9,99 €
Am 25. November 1944 schlägt eine deutsche V2 in ein Londoner Kaufhaus ein. 168 Menschen verlieren binnen Sekundenbruchteilen ihr Leben, die meisten sind Frauen und Kinder. Francis Spufford macht aus dem Epitaph für die Getöteten einen Anfang. Er erzählt von fünf ungelebten Leben: Da sind die Zwillingsschwestern Jo und Val. Val, die Lebenslustige, verliebt sich in den Falschen, landet im Gefängnis und tut ein Leben lang Buße. Jo, die Hochbegabte, geht nach Amerika, aber für eine Frau ist in der Musikindustrie nur die Rolle als Freundin des Stars vorgesehen. Vern, der von keinem Geliebte, macht Geschäfte, er triumphiert und scheitert und geht dabei über Leichen. Alecs Leben verläuft in den vorbestimmten Bahnen seiner Klasse – bis der Umbruch der Thatcherjahre alle Gewissheiten zerschlägt. Und dann ist da Ben, der Bedrohteste von allen, sein Lebensleid scheint beinahe unerträglich, aber am Ende wartet auf ihn das hellste Glück, das ein Autor sich einfallen lassen kann. Ein Roman, so unvorhersehbar wie das wahre Leben, erfüllt von großem Leid und von der Hoffnung, dass allen Menschendingen am Ende doch ein Sinn innewohnt. Eine bewegende Lektüre, fesselnd, erheiternd und zu Tränen rührend.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 451
Veröffentlichungsjahr: 2022
Francis Spufford
Roman
Am 25. November 1944 schlägt eine deutsche V2 in ein Londoner Kaufhaus ein. 168 Menschen verlieren binnen Sekundenbruchteilen ihr Leben, die meisten sind Frauen und Kinder. Francis Spufford macht aus dem Epitaph für die Getöteten einen Anfang. Er erzählt von fünf ungelebten Leben: Da sind die Zwillingsschwestern Jo und Val. Val, die Lebenslustige, verliebt sich in den Falschen, landet im Gefängnis und tut ein Leben lang Buße. Jo, die Hochbegabte, geht nach Amerika, aber für eine Frau ist in der Musikindustrie nur die Rolle als Freundin des Stars vorgesehen. Vern, der von keinem Geliebte, macht Geschäfte, er triumphiert und scheitert und geht dabei über Leichen. Alecs Leben verläuft in den vorbestimmten Bahnen seiner Klasse – bis der Umbruch der Thatcher-Jahre alle Gewissheiten zerschlägt. Und dann ist da Ben, der Bedrohteste von allen, sein Lebensleid scheint beinahe unerträglich, aber am Ende wartet auf ihn das hellste Glück, das ein Autor sich einfallen lassen kann.
Ein Roman, so unvorhersehbar wie das wahre Leben, erfüllt von großem Leid und von der Hoffnung, dass allen Menschendingen am Ende doch ein Sinn innewohnt. Eine bewegende Lektüre, fesselnd, erheiternd und zu Tränen rührend.
Francis Spufford, geboren 1964, ist in England seit Langem bekannt als Autor erzählender Sachbücher. Er hat mit seinen auch literarisch ambitionierten Werken schon zahlreiche Preise gewonnen, darunter den Somerset Maugham Award, den Sunday Times Young Writer of the Year Prize und den Writers’ Guild Award für das beste Sachbuch des Jahres. Für «Neu-York», sein erstes belletristisches Buch, wurde der Autor 2017 mit dem Costa First Novel Award ausgezeichnet. «Ewiges Licht» war für den Booker Prize nominiert. Francis Spufford lebt in der Nähe von Cambridge.
Jan Schönherr lebt in München und hat Autoren wie Charles Bukowski, Jonathan Safran Foer und Jack Kerouac übersetzt. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur und dem Förderpreis zum Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW 2019.
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Light Perpetual bei Faber & Faber, London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Light Perpetual» Copyright © 2021 by Francis Spufford
Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München,
nach dem Original von Simon & Schuster Inc.; Design: Jennifer Carrow
Coverabbildung oxygen; darek2u/Getty Images
ISBN 978-3-644-01025-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
www.rowohlt.de
Für Bernice
Lord Street bis Cripplegate
Das letzte Wort würde nicht der Zeit bleiben, sondern der Freude.
PENELOPE FITZGERALD
Sie alle sind gegangen, in die Welt aus Licht.
HENRY VAUGHAN
In Sidcup konnte man alles kriegen.
KEITH RICHARDS
Das Licht ist grau und düster; ein Glimmen, ein Glühen, das fast an seinem eigenen Ruß erstickt und nur einen Bruchteil seiner Kraft ins sichtbare Spektrum abgibt. Der Rest ist Hitze und Bewegung. Doch vorerst kriecht die Brennlinie noch langsam durchs Gehäuse des Sprengkopfs. Als fadendünne Front des Wandels breitet sie sich von der elektrischen Zündvorrichtung durch das schwere Amatol aus. Vor ihr eine gelblich braune Masse, glatt und zäh wie Karamell: hinter ihr ein brühendes Gebrodel einzelner Atome, mit Gewalt aus den Verbindungen befreit, die sie zu Trinitrotoluol und Ammoniumnitrat vereinigt hatten, und kurz davor, sich wieder in möglichst simple Moleküle abzusetzen. Bald werden sie Gase sein. Heiße Gase, viel heißer als geschmolzenes Metall, plötzlich überschäumend und so brutal in viel zu engen Raum gepresst, dass sie das Gehäuse einfach aufsprengen würden, wenn dieses Gehäuse dann noch da wäre. Wenn es nicht selbst in stählernem Dunst verginge, sobald die Brennlinie es erfasst.
