachdem er diese wieder geöffnet hatte, beugte er sich hinunter zum Buch. Er war im Begriff, den geistigen Schund, der darin niedergeschrieben worden war, den Flammen seines Kamins zu übergeben. Doch dann passierte die überraschende Wende.

Durch den Aufprall auf den Boden war das Werk so beschädigt worden, dass einzelne Seiten umgeknickt waren oder sich ganz aus der Bindung gelöst hatten.

Was auf ihnen geschrieben stand, ließ den Finder aufhorchen. Die Zeilen, die sich nun hervortaten, fesselten ihn – hatte er damit doch gar nicht gerechnet!

So hob er das Büchlein auf und legte es, wieder in seinen Schoß.

Erneut begann er, die vergilbten Seiten zu lesen. Dieses Mal jedoch voller Aufmerksamkeit, vom Anfang bis zum Ende. Und, was er dort vorfand, eröffnete ihn ganze Welten. Welten, die er selbst niemals in diesen Worten hätte ausdrücken können, die ihn berührten und zutiefst nachdenklich machten. Textpassagen, bei denen er sich gewünscht hätte, sie wären nur erfundene Geschichten. Wie grausame Märchen, die man seinen Kindern erzählt, um sie zu warnen. Doch in seinem tiefsten Inneren wusste er, der Schreiber dieses Tagebuchs hatte nichts weniger als die schreckliche Wahrheit zu Papier gebracht.

II. DAS JAHR

1941

FRÜHLING 1941

19. Mai 1941

[Wald, Heroldsberg; Deutsches Reich]

Ich werde versuchen, dieses Büchlein so gut, ausführlich und konstant wie möglich zu füllen, sowie ich Gespräche in detaillierten Dialogen wiedergeben werde. Doch dies hier ist kein Tagebuch, es soll eher ein Bericht meiner Erlebnisse sein, ja, fast schon eine Biographie; oder Memoiren, wie sie Napoleon schrieb. Ja, so werde ich das hier nennen, Memoiren.

20. Mai 1941

[Wald, Heroldsberg]

Das Deutsche Reich, es scheint mir schöner als je zuvor. Die Fahne, sie wird stolz präsentiert und unsere Helden gefeiert. Die Jugend lernt die Geschichten von deutschem Mut und deutscher Ehre, die Kameradschaft ist stärker, als sie jemals war.

Die Wirtschaft ist auf dem Höhepunkt des letzten Jahrhunderts, wie auch die Technologie.

Unsere Panzer sind die schnellsten und wendigsten der Welt.

Das Ende des Weltkrieges wäre fast vergessen, als sei es nur noch eine Geschichte, ein schauriges Märchen vergangener Tage, das man seinen Kindern erzählt, wenn die Politik – wohlgemerkt mit Recht – nicht stetig an die ungeheure Ungerechtigkeit, die unserem Volk widerfuhr, erinnerte. Eine Pickelhaube im Gedenken an meinen Vater, der im Elsass einen kläglichen Tod gestorben ist, ziert immer noch den Nachttisch meiner Mutter.

Der Versailler Vertrag, unter dem wir lange zu schuften hatten, zu Unrecht, war nichts weiter als eine Schmach. Der Deutsche ist schuldig, auf der ganzen Welt! Nicht der Serbe oder der Österreicher, die uns in dieses Unglück stürzten. Die ausländische Presse, sie hetzten, sie witzelten, sie wollten uns klein halten, erniedrigen. Es hieß, eine Schande sei es, Deutscher zu sein. Es hieß, wir seien nichts weiter als machtbesessene Bestien.

Doch dann kam der Führer – man kann von ihm halten, was man will – doch er verschaffte uns Arbeitsplätze, eine Struktur, neuen Stolz. Er forderte von den Versailler Kröten unsere, zu Unrecht, von Polen, Tschechen und Franzosen besetzten Territorien wieder ein.

Sie nahmen uns nicht ernst.

Nun haben wir sie uns genommen.

Weder der Pole, noch der Tscheche, waren eine Bedrohung. Nicht einmal das übermächtige Frankreich, das Land meiner Urgroßmutter.

Sie sind alle verstummt.

21. Mai 1941

[Wald, Heroldsberg]

Heroldsberg, nahe Nürnberg, meine geliebte Heimat. Gerne erinnere ich mich an die Zeit nach dem Schulabschluss zurück, in der ich für ein paar Wochen auf Teneriffa lebte und einem deutschen Kaufmann assistierte. Fotos zeugen von meinen Reisen, doch zuhause ist es am schönsten.

Diese Ruhe, das Rauschen der Wälder im kühlen Morgenwind. Gerne streife ich hier durch das Dickicht, über Moos und Lichtungen vorbei an das kleine Bächlein. Die aufgehende Sonne scheint mir entgegen, immer begleitet von dem Gesang der Vögel. Ich bin hier stets alleine, manchmal auch mit Ilona an meiner Seite. Nicht selten fangen wir dann Flusskrebse zum Abendbrot.

Ilona ist mir, seit ich in Polen war, eine treue Gefährtin.

Ich rettete sie damals aus einem brennenden Haus in Warschau. Mein ehemaliger Leutnant hatte erst etwas dagegen, sie mitzunehmen, fand dann schließlich jedoch auch, dass sie den Trupp auf ihre Weise bei Laune halten könnte. Auch in anderen Situationen hatte sie sich stets als nützlich erwiesen.

Momentan hilft sie meiner Mutter auf dem Hof. Sie passt auf, dass uns der Fuchs nicht die Hühner holt, treibt das Vieh auf der Weide zusammen und trägt kleinere Lasten von einem Ort zum anderen.

Ilona ist der beste Vierbeiner, den ich je gesehen habe. Ein wunderschöner und kluger Bracke mit braun-schwarzem Fell.

22. Mai 1941

[Hof, Heroldsberg]

Der Tag gestern war schön. Fast zu schön, um wahr zu sein.

Heute hingegen bringt er eine Mischung aus Trauer und Euphorie mit sich. Es war die Diagnose Bewegungsunfähigkeit nach Durchschuss im linken Oberschenkel gewesen, die mir einen Monat Feldlazarett, gefesselt an Bett und Rollstuhl, sowie anschließend einen sechswöchigen Genesungsurlaub, anfänglich noch auf Krücken, beschert hatte. Doch auch mein Urlaub ist jetzt vorüber und der Einzugsbefehl greift. Ilona wird mich wieder begleiten.

Es war früher Nachmittag und ich saß auf der Bank hinterm Haus, ließ meinen Blick noch einmal über die saftig grünen Felder schweifen, hinüber nach Kalchreuth. Kalchreuth, der Ort mit den Kirschbäumen, um die wir in jungen Jahren immer getanzt haben, wenn sie Anfang Mai in voller Blüte erstrahlten.

Noch immer erfüllt die Erinnerung an ihren Duft meine Nase. Ich weiß nicht, was mich nun erwartet oder, ob ich wieder nach Hause zurückkehren werde. Ich meine nicht, dass es keine Ehre wäre, für sein Vaterland zu sterben, doch ist mir das Leben mit meiner Mutter, Freunden, mit unseren Tieren, der gewöhnlichen Arbeit und natürlich den Verwandten, die mir dabei zur Seite stehen, auch lieb.

So wartete ich also, nach meiner Verabschiedung, an der Einfahrt zu unserem Hof, auf meinen Kameraden, Schröder, der mich dort gegen Mittag abholen sollte. Ursprünglich war er nur beauftragt, mein Gepäck mitzunehmen, doch ebenso wie dieses musste auch ich meinen Weg nach Berlin finden. So hatte es sich ergeben, dass er mich, der Einfachheit wegen, ebenso einstiegen ließ.

„Wie immer zu spät, knapp zwanzig Minuten.“, lachte ich, als er endlich in einem neuen Kübelwagen mit zurückgeklapptem Dach vorfuhr.

„Auch schön, dich zu sehen, Fritz!“, erwiderte er. „Fritz“ war die Abkürzung für meinen Namen, Friedrich. „Oder sollte ich sagen, Leutnant Thibaut? Wie kann man nur auf die Idee kommen, einen wie dich zum Offizier zu machen? Hast nicht mal einen deutschen Namen!“, stichelte er.

„Wenn du dich besser an Zeitpläne halten würdest, könntest du jetzt auch hier stehen!“

Sein Blick war vorwurfsvoll, doch belustigt zugleich.

„Pünktlichkeit, eine der deutschen Tugenden, mein Freund!“

Ich klopfte ihm auf die Schulter. Ich warf meinen Koffer in das Fahrzeug, ließ Ilona auf die Rückbank springen und setzte mich auf den Beifahrersitz.

Er trat auf das Gaspedal. Die Räder griffen.

