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Was Kulturen und Nationen verbindet Das Antlitz von Marseille, der ältesten aller Städte Frankreichs, spiegelt sich im Mittelmeer. Das Meer trennt und verbindet Europa und Afrika, Kulturen und Religionen. In Marseille selbst ist das Zusammenleben von Christen, Moslems, Buddhisten und Juden gelebter Alltag – mit all seinen Chancen und Konflikten, dem Trennenden und Vereinenden. Nicht von ungefähr war die Stadt der Tagungsort des Michael Fischer Symposions Europa neu denken im Jahr 2017. Brücken zu bauen zwischen Nachbarn und gänzlich Fremden, zwischen Nationen und Kulturen, zwischen Generationen und Geschlechtern oder zwischen Wissenschaft und Kunst, ist das große Thema des aktuellen Tagungsbandes. Es war das Lebensthema von Symposionsgründer Univ. Prof. DDr. Michael Fischer (1945–2014). Die Texte von Intellektuellen aus den unterschiedlichsten Bereichen sollen Brücken schlagen von einer Sprache zur anderen, vom Klang zum Licht, vom Himmel zur Erde, von Afrika nach Europa. Verbindendes Element ist dabei vor allem das Meer, das dem Symposions-Namensgeber immer eine besondere Inspirationsquelle war. Mit Texten von Aleida und Jan Assmann (Konstanz) Barthélémy Toguo (Kamerun) Meriam Bousselmi (Tunis) Peo Hansen (Linköping) Adi Ophir (Tel Aviv) Philippe Pujol (Marseille) Helga Rabl-Stadler (Salzburg) u.a.m.
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Seitenzahl: 329
ILSE FISCHER
JOHANNES HAHN HG.
Band 5
Brücken bauen zwischen Nationen und Kulturen in eine neue Welt
Danke für die Unterstützung zur Durchführung des Projekts:
www.europa-neu-denken.com
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 Verlag Anton Pustet
5020 Salzburg, Bergstraße 12
Sämtliche Rechte vorbehalten.
Titelbild: ©Fotolia/Camille Moirenc/harmis.fr
Grafik, Satz und Produktion: Tanja Kühnel
Lektorat: Maria-Christine Leitgeb, Beatrix Binder
eISBN 978-3-7025-8051-3
auch als gedrucktes Buch erhältlich: 978-3-7025-0903-3
www.pustet.at
Ilse Fischer:Dem Süden entgegen. Eine kleine Vorrede
Johannes Hahn:Brücken bauen in einer neuen Weltordnung
Hedwig Kainberger:Europa scheitert schon am Grüßen
Meer. Stadt – Méditerranée
Philippe Pujol:Marseille. Die Stadt – ein Palimpsest. Selektive Erinnerung und partielles Vergessen
Thierry Fabre:Europa neu denken … vom Mittelmeer aus
Dionigi Albera:Das Mittelmeer betrachtet durch das Prisma der Kultur- und Sozialwissenschaften
Meer. Menschen – Bilder
Peo Hansen/Stefan Jonsson:«Europe will be your revenge«: Eurafrica and the Colonial History of the European Union
Patrick Bond:Europe’s Role in Africa’s Blue Economy: Port Investment, Commodity Price Volatility, Climate Change and Social Solidarity
Yvon Ngassam:Bandjoun: zwischen Ländlichkeit und Modernisierung
Meer. Sprachen – Übersetzung
Jan Assmann:Exodus: Die Geburt des Monotheismus aus der Erfahrung der Katastrophe
Cyril Aslanov:Annäherung an die Entfernten und Entfernung von den Nahen: Die Wahrnehmung des Anderen in der Bibel und im Talmud
Philippe Borgeaud:Deus und die Anderen
Adi Ophir:Types of Others: Why Gentiles are not Barbarians
Mahmoud Hassanein:Differenz statt Identität. Zum Umgang mit dem Fremden beim Übersetzen für Kinder
Meer. Worte – Musik
Meriam Bousselmi:Das Unüberschreitbare überschreiten. Künstler in der Auseinandersetzung mit Grenzen
Samir Kacimi:Das andere Ich – Zwischen Spiegelbild und Wirklichkeit
Ismail Ghazali:Der Wind des Mittelmeers
Helga Rabl-Stadler:Mit Musik Brücken zwischen Kulturen bauen
Michalis Karakatsanis:Music: A Cruise of Convergence
Kifah Fakhouri:The Euro-Arab Youth Music Centre (EAYMC): A Platform for Cultural Exchange and Unterstanding
Perspektiven
Aleida Assmann:Aus der Geschichte lernen? Der Sonderweg und die Zukunft der EU
Johannes Hahn:Perspektiven Europas
Autorinnen und Autoren
Ilse Fischer
Marseille ist eine Stadt des Lichts. Immer wieder verschmelzen Himmel und Meer in verschiedenen betörenden Farbnuancierungen. »Graublau, Schwarzblau, Leuchtendblau, Tiefblau, Lavendelblau. Oder das Auberginenblau der Gewitternächte. Das Blaugrün bei hohem Seegang. Die kupfernen Blautöne des Sonnenuntergangs kurz vor dem Mistral. Oder das fast weiße Blassblau«, schrieb Jean Claude Izzo, der Marseiller Autor und Kenner dieser Stadt.
Der Himmel über Marseille ist also meistens blau. Und das Licht? Das Meer? In Worten, auch für Dichter, nicht immer leicht auszudrücken. Vielleicht aber in Bildern und Geschichten?
Beim Michael Fischer Symposion in Marseille haben wir in vielen Bildern gedacht, Geschichten erzählt bekommen und uns auch den einzigartigen Geschmack der Stadt auf der Zunge zergehen lassen. Es war das sechste Symposion in der Reihe Europa Neu denken und das vierte nach dem Tod seines Gründers Univ.-Prof. DDr. Michael Fischer, meines immer noch und immer wieder so schmerzlich vermissten Lebenspartners. Marseille war einer der Orte, die wir immer wieder besucht haben und der für ihn, der die Sonne und das Meer so sehr liebte, immer ein Kraftplatz war – für das Leben und für neue Ideen.
Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, die meinen Mann mit dieser Stadt und dieser Region verbunden hat, in liebevollem Andenken an ihn und als Einstieg in die Lektüre des Bandes.