Augenblicke. Dieser Augenblick, bevor das Stahlgehäuse sich auflöst, ist eine Zehntausendstelsekunde lang. Ein feiner Haarriss in einem Samstagmittag im November 1944. Aber sehen wir genauer hin. Der Riss hat eine Ausdehnung. Er hat eine Dauer. Könnte man ihn also nicht noch mal halbieren? Und dann noch einmal, immer wieder, ihn unendlich weiter teilen? Birgt er nicht einen bodenlosen Abgrund in sich? Der Stoff, aus dem die alltägliche Zeit besteht, ist innen hohl – eine Leere, eine Kluft folgt darin auf die andere. Jeder beliebige Moment erweist sich bei genauerer Betrachtung als dicht geschnürtes Bündel immer feiner unterteilter Augenblicke; es geht immer und ewig noch feiner, als man vermutet hat. Materie besteht aus kleinsten, ganz genau begrenzten Bausteinen. Zeit nicht. Eine Zehntausendstelsekunde ist ein dicker Wälzer mit unzählbar vielen Seiten, jede einzelne so dünn wie Zwiebelhaut. Exakt so unzählbar viele Seiten wie alle Seiten aller Bücher, die die gesamte Vergangenheit des Universums einschließen. Dieses Buch der Zeit enthält keine Seite weniger als all die anderen zusammen. Jeder Teil ist so unendlich wie das Ganze, weil Unendliches nicht unterschiedlich groß sein kann. Alle sind gleichermaßen grenzenlos. Und doch entspringen diesem Fehlen jeglicher Grenzen unsere alltäglichen Endlichkeiten, all unsere Anfänge und Enden. Als hätte jemand über den Abgrund einen Ponton gelegt, auf dem wir, ohne es zu merken, vorwärtsschreiten; als entstünde das Erleben dieser Sekunde und dieser, dieser Minute und dieser – in bruchloser Folge, gnadenlos und nie wirklich genug, bis irgendwann keine mehr übrig sind – aus einer (temporären) Gerinnung jenes Nichts, oder auch Allem, das unbeachtet unter allen Jahren, sämtlichen Novembern, Mittagszeiten gähnt. Aber schreiten wir denn wirklich? Bewegen wir uns in der Zeit, oder bewegt sie uns? Aber jetzt ist keine Zeit zum Spekulieren. Eine Bombe ist dabei zu explodieren.
An diesem speziellen Samstagmittag hat der Woolworths in der Lambert Street im Londoner Stadtteil Bexford eine neue Lieferung Kochtöpfe im Angebot, blitzblank auf einem Tisch im Obergeschoss gestapelt. Seit Jahren hat hier niemand einen neuen Topf gesehen, und ungeduldige Frauen drängen sich mit gezückten Geldbörsen um den Tisch, im Schlepptau Kinder, die sie noch nicht allein zu Hause lassen können. Da sind Jo und Valerie mit ihrer Mum, aus Wollresten gestrickte Schottenmützen auf ihren Köpfchen; dort ist Alec – kurze Hose, Streichholzbeine – mit seiner Mutter; Ben, fest an der Hand der seinen, schaut wie immer leicht verwirrt drein; und da, neben seiner Grandma, ist der dicke Vernon, das Produkt eines Haushalts, in dem die Nahrung offensichtlich nie so knapp wird wie bei anderen. Die Frauen strecken die Hände nach dem herrlichen Aluminium aus, doch ein Menschenarm kommt nicht sehr weit in einer Zehntausendstelsekunde, sodass sie aussehen wie festgefroren. Die Kinder stehen da wie Statuen aus Haut und Knochen. Vern hat den Finger in der Nase. Und dennoch, trotz dieser extremen Zeitlupe, ist da eine sichtbare Bewegung. Hinter dem Tisch, bei dem Regal mit den vergilbten Strickmustern, bricht etwas Langes, Schlankes, Spitzes durch die Decke, in einer wallenden Wolke aus Putz, Backstein und geborstenen Dachziegeln. Inmitten der funkelnden Trümmer gleitet der konisch spitze Sprengkopf geradezu geometrisch würdevoll auf den Fußboden zu, und dahinter schiebt sich langsam der mattgrüne Raketenrumpf ins Sichtfeld. Im Inneren des Konus brennt bereits das Amatol. Kundinnen, Kochtöpfe, Rakete: Was ist falsch an diesem Bild? Das wird uns niemand mehr sagen. Jo und Alec schauen zufällig in die richtige Richtung. Starr blicken sie zwischen den Schultern von Mrs Jones und Mrs Canaghan hindurch, dahin, wo die Rakete sich durch die Decke drückt. Doch sie können sie nicht sehen. Niemand kann das. Das Bild erreicht zwar ihre Netzhaut, aber das Auge braucht viel länger als eine Zehntausendstelsekunde, um es zu verarbeiten und ans Hirn weiterzuleiten. Bis dahin werden die Kinder längst keine Augen mehr haben. Und auch keine Gehirne. Dieser Augenblick – diese messbar kleine, unermesslich große Zeitspanne – beginnt, verläuft und endet völlig ohne Zeugen. Und doch ist er real. Passiert tatsächlich. Nimmt wirklich seinen notwendigen Platz ein in der Abfolge von Augenblicken, in denen 910 Kilogramm Amatol zwischen den Kochtöpfen einschlagen.
Dann erreicht die Brennlinie das Metall. Was folgt, nennen die Chemiker «Brisanz». Aus der sich ringsum ausbreitenden Verbrennung entsteht eine sich ebenso ringsum ausbreitende Detonationswelle, mit dem geballten Druck des wütenden Gases im Rücken. Was ihr im Weg steht, wird vernichtet. Ein Ruck der Verformung, der Verschiebung geht durch jedes feste Ding, schlägt es in Stücke, die dann vor der Welle hergetrieben werden. Strickmuster. Regale. Ein gläsernes, an Ketten aufgehängtes Schild mit der Aufschrift KURZWAREN. Tische. Töpfe. Ein oft geflickter, schon von zwei anderen Geschwistern getragener Wintermantel mit Hornknöpfen. Haut. Knochen. Die Größe der Fragmente ergibt sich aus dem Abstand zum Detonationszentrum. Direkt daneben bleiben nur Partikel: dann Spritzer, Fetzen, Krümel, Klumpen, Stücke; und am weitesten entfernt, da, wo die Kraft der Welle sich schon maximal verteilt hat, meterbreite, demolierte Stücke Wand, eine Tür, eine Steinplatte oder ein Straßenbahnschild, losgerissen und quer über die Straße gewirbelt. Aufgrund der Form des Sprengkopfs richtet sich die Druckwelle anfangs vor allem nach unten, einmal durch den ersten Stock, das Erdgeschoss und den Keller des Woolworths bis ins Londoner Erdreich, wo sie einen ungefähr konkaven Krater aushebt, bevor sie abprallt, sich nach oben und zu allen Seiten ausdehnt und dabei den größten Teil des angeschlagenen Gebäudes mitreißt. Eine Trümmerkuppel bläht sich auf. Die Läden links und rechts des Woolworths werden längs der Kuppelränder aufgerissen. Ein Blizzard aus Metallzacken und Steinsplittern peitscht über die Lambert Street. Die Gebäude gegenüber sacken ächzend ab; Fensterscheiben bersten nach innen, blitzende Scherben bohren sich dahinter in die Wände. Unter der Erde reißt die Erschütterung Gasleitungen auf, drückt die Flansche der Wasserrohre auseinander. Durch die Luft – auch da, wo keine Trümmer fliegen – geht ein unsichtbarer Ruck. Eine Straßenbahn aus Lewisham, die gerade um die Kurve biegt, wackelt auf den Schienen und bleibt stehen; doch der Druck jagt längs hindurch, macht die klare Luft darin einen Moment so hart wie Glas. An den äußersten Ausläufern der Druckwelle kommt es zu kleinen, seltsamen, beinahe schrulligen Veränderungen. Küchenstühle wandern rüttelnd über den Fußboden. Eine Schranktür klappt auf, und vor dem Krieg dahinter verstautes Konfetti rieselt heraus. Ein kleines Waagengewicht aus der Metzgerei gleich neben Woolworths fliegt über die Lambert Street und die nächste Parallelstraße hinweg durch das offene Fenster im Obergeschoss eines Hauses noch eine Straße weiter und landet zwischen den Tasten einer Underwood-Schreibmaschine, die unversehrt bleiben.