„Seien sie froh, Stabsunteroffizier Schröder. Sie sind jetzt mein persönlicher Chauffeur!“

Wir beide lachten.

Schröder und ich waren seit Beginn des Krieges zusammen in einer Kompanie gewesen. Unser Dasein als Soldaten hatten wir beide als Gefreite in der Infanterie begonnen. Kanonenfutter waren wir, wie eh und je.

Ein Stück weit fuhren wir der untergehenden Sonne entgegen. Sie tränkte die Straßen meines beschaulichen Heimatörtchens in warmes Gold und verlieh dem feierabendlichen Treiben etwas Besinnliches. Mein Blick fiel auf eine Gruppe hübscher und fröhlich tuschelnder Mädchen am Straßenrand. Ich gab mir alle Mühe, nicht zu offensichtlich zu schauen. Zwei von ihnen kannte ich durch meine Freunde. Die Reifen rollten vom Kopfsteinpflaster auf einen Feldweg. Schließlich schlugen wir die Richtung zur Bahnstation in Nürnberg ein. Von dort aus würde uns ein Zug direkt nach Berlin bringen, wo wir uns sammeln sollten, bis man schließlich weitere Befehle erteilen würde.

01. Juni 1941

[Warschau, Polen]

Die vergangene Woche über stationierte man uns in einer Wehrmachtskaserne der Hauptstadt, Berlin. Dort war nicht viel geschehen – Aufmarschieren, Treffen mit Vorgesetzten, Wiedervereinigung mit der Truppe, Urlaubsberichte der Männer, Überprüfung von Einsatz-Tauglichkeiten. Dazu Reparaturen von Fahrzeugen und sonstiger Ausrüstung. Nur die Besichtigung der Hauptstadt versetzte mich in Staunen. Die vielen Menschen und die altehrwürdigen Gebäude, die vielen Fahrzeuge und die Geräuschkulisse – es ließ sich mit nichts vergleichen! Obwohl ich schon Einiges gesehen habe, zieht mich diese Stadt mit jedem Besuch wieder in ihren Bann.

Trotzdem, erst der heutige Tag bot wirklich wieder Abwechslung, denn der angekündigte Marschbefehl in Richtung der Felder nördlich von Brest, im von uns besetzten Polen, greift. Dort sollen wir uns mit anderen Armeen treffen und Großübungen veranstalten.

Fast zehn Stunden Fahrt ist es jetzt her, seitdem wir in aller Herrgottsfrühe in Berlin aufgebrochen sind. Es ist schwer, auf den holprigen Landstraßen zu schreiben und wir sind müde, doch die Reise muss weitergehen. Ein Teil der Männer schläft. Es ist mühsam, den wachen Rest bei Laune zu halten. Keiner versteht, warum eine solch schwierige Reise für Schießübungen nötig ist. Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich es auch nicht. Wenigstens können wir uns als motorisierte Infanterie fahren lassen und müssen den ganzen kläglichen Weg nicht laufen. Ich bin auch dankbar dafür, dass die polnische Bevölkerung sich bisher gut gemacht hat – keine Aufstände, keine demolierten Schienen – der Zug rollt.

02. Juni 1941

[Felder bei Konstantynów]

Der Generalstab machte gestern Abend noch kurz vor der Stadt Brest halt. Das schürte in mir den Gedanken, dass wir nun vielleicht mit den Sowjets gemeinsame Sache machen. Vielleicht zusammen gegen die Engländer? Immerhin hatten wir uns mit ihnen Polen geteilt und Brest, noch zum Russen gehörend, lag direkt an der Grenze von uns zu ihnen. Wobei ich der Meinung bin, dass wir Polen mit Sicherheit auch ohne die Roten geschafft hätten.

Wie ursprünglich geplant, sollte meine Kompanie ab Warschau die Bahn gegen Lastkraftfahrzeuge eintauschen. Von dort aus steuern wir unser Ziel, Konstantynów, ein Dorf nord-westlich von Brest an. Einer der vielen auserkorenen militärischen Sammlungsorte, nahe am deutsch-sowjetischen Grenzfluss, der Bug.

Da sich gerade auf den Wegen von Warschau nach Konstantynów in der letzten Zeit wieder polnische Unruhestifter umtrieben, beauftragte man kurzerhand uns, als Vorhut, diesen auf den Zahn zu fühlen. Denn, anders als der Großteil der deutschen Truppenverbände, würde sich unsere Ankunft an dem Sammlungsort nicht verspäten.

Noch in Warschau bedeutete die Gesamtverzögerung der Truppenverschiebungen für uns demnach nur etwas mehr Freizeit am gestrigen Abend und eine längere Nachtruhe, welche Vorhersehung oder einfach nur ein glücklicher Zufall war, denke ich.

Die zusätzliche Ration Schlaf machte sich schon bald bezahlt, denn schon einige Kilometer nach erneutem Aufbruch aus dem Lager in Warschau lagen wir hinter unseren Fahrzeugen. Die Kugeln zogen über unseren Köpfen hinweg. Wir erfuhren das Risiko der Vorhut, denn tatsächlich hatten uns besagte polnische Partisanen aufgelauert.

Sie griffen aus einem kleinen Waldstück an und nahmen uns ins Kreuzfeuer.

Schröder ging als Erster zu Boden, eine Kugel sprengte durch die Windschutzscheibe und traf ihn in der Nähe des Herzens.

„Partisanen!“, schrie ich, während ich mich aus dem Auto in den Dreck warf. Der plötzliche und heftige Angriff sorgte für allerlei Verwirrung.

„Feuer erwidern!“, grölte ich.

„Ihr habt ihn gehört!“, rief der Stabsfeldwebel und kurz darauf hörte ich unsere Maschinengewehre in das Wäldchen donnern. Pflanzen, Barrikaden und alles, was dort ansonsten stand und lebte, wurde niedergemäht. Ein kaum spürbares Zucken durchfuhr meinen linken Oberschenkel, der sich nach der Verletzung auch nun noch einmal einsatzbereit meldete. Meine Ohren brauchten kurz, um sich nach langer Zeit wieder an die Lautstärke des Gefechts zu gewöhnen. Und, auch der Geruch des Schießpulvers musste mir erst einmal wieder unerwartet ungewohnt in der Nase kitzeln, damit ich realisierte, dass ich wieder zurück war.

So schnell und heftig, wie das Feuer auf uns eröffnet worden war, verschwand es auch wieder. Als unsere Männer aufhörten, war es ruhig. Diese mutmaßlichen Bauern, die sich dort im Unterholz zusammengekauert hatten, hatten unserer Macht nichts ent gegen zu setzen. Meine zweite Feuertaufe, sozusagen, überstanden, stand ich, nun völlig rehabilitiert, auf und richtete meine Mütze: „Diertel, Polanski, Bartaloh, nehmen Sie Ihre Männer und folgen Sie mir! Holen wir diese Ratten aus ihren Nestern! Der Rest kümmert sich um die Gefallenen!“

Ich nahm einen Sanitäter zur Seite. „Fangen Sie mit dem an!“, befahl ich ihm und zeigte auf Schröder, der mit Schnappatmung am Boden lag.

Mit den Männern durchkämmte ich das Dickicht des Waldes. Wir stiegen über stöhnende Verwundete und Gefallene hinweg, waren dabei gefühllos. Meine Augen waren auf den Boden fixiert. Die Hand eines Besiegten packte schwach an einen meiner Stiefel. Ich schüttelte sie ab und setzte meinen Weg fort.

„Wer im Krieg Reue zeigt, wird der Nächste sein, der fällt“, so hatte man es uns während der Ausbildung eingetrichtert.

Ein paar Schritte hinter mir lief Bartaloh. Ich hörte ihn sein Gewehr durchladen, ich drehte mich um: „Nicht schießen, Bartaloh, warten Sie noch kurz!“

Ich vergrößerte den Abstand zwischen uns, dann schaute ich erneut zurück. Wo mich gerade noch die Hand gepackt hatte, zielte der Unteroffizier Bartaloh mit seinem Karabiner auf den überwucherten Waldboden vor sich und entließ aus dessen Lauf eine Kugel.

„Und weiter!“, rief ich.

Bald ertönten dumpfe Laute verzweifelter Aufständischer in unmittelbarer Nähe.

Mit einem Handzeichen signalisierte ich meinen Männern, in Deckung zu gehen.

„Feind gesichtet!“, flüsterte ich.

Auf einer kleinen Lichtung verschwanden noch ein paar Feinde durch eine in den Boden gelassene hölzerne Luke im Erdreich.

„Umstellen!“

„Jawohl!“, kam zurück.

Das Gewehr auf Anschlag, kniete ich mich hin, die Luke zu öffnen und den ersten Schritt in das unterirdische Nest zu setzen.