1994: Die Idee eines European Art Forums in Salzburg wird von Gerard Mortier (1943–2014), dem großen und ebenso schmerzlich vermissten Kunstmanager Europas, und meinem Mann geboren. Das Jahr 1994 war aber auch der Beginn der Festspiel Dialoge, die mein Mann bis 2014 mit großem Erfolg veranstaltete. 1995: Im Zuge der Vorbereitungen für das European Art Forum (das dann im Mai 1996 zum ersten und einzigen Mal stattfand) bat Gerard Mortier meinen Mann, mit ihm nach Marseille zu reisen, weil hier in der Friche la Belle de Mai ein Kongress zur europäischen Kultur stattfinden würde. Mein Mann, zu dieser Zeit ganz italophil, wollte nicht so recht. Mit der ihm eigenen Überzeugungskraft setzte sich Mortier über alle Einwände hinweg, und wir flogen nach Marseille. Und dann war es bei meinem Mann Liebe auf den ersten Blick: die Stadt am Meer, die Multikulturalität, die Menschen, das Essen. Auf der Terrasse des berühmten Restaurants Petit Nice saßen wir dann an einem lauen Juniabend und genossen ein herausragendes Essen mit Blick auf die Stadt. Das war der Beginn seiner andauernden Liebe zu Marseille, Cassis und der gesamten Region. Und da die Idee der Reihe Europa Neu denken für meinen Mann immer die logische Fortsetzung des European Art Forum war, schließt sich hier in dieser Stadt nun ein Kreis.
Mein Mann, der Menschensammler, wie ihn Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler einmal nannte, war Universitätsprofessor, Philosoph, Kunstvermittler, Kulturwissenschaftler, exzellenter Koch und ein ganz besonderer Moderator. An den Universitäten Salzburg und Zürich, bei den Veranstaltungen an den Opernhäusern in Paris, Madrid oder Berlin, daheim in Anif am Esstisch, unserem persönlichen Salon, an dem viele Projekte, auch Europa Neu denken und die Festspiel Dialoge, ihren Anfang genommen haben, war er immer Ideengeber, Vermittler und vor allem auch Ausführer. Ein Symposion war für ihn das, was es im klassischen Sinne sein sollte: ein miteinander Arbeiten, Denken, Essen und Trinken und vor allem ein Weiterentwickeln von Ideen. Im vorliegenden Band können Sie nachlesen, dass wir in seinem Sinne weiter an einem kultur-politischen-philosophischen Netzwerk weben.
Dass ich das alles tun kann, dafür habe ich vielen zu danken. Allen voran EU-Kommissar Johannes Hahn, dem Freund über den Tod meines Mannes hinaus, der mir mit seinem Team die notwendige Unterstützung gibt. Der »Menschensammler« Michael Fischer wäre wohl glücklich, dass ich seine »Sammelleidenschaft« weiterführe und mit Barbara Cassin, Thierry Fabre und Stefan Weidner intelligente und spannende Menschen in die »Sammlung« einfügen konnte, die zu den bewährten Freundinnen und Freunden so gut passen, dass es eine Freude ist. Ich danke besonders Helga Rabl-Stadler, Andreas Kaufmann, Hedwig Kainberger, Margarethe Lasinger, Inge Schrems und Michael Krüger für ihre Begleitung mit Ideen und Kennerschaft.
Noch einmal Izzo: »Marseille ist keine Stadt für Touristen. Es gibt dort nichts zu sehen … Hier muss man Partei ergreifen. Sich engagieren.«
Johannes Hahn
Im Namen aller darf ich Ilse Fischer für die Vorbereitung dieses Symposions danken. Ich freue mich, dass wir hier an diesem Ort, im Musée Regards de Provence2 in Marseille, sein dürfen, dieser privaten Kulturinitiative, die nicht nur hier in Frankreich etwas ganz Außergewöhnliches ist. Wir würden uns mehr derartige Initiativen europaweit wünschen. Im Vergleich zu anderen Gegenden der Welt haben wir diesbezüglich definitiv Aufholbedarf, da wir bei uns in Europa ein besonders hohes etatistisches Faible haben. Theoretisch kritisieren wir dies zwar, doch wir praktizieren es. Jeder von uns ist dazu eingeladen, dagegen etwas zu unternehmen. Am Ende denke ich, dass es die privaten Initiativen sind, die ein Land oder eine Gesellschaft wirklich vorantreiben. Daher schätze ich sehr, was Sie, sehr geehrte Adeline Granerau, sehr geehrter Pierre Dumon, hier durch die Renovierung dieses Baus geleistet haben. Wie ich gehört habe, war dieses Haus im Grunde die Marseiller Variante von Ellis Island3, allerdings mit einem schnelleren Durchlauf von nur ein bis zwei Tagen Aufenthalt für Einwanderungswillige. Hier wurden Neuankömmlinge gecheckt, um ihnen dann die Weiterreise nach Europa zu gewähren – also eigentlich eine erste Brücke nach Europa. Daher halte ich die Metapher im Titel der heutigen Veranstaltung für besonders treffend.
Wir Europäerinnen und Europäer sind im tatsächlichen und übertragenen Sinne Brückenbauer par excellence. Mein Mitarbeiter David Müller hat im Vorfeld dieser Veranstaltung festgestellt, dass ich in meiner Zeit als Regionalkommissar – innerhalb von knapp fünf Jahren – insgesamt rund 3250 Brückenbauten jeglicher Art genehmigt habe. Die Wochenenden mit einbezogen, sind das zwei genehmigte Brücken pro Tag. Jetzt habe ich natürlich nicht jedes einzelne Projekt eingehend studiert, aber es zeigt, wie intensiv in Europa im wahrsten Sinne des Wortes Brücken gebaut werden. Der einzige Wermutstropfen dabei ist, dass wir bei der Analyse dieser Zahlen festgestellt haben, dass fast die Hälfte dieser Brücken in Polen gebaut wurde, in einem Land, in dem momentan »Brücken« eher wieder abgerissen werden.
»Brücken« finden sich auch im Titel meiner Ausführung wieder: Brücken bauen in einer neuen Weltordnung. Wie immer in der Geschichte wird man erst in der Zukunft wissen, ob momentan tatsächlich eine neue Weltordnung heranwächst. Gefühlsmäßig teilen wir heute schon die Einschätzung, dass dem so ist. Nicht jedes Jahr kann eine neue Weltordnung entstehen. Das Jahr 2017 ist allerdings für Mittel- und Nordeuropäer ein ganz besonderes Jahr, denn es ist das Luther-Jahr schlechthin. Mit seinem reformatorischen Ansatz hat Luther unter anderem den Grundstein für die Bildungsqualität in Mittel- und Nordeuropa geschaffen. Diese wirkt sich bis heute auf die – um ein neumodisches Wort zu verwenden – Performance unserer Gesellschaften aus.