Jetzt müssen wir die Zeit nicht mehr verlangsamen. Es gibt nichts mehr zu sehen, was die normale Geschwindigkeit menschlicher Wahrnehmung übersteigt. Lassen wir sie laufen, die Zeit, Sekunde für Sekunde. Die Trümmer der Lambert Street kommen zur Ruhe. Das dumpfe, von der Explosion weit abgehängte Heulen der heranfliegenden Rakete ist nun endlich zu hören. Es folgt dröhnende Stille. Im Woolworths ist niemand mehr am Leben, der sie brechen könnte. All die Kundinnen und Verkäuferinnen auf allen drei Etagen sind tot; ebenso auch alle in der Metzgerei zur Linken und dem Postamt zur Rechten, abgesehen von einem Schalterbeamten mit zwei gebrochenen Beinen, der sich zufällig genau im rechten Augenblick in den Tresor gebeugt hat; alle Wartenden an der Straßenbahnhaltestelle vor der Post; alle Passanten; alle, die an den Fenstern gegenüber standen; all die Fahrgäste in der Straßenbahn aus Lewisham, die zwar noch in Hut und Mantel auf den Plätzen sitzen, aber von der Druckwelle erstickt wurden. Erst dann hört man – von den äußersten Rändern dieses Zirkels der Verwüstung – die ersten Schreie. Die Sirenen. Die anrückende Feuerwehr; und die mittelalten Männer und Frauen vom Luftschutz, die mit Spaten bewehrt durch die Ruinen stolpern; die Jungs und alten Männer des Light Rescue Service, die mit ihren nur selten benötigten Bahren und den oft benötigten Leichensäcken eintreffen. Der Versuch, aus den Resten des Woolworths jene Partikel, Spritzer, Fetzen, Krümel, Klumpen und Stücke zu klauben, die einst zu Menschen gehört haben; zu Menschen, die jemandem fehlen, auf die jemand wartet, derentwegen andere Menschen in der bleichen Menge hinter der Absperrung am Ende der Straße verzweifeln.
Jo, Valerie, Alec, Ben und Vernon gibt es nicht mehr. Alles ging so schnell, dass sie unmöglich merken konnten, was geschah, was einige, die um sie trauern, später tröstlich finden werden, andere hingegen nicht. Von einer Zehntausendstelsekunde auf die nächste ausgelöscht, und zwar so gründlich, als wären sie im unermesslich weiten Nichts versunken, das unter dem klapprigen Gerüst aus Stunden und Minuten liegt. Ihre Rolle in der Zeit ist ausgespielt. Sie haben keinen Anteil mehr an dem, was schwillt, was atmet, sich zusammenzieht und dreht und windet, was heller wird und dunkler; an keinerlei Veränderung der Dinge. Nichts ist ihnen jetzt mehr möglich, das eine Form des Seins erfordert, die sich über die Abgründe der Zeit hinweg von einem Augenblick zum nächsten streckt. Sie können weder handeln noch behandelt werden. Weder rufen noch gerufen werden. Weder können sie, noch kann man ihnen etwas tun. Da sind sie – nicht. Dabei liegt all der Stoff, aus dem sie waren, noch immer dort im Krater. Aber niemand, und hätte er dafür noch so viel Zeit, kann ihn je wieder fügen. So ist die Zeit nun mal. Sie bricht die Dinge auf. Verstreut sie. Man kann sie ebenso wenig zurückdrehen, um den Staub auferstehen zu lassen, wie man Milch wieder aus einer Tasse Tee herausrühren kann. Einmal entzweit, für immer entzwei. Einmal verstreut, immer verstreut. Unwiderruflich.
Ausgelöscht wurde jedoch nicht bloß die Gegenwart der Kinder – Vernon, der nicht zurück nach Hause stapft, wo eine Speckseite in der Küche baumelt, Ben, der nicht im Park auf den Schultern seines Vaters die wässrigen Novemberwolken bestaunt, Alec, der morgen nicht wie versprochen in den Park darf, Jo und Valerie, die einander heute Abend nicht über ihre schottische Hühnersuppe hinweg Grimassen schneiden. Nein, auch ihre Zukunft ist vernichtet. All das Hätte, Könnte, Würde der kommenden Jahrzehnte. Wie soll man diesen Verlust beziffern, ihn begreifen, außer, indem man ihn neben einen alternativen Zeitstrahl legt, auf dem Hätte, Könnte, Würde noch zu Wirklichkeit gerinnen können? Wo die Rakete durch eine einzige veränderte Sekunde auf ihrer Flugbahn, einen kleinen Ruck kurz nach dem Start in Holland, vierhundert Meter weiter im Bexford Park einschlug und nur ein paar Tauben tötete; wo ihr Leitsystem gestört war, wie das bei so kruden Apparaten durchaus vorkommt, und sie sang- und klanglos zwischen den Wellen der Nordsee verschollen ging; oder wo sie gar nicht erst startete, ein Missgeschick beim Treibstoffnachschub, dank dem die Soldaten der Batterie 485 in Wassenaar den ganzen Tag unter Bäumen saßen und rauchten, auf den Ethanol-Laster warteten und nervös den Himmel nach den Mosquito-Jagdbombern der Royal Air Force absuchten?
Komm, andere Zukunft. Komm, Gnade, die sich in der Zeit nicht zeigt; komm, Wissen, das die Zeit nicht bietet. Kommt, andere Möglichkeiten. Komm, unauslotbare Tiefe. Komm, ungeteiltes Licht.
Komm, Staub.