„Herr Leutnant“, Polanski kam auf mich zu, „es wäre mir eine Ehre, das zu erledigen.“

Als jemand, dessen Vorfahren schon seit Generationen in Preußen lebten, sah es Polanski als seine Pflicht, seine geliebte Heimatregion von diesen polnischen Belagerern, wie sie uns erschienen, zu befreien.

„Nun gut.“, sagte ich und machte ihm Platz.

Er öffnete die Luke und ein Kugelhagel sprang ihm entgegen. Die Luke fiel zu und Polanskis Helm flog, umgeben von einem Schwall von Blut und Blei, von seinem Kopf. Er selbst blieb im warmen grünen Gras liegen, sodass er sich nicht mehr regte.

„Scheiße!“, stieß ich aus und fasste den Entschluss. „Diertel, ausräuchern!“

Die Luke wurde einen Spalt breit geöffnet, Diertel kam, zog den Stift aus seiner Stielhandgranate Typ 24 und schmiss sie mit den Worten: „Grüße vom Führer!“ in den Abgrund.

Eine große Explosion ertönte unter unseren Füßen, dann mehrere kleine und ein gewaltiges Donnern, dann kehrte Ruhe ein.

Ein Soldat öffnete die hölzerne Luke und Rauchschwaden zogen aus ihr hinaus. Als sich der Rauch größtenteils verzogen hatte, sah ich eine verzweifelte Gestalt die Leiter erklimmen, schwarz von Asche und Staub. Ich nahm meine Pistole und schoss einmal, zweimal, dann fiel sie zurück von der Leiter, in den uns unbekannten Abgrund.

Schweigen.

„Und ein weiterer trauriger Tag für die Polen.“, sagte jemand.

„Und für unsere Gefallenen.“, hängte ich an. Dann gingen wir wieder zu unseren Fahrzeugen und setzten unseren Weg nach Konstantynów, wo wir nun unser Hauptlager erreicht hatten, fort.

03. Juni 1941

[Felder bei Konstantynów]

Tage wie der gestrige nagen an Verstand und Gewissen, sie fressen einen Mann auf. Das ist der Grund, warum andere und auch ich schreiben. Es ist ein Ventil, durch das der Soldat erlöst wird, die Verarbeitung von Gefühlen, Gedanken, Geschehnissen. Mühselig, aber hilfreich. Es hilft dabei, nicht verrückt zu werden, jedenfalls vorerst.

Es wird nicht aufhören wehzutun, wenn Kameraden fallen, doch mit der Zeit stumpfen wir ab. Wenn ich meine anfänglichen Berichte aus Frankreich mit den heutigen vergleiche, so muss ich mit Entsetzen feststellen, dass sie immer ehrlicher werden. Schrieb ich anfangs noch wenige Details in meine Büchlein, so schreibe ich heute alles, was ich erlebe. Gutes wie Schlechtes, Großes wie Kleines, es geht mir einfach nicht mehr so nah.

04. Juni 1941

[Felder bei Konstantynów]

Vorhin erreichte mich eine erschütternde Nachricht. Schröder, welcher vor zwei Tagen im polnischen Wald durch verräterische Kugeln zu Boden ging, hat es nicht geschafft. Man hatte es noch vollbracht, ihn zu stabilisieren und bis nach Warschau zu bringen. Aber bei dem Versuch, ihm die Kugel zu entfernen, ist er an seinen inneren Blutungen verstorben.

Ich muss jetzt seiner Familie und einen Bericht für den Hauptmann schreiben, dann werde ich um einen Freund und Kameraden trauern.

07. Juni 1941

[Felder bei Konstantynów]

Gestern erhielt ich einen Anruf.

Vor gut einem Jahr hatten wir mit dem Krieg gegen Frankreich, dem Westfeldzug, begonnen. Damals agierten wir noch in Regionaltrupps. Männer aus einem Ort kämpften tapfer Seite an Seite, viele Freunde und bekannte Gesichter sah man Tag und Nacht um sich herum. Gesichter, die einen das Gefühl von Sicherheit und etwas Vertrautem gaben, bis sich unsere Wege langsam wieder trennten.

Der Anruf, der bei mir einging, sprach genau das an. Die Wehrmachtsführung hatte beschlossen, diese Trupps teils wieder aufleben zu lassen.

Ungeduldig wie ein kleines Kind wartete ich am heutigen Nachmittag auf der Wiese vor der Kommandohütte, aus der ich zuvor getreten war, inmitten eines Meers aus Zelten, Männern, Tieren, Fahrzeugen und Waffen. Im saftig grünen Gras hatten sie ihre Spuren hinterlassen. Der Himmel strahlte blau. Die Sonne schien sommerlich und wärmte angenehm die Erde. Es roch herrlich nach einem Gemisch aus Gekochtem, Abgasen, Pferdeäpfeln und Pfeifentabak. Irgendwo klirrte Besteck, von woanders erklang Gelächter, ein Motor oder Tiergeräusche. Eine wundervolle Lagerstimmung hatte sich auf den Feldern bei Konstantynów breit gemacht.

Zwei der zahlreichen Truppentransporter steuerten auf mich zu und hielten in einiger Entfernung. Ilona, die neben mir im Grün lag, knurrte.

„Absteigen!“, ertönte es.

Von den Ladeflächen sprang eine ganze Schar Uniformierter. Ein paar Männer lösten sich aus der Gruppe. In Marschreihe stolzierten sie zu mir hinüber. Meine Miene verfinsterte sich.

„Leutnant Thibaut? Unteroffizier Albrecht Allers, ich werde sie von nun an im Kampf um das Überleben unseres Volkes unterstützen!“ Der Soldat schlug die Hacken zusammen und salutierte.

Ich schaute ihn ernst an.

Er fuhr fort: „Mit mir die Gefreiten, Viktor Koch, Willy Schmidt, Ludwig Köhler, Heinrich Schieber und Erich Schäfer!“

„Vortreten!“, befahl ich.

Ich starrte die paar Männer vor mir an.

„Um das Überleben unseres Volkes“, äffte ich den geschwollenen Satz meines neuen Unteroffiziers schließlich nach.

„Du musst es wissen, lieber Vetter.“, entgegnete dieser belustigt.

„Immer noch derselbe wie vorher.“

Ich lachte und nahm die Mütze vom Kopf: „Gut, euch wieder zu sehen, Freunde.“ Die Männer traten freudig an mich heran, ihre Begrüßungen waren herzlich und warm. Selbst nach dieser aufbrausenden Zeit, die wir erlebt und nach der ganzen Zeit, die wir uns nicht gesehen hatten ohne zu wissen, wer lebte und wer gefallen war, waren wir uns nicht fremd geworden. Seit der Kindheit waren wir unzertrennlich gewesen. Ich hätte mir keine besseren Kameraden vorstellen können. Wir waren durch dick und dünn gegangen, durch Schnee und Regen. Die erste große Liebe, die Schulzeit. Wir standen geschlossen, als es darum ging, aufsässigen Kindern von durchreisenden Urlaubern, welche ab und an unser schönes Städtchen aufsuchten, die Leviten zu lesen. Wir hatten das Bedürfnis, zusammenzuhalten, komme, was solle.

„Nun gut, lasst mich euch eure Unterkünfte zeigen.“

Unterkünfte war übertrieben, es waren einfache Zelte.

„Ich habe gehört, du hattest Urlaub?“, fragte Albrecht.

„Ja.“, bestätigte ich und fing an zu erzählen.

Der Tag verstrich. Die Neuankömmlinge richteten sich ein und erkundeten die Lagerstadt.

Für den frühen Abend hatte ich die Freunde in mein groß ausfallendes Zelt eingeladen. Die Eingangsplane wurde zur Seite gezogen.

„Leutnant Thibaut!“, sagte Albrecht neckisch mit gespielter Überraschung als er hereinkam, dicht gefolgt von den anderen.

„Ränge spielen heute Abend keine Rolle.“, entgegnete ich und wies sie mit einer Geste zu den Bänken, die ich hatte bereitstellen lassen.

„Wer ist denn eigentlich deine Gefährtin dort?“, eröffnete Viktor Koch das Gespräch und schaute auf Ilona, die es sich auf meinem Bett gemütlich gemacht hatte und die Gäste neugierig anstarrte.

„Das ist Ilona,“, antwortete ich, „ich habe sie aus Warschau mitgenommen. Nette Geschichte.“

„Hoffentlich nicht so unpraktisch wie dein letzter Köter.“, meinte Ludwig Köhler, der sich damit an Viktor richtete.

Wir schmunzelten.