Die Zeit um das Jahr 1517 war durch eine Reihe hoch spannender Ereignisse gekennzeichnet, es war eine Art »Achsenzeit« für die Menschheitsgeschichte. Nicht nur Luther schlug seine Thesen in Wittenberg an, auch Erasmus veröffentlichte seine Friedensklage, aus der Schumann und Monet 450 Jahre später abschrieben, da er sich in seinem Friedensplädoyer schon damals durchaus kritisch mit den heranwachsenden Nationalstaaten auseinandergesetzt hatte.
Kopernikus ist für vieles berühmt, aber kaum dafür, dass er der Erste war, der eine Geldwerttheorie entwickelt hat; das schreibt man allgemein einem Italiener, der diese rund fünfzig Jahre später veröffentlichte zu, aber es war Kopernikus, der sich als Erster damit im Baltikum beschäftigt hatte. Die Spanier haben in diesen Jahren erstmals südamerikanischen Boden in Yucatan betreten. Die Portugiesen sind zunächst einmal in die andere Richtung ausgeschwärmt, und Magellan, der später auf den Philippinen erschlagen wurde, hat erfolgreich die erste Weltumsegelung initiiert. Um die gleiche Zeit drang Zheng He, ein berühmter chinesischer Admiral, mit seiner Flotte bei mehreren Expeditionen bis in den Pazifik, nach Arabien und Ostafrika vor. Aus uns bis heute nicht bekannten Gründen hat der damalige chinesische Kaiser entschieden, diese Aktivität einzustellen, und China hat sich seitdem bis vor Kurzem vor allem auf sich selbst konzentriert.
Wie würde sich die Welt heute darstellen, wenn die chinesische Expansion von vor 500 Jahren weitergeführt worden wäre und sich verfestigt hätte, wenn nicht gleichzeitig die Europäer ihrerseits versucht hätten, letztlich erfolgreich, andere Teile der Welt zu erobern und Kontakte zu schaffen? Das geschah nicht immer in einer Art und Weise, die man aus heutiger Sicht gutheißen könnte, aber es hat das Fundament für die heutige globale Bedeutung Europas in den verschiedensten Bereichen gelegt. Diese Bedeutung hat Europa bis heute behalten, trotz Einschränkungen, denen wir unterworfen wurden und denen wir immer noch unterworfen sind.
Im Jahre 1900 lebten in Europa noch 25 Prozent der Weltbevölkerung, heute sind wir bei sechs bis sieben Prozent, Tendenz weiter fallend. Nichtsdestotrotz ist Europa im Stande, noch immer knapp ein Viertel der Weltwirtschaftsleistung und 40 Prozent der globalen Sozialleistungen zu erbringen, und all das auf einem flächenmäßig bescheidenen Territorium. In meinem Büro hängt eine Weltkarte mit dem Titel Upside Down, die ich mir einmal in Neuseeland gekauft habe. Wir sind ja gewohnt, die Welt aus einer sehr euro-zentristischen Perspektive zu betrachten. Aus australischer oder neuseeländischer Perspektive sind jedoch Australien und Neuseeland auf dieser Karte in der Mitte oben und Europa ist rechts unten – deutlich erkennbar als Fortsetzung der eurasischen Landmasse. So kann man die Welt eben auch betrachten. Dies unterstreicht vielmehr die kulturelle, wirtschaftliche und politische Leistung Europas. Die Frage bleibt, wie wir, unter sich verändernden globalen Bedingungen, diese Position halten können. Es geht mir dabei nicht darum, etwas zu verteidigen oder zu bewahren, es geht darum, unseren materiellen und immateriellen Weltstandard halten zu können. Vergessen wir nicht, dass wir Europäerinnen und Europäer im globalen Maßstab in einem Paradies leben, in dem wir gleichzeitig individuelle Freiheiten und materiellen Wohlstand genießen.
Dies wird oftmals nicht so wahrgenommen. Natürlich gibt es auch in Europa leider wieder zunehmende Verarmungen, aber im globalen Vergleich ist die Situation hier im Großen und Ganzen relativ einzigartig. Das ist auch der Grund, weshalb Europa eine derartige Attraktivität mit sich bringt. Wir sollten auch nicht vergessen – das führt uns auch zum Bild des »Brückenbaus« –, dass das Wohlstandsgefälle und auch das politische Zustandsgefälle zwischen Europa und seinen Nachbarn extrem hoch ist. Ich war diese Woche – ich gebe zu, es war eine etwas ambitionierte Woche – schon in Armenien, Tunesien und Libyen. Tunesien und Libyen sind gerade einmal eineinhalb bis zwei Flugstunden von hier entfernt. In Libyen herrscht politisches und humanitäres Chaos, und in Tunesien kämpfen wir darum, die zarte Pflanze der Demokratie in einem arabischen Land unter schwierigen Umständen zu entwickeln, zu erhalten und zu gießen. In Armenien gedeihen die Dinge nicht so schlecht, aber auch dort sehen wir uns noch ganz massiv mit dem Erbe der Sowjetunion konfrontiert. Und das alles geschieht in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas.
Vergessen wir auch nicht, dass wir, resultierend aus all diesen Umwälzungen, in unserer Nachbarschaft rund 20 bis 25 Millionen Flüchtlinge oder Binnenflüchtlinge haben, die sich aufgrund diverser Konflikte in der Region aufhalten. Aus europäischer Sicht sehen wir Libyen als das Absprungsland für afrikanische oder asiatische Migranten und Flüchtlinge nach Europa. Aber wenn man sich die Situation in Libyen selbst anschaut, dann wird einem bewusst, dass aufgrund des seit sechs Jahren anhaltenden Bürgerkrieges die Anzahl der Binnenflüchtlinge innerhalb Libyens von einer Million rund dreimal so hoch ist wie die Zahl der Flüchtlinge nach Europa. Die Situation ist sehr heterogen, und aus europäischer Sicht müssten wir jedes Interesse haben, die Lage zu stabilisieren. Dies geht aber nur, wenn wir in Kontakt treten und Verständnis schaffen. Aus europäischer Sicht betrachten wir Libyen ausschließlich aus der Migrationsperspektive. Meine Reise war der erste Besuch eines Kommissars seit einigen Jahren. Die Libyer stehen der Europäischen Union sehr skeptisch gegenüber, da es die Europäer waren, die gemeinsam mit den Amerikanern dieses Chaos, in dem sich das Land heute befindet, mit zu verantworten haben. Die politische Unordnung und das politische Chaos haben es Menschenhändlern möglich gemacht, Libyen als Absprungort für den Menschenhandel nach Europa zu etablieren. Über 95 Prozent der Flüchtlinge, die nach Europa wollen, kommen heutzutage über Libyen. Das Einzige, was uns Europäer jetzt beschäftigt, ist, wie wir mit diesem Flüchtlingsstrom zurande kommen und was wir mit den Libyern diesbezüglich vereinbaren müssen. Die Libyer hingegen würden sich wünschen, dass wir zunächst einmal anerkennen, dass Libyen wieder ein Staat werden soll, in dem die Menschen in Frieden und Freiheit und in einem gewissen Wohlstand leben können. Sie wünschen sich, dass wir Libyen zunächst als einen unserer Nachbarn und nicht als ein Problem betrachten.