Miss Turnbull bläst in ihre Pfeife: Zeit fürs Singen. Nichts macht Jo in der Schule lieber, und im Handumdrehen steht sie an der Linie auf dem Asphalt, vor der die fünfte Klasse immer antritt, um wieder nach drinnen zu marschieren. Doch der restliche Spielplatz akzeptiert das Ende der großen Pause trotz des Nieselregens langsamer. Die Lehrerin muss ein zweites und dann noch ein drittes Mal pfeifen, ehe Fußball, Hüpfspiele und Rangeleien widerstrebend eingestellt werden und die triste Schlucht zwischen der verrußten roten Außenwand der Grundschule Halstead Road und der verrußten Mauer um den Hof halbwegs zur Ordnung kommt. Die Kleinsten stehen ganz rechts, die übrigen Klassen links davon in immer höheren, immer aufsässigeren Reihen, bis zur Siebten gleich neben der Mauer, wo die Jungs dastehen wie Mini-Männer – hochgezogene Schultern und demonstrativ gelangweilt – und die Mädchen kindliche Versionen der verächtlichen Mienen ihrer Mütter zum Besten geben. Auch in der Fünften ist dergleichen schon zu sehen, bloß sind die Nachahmungen noch nicht so ausgereift, nicht so gefestigt. Die Fassade der Neunjährigen ist dünner; ihre Würde kann sich jederzeit in aufgeregte Albernheit auflösen. Rotznasen. Schorf an den Knien. Eiterflechten. Die schmutzigen Hälse und juckenden Köpfe von Kindern aus Häusern ohne Bad. Auf den Nasen Kassengestelle aus Schildpatt oder rosa Plastik.
«Ruhe!», brüllt Miss Turnbull, und so etwas Ähnliches wie Stille wird vorübergehend auf den Spielplatz genietet. Die Farbe dieser Stille ist ein hartes Grau, denkt Jo, ein bisschen wie ein angelaufener Löffel, aber auch ein paar hellere Geräuschkratzer schlängeln sich dazwischen, die gedämpften Stimmen zappeliger Kinder. Jenseits der Mauer schaltet knarrend ein Lastwagen, unter der Brücke am Ende der Straße rattert ein Zug vorbei: ein rostbrauner Abrieb am Rande des Schweigens und quer darüber eine verwaschene, lilafarbene Schliere. All das denkt Jo in Bildern, nicht in Worten. Solche Bilder der Geräusche, die sie ringsum hört, strömen ihr in jeder wachen Minute durch den Kopf, niemals losgelöst davon, wie die Welt nun einmal für sie ist, weshalb sie sich bisher nie gefragt hat, ob andere sie auch kennen, genauso wenig wie, ob die anderen auch den Himmel sehen. «Erste Klasse», ruft die Lehrerin. «Zweite. Dritte.» Und los geht es nach drinnen, wobei sich jede Klasse ganz kurz teilt, um getrennt durch die Türen für JUNGEN und MÄDCHEN zu gehen und sich direkt im Flur dahinter wieder zu vereinen.
«He, Blödi, warte auf mich», sagt Val, greift nach Jos Hand: ein wohlvertrautes Zupfen, Ziehen.
Singen haben sie in der Aula, die früher mal ein ziemlich beeindruckendes Giebeldach gehabt haben muss. Ganz oben in die Backsteinwände sind Wappenschilde geritzt, auf denen LONDON CITY COUNCIL steht, je ein Buchstabe pro Schild. Jo blickt immer zu ihnen hoch, wenn die Klasse When a Knight Won His Spurs singt, und denkt dabei an Rüstungen und Drachen. Doch statt prächtiger Dachsparren liegt über den Schilden jetzt ein flacher, provisorisch wirkender Deckel aus blankem Holz und Dachpappe, durch den die Aula nach oben hin irgendwie früher aufhört, als man erwartet. Er quetscht den Raum ein – und auch alle Töne, die man darin erzeugt. Die Aula ist wohl bombardiert worden («Geblitzt» – das ist der Grund, der Jo für alles genannt wird, was in Bexford irgendwie kaputt aussieht).
Klassenzimmertüren schlagen auf dem Flur, Miss Turnbull kommt herein, schließt die Doppeltür der Aula hinter sich und seufzt. Das tut sie oft. Sie ist Klassenlehrerin der Fünften, hat heute obendrein Pausenaufsicht und zählt zu den älteren Lehrkräften der Schule: eine von denen, an die sich Jos Mutter noch aus ihrer eigenen, lang zurückliegenden Schulzeit erinnert. Ihr eisengraues Haar trägt sie in einem strengen Dutt, und wenn sie gerade nichts zu sagen hat, presst sie die Lippen so fest zusammen, als würde sie an etwas kauen. Alle sind sich einig, dass sie bestimmt zum Fürchten aussieht, wenn sie nachts das Gebiss herausnimmt. Einmal, in Schönschrift, hat der clevere Alec ein Bild von ihr ohne Zähne gemalt und es weitergereicht. Und sie hat ihn erwischt! Und dann musste er zum Rektor, aber nur wegen Störung des Unterrichts, weil Miss Turnbull nämlich nicht erkannt hat, dass sie das auf dem Bild war. Jo hat es gesehen, bevor es zerrissen wurde, und sehr ähnlich sah es ihr eigentlich nicht.
Miss Turnbull teilt die roten Liederbücher aus und sinkt müde auf den Klavierhocker.
«Siebenunddreißig», sagt sie. «Cotswolds.» Übersetzt bedeutet das: «Kinder, schlagt Seite siebenunddreißig auf, wir singen The Ballad of London River, das mit From the Cotswolds, from the Chilterns anfängt.» Nur hat sie diesen Satz bereits so oft gesagt, dass alle überflüssigen Wörter herausgefallen sind. Jo freut sich über die Wahl. Wenn sie ein trauriges Lied wie Danny Boy oder A North Country Maid singen, oder ein ruhiges wie Glad That I Live Am I, machen die Jungs immer Blödsinn. Früher war das anders, aber dieses Jahr können sie sich offenbar gar nicht mehr beherrschen. Sie singen Quatschtexte, bis sie Ärger bekommen. The Ballad of London River hält sie zwar nicht so gut bei der Stange wie A Good Sword and a Trusty Hand oder He Who Would Valiant Be, aber es handelt von London, und obwohl es im Text viele schwierige Wörter gibt, singt die Klasse es meist voller Stolz.