Ludwig hatte nicht zwingend etwas gegen Hunde, er fand sie nur, nun, sagen wir, unnütz, anstrengend und nervig. Solange sie nicht ununterbrochen kläfften oder ihn bei seiner Arbeit störten, war ihm die Gesellschaft eines dieser Tiere weitestgehend gleichgültig.

Ich machte den polnischen Schnaps auf, auf den ich mich schon den ganzen Tag gefreut hatte, und zog die Tücher von den Tellern, auf denen Schinken, Brot und Eier lagen. „Wurde bei der letzten Aktion gegen polnischen Widerstand beschlagnahmt!“, erläuterte ich.

So saßen wir da, erzählten, lachten, tranken und aßen ein paar Stunden. Der Rauch der Zigaretten zog in Schwaden aus dem Zelt und verflüchtigte sich schließlich in der kühlen Nachtluft, als die Freunde dieses verließen.

09. Juni 1941

[Felder bei Konstantynów]

„Aufstehen und fertig machen! In zwanzig Minuten auf dem Sammelplatz vor den Zelten. Das ist noch großzügig!“, lautete mein Weckruf am heutigen Morgen.

Als sich meine Männer auf dem Platz gesammelt hatten, klärte ich sie auf: „Kameraden, wir haben Informationen erhalten. Ein Bauerndorf in der Nähe scheint polnische Widerstandskämpfer mit Vorräten und Waffen zu versorgen. Unser Sicherheitsdienst konnte die Aktionen des Feindes auswerten und so feste Daten und Uhrzeiten festlegen, an denen die krummen Geschäfte vor sich gehen. Heute ist einer dieser Tage. Deshalb werden wir diesem Gesindel für heute und endgültig Einhalt gebieten. Weil wir aber möglichst lange unerkannt bleiben sollten, werden wir auf unsere Fahrzeuge verzichten!“

Es zeichneten sich Fragezeichen in den Gesichtern der Männer ab. Die Polenhäuser waren immerhin einige Kilometer entfernt, und keiner hatte sonderlich Lust, in der Hitze zu marschieren.

Ich brachte Ilona zu einem zuständigen Posten im Lager, dann bemannten wir, zum Überraschen aller, ein paar mit Pferden bespannte Planwagen und setzten uns in Bewegung.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Auf halber Strecke verhängte ich ein Schweigegebot. Die Wege, auf denen wir uns fortbewegten, waren gut begangen. Mögliche Passanten sollten kein Wort Deutsch hören, denn niemand wusste, wer Feind und Freund war und ich hatte nicht vor, früher als nötig aufzufallen. So machte mich das Stillschweigen zusammen mit dem Getrampel der Hufe auf dem unebenen Grund und der Hitze, die sich unter der Plane staute, bald schon schläfrig.

Ein Glück, dass mich das abrupte Halten der Wagen aus meinem Gedöse rüttelte, als wir den Zielort fast erreicht hatten. Lediglich ein kleiner Hügel trennte uns noch von diesem. Hinter jenem Sichtschutz wies ich meine Männer an, abzusatteln. Die paar Bauern, die sich gerade auf dem Wegstück befanden, schauten nicht schlecht, als aus den verdeckten Aufbauten der kleinen Wagenkolonne eine schlagkräftige Truppe deutscher Soldaten sprang.

Wir stoppten sie und nagelten die Polen an Ort und Stelle fest. Ich griff mir ein altes Väterchen. Willy Schmidt und ich nahmen ihn bei Seite:

„Wir suchen Partisanen. Wo sind sie? Sind sie schon bei den Häusern?“

Der Alte gestikulierte nur in unterwürfiger Verängstigung.

„Schmidt!“, zischte ich, welcher sich an der polnischen und noch mehr an der russischen Sprache versuchte und anfing, meine Fragen für den Mann zu wiederholen, während ich aus den Augenwinkeln die Umgebung musterte.

Wir kamen zu der Erkenntnis, dass wir noch einige Zeit hier warten müssten, ehe unser Eingriff erfolgen könnte.

„Gut.“, beendete ich kühl das Gespräch, „Bedanke dich bei ihm und schick ihn rüber zu den anderen Leuten. Keiner geht, bevor wir nicht das getan haben, weshalb wir hier sind!“, befehligte ich Willy rasch.

Ich stationierte Unteroffizier Bartaloh auf dem Hügel, der uns noch von den Häusern trennte. Von der Kuppe aus beobachtete er die paar Häuser durch ein Fernglas. Manchmal schickte er uns einen ihm zugeteilten Meldegänger, der uns über die Vorgänge und Vorbereitungen am Zielort unterrichtete.

Der Rest von uns saß in der schwülen Hitze bei den Wagen. Vom Morgen an dauerte es den ganzen Vormittag bis sich etwas tat. Mit den weiteren Unteroffizieren plante ich währenddessen immer wieder unsere Vorgehensweise.

Das Warten störte vor allem den Freund Heinrich Schieber, der am liebsten direkt mit seinem Gewehr über den besagten Hügel gestürzt wäre. Doch wir konnten ihn eines Besseren belehren.

Am Nachmittag, war es dann endlich soweit.

Der Meldegänger kam: „Leutnant, es wird nicht mehr lange dauern!“

Wir machten uns kampfbereit.

Wir erklommen die Hügel.

„Sie sind in der Scheune verschwunden!“, unterrichtete er mich.

„Gute Arbeit.“, lobte ich.

Ich richtete mich an die anderen: „Also, ich habe nicht vor, heute irgendjemanden fallen zu sehen!“

Mit einem ernsten Nicken schaute ich in die Runde, dann standen wir auf und huschten über die abfallende Wiese hinüber zu den Häusern, wo wir uns zunächst an die ersten Hausfassaden pressten.

Auf der anderen Seite befand sich eine freie Fläche, das Herzstück der kleinen Gemeinschaft. In der Mitte dieser lag die erspähte Scheune, in der die unerlaubten Machenschaften vollzogen wurden.

Ich gab weitere Anweisungen an meine Unteroffiziere: „Scheune umstellen. Es gibt zwei große Tore. Allers, Sie öffnen umgehend das nördliche Tor, ich übernehme das südliche! Bartaloh, Sie achten auf die kleine Tür an der Seite, die auf den Platz führt. Sie haben Feuererlaubnis!“

Wir mobilisierten unsere Männer.

Laut preschten wir zwischen den Häusern hindurch, auf den staubigen Platz hinüber zur Scheune. Die Stiefel donnerten. Einige überraschte Bewohner erstarrten vor Schreck. Wir schrien sie an und sie warfen sich zu Boden.

Von beiden Seiten schoben wir die großen Tore auf und stürmten in die Scheune.

Wir grölten: „Auf den Boden, auf den Boden!“

Wer nicht gehorchen wollte, wurde getreten. Wer eine Waffe zog, sofort erschossen. Bauern und Partisanen waren so überfordert mit der Situation, dass sie uns bedingungslos gehorchten. Lediglich eine kleine feige Truppe versuchte, durch die Seitentür zu flüchten. Dort warteten Bartaloh und seine Männer, die Waffen angelegt wie ein Erschießungstrupp. Die Tür sprang auf und eine Salve von Kugeln streckte die Verräter zu Boden.

Ich begutachtete die Toten. Ein trauriges Zeugnis.

Dann wendete ich mich wieder den Lebenden zu. Die Partisanen sowie den Dorfvorsteher und seinen Sohn verhafteten wir.

„Leutnant, mit Ihrer Erlaubnis – ich will das Bauernpack mit Öl und Feuer bestrafen!“, kam Bartaloh zu mir. Seine Augen blitzten.

„Ganz ruhig, mein Freund!“ Nach dem gelungenen Handstreich fühlte ich mich wie ein wahres Schlitzohr. „Wir haben die Möglichkeit, mehr von ihnen zu beseitigen. Wenn die Patrouille hier nicht wieder kommt, werden sie sicher noch mehr Leute schicken.“

So bezogen wir Stellung und stellten die Bauern in einem Haus unter Arrest.

Wieder hieß es, eine Ewigkeit zu warten. Der Abend brach über uns hinein.

Ich selbst hatte mit dem Großteil der Männer Stellung in der Scheune bezogen. Wieder einmal war es kurz davor, dass mir die Augen vor Müdigkeit zufielen, als Bartaloh plötzlich aus seiner Stellung heraus Alarm schlug und kurz darauf das Maschinengewehr, das unter seiner Aufsicht stand, losdonnerte.

Im Schutz der abendlichen Dämmerung stürmte mein Zug aus der Scheune. Die große Zahl der Partisanen, die sich auf dem Platz zusammengefunden hatte und zu organisieren versuchte, erwiderte das Feuer.