Und das ist auch das Ziel einer ordentlichen Nachbarschaftspolitik. Jedoch ist es leichter, gute nachbarschaftliche Beziehzungen zu pflegen, wenn der Partner einigermaßen auf Augenhöhe ist. Wenn dies nicht der Fall ist, sind wir moralisch und politisch dazu verpflichtet, dabei zu helfen, die Lage zu verbessern. Schlussendlich ist das in unserem ureigenen Interesse.
Unsere Nachbarn sind momentan wieder unter einem gewissen Druck, da es aus europäischer Sicht auf die neuen globalen Herausforderungen zu antworten gilt. Was sind für mich die Herausforderungen nicht nur für die nächsten Jahre, sondern für dieses Jahrhundert?
Zunächst einmal ertrinken wir in Informationen. Aber wir haben bis dato dafür keine brauchbaren Rettungswesten. Der IBM Europa Chef hat im Zuge einer Präsentation vor einigen Monaten analysiert, dass wir in weniger als zehn Jahren aufgrund der Fülle an Informationen und den fehlenden Verifikationsmechanismen mehr als 80 Prozent der Informationen nicht mehr auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen werden können. Ich möchte hier gar nicht auf den Wahlkampf in Österreich eingehen, aber dort hatten wir ja in einem sehr bescheidenen Ausmaß ähnliche Fragestellungen.
Die Welt ist in Bewegung. Ich vertrete die These, dass die Migration die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts sein wird, und zwar in einem globalen Maßstab. Daher war ich froh, dass im vorherigen Jahr auf UN-Ebene zum ersten Mal eine Konferenz zu diesem Thema stattgefunden hat. Nun kann man die Auswirkung einer solchen Konferenz in New York natürlich hinterfragen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass letztlich von solchen Konferenzen vielseitige Initiativen ausgehen oder zumindest ein Bewusstsein entsteht, dass es sich hier um ein weltweites Problem handelt und nicht um eine temporäre Erscheinung. Dieses Problem hängt natürlich auch mit dem Klimawandel zusammen, der in der unmittelbaren Nachbarschaft immer größere Herausforderungen wie Wassermangel oder Wasserknappheit mit sich bringt. Dies hängt wiederum mit einem asymmetrischen Bevölkerungswachstum zusammen. Das Durchschnittsalter in Europa liegt bei 42 bis 44 Jahren, während es in Afrika bei 21 bis 22 Jahren liegt. Diese Schere wird weiter auseinanderklappen, wenn wir nichts dagegen unternehmen.
Die regionalen Kräfte in der Welt verschieben sich. Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Bipolarität – der Auseinandersetzung zwischen dem Osten und Westen –, symbolisiert und manifestiert durch die Auseinandersetzung zwischen den USA und der Sowjetunion. Das 21. Jahrhundert wird definitiv ein Jahrhundert der Multipolarität mit den verschiedensten Akteuren ohne eine dominante Weltmacht. Der aktuelle amerikanische Präsident trägt seinen Teil dazu bei, meine These zu unterstützen. Dies ist im Grunde nicht schlecht, aber wie er es anstellt, ist weder zu begrüßen noch zu unterstützen.
Darüber hinaus übersehen wir verschiedenste Entwicklungen oder nehmen ihre Bedeutung noch nicht wahr. Wir beschäftigen uns viel mit China, übersehen aber, dass Indiens Bevölkerung im nächsten Jahrzehnt China überholen wird. Von den bilateralen Spannungen zwischen China und Indien einmal abgesehen, hat das natürlich weitreichende Konsequenzen, unter anderem für die wirtschaftlichen Entwicklungen. All dies ist eingebettet in eine gewisse Sorge über die demokratische Entwicklung dieser Welt, dies gilt auch für die bereits bestehenden Demokratien. Aber warum sage ich das? Ich vertrete die Auffassung, dass uns die Algorithmen der digitalen Welt in eine humanitäre und demokratiepolitische Sackgasse führen. Die Welt ist in ihrer Realität verschiedenartiger, bunter und vielfältiger. Um das zu verstehen, bedarf es aber der persönlichen Begegnung. Wir hätten ja genauso gut eine Videokonferenz ausrichten können, so hätte niemand hierher nach Marseille reisen müssen. Ob das als spannend empfunden worden wäre, bezweifle ich, denn das Salz in der Suppe – im positiven Sinne – ist, dass dieses Treffen für uns, dank der vielen Gespräche, die abseits der Plenarversammlung stattfinden, schon fast zu einem Treffen mit einander selten sehenden Bekannten geworden ist. Das ist eine unglaubliche Bereicherung, nicht nur wegen der Vorträge, die wie immer spannend und großartig sein werden, sondern auch wegen der vielen Möglichkeiten für spontan sich ergebende Gespräche. Das kann man in den sozialen Netzwerken so sicherlich nicht organisieren. Im Chatroom kann ich die Persönlichkeit meines Vis-à-vis bei Weitem nicht in dem Ausmaß identifizieren und festmachen, wie ich das in einer persönlichen Begegnung kann. Wie gesagt, kann man heutzutage zwar vieles genähert darstellen, die Nuancen und die Vielschichtigkeit dieser Welt jedoch nicht.
All diesen Herausforderungen sieht sich Europa momentan ausgesetzt – und mit Europa sieht sich auch der Mittelmeerraum mit ihnen konfrontiert. Es gibt keine Region in der Welt, die so heterogen, so vielschichtig, so kulturell religiös und politisch unterschiedlich ist wie dieses kleine Mittelmeer, das im globalen Maßstab eher einem größeren See ähnelt. Daher stellt sich die Frage, wie wir Europäer uns hier behaupten und was wir zu dieser Region beitragen können. Ich denke, dass wir Europäer ganz besonders dafür geeignet sind, auf andere Nationen zuzugehen, da wir eben fleißige, gescheite und intelligente Brückenbauer sind. Vieles davon muss sicherlich noch verbessert werden. Gerade wenn ich an den Umgang mit unseren Nachbarn und den Nachbarn unserer Nachbarn denke, dann sehe ich da und dort noch den Geist eines gewissen kolonialen Erbes. Dies gilt es zu überwinden. Im 21. Jahrhundert kann eine funktionierende Partnerschaft nur dann gegeben sein, wenn man sich mit seinem Vis-à-vis auf Augenhöhe befindet, wenn man die Probleme nachvollzieht und dabei mitwirkt, diese zu überwinden. Man sollte sich auf den Nachbarn einlassen, um die Nachbarschaft zu verstehen.