Kritisch beäugt Miss Turnbull die zwei Reihen, in denen die Klasse sich aufgestellt hat: vorn die Kinder, die gern singen, hinten der Großteil der Jungen und alle, die in der letzten Stunde wegen schlechten Singens dorthin verbannt wurden. Jo steht natürlich vorn, und Val gleich neben ihr, obwohl die damit gar nicht glücklich ist. Viel interessanter findet sie, was hinter ihr vorgeht, linst pausenlos über die Schulter. Zu Hause gibt es weder Jungs noch Männer – ein reines Haus der Frauen: Jo, Val, Mum und Tante Kay –, und für Jo und Val war das schon immer so. Dad, der aus dem Krieg nicht mehr zurückkam, ist für beide nur eine diffuse Vorstellung, keine Erinnerung. Jo hat das misstrauisch gegen die gesamte männliche Spezies gemacht, doch auf Val hat es völlig anders gewirkt. Sie ist fasziniert, neugierig, kann gar nicht wegsehen; ständig drückt sie sich in der Nähe der spielenden Jungen herum, zwirbelt die Haare um die Finger und will mitlachen. Nur die lange Zwillingsgewohnheit hält sie noch bei Jo. Unruhig, so als zöge sie ständig an einem unsichtbaren Tau, das sie beide verbindet, könne sich jedoch nicht richtig losreißen. Noch nicht. Auf Vals anderer Seite in der ersten Reihe steht – natürlich – der schreckliche Vernon Taylor, den der clevere Alec manchmal «Werwurm» Taylor nennt, wenn auch nur hinter seinem Rücken. Vern ist stark; Vern ist ein Schläger; Verns Fäuste sehen aus wie rosa Würste, wenn der Metzger sie zusammenquetscht und in Papier wickelt. Außerdem hat Vern eine grausige Singstimme, krächzend und quietschend. Trotzdem ist Singen auch sein Lieblingsfach, es scheint in ihm irgendwas auszulösen, dessen er sich nicht erwehren kann. Immer wieder schickt Miss Turnbull ihn nach hinten, immer wieder mogelt er sich in die erste Reihe. Er umklammert das rote Buch mit den rosa Pranken, baut sich trotzig vorne auf und heftet die fiesen, verkniffenen Äuglein auf die Noten. Miss Turnbull sieht ihn mahnend an. Seufzt. Will etwas sagen. Schweigt und macht ihr Kaugesicht. Nicht die Mühe wert.
«Tief Luft holen, Kinder», ruft sie. «Die Lungen weit! Nutzt die ganze Brust! Musik fängt in den Zehenspitzen an. Münder richtig auf! Köpfe hoch, und dann mit Schmackes! Steve Jenkins, Nase putzen. Mit dem Taschentuch! Und eins – zwei – drei – vier –» Schwerhändig spielt sie die ersten Takte, ohne richtiges Gefühl, doch das spielt keine Rolle. In kurzen Wellen rauschen die Marschklänge aus dem Klavier, die den Gesang einleiten. Fast etwas albern, so wie die Nationalhymne im Bexford Odeon samstagmorgens vor dem Hauptfilm: zwar auf träge Weise grandios, aber kein Gegner für die lärmenden Kinder. Dennoch hört Jo im Klimpern des alten Wandklaviers klar und deutlich den Klang der Wellen, der grüne und bronzefarbene Ringe in ihrem Kopf zieht und sagt: «Hier ist der Fluss, hier ist der Fluss.» Manchmal ist es gar nicht schlimm, wenn etwas albern ist. Jetzt tänzelt die Musik kurz auf der Stelle, damit die Kinder sich sammeln; alle holen tief Luft (Alec mit einem ulkigen Sauggeräusch wie von einem Fahrstuhl), und schon reißt die ganze fünfte Klasse weit die Münder auf und singt:
From the Cotswolds, from the Chilterns, from your fountains and your springs
Flow down, O London river; to the seagull’s silver wings:
Isis or Ock or Thame,
Forget your olden name,
And the lilies and the willows and the weirs from which you came.
Hier ein paar Dinge, die Jo an diesem Lied nicht versteht: was die Cotswolds und die Chilterns sind, was die Wörter «Isis», «Ock» und «Thame» bedeuten, was ein weir, ein «Wehr», sein soll. Hier aber einige Dinge, die Jo sehr wohl versteht: Sie weiß, dass das Lied in einer Welt spielt, wo alle Farben kräftiger leuchten, wo Möwen silbern sind und nicht so schmuddlig weiß wie die, die aus dem Flussnebel am Royal Albert Dock oder dem Greenland in Bermondsey geflogen kommen und still und wundervoll – vermutlich auf der Jagd nach Sandwiches – über den Häusern von Bexford schweben. Sie weiß, dass der Klang der Worte sich ineinander fügt wie Puzzlestücke, auch wenn sie nicht weiß, was sie bedeuten. «Ock or Thame, olden Name, da-da DA-da, da-da DA-da, da-da DA da-da-da came.» Sie weiß, dass es auf überkandidelte, unverständlich blumige Weise davon erzählt, wie der Fluss aus irgendeiner hübschen Gegend kam, bevor er zu der schmutzig braunen Brühe wurde, die unter den Brücken der Stadt hindurchströmt, wo das Hupen der Hafenschlepper von einem Ufer zum anderen hallt, so laut, dass das Mauerwerk davon wackelt, oder auch das Busfenster, wenn man zufällig gerade über eine Brücke fährt. Man kann das Hupen an der Scheibe spüren, das Zittern macht die Finger taub und pelzig. Die Themse ist ein hässlicher Fluss, hässlich und laut, wirklich alles andere als hübsch, aber das Lied behauptet, groß und laut und hässlich zu sein, mache London ja gerade so aufregend, und aufregend sei viel besser als hübsch.
Vor allem aber weiß Jo, wie man das Lied zu singen hat. Anfangs schreitet es noch gleichmäßig. Der erste Vers stampft vorwärts wie ein Marsch, da-da di di, di di DI di, und schwingt sich erst am Ende – bei springs, den Quellen – zu einer unerwartet hohen Note hoch wie auf ein Sprungbrett zu Vers zwei. Flow down, heißt es als Nächstes, «fließe hinab», und das Lied fließt wirklich abwärts, ja es fliegt sogar, so wie die Möwe im Sturzflug; und dann steigt es wie die Möwe wieder auf, steht in der Luft, exakt in der Mitte der fünf schwarzen Linien, in denen die Musik wohnt, genau bei wings. Bei Isis or Ock or Thame und Forget your olden name geht es dann stufenweise weiter aufwärts, bis der vorletzte Vers bei name den Höhepunkt erreicht und man schon glaubt, der letzte ließe einen gleich den Mund aufreißen wie einen Grammofontrichter und auf breiten Schwingen bis zum Schluss segeln. Aber das tut er nicht: Er enttäuscht bewusst diese Erwartung, stürzt bei came einfach zu einem faden, glatten Ende ab – nur um dann umso machtvoller zu wirken, wenn man ihn überraschend wiederholt. Und beim zweiten Mal strecken sich die LIL-ies und WILL-ows so hoch, als wollten sie sich ganz aus den fünf Linien losreißen: Sie klettern hinaus wie Männer, die ihre Köpfe aus Dachfenstern stecken, fast so weit oben, wie Jo nur singen kann, und erst dann gleitet das Lied hinab zu seinem wahren Schluss, mit so langen Noten auf weeiiirrrs und caaaame, die je einen ganzen Takt ausfüllen und noch den letzten Atem brauchen. Selbst Vern begreift, dass man sich dabei freudig in die Höhe schwingen muss. Jo hört, wie er sich quiekend aufwärtsquält, wie seine Stimme fast in heiserem Pfeifen vergeht. Doch das verdirbt ihr nicht den Spaß an ihrem eigenen sicher erschallenden, rückhaltlosen Vorwärts. Vor ihrem geistigen Auge folgen die hohen Töne aufeinander wie Strahlen aus Purpur und Gold.