Für mich urplötzlich ging Albrecht neben mir zu Boden, dabei stieß sein vor Schreck unkontrolliert zuckender Fuß schmerzhaft gegen mein Schienbein. Dieser Bruchteil einer Sekunde sorgte für einiges an Verwirrung in meinem Kopf. Doch es blieb mir keine Zeit, mich dieser hinzugeben, denn zur gleichen Zeit holte einer der Partisanen aus, um eine Granate auf Bartalohs Maschinengewehrstellung in einem der Häuser zu schmeißen. Ich erschoss ihn jedoch rechtzeitig, sodass die Granate das eigentliche Ziel verfehlte und in nichts weiter als in einem Misthaufen detonierte.

Trotz der Gegenwehr konnten uns die Polen abermals nichts entgegensetzen. Die wenigen Überlebenden schmissen sich in den Dreck zwischen die Toten und versuchten, hinter diesen noch ein wenig Deckung zu erlangen. Die Kugeln schlugen in die Leichen ein. Kleine Blutfontänen spritzten, die den ganzen Boden rot sprenkelten. Die letzten vier Feinde ergaben sich schließlich.

Wir fesselten sie und brachten sie, unter Aufsicht, in der Scheune unter.

Schließlich nahm ich meinem Vetter, der immer noch am Boden lag, den Helm ab. Sein kurzes, blondes Haar kam zum Vorschein. Ich begutachtete seinen blutverschmierten Hals und gab ihm ein Tuch: „Draufhalten, ist nur ein Streifschuss!“

Wir blieben die Nacht über bei den Bauernhöfen.

Am frühen Morgen des darauffolgenden Tages bekam ich über Funk von meinem Hauptmann einen Befehl zugesandt. Er beinhaltete die Hinrichtung sämtlicher Gefangener.

An dieser Stelle soll gesagt sein, ich mag die Polen nicht sonderlich. In gewisser Weise teile ich die Auffassung des verstorbenen Polanskis. Aber Aktionen, wie sie mir in diesem Moment aufgetragen wurden, wollte und konnte ich, meines Gewissens und meines Sinnes für Gerechtigkeit wegen, nicht ausführen. Auf der anderen Seite galt es für mich zu gehorchen und eine Strafe musste vollzogen werden. Die Aufständischen waren uns mit Waffengewalt begegnet und wer weiß, was sie in Zukunft noch für Überfälle, wie den im Wald Tage vorher, geplant hatten.

Schlussendlich überließ ich die Ausführung des Befehls meinem fanatischen Vetter und hielt mich zurück.

Er ließ die Bewohner auf dem großen Platz zusammentreiben und sechs provisorische Galgen errichten. Der grobe Bartaloh legte den Verdammten die Stricke um den Hals, dann trat er auf Geheiß die Blöcke unter ihren Füßen weg. Auch, wenn dies bestimmt nicht meine erste Hinrichtung war, versuchte ich heimlich, nicht hinzusehen.

Letzten Endes baumelten die Störenfriede und ich gab den Befehl: „Abbrennen!“.

Mit einem Grinsen im Gesicht legte Bartaloh, der vom Sadismus beflügelte Henker, alles in Brand. Die aufsteigenden Rauchschwaden waren groß und schwarz, sodass wir sie noch von Weitem erkennen konnten.

Wieder im Zeltlager angekommen, machte ich Meldung und klärte den Hauptmann über die Ereignisse auf. Kurz darauf bemerkten wir ein Einsatzkommando der Waffen-SS, das sich auf den Weg zu den Überbleibseln machte.

SOMMER 1941

21. Juni 1941

[Felder bei Konstantynów]

Wir Soldaten wurden in Scharen auf die Felder gerufen. Hochrangige Wehrmachtsgeneräle warteten schon auf Podesten, mit einer gewaltigen Aufmachung an Wimpeln im Hintergrund. Aufgestellt in Reih´ und Glied warteten wir. Hunderte, mit anderen Standorten eingerechnet wahrscheinlich tausende, in der Sonne glänzende Helme. Was wir nun hörten, hatte ich als Offizier schon vorab mit anderen Leutnants meines Bataillons von unserem Hauptmann erfahren. Trotzdem kann ich unmöglich wiedergeben, wie mich die Worte überrascht hatten und genauso überraschten sie jetzt meine Männer.

Die Wehrmachtsführung verkündete den Angriff aus der Sowjetunion, die scheinbar schon seit langer Zeit einen Krieg gegen unser geliebtes Vaterland plante. Morgen, so hieß es, würden wir mit unserer Verteidigung beginnen und den Roten zuvorkommen.

Entgegen der Berichte der Soldatenzeitungen, die im Laufe des Tages ihre Artikel veröffentlichten, herrschte gedämpfte Stimmung bei der Bekanntgabe auf dem Feld. Wir wussten, dass wir gut waren, die Besten der Welt, aber das Sowjetland war groß. Wir würden es nicht nur mit ein paar Partisanen zu tun bekommen oder einer polnischen Armee, die mit Pferden und Schwertern gegen unsere Panzer ins Gefecht geritten war. Die Informationen lagen uns allen flau im Magen. Nur langsam wich die trübselige Atmosphäre einer Aufbruchstimmung. Euphorische SS-Verbände jubelten und mit ihnen versteckte auch Albrecht seine Freude nicht, endlich gegen den bösen Bolschewismus in den Kampf zu ziehen. Der Generalstab verabschiedete sich, die Stiefel knallten und aus den unzähligen Mündern der Anwesenden, die sich hier versammelt hatten, donnerte ein dreifaches: „Sieg Heil!“, dessen Wucht die Welt zu erschüttern schien.

Und, ich? Ich machte mit.

So, wie es unser Generalstab schon gesagt hatte: Wir wissen, wie man Kriege schnell führt.

22. Juni 1941

[nahe Šarašova, 1.020 Kilometer vor Moskau; Sowjetunion]

Die Nacht war kurz. Um 02:00 Uhr stürmten Uniformierte in Zelte und Hütten, die Verteidigung hatte begonnen. Schlagartig war ich wach und saß aufrecht in voller Montur. Mit verdunkelten Lichtern fuhren wir die letzten Kilometer östlich an das Ufer des Bugs, über den uns später eine Brücke führen würde. Die sanfte nächtliche Kälte legte sich angenehm auf meine Haut und umspielte die Nase. Die Luft erschien mir unfassbar klar und rein. Die Sterne funkelten. Ich steckte mir eine Zigarette an. Der Morgen erschien mir verheißungsvoll, unwirklich und ich schnupperte Großes.

Dann schlug die Uhr 03:15 Uhr und auf die Sekunde genau überflogen uns, scheinbar aus dem Nichts kommend, unzählige laute dröhnende Flugzeuge. Ihre Bomben hüllten das gegenüberliegende Flussufer in dichten Rauch. Anderorts, südlich unserer Stellung, bei Brest, paukte zusätzlich Artillerie. Mit pochenden Herzen überschritten wir wenig später die deutsch-sowjetische Grenze. Auf unseren Transportfahrzeugen aufgesessen merkte ich, wie Viktors Fuß hinter meinem Beifahrersitz aufgeregt wippte und mit der Ferse auf den Holzverschlag trommelte. Auch durch meine Adern schoss das Adrenalin.

Die Männer des Heereszugs Mitte, in dem wir uns auch momentan befinden, stimmten Lieder an.

Das Ziel unseres Zuges war Moskau, die Hauptstadt, der Inbegriff des Bolschewismus.

Gleichzeitig überschritten neben unserem Zug noch zwei weitere deutsche Armeen die Grenze: weiter nördlich von uns, die Heeresgruppe Nord mit dem zurzeit gesetztem Ziel Düna und südlich von uns die Heeresgruppe Süd mit dem Ziel Kiew.

Bald erschien die Sonne am Horizont.

Gegen 07:00 Uhr morgens stürmten wir unsere erste feindliche Kaserne. Wir nahmen die Russen zu Hunderten gefangen, welche überrascht und völlig unvorbereitet waren. Wir traten die Türen ein und sprengten in ihre Baracken, zerrten sie aus den Betten und trieben sie in Schlafanzügen und Unterwäsche auf die Straße. Die Waffenkammern leerten wir mit der Anordnung, alles mitzunehmen, zu verbrennen, zu verschrotten oder so zuzurichten, dass ein erneuter Gebrauch unmöglich gewesen wäre.

Schließlich trennten sich ein paar SS-Verbände von der Hauptstreitmacht, um sich um die Gefangenen zu kümmern. Der Rest zog weiter.