Das Problem innerhalb des europäischen Kontinents ist, dass wir einander zum Teil viel zu wenig kennen. Dies gilt noch mehr für uns und die Welt. Wir haben jedoch alle Voraussetzungen dazu, dies zum Positiven zu ändern. Im 21. Jahrhundert sollten wir Europäerinnen und Europäer auch hier eine Führungsrolle übernehmen, denn es ist eine ganz wesentliche Kulturtechnik und Fähigkeit, Brücken zu bauen – im tatsächlichen und vor allen Dingen im übertragenen Sinne.
Daher freue ich mich schon ganz besonders auf die diesjährigen Diskussionen. Wie jedes Jahr schließe ich meine Ausführungen mit dem Appell, die Sachverhalte nicht nur neu zu denken, sondern auch danach zu handeln und Lösungsansätze, wenn möglich, umzusetzen und zu implementieren. Große Worte sind schnell gesprochen, das geht in zweieinhalb Tagen, aber sie umzusetzen, das dauert ein bisschen. Die Voraussetzungen haben wir. Jeder von uns kann dazu seinen Beitrag leisten. Wichtig ist, dass wir uns zu diesem Weg bekennen, denn dann ist vieles möglich. Vielen herzlichen Dank.
1 Eröffnungsrede Symposion Europa Neu denken. Brücken bauen zwischen Kulturen und Nationen in eine neue Welt von EU-Kommissar Johannes Hahn am 6. Oktober 2017 im Musée Regards de Provence in Marseille.
2http://www.museeregardsdeprovence.com
3 Auf der unmittelbar vor dem Festland von New York gelegenen Insel war von 1892 bis 1954 eine behördliche Einreisestation eingerichtet, die von den Einwanderern zu durchlaufen war. Ellis Island ist das Symbol für die Geschichte der Einwanderungswelle des 19. und 20. Jahrhunderts in den USA.
Hedwig Kainberger
Die Einheit der Europäer ist kaum zu erreichen, schon weil viele Wörter in den diversen Sprachen nicht wirklich übersetzbar sind. Dabei ist die Unübersetzbarkeit nicht die einzige Schwierigkeit in der Verständigung zwischen Kulturen. Die Sehnsucht nach zu bauenden Brücken wird immer wieder enttäuscht.
Die Franzosen sagen, wortgetreu übersetzt, »Guten Tag«, während viele Österreicher »Grüß Gott« rufen. Die Spanier sagen zwar ähnlich wie die Briten so etwas wie »Hallo«, setzen aber ein umgedrehtes Rufzeichen davor. Wiederum andere, nämlich viele, wenngleich nicht einmal alle Italiener verwenden mit »Ciao« eine Verballhornung von »sciavo« für Diener, was dem österreichischen »Servus« nahekommt. Bloß die verschiedenen Bedeutungen jener Wörter, die Europäer fürs Begrüßen verwenden, noch gar nicht zu reden von denen fürs Verabschieden wie »Auf Wiedersehen«, »Salut«, »Bye, bye«, »Tot ziens!«, »Hyvästi« oder »Dovidenia« zeigen die unübersehbare Vielfalt an Begriffen allein für dieselbe kleine alltägliche Zuwendung zu einem anderen.
Schon das Grüßen zeige die Schwierigkeit des Übersetzens, stellt die französische Philosophin Barbara Cassin fest. Sie hat das Schwierige nicht gescheut. Vielmehr hat sie sich Umberto Ecos Diktum »die Sprache Europas ist die Übersetzung« zu Herzen genommen und auf die Suche nach dem Unübersetzbaren gemacht. Da fand sie zum Beispiel im Englischen »liberty« und »freedom«, wofür das Deutsche nur ein einziges Wort kennt, nämlich »Freiheit«. Sie fand das slawische »prawda« oder »pravda«, das »Wahrheit« wie »Gerechtigkeit« bedeutet. Wie kann das das Gleiche sein? Sie wurde derart fündig, dass sie seit Jahren am gut 1500 Seiten dicken »Wörterbuch des Unübersetzbaren«2 arbeitet – mittlerweile mit einem Team von Philosophen, Anthroposophen sowie Literatur- und Religionswissenschaftlern.
Beim Michael Fischer Symposion Europa NEU denken 2017 hat Barbara Cassin davon berichtet. Zudem hat sie vier Wissenschaftler eingeladen zu erörtern, wie unterschiedlich in den drei monotheistischen Weltreligionen vom Fremden gesprochen wird – anders gesagt: wie schwierig und wie unterschiedlich eine Brücke vom Selbst zum anderen zu schlagen ist.
Zum Beispiel schildert Philippe Borgeaud3, Religionshistoriker aus Genf, welche Probleme die christlichen Missionare in Asien und Afrika hatten, das Wort »Gott« in eine andere Sprache und in eine andere Kultur zu bringen. In Japan hätten sie für den jüdisch-christlichen Gott eine neue Vokabel erfinden müssen, nämlich »deusu«, berichtet Philippe Borgeaud. In China sei daraus »Herr des Himmels« geworden. Der Philosoph Adi Ophir4 erzählt davon, wie Europäer und Anrainer des Mittelmeeres sich seit je mit Fremden befasst haben. Die Vielfalt an Konfliktlinien zeigt sich am reichhaltigen Vokabular: Barbaren, Heiden, Ungläubige, Wilde, Juden, Muslime, Neger, Levantiner, Orientalen oder Goi.
Das Motto für den sechsten Anlauf zu Europa NEU denken hat gelautet: Brücken bauen zwischen Kulturen und Nationen in eine neue Welt. Die Metapher der Brücke ist als rhetorisches Leitmotiv schnell bei der Hand. Doch Achtung! Brücken, die gleichsam ewig – also seit Jahrhunderten – ihren Dienst tun, sind so rar, dass sie Berühmtheit erlangt haben – wie die Karlsbrücke in Prag, die Engelsbrücke in Rom, die Römerbrücke in Trier, der Ponte Vecchio in Florenz und der Pont Neuf in Paris. Berühmt sind auch technische und statische Großprojekte wie die Storebæltsforbindelsen über den Großen Belt in Dänemark oder der Ponte Vasco da Gama über den Tejo bei Lissabon – beide je etwa 18 Kilometer lang.