Die Kinder holen gerade Luft für die zweite Strophe – Alec singt inzwischen richtig mit, hat die Kaspereien ganz vergessen –, als Miss Turnbulls Klavierspiel stockend verstummt. Im Rücken der Klasse hat jemand die Tür geöffnet.
«Kann ich Ihnen helfen, Mr Hardy?», fragt die Lehrerin.
Der Rektor kommt herein: kahl, tintenschwarzer Schnurrbart, auf Beutezug. Schlagartig legt sich Anspannung über die Klasse, denn Mister H ist eine Schreckensgestalt. In seinem Büro wird «Der Stock» aufbewahrt, und viele aus der Fünften mussten die beiden schon besuchen: Jo zwar nicht, aber die Angst erfasst auch sie. Seine Fragen treffen einen mitten ins Gesicht wie Prankenhiebe, und man weiß nie recht, was er hören will.
«Nein, nein», winkt er ab. «Ich will gar nicht stören.» Dann aber fährt er doch fort: «Chil’erns. Chil’erns. Das musste ich hören, als ich hereinkam. Chilterns heißt das, Kinder, mit einem t. Noch mal alle, aber diesmal richtig, bitte.»
«Chil-terns», spricht die Klasse nuschelnd nach.
«Lauter.»
«Chil-terns!»
«Schön, schön», sagt Mr Hardy, klingt jedoch nicht sehr zufrieden. «Ordentliche Aussprache ist wichtig, meinen Sie nicht auch, Miss Turnbull?»
«Selbstverständlich, Rektor Hardy», pflichtet sie entschieden bei. Und es stimmt tatsächlich, dass Miss Turnbull regelmäßig Kinder wegen verschluckter Konsonanten tadelt, oder wegen unnötiger Hs am Wortanfang, es stimmt, dass sie immer wieder seufzt, weil south in dieser Klasse zu souf und this zu vis wird. Nur kommt man sich bei ihr nicht vor wie das Kaninchen vor der Schlange. Zwischen den beiden Erwachsenen herrscht eine Spannung, die Jo nicht recht begreift. Mr Hardy ist ein gutes Stück kleiner als Miss Turnbull. Inzwischen steht er neben dem Klavier, wippt auf den Fußballen, mustert missmutig die Klasse und schiebt den eng in eine Weste verschnürten Bauch nach vorn. Eine Uhrenkette schimmert darauf.
«Machen Sie nur weiter, Miss Turnbull», sagt er, ohne sich vom Fleck zu rühren. Miss Turnbull spielt noch einmal die wellenhaften Anfangsakkorde, und die Klasse singt – sehr viel befangener als vorher – die nächste Strophe.
The stately towers and turrets are the children of a day:
You see them lift and vanish by your immemorial way:
The Saxon and the Dane,
They dared your deeps in vain –
The Romans and the Norman – they are past, but you remain.
Diesmal verklingen die langen Schlussnoten zitterig und viel zu früh.
«Hm», macht Mr Hardy, spießt die Kinder mit seinen Blicken auf. «Haben Sie den Eindruck, dass die Klasse Fortschritte macht, Miss Turnbull?»
Sie nimmt die Hände von den Tasten und legt sie in den Schoß.
«Ja», antwortet sie dann überraschenderweise. «Sie singen mit Gefühl, und ein oder zwei sind wirklich begabt.»
Na so was! So viel Lob hat Jo aus ihrem Mund noch nie gehört. Bislang hat sie Miss Turnbull immer als eine Art Klavierapparat betrachtet, der nichts mit dem zu tun hat, was sie selbst in der Musik spürt. Die Klasse wird unruhig, probiert zaghaft das Gefühl aus, auf Miss Turnbulls Seite zu stehen.
«Schön, schön», brummt Mr Hardy, klingt jedoch kein bisschen so, als fände er irgendwas schön. Doch dann erhellt sich seine Miene. «Aber verstehen die auch, was sie da singen, hm? Du da, in der ersten Reihe.» Er zeigt auf Vernon. «You see them lift and vanish by your immemorial way. Hast du eben gesungen. Was bedeutet es?»
«Weiß ich nicht, Sir», murmelt Vern.
«Gut, machen wir’s leichter. Du, die Kleine mit den Zöpfen. Wer ist das you im Lied, hm?»
Jo spürt, wie ihr Gehirn sich leert, wie sämtliche Gedanken rasch in Deckung huschen wie die Mäuschen, wenn die Küchentür aufgeht. Unmöglich kann sie ihren Mund noch mit der Lust an diesem Lied verknüpfen, die sie vor fünf Minuten erst durchströmt hat; es gibt keine Brücke zwischen den Worten und all den fließenden, fliegenden Formen.
«Na?»
Mr Hardy sieht sie an. Miss Turnbull ebenfalls und macht dabei ihr Kaugesicht.
«Es ist rot, Sir», stammelt sie. «Im Kopf, mein’ ich. Beim Singen.»
«Was?», stutzt Mr Hardy. «Es ist rot? Die Kleine ist wohl schwachsinnig!»
Vernon kichert, verstummt aber gleich wieder. Alec hat ihm in die Kniekehle getreten. Jo spürt, wie Vern innerlich anschwillt: ein Ballon voll angestautem Ärger, der sich immer weiter aufbläst.
«Man darf hier natürlich keine Wunder erwarten», wendet Mr Hardy sich fröhlich an Miss Turnbull. «Das ist mir durchaus bewusst. Trotzdem, traurig ist es schon, nicht wahr?»
Miss Turnbull seufzt.
«Mister ’Ardy?», ruft Alec da plötzlich.
«Was ist denn, Junge?», fragt der Rektor ungeduldig. Er war noch lange nicht fertig mit seiner Predigt.
«Könnt’n Sie uns das verleicht herklären, Sir, bitte? Das wär echt hausgezeichnet, wenn Sie uns ’elfen täten.»