Wo wir uns momentan befinden weiß ich nicht genau, ich denke nahe des Örtchens Šarašova. Klar ist, die Straßen hier sind nicht besser als die in Polen, die Sonne brennt sich unter die Haut und die Landschaft scheint gar endlos zu sein. Diese weiten grünen Felder unter dem wolkenlosen blauen Himmel, sie kommen mir vor, wie aus einem Abenteuerbuch, das Geschichten von den fernsten, unwirklichsten Orten erzählt. Und das, obwohl sich die natürlichen Beschaffenheiten doch gar nicht so sehr von den unseren unterscheiden.

26. Juni 1941

[Zelvianka-Abschnitt, nahe Zelva, 980 Kilometer bis Moskau]

„Was uns innerhalb dieser Mauern erwarten wird, wird nicht leicht zu bewältigen sein, doch es ist unsere Aufgabe, einen sicheren Vormarsch zu garantieren. Der Russe, der uns dort erwartet, kämpft tapfer, doch nicht mutig! Er verschanzt sich hinter Beton und Stein, bereit, uns in einem unfairen Kampf das Leben zu nehmen. Doch sind wir es allein unseren Vorfahren schuldig, mit ritterlichem Heldenmut eine Gefahr zu bekämpfen, die so viel größer ist als wir, damit sie sich nicht ausbreiten und alles in Schutt und Asche legen mag, was uns von Bedeutung ist!“, so lautete meine Ansprache. Von diesen Worten beflügelt, sprangen wir von den Transportern. Wir waren als motorisierte infanteristische Vorhut abberufen, russischen Widerstand auf einem beschädigten Fabrikgelände zu brechen, das zuvor aus der Luft bombardiert worden war. Das kleine Gelände war von einer roten Backsteinmauer umgeben.

Wir rannten an den Außenmauern entlang. Kyrillische Schrift und russische Propagandaplakate zierten sie. Unter unseren Füßen knirschten Steine und Glas.

Durch ein kleines hölzernes Eingangstor gestürmt pressten wir uns zugleich an eine Gebäudewand aus ebenso rotem Backstein, um den tödlichen Maschinengewehrfeuer, das augenblicklich auf uns niederrasselte, zu entgehen. Der heimlichen Stille vorheriger Minuten standen nun ganz plötzlich Geschrei und Anspannung gegenüber.

„Wir müssen weiter vor!“, schrie ich durch das Surren der Kugeln hindurch.

Kurz gesammelt, wagten wir es, uns von der Wand zu lösen und schoben uns einen Haufen aus Steinen hinauf, der sich nach dem Tor, mittig der Zugangsstraße, durch vorangegangene Luftangriffe und Panzerattacken formiert hatte. Uns bot er nun Deckung auf einer sonst offenen Wegfläche.

Dem Feindfeuer also ausgesetzt und dort hinter liegend, löste Bartaloh eine Stielhandgranate aus seinem Gürtel. Gekonnt drehte er das Metallkäppchen am unteren Griffende ab und zog an dem kleinen Faden, der sie scharf machte, als ihm aus dem Nichts eine Kugel in den Nacken fuhr. Sofort löste sich der Sprengkörper aus dem festen Griff des Unteroffiziers. Viktor, der dort ebenfalls mit Bartaloh, mir und einem weiteren Mann lag, rollte sich auf den Rücken und erschoss mit tödlicher Präzision den Heckenschützen, der sich hinter unsere Linien geschlichen hatte. Erst dann wurde mir wirklich bewusst, dass die scharfe Granate Bartalohs gerade unbehelligt den Steinhaufen hinunterrollte.

„Deckung!“, schrie ich und rannte mit den Männern zum nächstgelegenen Hauseingang. Die Druckwelle presste mich durch den Türrahmen, sodass ich unsanft auf die darauf anschließenden Treppenstufen knallte, wo ich liegen blieb. Der Helm auf dem Kopf verrutscht und, vor Schrecken erfüllt, drehte ich mich um. Der Rauch zog in das Gebäude. Ich konnte kaum sehen.

Fassungslos lag ich dort und starrte in die Richtung des eben noch so belebten Platzes.

Wo war Viktor? Wo war mein Freund?

Unweit von mir vernahm ich ein Hüsteln. Rasch versuchten meine Augen irgendetwas auf dem verrauchten Grund auszumachen. Erleichterung. Er hatte überlebt, aber der andere Soldat hatte nicht schnell genug reagieren können. Die Granate hatte ihn und den Haufen Gestein mit sich gerissen.

„Leutnant Thibaut! Kommen Sie, kommen Sie!“, wurde mir zugerufen. Ein Soldat hastete zu mir die Treppe hinunter, richtete mich auf, stützte mich und führte mich so die Stufen hinauf.

Ein Teil der Kompanie hatte sich Zutritt zu einem Raum im ersten Stockwerk verschaffen können. Ich wurde auf den kalten Boden gelegt und ein Sanitäter kroch zu mir. Während dieser meine Wunden untersuchte, schnitten Kugeln durch die Luft und schlugen in Wänden und Decke ein.

Gestein bröckelte.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie meine Soldaten die Fenster bemannten und unter Kommando meines Vetters das Feuer erwiderten.

Als meine Benommenheit schwand und ich wieder einigermaßen denken konnte, kroch ich durch den Raum. Ich zog mich an der Wand hoch und spähte vorsichtig aus einem Fenster hinaus. Plötzlich hörte das Feuer des Feindes auf und auch unsere Waffen schwiegen für einen Moment. Eine unheimliche, bedrohliche Stille legte sich nieder.

Mit einem Auge versuchte ich, den feindlichen Maschinengewehrschützen im gegenüberliegenden Gebäude ausfindig zu machen. Ich fand ihn schließlich in einer der oberen Etagen eines Treppenhauses, in dessen Fassade große Löcher klafften, die den Blick auf unsere Stellung ermöglichten. Zwei russische Soldaten schienen hektisch an dem tödlichen Stück Metall zu rütteln.

„Ladehemmungen.“, sagte ich leise.

„Wie bitte?“, fragte Köhler.

„Ladehemmungen, sie haben Ladehemmungen!“, wiederholte ich fast schon euphorisch. Den Arm nach hinten streckend befahl ich: „Gib mir jemand ein Gewehr, schnell!“

Sofort ertastete ich die hölzerne Fassung eines Karabiners.

„Was ist mit dem Visier?“

„Gesprungen, ich musste sie abmontieren.“, kam als Antwort zurück, doch ich schenkte dem schon gar keine Beachtung mehr.

„Was sagen Sie, Schmidt, dreißig Meter?“, fuhr ich fort.

„Kommt hin.“

Ich legte an. Einer der Feinde stand auf, ich betätigte den Abzug.

Kolben zurückziehen, dann wieder vorschieben und runter klappen, zielen und Schuss, ganz schnell. Der zweite Russe fiel, in die Brust getroffen, rückwärts über ein Treppengeländer.

Langsam erhoben wir uns aus unserer Deckung. Hastig eilte ich aus dem Gebäude hinaus über den Fabrikplatz. Im Eingangsbereich des Treppenhauses stellten wir einen toten Russen sicher. Wir erklommen die weiteren Etagen. In einer fanden wir den zweiten Russen, angeschossen, sich auf den Boden windend. Ein Stockwerk höher fanden wir drei weitere ihrer Sorte. Sie hatten ein weißes Tuch an einen Stock gebunden und wedelten mit diesem aufgeregt in der Luft herum.

„Führt sie nach draußen!“

Fürs Erste war der Kampf vorüber.

27. Juni 1941

[Zelvianka-Abschnitt, nahe Zelva]

Eigentlich wollten wir uns nach dem gestrigen Kampf aufmachen und uns wieder dem Hauptzug anschließen, doch wir erhielten andere Befehle. Per Funk war uns berichtet worden, dass wir die Fabrik und Umgebung weiterhin beobachten und sichern sollten.

Also ließen wir uns in einem der Fabrik nahegelegenen Wäldchen nieder, von dem aus wir versteckt auf Verstärkung oder neue Befehle warteten. Wie mit den Gefangenen verfahren werden sollte, wussten wir noch nicht. Das war für mich auch erst einmal zweitrangig, denn wir wollten unsere beiden gefallenen Kameraden begraben.

Die Hitze trieb uns den Schweiß auf die Stirn, als wir im Wald eine kleine Grube aushoben.

Auch wenn wir nur noch den verbeulten Helm des, für mich namenlosen, Soldaten und eine verkohlte Brosche Bartalohs im Ganzen hatten bergen können, so sollte ihr Grab doch wenigstens von ordentlicher Größe sein. Das waren wir ihnen und unserem Gewissen schuldig.

Wir verrichteten unsere Arbeit schnell und schon nach kurzer Zeit legten wir die beiden Stücke Metall sachte, in Erinnerung an einen schlagkräftigen Unteroffizier und einen Kameraden, in die Erde. Daraufhin schütteten wir die Grube wieder zu und rammten ein kleines hölzernes Kreuz hinein, gebaut aus Stöcken und Farn. Begleitet wurde die Zeremonie von unserem Kompaniepfaffen, Beichtstuhl.