Doch was ist, wenn das Konstruieren eines Weges hinüber auf eine andere Seite misslingt? Die Verbindung über einen Abgrund oder über ein Wasser – jedenfalls über einen für den Menschen haltlosen Zwischenraum – ist meist schwierig herzustellen und von Unsicherheit, ja Lebensgefahr begleitet. Manchmal wird deshalb die andere Seite nie erreicht. Manchmal bricht eine bereits geschlagene und begangene Brücke wieder zusammen – weil die Statik falsch berechnet war, weil das Holz morsch geworden ist oder weil das Wasser, sei es wegen Hochwasser oder Klimaveränderung, sie weggerissen hat.
Ein faszinierendes europäisches Beispiel für so eine letztlich misslungene Anstrengung ist die Brücke von Avignon: Seit dem 12. Jahrhundert wurde am Pont Saint-Bénézet gebaut, das andere Ufer der Rhône wurde zwar erreicht, auf einem Pfeiler wurden im 12. und im 14. Jahrhundert sogar zwei Kapellen gesetzt, doch vermutlich wurde diese Brücke nie in Stein vollendet, war also immer dort und da mit Holz geflickt. Infolge martialischer Streitereien zwischen Päpsten, deutschen Kaisern und französischen Königen am einstigen Grenzfluss und vor allem ab dem 15. Jahrhundert wegen des nach einem Klimawandel gestiegenen Wasserpegels schwingen sich von den einst 22 Bögen heute nur noch vier in die Rhône. Auf den ersten Blick meint man, die Brücke sei unvollendet. Tatsächlich ist nur noch der Rest von dem fast einen Kilometer langen architektonischen Wunder übrig. Der einstige von Päpsten, Kaisern und Händlern benützte Weg, der eine auf die karolingische Erbteilung zurückzuführende Spaltung Europas überwunden hat, ist zur Sackgasse geworden.
Oft ist eine jahrhundertelang genützte Brücke obsolet, weil schnelle Autos und schwere Lastwagen anderes brauchen als Füße und Kutschen – dann steht vielleicht noch ein alter Steg ein paar Meter von einer Autobahnbrücke entfernt. Manchmal haben Menschen eine andere Konstruktion als eine Brücke gefunden, um zum Beispiel ein Wasser zu überwinden. Naheliegendes Beispiel ist der Tunnel unter dem Alten Hafen von Marseille: Darunter saust heutzutage der Verkehr der Stadtautobahn, darauf schwimmen Segelboote.
Nicht nur die Metapher des Brückenschlags, auch das Erinnern an verschwundene oder misslungene Brücken und das Bedenken von Gefahren der Brückenbauer sind anregend für Europa NEU denken. Bleiben wir dafür noch kurz bei Barbara Cassin: Die sich manchmal bis zur Unmöglichkeit auswachsende Schwierigkeit des Übersetzens bedinge drei Gefahren für Europa, warnte die Philosophin in Marseille. Das Erste sei ein sprachlicher Nationalismus, also das Verharren in vermeintlicher Sicherheit der Muttersprache. Das Zweite sei der Übergang zum »Globish«, also zu einem simplifizierten Englisch. Damit könne man zwar überall Kaffee bestellen, doch substanzielle Gespräche würden unmöglich. Ein Europäer sollte folglich das Wort »Sprache« immer im Plural denken. Ein drittes Problem in Europa sei die aufkommende Hierarchie von Sprachen und folglich Kulturen.
Allerdings eröffnet die Unübersetzbarkeit auch Vorteile: Sie bedinge, dass man mit Unterschieden umzugehen lerne, sagt Barbara Cassin. Unübersetzbares führe dazu, dass sich Menschen unaufhörlich mit dem anderen und mit dem zunächst fremd Erscheinenden auseinanderzusetzen hätten. Eine Folge davon: »Die Zivilisation um das Mittelmeer ist über das Unübersetzbare entstanden.« Andere Folgen sind allerdings auch Unverständnis, Missverständnisse und Konflikte. Daher sei das Wahrnehmen von sprachlichen Differenzen wichtig, um Konflikte zu deeskaliseren, rät die Philosophin.
Das Unübersetzbare in einem anderen Zusammenhang, nämlich der Auszug eines Volkes in ein fremdes Land, der zwar nicht über eine Brücke, doch durch ein eigentlich unbezwingbares Meer hindurch erfolgt ist, hat einen immensen Schub in der Geistesgeschichte bewirkt: Der Eingottglaube wurde begründet. Damit hätten die heutigen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam begonnen, erläutert der Religionswissenschaftler Jan Assmann5 in seinem Beitrag zu Europa NEU denken.
Warum soll man sich mit Blick auf die heutige Europäische Union mit einem vor mehr als 2500 Jahren aufgezeichneten Ereignis beschäftigen? Dazu gibt es zwei Erklärungen – die eine ist von Jan Assmann selbst: Wenn mit dem Erinnern an den Exodus das Zeitalter des Glaubens begonnen habe und wenn dieser Glaube in Europa seit Ende des 18. Jahrhunderts verblasse, was ersetzt die gemeinsame Religion? Jan Assmann folgert: Nun gelte es, »Europa als Hort einer neuen Lebensordnung auf der Grundlage der Menschenrechte« aufzubauen. Die große Gemeinsamkeit der Europäer könne ein neuer Glauben werden, ein Glaube »an den Menschen und die Menschheit, an die demokratischen, zivilgesellschaftlichen Freiheiten, Rechte und Pflichten«.
Eine zweite Rechtfertigung für ein Ausholen weit zurück in die Geschichte hat der französische Historiker Fernand Braudel (1902–1986) geliefert. Er schrieb in Die Welt des Mittelmeeres6: Zivilisationen seien in einer weit zurückliegenden Vergangenheit verwurzelt. »Denn eine Zivilisation ist etwas Kontinuierliches, und wenn sie sich ändert – selbst so gründlich, wie das eine neue Religion bewirken mag –, dann sitzen die alten Werte doch in ihr fest, bleiben durch sie lebendig, sind ihre Substanz.« Die Zivilisationen seien nicht sterblich, »sie überleben ihren Wandel und ihre Katastrophen. Bisweilen gehen sie verjüngt aus ihrer Asche hervor. Zerrüttet oder zumindest verwundet, atmen sie gleichwohl weiter: leise und oft in neuem Rhythmus.«7 Und Fernand Braudel stellt fest: »Wer sich mit den heutigen Mentalitäten befassen will, muss die unendlich lange Vergangenheit der Zivilisationen einbeziehen.«8
Allerdings erfolgt der Brückenschlag zurück in die Vergangenheit nicht direkt vom Heute zum einstigen Ereignis, sondern führt über die Erinnerung. Dem widmete die Kulturwissenschaftlerin Alida Assmann9 ihren Beitrag für Europa NEU denken: In jedem Land werde von Kriegen und Katastrophen der Geschichte anderes erinnert – die einen feierten ihre militärischen Siege, die anderen gedächten ihrer Niederlagen, erläuterte Alida Assmann. Deutschland habe aus dem Zweiten Weltkrieg gefolgert: Nie wieder Täter sein! Die Israeli hingegen hätten daraus die Lehre gezogen: Nie wieder Opfer sein! Und überall wandelt sich die Erinnerungskultur: Während zum Beispiel in Westeuropa seit 1990, als die im Kalten Krieg gepflegte »Kultur des Vergessens« beendet wurde, das historisch bis dahin einzigartige Erinnern an Schuld für massenhafte Gewalt eingesetzt hat, während außerdem die westeuropäischen Staaten dabei sind, den aus Sieger- und Opfermythen genährten Nationalismus zu überwinden, wird in osteuropäischen Ländern ein Mangel an Nationalstaat evident. Diese »sehen in der EU keine Infragestellung ihrer Nationen, sondern vor allem deren Schutzmacht«, stellt Aleida Assmann fest. Zudem wird der Unterschied zwischen der westeuropäischen Abwendung vom Nationalismus und der osteuropäischen Zuwendung zu nationaler Abgrenzung seit 2015 im Streit um die Flüchtlinge virulenter denn je.