Mr Hardy runzelt die Stirn, unsicher, ob das Kind das ernst meint. Jo hat keine Ahnung, was Alec vorhat, sie weiß nur, dass es gefährlich ist. So spricht er sonst nie. Von allen in der Klasse muss Miss Turnbull ihn am seltensten wegen seiner Aussprache rügen. Er kann sogar jedes denkbare Wort genau buchstabieren. Sein Vater ist bei der Zeitung. Bei ihnen zu Hause steht alles voller Bücher.
«Na schön», sagt der Rektor. «Mit dem you ist der Fluss selbst gemeint, die Themse –»
«Nein! Das gibt’s ja nich!», ruft Alec, als würde er vor Ehrfurcht erschaudern.
«– an deren Ufern … Junge, wirst du etwa frech?»
Ein Kichern geht durch die Klasse.
«Ich? Bestimmp nich, Sir», sagt Alec. «Nie im Leb’n!»
«Kommt mir aber ganz so vor», erwidert Hardy.
«Nein, nein, Sir», sagt Alex. «Ich bin halt ploß so dankbar, Sir, dass ich hendlich mal das Lied versteh, was wir da immer singen tun. Als wie als ob ’ne Glühbirne mir angegangen ist im Kopf, hecht.»
Das Kichern wird lauter, und sogar Miss Turnbull, die hinter Mr Hardy steht, zieht die Braue hoch und beißt sich auf die Lippen, als behielte sie etwas nur mühsam in sich.
«Jetzt reicht’s», knurrt Mr Hardy und läuft rot an (allerdings nicht das schöne, leuchtende Rot aus dem Lied, sondern ein stumpferer, giftigerer Ton). «Mitkommen, Freundchen, in mein Büro! Die Faxen treib ich dir schon aus.»
Mit einem schnellen Wischen seiner Pranke packt er Alec am Ohr und schleift ihn aus der Aula, zieht absichtlich zu hoch, sodass Alec nur ein schmerzhaft schräger Tänzelgang auf Zehenspitzen bleibt. Noch bevor seine halb in der Luft hängenden Stiefel durch die Tür sind, hört man ihn bereits wehklagen. Das Lachen in der Klasse ist verstummt, alle blicken den beiden hinterher.
Miss Turnbull räuspert sich, klatscht in die Hände.
«Na schön», sagt sie, klingt nicht mehr ganz so müde wie zuvor. «Augen nach vorn, Schultern zurück, dritte Strophe. Eins – zwei – drei – vier –»
«Na, zum ersten Mal da, Kleiner?», fragt der Mann neben Bens Vater. «Nehmen Sie ihn ruhig auf die Schulter, macht mir nichts aus, soll doch was sehn, der Junge.»
Dass man ihn für jünger hält, weil er so klein ist, ist Ben gewöhnt. Dass man ihn problemlos auf die Schulter nehmen konnte, ist allerdings schon ein paar Jahre her, und so staunt er nicht schlecht, als Dad zustimmend brummt, sich herabbeugt und ihn hochhebt. Mit einem Mal muss er nicht mehr durch das dunkle Gewühl aus Mänteln und Jacken hindurchlinsen, sondern schwebt hoch oben über allem. Den Bauch von hinten an Dads Mütze gepresst, blickt er hinab auf Tausende Männer mit Mützen, Hüten und dicken Schals. Ein schräg geneigtes Meer aus Schreien, in die Luft gereckten Fingern, in Mundwinkeln hängenden Zigaretten.
Sie stehen ganz hinten auf der Südtribüne von «The Den», dem Stadion des FC Millwall. Eine Reihe großer Betonstufen, sonst nichts, aber von hier oben sieht man sogar die Bahngleise, die das Stadion auf drei Seiten umfassen. Immer wieder rattern Züge vorbei. Klappernde, grüne Personenwaggons, Gesichter in den Fenstern, die aussehen wie weiße Erbsen. Güterwagen auf dem Weg zum Hafen, in rasselnden Kolonnen gezogen von Loks, die schweren Rauch ausschnauben wie große Hunde. Die rußigen Wolken vermischen sich mit dem ewigen Dunst über dem Fluss, wo die Hafenkräne stets in suppendicke Luft ragen. Doch bis eben hat es noch geregnet, sodass die Feuchtigkeit den Dunst ein wenig niederdrückt. Der Rasen auf dem Platz ist wieder fleckig grün. Die nassen Dächer gegenüber spiegeln schimmernd den Himmel, feuchter Glanz liegt auf dem großen SUNLIGHT-SOAP-Schild. Es wird heller. Inmitten der rauschenden Luft folgt Bens Blick dem Leuchten himmelwärts. Er erkennt, dass der Londoner Smog nichts als ein Schemel ist. Darüber der Regen, der ein Gebirge hinterlassen hat, eine gekrümmte Steilwand, riesig, schiefergrau und schieferlila. Ein sich langsam auflösender Amboss. Ganz oben blüht er auf wie Blumenkohl: Beulen, Klumpen und kleine, geschliffene Zinnen, zu vertrackt für Menschenaugen, aber dennoch frisch und klar. Ein weit entferntes Himmelsland, das von Minute zu Minute heller wird. Ein Rand ist bereits fast so brennend weiß wie Sommerwolken. Und doch herrscht nasser Herbst.
«Deck ihn, deck ihn!», brüllt der Mann neben Dad. «Auf geht’s, Lions! Ihr Schlafmützen! Seid ihr blind?!»
Auf dem grünen Rechteck schwappen die hellblauen Spieler von Millwall nach rechts – eine plötzliche Flut aus dem dunklen Rot und Blau von Crystal Palace ist über sie hereingebrochen. Hellblau zieht sich zurück, sammelt sich, ballt sich um die Angriffsspitze. Dort: ein Knäuel, ein gestelltes Bein, ein Krachen, Stolpern. Zwei Männer stürzen übereinander. Stöhnen von der Nordtribüne, doch der Ball ist frei, rollt weiter. Winzig sieht er aus, ein winzig kleiner Punkt, um den sich dennoch alles dreht. Jemand kickt ihn nach links. Vereint folgt ihm das dunkle Rot und Blau, und das Hellblau ebenfalls, alle rennen sie wieder nach links, Farben fließen in- und auseinander. Wirbeln umeinander her. Ziehen Linien, die sich pausenlos verändern.
«Spiel ab!», brüllt der Mann, und auch die anderen Männer in der Nähe reißen ihre Münder auf. Auf und zu gehen die vielen Münder. Schreien durcheinander.
«Auf geht’s, Lions!», ruft Ben probeweise.
«Auf geht’s, Lions!», ruft auch Dad und drückt Bens Waden.
«Schwing deinen Arsch, Jimmy!», brüllt der Mann. «Los, Jimmy Constantine! Geh ran da!»