Zum Verständnis: „Beichtstuhl“ war der Kosename, den wir einen Gefreiten im Trupp gegeben hatten. Bevor er eingezogen worden war, war Rolf Schmied, wie er eigentlich hieß, vom Beruf her Pfarrer irgendwo in Franken gewesen. Er trug immer eine kleine Bibel mit sich im Tornister. Die wichtigsten Verse und Psalmen befanden sich allerdings in der linken Brusttasche seiner Uniform.

„Die heiligen Worte vor meinem Herzen sind wie Gottes Schutz für mich.“, hatte er einst gesagt und sich dabei überzeugt auf die Brust geklopft. Das war ein schöner Satz gewesen, der zum Nachdenken anregte. Doch ob das Papier wirklich im Stande sein würde, Blei aufzuhalten, bezweifelte ich doch stark. Generell versorgte uns Beichtstuhl mit vielen optimistischen und religiösen Gedanken. Wer in irgendeiner Hinsicht Probleme hatte oder Fragen, an denen er zerbrach, der kam zu ihm, egal, ob das Anliegen alltäglich, privat oder religiös war. Man konnte sich bei ihm ausschütten, eben wie in einem Beichtstuhl.

Als die Zeremonie zu Ehren der Gefallenen vollbracht war, wurde es still, nur das Gezwitscher der Vögel und das Rauschen der Bäume war noch zu hören. Andächtig schweigend, so standen wir da. Eine Gruppe junger Männer, nie wissend, was der nächste Tag einem bescheren würde. Ich war mir sicher, auch an die Heimat wurde in diesen Minuten viel gedacht.

Sich jedoch in Gedanken zu verlieren würde nichts helfen, wir mussten wieder nach vorne blicken und an unser eigenes Überleben denken.

Daher befahl ich meinen Leuten, unser Lager, unsere Stellung, weiter auszubauen und mit Schützenlöchern zu versehen.

Zur heißesten Mittagsstunde hörte man kaum noch Worte, nur Stöhnen und Schaufeln, die in den Waldboden fuhren, durch Unmengen an Wurzeln. Doch bei aller Erschöpfung, die sich langsam breit machte: Die Löcher mussten ausgehoben werden, zur eigenen Sicherheit.

Auch einen kleinen Bunker bauten wir. Am Tage geeignet zur Einsatzbesprechung und für den Papierkram, in der Nacht leergeräumt und ein Gefängnis für die Russen.

28. Juni 1941

[Zelvianka-Abschnitt, nahe Zelva]

Knapp eine Stunde war seit dem Aufstehen vergangen. Unter einer großen Tanne sitzend und schreibend, beaufsichtigten Ilona und ich meine Soldaten bei der Arbeit. Sie überprüften die Tarnungen ihrer Helme und kümmerten sich um ihre Waffen.

Die Gefangenen hatten wir beauftragt, eine Grube auszuheben. Ludwig Köhler beaufsichtigte sie dabei. Allerdings stellte er sich dabei scheinbar nicht sonderlich gut an, denn einer der Russen schaffte es umgehend, dem Freund das Messer aus dem Gürtel zu ziehen, um ihn damit zu attackieren. Eine Drehung und ein wuchtiger Schlag des Freundes setzten den Aufmüpfigen jedoch direkt wieder außer Gefecht und er prügelte ihn zurück zu seinen Genossen in die Grube.

Ihre Körper waren bedeckt von Schweiß und Dreck. Einen hörte ich eine Beleidigung stöhnen, eines der paar Wörter auf Russisch, die ich beherrsche.

„Ruhe, weiterarbeiten! Davay, davay!“, fuhr ich ihn von meinem Platz aus an.

Doch ich konnte ihre fehlende Motivation verstehen. Sie wussten, dass die Grube, die sie dort aushoben, ihren Tod bedeuten würde, da wir wussten, dass ein paar lebende Sowjets, die wir nicht ordentlich wegsperren konnten, unseren Tod bedeuten würden.

So ließen wir die traurigen Gestalten ackern, bis wir ihr Werk für gut befanden und um zwölf Uhr mit ihrer Hinrichtung begannen.

Ich muss schon sagen, sie waren tapfere Leute mit einem eisernen Willen, der sie eben auch so gefährlich machte. Wir versuchten noch ein letztes Mal, wichtige Informationen über feindliche Truppenbewegungen und Stellungen in der Gegend aus ihnen heraus zu quetschen, doch selbst im Angesicht des Todes sprachen sie keinen Ton mit uns.

Wir stellten sie in einer Reihe mit dem Rücken zur Grube auf. Jeder von ihnen bekam noch eine Zigarette. Die Roten ließen ihre Blicke ein letztes Mal durch den Wald schweifen bis hinauf zu den Baumkronen, durch die sie vereinzelt den blauen Himmel sehen konnten und von den hereinfallenden Sonnenstrahlen geblendet wurden.

Als der letzte Zigarettenstummel auf den von Tannennadeln bedeckten Boden fiel, war es an der Zeit.

„Achtung!“, ertönte Albrechts Stimme. Meine Männer legten an.

Dann erklang ein: „Feuer!“, und eine Salve von Kugeln wurde abgeschossen. Getroffen fielen die Körper der Bolschewisten in den Graben.

Ich bin mir nicht sicher, doch ich bilde mir ein, noch eine Träne auf der Wange eines Gefangenen gesehen zu haben, als wir sie zuschütteten.

29. Juni 1941

[Zelvianka-Abschnitt, nahe Zelva]

Am frühen Mittag wurden wir aus unseren Gedanken gerissen. Nachdem wir nun schon zwei Tage in den Löchern am Waldrand gelegen hatten, rannte ein Wachposten, der eines dieser besetzt und durch die Büsche die Fabrik überwacht hatte, zu mir: „Leutnant, Feind gesichtet! Zwei russische Panzer und ein Dutzend Fußsoldaten sind auf dem Weg zum Fabriktor!“

Rasch stand ich auf und griff mir meinen Helm, um mir selbst ein Bild über die Lage zu verschaffen.

„So ein Mist!“

Ich ließ anordnen, sich leise kampfbereit zu machen. Kurz darauf lag eine Vielzahl von mit Gras und Ästen geschmückten Helmen im Unterholz und spähte durch die Äste oder über die Ränder der kleinen Erdgruben.

„Zwei Panzer? Dagegen kommen wir niemals an, Fritz!“, zischte mir Albrecht zu.

„Wir warten ab!“, entgegnete ich. Und tatsächlich, nach einer gefühlten Ewigkeit teilte sich der Feindtrupp auf. Vor dem Torbogen zum Fabrikgelände gehalten, fuhr ein Panzer mit der Hälfte der Fußsoldaten nach einigen Minuten hinein, der Rest wartete außerhalb, wahrscheinlich zum Sichern.

„Wie viel panzerbrechende Munition haben wir noch?“, fragte ich in die Runde. Ludwig kroch zurück zu den Zeltplanen, kramte aus einer hölzernen Kiste eine Panzerfaust und meldete sich mit dieser wieder bei mir: „Zwei Sprengköpfe, mehr nicht.“

„Das ist nicht gut, jetzt muss jeder Schuss sitzen. Köhler, Sie schießen!“ Ich dachte mir, dass er jetzt seinen Fauxpas mit den Gefangenen wieder gut machen konnte. „Schaffen Sie das auf die Entfernung? Ein Schuss für den ersten Panzer und der zweite dann für den Zweiten, wenn dieser das Gelände wieder verlässt!“

„Ich gebe mein Bestes, Leutnant.“, sagte er verunsichert.

„Das hoffe ich, wir haben nur diese eine Gelegenheit!“, sagte ich ungewohnt schroff.

Ludwig entsicherte die Waffe, dann kroch er näher an den Feind heran, um ein freies Schussfeld zu bekommen. Die Vögelchen zwitscherten idyllisch. Der Freund visierte an, dann drückte er den Abzug. Mit einem lauten Zischen verabschiedete sich der Sprengkopf und ein lauter Knall ertönte.

„Verdammt!“, für einen Moment waren meine Hoffnungen auf einen Sieg verflogen.

Der Sprengstoff war zu weit vor dem Panzer eingeschlagen, dessen Kanonenrohr sich nun bedrohlich durch den sich langsam verflüchtigenden Qualm drehte, um unsere Stellung zu suchen.

Ich sprang auf, stolperte durch das Gestrüpp und schrie: „Feuer! Feuert auf die Fußsoldaten!“

Der Klang von Zündungen und Eisen raubte den Wald seine märchenhafte Stimmung. Bäume und Büsche raschelten durch die Vögel, die verschreckt die Flucht ergriffen.