Noch einmal kurz zu Fernand Braudel: Er schreibt in seinen Schilderungen vom Mittelmeer von Zivilisationen und von Kulturen – also immer von einer Mehrzahl an Gemeinschaften, Völkern und Nationen rund um das Mittelmeer. Die Andersartigkeit hat zu vielen Begegnungen geführt – sei es angetrieben von Aggression, Machtstreben und Gewalt oder von Handel oder einfach Neugier.
Von einem Beispiel für dezidiert friedvoll gestaltete Begegnungen von einander fremden Anrainern des Mittelmeeres erzählte beim Symposium Europa NEU denken der Komponist und Dirigent Kifah Fakhouri10: Seit 2010 gibt es eine europäisch-arabische Musikakademie, die immer wieder junge Musiker und Sänger aus europäischen wie aus arabischen Ländern zum gemeinsamen Musizieren und Chorsingen zusammenbringt.
Wie sich ein brutales Streben nach Macht, Reichtum und Handelsware auf die europäische Integration ausgewirkt hat, schildert bei Europa NEU denken der schwedische Politikwissenschaftler Peo Hansen.11 Dass Europäer in Afrika Kolonien ausgebeutet haben, ist Nährstoff für die Europäische Union geworden. Da die Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Gründung der heutigen EU zusammenfällt, wurde fast jeder anfängliche Integrationsschritt der ersten EWG-Mitglieder von Bekenntnissen und Vorhaben für eine europäische Afrika-Politik begleitet. Und Peo Hansen sprach das Rätsel an, warum bisher »die starke Korrelation zwischen europäischer Integration und europäischem Kolonialismus im wissenschaftlichen Diskurs wie in öffentlichen Debatten so wenig Aufmerksamkeit erhalten hat«.
Weil dieser Blick auf das Mittelmeer, die Mittelmeerländer und ihre Geschichte ebenso anregend wie aufschlussreich ist, ist Europa NEU denken – nach Triest, Piran, Dubrovnik und Syrakus – im Herbst 2017 nach Marseille gezogen, dessen natürliche Hafenbucht ein friedlicher oder kriegerischer Begegnungspunkt für einander Fremde gewesen ist: für Kelten und Griechen, Gallier, Römer und Christen, Ostgoten und Westgoten, Sarazener und Franken.
Dass Marseille allerdings einmal im 20. Jahrhundert zu einem lebenswichtigen Brückenkopf werden sollte, schilderte der deutsche Verleger Michael Krüger.12 Zu ihm nach München, in sein Büro des Hanser-Verlages, sei vor etwa 25 Jahren eine alte Dame aus Chicago gekommen und habe ihm »eine lange Geschichte über Marseille erzählt«. Es sei Lisa Fittko gewesen, »die letzte Frau, die versucht hat, Walter Benjamin über die Pyrenäen zu bringen«. Bis ins winzigste Detail habe sie sich an den vor den Nazis fliehenden deutschen Philosophen erinnert. Lisa Fittko betrieb mit Varian Fry in Marseille – unter anderem mit einem Versteck am Alten Hafen – eine Anlaufstelle für Flüchtlinge vor dem NS-Regime; die beiden halfen etwa 2200 Fliehenden nach Spanien und Portugal, darunter Hannah Arendt, Marc Chagall, Marcel Duchamp, Lion Feuchtwanger, Alma Mahler, Heinrich und Golo Mann sowie Franz Werfel. Ihre Erinnerungen an die 1940er-Jahre in Marseille erschienen unter dem Titel Mein Weg über die Pyrenäen13 1985 bei Hanser. Michael Krüger betonte auch, wie sich der Flüchtlingsstrom verändert hat: »Damals wollten Flüchtlinge Europa so schnell wie möglich verlassen, jetzt wollen Flüchtlinge nach Europa.«
Das hiesige Museum für Zivilisationen am Mittelmeer (Mucem) hat zeitgleich zu Europa NEU denken seine Sonderausstellung Abenteurer des Meeres gezeigt. Ausstellung wie Symposium haben sich – obgleich unabhängig voneinander entstanden – denselben Ausgangspunkt gesetzt: Europa NEU denken mit dem Vortrag Jan Assmanns über Offenbarung, Transzendenz, Bund und Gesetz als gemeinsame Bauprinzipien der Weltreligionen sowie Abenteurer des Meeres mit Zitaten aus zwei heiligen Schriften; der Koran war mit dem 22. Vers der zehnten Sure aufgeschlagen; und aus dem Buch der Psalmen des Alten Testaments war in der Vitrine des Mucem der 107. Psalm, Verse 23-32 aufgeschlagen. Welch faszinierende Dichotomie von Verwandtschaft und Unterschiedlichkeit dieser beiden Religionen, von gleicher Wurzel und oft in Krieg oder Terror ausartendem Konflikt!
Dass zwischen den unterschiedlichen Kulturen am Mittelmeer ein Austausch möglich geworden ist, dass dieser Austausch im 15. und im 16. Jahrhundert in Ausmaß, Vielfalt und Kostbarkeit geradezu explodiert ist, hat mit der großen, für die damalige Zeit fast übermenschlichen Errungenschaften der Seefahrt zu tun. Plötzlich wurden chinesisches Porzellan und indische Baumwolle verfügbar, plötzlich kam Gold von Afrika in den Norden und Silber von Europa in den Süden, und die einen schauten von den anderen die Kniffe bei der Verarbeitung von Glas, Textilien, Keramik und Metall ab, sodass auch Wissen über Techniken, Verzierungen und als schön empfundene Formen auf die jeweils andere Seite des Meeres überwechselte.
Das Erstaunliche: Dieser heute noch bemerkenswerte Quantensprung in Wissen, Handel und Kultur rund um das Mittelmeer hat insofern mit der Metapher des Brückenbaus wenig zu tun, als den Seefahrern beim Beginn solcher Unternehmungen deren Ausgang und deren etwaiges Ergebnis ungewiss gewesen sind. Nicht der Blick auf den zu erreichenden Brückenkopf am anderen Ufer hat die mutigsten Menschen zu den größten Leistungen der Seefahrt motiviert, sondern die pure Neugier des Forschers und das reine Draufgängertum des Abenteurers. Zu solchem hat auch die Präsidentin der Salzburger Festspiele14 die Teilnehmer in Marseille aufgefordert, indem sie ihnen ein Zitat von Friedrich Nietzsche zurief: »Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!«
1 Dies ist eine erweiterte und abgeänderte Fassung des Textes, der am 9. Oktober 2017 in den Salzburger Nachrichten erschienen ist.
2 Cassin, Barbara (ed.), Vocabulaire européen des philosophies. Dictionnaire des intraduisibles, Paris 2004.
3 Borgeaud, Philippe, Deus und die Anderen, in diesem Band, 131ff.
4 Ophir, Adi, Types of Others: Why Gentiles are not Barbarians, in diesem Band, 137ff.
5 Assmann, Jan, Aus der Geschichte lernen? Exodus: Die Geburt des Monotheismus aus der Erfahrung der Katastrophe, in diesem Band, 111ff.
6 Braudel, Fernand / Duby, Georges / Aymard, Maurice, Die Welt des Mittelmeeres. Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen, hrsg. v. Fernand Braudel. Aus dem Französischen von Markus Jakob, unveränd. Neuausgabe, Frankfurt a. M. 2006 [1987].
7 Ebd., 97.
8 Ebd., 101.
9 Assmann, Aleida, Aus der Geschichte lernen? Der Sonderweg und die Zukunft der EU, in diesem Band, 203ff.
10 Fakhouri, Kifah, The Euro-Arab Youth Music Centre (EAYMC): A Platform for Cultural Exchange and Understanding, in diesem Band, 197ff.
11 Hansen, Peo / Jonsson, Stefan, »Europe will be your revenge«: Eurafrica and the Colonial History of the European Union, in diesem Band, 55ff.
12 Moderation Panel Meer/La Mer – Mots/Worte, Symposion Europa neu denken. Brücken bauen zwischen Kulturen und Nationen in eine neue Welt am 7. Oktober 2017 im Musée Regards de Provence in Marseille.
13 Fittko, Lisa, Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41, München 1985.
14 Rabl-Stadler, Helga, Mit Musik Brücken zwischen Kulturen bauen, in diesem Band, 185ff.
Philippe Pujol
Marseille ist ein unglaubliches Geschichtsbuch auf einer einzigen Seite. Alles wird ununterbrochen überschrieben, eine permanente Korrektur von etwas, das nie ganz wegradiert werden kann.
Es scheint auf dieser einen Seite noch etwas durch von der Gründung von Massalia 600 Jahre v. Chr. durch die Heirat einer indigenen Prinzessin mit einem Griechen, der aus der Stadt Phokaia kam. Davon gibt es allerdings unterschiedliche Versionen: von Aristoteles und von Pompeius Trogus, die Justin erzählt. Jeder Marseillais, den man heute fragt, wird einem sagen, Protis und Gyptis hätten durch ihre Heirat die »cité phocéenne«, die »phokäische Stadt« gegründet – ein Mix aus beiden Versionen.
Es ist auf dieser einen Seite der Geschichte auch etwas vom kurzen Aufenthalt Julius Cäsars geblieben, der Massalia mit fließend Wasser versorgte und es mit Straßen an ganz Europa anschloss.
In der Mitte auf dieser Seite und im Zentrum der Stadt ist noch der Abdruck des Misstrauens zu sehen, das Louis XIV. mit seiner Angst vor dem Aufstand den Bewohnern Marseilles entgegenbrachte. Das Fort Saint Nicolas zeigt zur Stadt hin, nicht zum Meer. Der Sonnenkönig fürchtete ihre Einwohner viel mehr als die aus der Ferne kommenden Plünderer oder Invasionen.
Auf dieser Seite der Geschichte ist außerdem ein schwarzer Fleck aus der Zeit nach der Französischen Revolution, als die Jakobiner den versuchten Aufstand von Marseille bestraften, indem sie es die »Stadt ohne Namen« tauften. Bis heute wird das Jakobinertum von den Marseillais bitter verurteilt. Ihre Anti-Paris-Haltung, die sich besonders im Fußball widerspiegelt, ist nichts anderes als ein kontinuierliches Anfechten der Zentralgewalt. Es ist kein Zufall, dass die Forderung nach den ersten Gesetzen zur Dezentralisierung von einem Marseiller Bürgermeister kam, von Gaston Defferre, auch wenn diese im Vergleich zum deutschen System eher lächerlich waren und auch wenn die Dezentralisierung in französischem Stil letztlich nur ein weiteres klientelistisches Mittel der kommunalen Abgeordneten war.
Marseille ist also diese große Seite, auf der die sichtbarsten Merkmale immer noch aus der Kolonialzeit stammen, dieses Tor des Südens, das der große Reporter Albert Londres beschrieben hat. Die Landhäuser der Großunternehmer jener Zeit liegen weit verstreut im Norden der Stadt, wo die Arbeiterbaracken zu großen, von Arbeitslosen bewohnten Ensembles geworden sind, den berühmten Cités, wo die Wirtschaft des Improvisierens, sei es legal oder illegal, immer mehr Bewohner einsperrt.
Und was ins Auge sticht auf dieser einen Seite, das sind die neuesten Ausstreichungen: ein skizzierter Urbanismus, so unleserlich und lehrreich wie jede künstlerische Skizze. Alles wird auf dieses Pergament geschrieben, das Marseille ist. Man bringt das vorherige Manuskript zum Verschwinden, um es mit dem zu füllen, was die Zeit bringt.
Die Stadt Marseille ist ein Palimpsest. Ein Palimpsest ist ein Schriftstück aus Pergament aus der Antike, das die Kopisten des Mittelalters löschten, um es mit einem zweiten Text zu beschreiben. Die Kopisten von Marseille sind immer noch am Werk und schreiben über oder zwischen die Zeilen, je nach Jahrhundert.