Ich griff Ludwig am Knöchel und zog ihn zurück in eines der Löcher.

Die feindlichen Soldaten konnten den überraschenden Kugelhagel nichts entgegensetzen, auch wenn ich unsere Trefferquote als sehr gering einschätzte.

Unser eigentliches Problem, der Panzer, hatte uns mittlerweile auch ausgemacht und Fahrt aufgenommen. Eines der Geschosse schlug knapp vor unserer Deckung ein.

„Rückzug und ausschwärmen!“, schrie ich, kletterte aus dem Loch und stürmte durch unser kleines Lager, vorbei an der noch warmen Kochstelle in den Wald. Die Männer und Ilona folgten mir. Ich warf kurz einen Blick zurück. Ein weiteres Panzergeschoss sprengte in diesem Moment die Grube, in der Ludwig und ich nur ein paar Sekunden vorher noch gelegen hatten.

Im Gestrüpp, hinter Ameisenhaufen und kleinen Erdhügeln, sammelten wir uns wieder. Einen neuen Sprengsatz auf die Panzerfaust gesteckt, kniete sich der Freund hinter einen umgestürzten Baum.

Ich sendete ein Stoßgebet in den Himmel, als er abdrückte. Er traf.

Vielleicht lag es auch daran, dass ihn Willy Schmidt kurz vorher noch von der Seite angefahren hatte: „Verscheiß es nicht wieder!“

So oder so, der Panzer ging in Flammen auf.

Erleichterung.

Doch, auf die Glücksgefühle folgte sogleich die bittere Realität, denn mit dem ersten Schuss der Panzerfaust war sogleich auch der zweite Teil der Rotarmisten alarmiert worden, welcher kehrt gemacht hatte und gerade dabei war, sich unter dem Torbogen zu formieren.

Wir waren aufgeschmissen, aber aufgeben würden wir niemals.

Ich lud gerade mein Gewehr nach und versuchte, auf die Schnelle noch ein paar angebrachte Worte für die Kompanie zu finden, da geschah etwas Unvorhersehbares.

Plötzlich schlugen drei kurz aufeinander folgende Geschosse ein. Geschosse, die weder aus unserer Richtung kamen, noch uns galten. Eines von ihnen zerschmetterte ein kleines Pförtnerhaus vor dem Fabrikgelände, ein weiteres legte eine der Panzerketten lahm, das Dritte traf den stählernen Torbogen und das daran befestigte Schild. Beides stürzte ächzend und klirrend über dem zweiten Panzer und einen Teil der Soldaten zusammen. Eine riesige Wolke aus Ruß erhob sich darüber, als ein weiterer Schlag wiederum in das Feindfahrzeug selbst einschlug.

Den Befehl, sich aus der Deckung zu erheben, wollte ich noch nicht geben, wo doch noch niemand wusste, wer unsere unerwarteten Retter waren.

Da sah ich es. Auf das Feld fuhren einige Motorräder, Männer in schwarzen Ledermänteln stiegen von diesen ab, die Helme in der Sonne glänzend.

Ich nahm mir ein Fernglas zur Hand und blickte hindurch, es fiel mir ein Stein vom Herzen, als ich auf den Helmen in schwarzer Schrift auf weißem Grund das blitzartige SS-Zeichen entdeckte.

Verschwitzt krochen wir aus dem Waldstück und gaben uns zu erkennen.

Nachdem wir auf das Feld zu den Soldaten getreten waren, meldete sich ein Obersturmführer der Waffen-SS, im Prinzip das Äquivalent zu einem Hauptmann der Wehrmacht. Bei seiner Vorstellung löste er den Blick nicht von dem kleinen Zettel, den er in seinen Händen hielt: „Obersturmführer Greischer, wer ist Leutnant …“, er zögerte, „Thibaut?“

Beim Nennen meines Namens verzog er das Gesicht.

„Das wäre dann wohl ich.“ Ich schob mich vor den breit gebauten Erich Schäfer. Der Obersturmführer trat vor mich und mit einem bedrohlichen Unterton sagte er: „Ich dachte, der Widerstand hier sei gebrochen und das Gebiet gesichert.“

„Ich dachte, Sie hätten schon früher kommen sollen.“, gab ich zurück. Er drehte mir den Rücken zu und ging langsam fort. Beim Weggehen sagte er noch: „Das ist Leutnant Dornau, er wird Sie über das weitere Vorgehen der Heeresleitung unterrichten.“

Der Leutnant trat hervor, als Greischer noch leise hinzufügte: „Franzose!“

Dieser Greischer war eine Person, die mich ab der ersten Sekunde an, mit nur zwei Sätzen, wütend machte, wie es kaum jemand anderes zu tun vermochte. Ich ballte meine Faust und schaute ihm hinterher. Schaute, wie sich dieser dicke, überhebliche Mann in seinem schwarzen Ledermantel, in all seinem wackelndem Fett, immer weiter entfernte.

Dornau streckte mir die Hand hin: „So sehen wir uns endlich wieder!“

Meine schlechte Laune verflog. Ich schlug ein.

„Schön zu sehen, dass du wohlauf bist.“, freute ich mich.

„Wie sollte es anders sein?“

„Willst du dich uns nicht doch noch anschließen? Dann wären wir wieder alle vereint, wie früher.“, versuchte ich ihn zu überreden. Obwohl wir beide wussten, dass er das nicht machen würde.

„Leutnant zu sein gefällt mir eigentlich ganz gut, muss ich zugeben“, witzelte er. „Dir scheinbar auch.“

„Das stimmt.“, gestand ich.

Wir umarmten uns herzlich. Es war ein glücklicher Zufall, der uns zusammengeführt hatte. Trotzdem fühlte es sich an wie Schicksal, denn Peter Dornau, wie jener Leutnant mit vollem Namen hieß, war das finale Glied in unserer Freundesgruppe. Genauso wie die anderen war er mit mir aufgewachsen, hatte alles von Kindesbeinen an mit mir miterlebt, bis zum Feldzug in Frankreich. Ab dem Zeitpunkt waren wir vorübergehend getrennte Wege gegangen. Wir beide hatten gefährliche Meldegänge gemeistert und gemeinsam Kameraden aus aggressivsten, feindlichen Kanonenbeschuss gerettet, weshalb man mich schließlich als nachfolgenden Leutnant für die vierte Kompanie vorgeschlagen und Dornau an die Spitze einer anderen gesetzt hatte.

Im Laufe des Gesprächs mit ihm stellte sich heraus, dass der Hauptzug nun einen weiten Vorsprung hatte, den es aufzuholen galt. Der Marschbefehl wurde für den nächsten Morgen angesetzt.

Wir führten unsere beiden Kompanien zusammen und richteten uns ein Nachtlager in der alten Produktionshalle ein.

Nach einem ereignisreichen Tag und ausführlichen Gesprächen mit dem Freund legten wir uns auf die Fertigungstische und Produktionsbänder, um nicht auf den Boden in Glasscherben und spitzen Metallstücken schlafen zu müssen.

30. Juni 1941

[Zelvianka-Abschnitt, nahe Zelva]

Es war tiefste Nacht und ich konnte nicht schlafen, so sehr ich es auch versuchte. Ich weiß nicht, ob es die Ratten waren, die unter uns über die kalten Betonböden der Halle huschten, oder ob die Ursache dafür eine andere war. Klar war doch, irgendetwas bedrückte mich.

Eine geschlagene Stunde lag ich wach und starrte an die dunkle, hohe Decke der Halle und ihre Stahlträger. Alle Versuche, Müdigkeit in mir hervorzurufen, scheiterten. Für mich fühlte es sich an, als würde mich der Teufel selbst vom Schlafen abhalten.

Als die Schlaflosigkeit letztendlich überhandnahm, entschloss ich mich – es muss gegen drei Uhr früh gewesen sein – aufzustehen und meine Gedanken zu ordnen. Also schlich ich mich aus der heruntergekommenen Fertigungshalle, um niemanden zu wecken.

In der Hoffnung, einen ruhigen, abgelegenen Platz zu finden, irrte ich auf dem Fabrikgelände umher, bis mich mein Weg schließlich eine Treppe hinauf auf ein Dach führte. Nachdem ich das Flachdach betreten hatte, setzte ich mich an dessen Rand und ließ die Beine über den Abgrund baumeln. Ich betrachtete den Mond, der schien, als wollte er den schwarzen Nachthimmel mit all seiner Kraft erhellen – vergeblich. Über die Mauern hinweg sah ich schwach die dunklen Silhouetten der Bäume, die unser allzu gut bekanntes, kleines Wäldchen bildeten.