«Welcher ist denn Jimmy Constantine?», fragt Ben.
«Nummer acht», antwortet Dad.
«Der mit dem scheiß Ball, Kleiner», sagt der Mann.
Dad sieht ihn mahnend an.
«Tschuldigung», sagt der Mann und zuckt die Achseln.
«Schon gut», erwidert Dad. «Aber so was sagen wir nicht zu Hause, verstanden, Ben?»
«Ja, Dad», will Ben antworten, wird jedoch übertönt. Ein gewaltiges, enttäuschtes Uuuuuuuh entsteigt sämtlichen Kehlen auf der Heimtribüne. Als hätten sich alle gemeinsam in ein großes Tier verwandelt, das traurig oder wütend ist. Oder wütend, weil es traurig ist. Der Ball wird hoch in die Luft gedroschen, fliegt tief in die Hälfte von Millwall.
«Wieso gibt der nicht ab?», schimpft der Mann. «Was für ’ne Pfeife, ich sag’s ja. Auf geht’s, Lions!»
Der Ball fliegt nach rechts, nach links, nach rechts, nach links. Dunkelrot spült in Hellblau, Hellblau wallt in Dunkelrot. Wellen am Strand. Im Sommer war Ben mit Tante Joans Familie in Broadstairs. Dort haben sie ihn an den zotteligen Seetangstreifen auf dem Sand gesetzt, dick eingepackt gegen die Kälte, und er hat dasselbe Hin und Her beobachtet, rauschend, ohne jemals anzukommen, ohne jemals zu ermüden. Ist der Ball rechts, japsen und ächzen Dad und der Mann und ziehen die Luft durch die Zähne. Ist er links, dann brüllen sie, pressen ein lautes Geräusch aus sich heraus, das immer höher und höher wird, bis schließlich – Ooooooh! – die Welle bricht, und alle wieder in die andere Richtung rennen. Ben stimmt leise mit ein. Augenblicklich spielt das Spiel auch seine Brust wie eine Quetschkommode. Man muss das gar nicht wollen, es passiert einfach. Auf und wieder zu. Ooooooh! Auf geht’s, Lions!
Oben im himmlischen Blumenkohlkönigreich erstrahlt die Wolke jetzt in Weiß und Gold. Die Sonne bricht durch. Schatten streifen über den Boden. Im Nordwesten ist das Licht so grell, dass man kaum noch hinschauen kann.
«Über außen jetzt!», stöhnt der Mann.
Dunkelrot drängt wieder nach rechts, aber als Hellblau diesmal den Ball zurückerobert, schlenzt ihn einer hoch und weit in die Hälfte von Crystal Palace. Der kleine Punkt steigt immer weiter in die Höhe. Es ist, als wolle er das ganze brüllende, schreiende Stadion hinter sich lassen. Steigt fast bis dahin, wo das Blumenkohlland sich im grellen Licht verliert. Dann rotiert er langsam vor dem dunstigen Metalldickicht der Kräne. Als hätte er alle Zeit der Welt, bevor er wieder landen muss. Als bliebe er diesmal vielleicht einfach oben. Als würde der Himmel ihn vielleicht einfach behalten, und die Spieler von Millwall und Crystal Palace müssten sagen: «Lieber Himmel, können wir bitte unseren Ball wiederhaben?» Dann fängt die durchbrechende Sonne ihn ein, und er flammt auf wie ein Fleckchen geschmolzenes Gold, so unglaublich hell. Ben erstarrt, ist wie gelähmt. Woanders fällt der Ball wieder hinab, wird von einem hellblauen Angreifer elegant im Laufschritt aufgenommen, links um einen Verteidiger gedribbelt und hart und präzise der hellblauen Nummer 8 aufgelegt, exakt so, dass die ihn in beinah unmöglich spitz wirkendem Winkel am Torwart vorbei ins Eck zwirbeln kann. Oh-oh-oh-OOHHH! rufen die tausend Männer rings um Ben, als stiegen ihre Stimmen über Stufen der Besorgnis zur Begeisterung empor. Ben jedoch ist immer noch völlig erfüllt vom Anblick des golden lodernden Staubkorns, das dort reglos in der Luft hing. Ein Leuchten, als hätte jemand ein Loch in die Welt gestochen. Das Tor hat er gar nicht mitbekommen.
«Du bist der Größte, Jimmy Constantine», johlt ihr Nebenmann. «Der Größte bist du, du Scheißitaker, du wunderbarer.»
«Hast du das gesehen?», sagt Dad und dreht den Kopf hinauf zu Ben. «War das nicht ein Traumtor?»
«Was?», fragt Ben benommen, als hätte man ihn gerade aufgeweckt. «Was?»
«Schade, dass es dir nicht so gefallen hat», sagt Dad im Bus nach Hause traurig.
«Es war großartig, Dad», sagt Ben.
Es ist schon fast ein Uhr, als Alec endlich den Overall ablegen, in seinen Anzug schlüpfen und losspurten kann: hinaus über die Laderampe, einmal um die Gazette herum und dann die Marshall Street rauf bis zum Hare & Hounds. Wie immer kommt ihm nach dem metallischen Geratter der Maschinen die Luft auf den Straßen weich und weit vor. Die Verkehrsgeräusche schwellen in sanften Wellen an und ab, fast als verschmölzen die knarrenden Schaltungen und dröhnenden Busmotoren zu einer sachten Brandung. Der Himmel ist hoch, und die Brise, die ihm an der Ecke bei der Milchbar ins Gesicht weht, scheint ihm mitteilen zu wollen, wie riesengroß die Welt doch sei. So viel größer als der kleine Setzerraum der Gazette. Ein kurzer Blick ins spiegelnde Fenster, um sich etwas zurechtzumachen, Haare glatt, Krawatte grade; dann hinein ins Pub, ins Hinterzimmer. Die beiden anderen sind schon da, rauchen Kippen, die ansonsten leeren Hände vor sich auf den Tisch gelegt, als wollten sie den Mangel an Getränken noch betonen. Stimmt schon, Alec muss die Zeche zahlen, so will es die Tradition. Trotzdem: Was für Knickstiebel.
«Mr Hobson!», sagt Alec, verbeugt sich leicht und streckt die Hand aus.
«Ah», macht Hobson, «da sind Sie ja. Clive, das ist Alec Torrance, von dem ich erzählt hab. Alec, das ist Clive Burnham von den Genossen bei der Times.»
Hobson hat viel für Alec getan, seit seine Mutter und er nach dem Tod seines Vaters plötzlich auf der Straße standen. Er hat ihm die Lehrstelle verschafft, sich für ihn bei der Gazette stark gemacht, und jetzt tut er sein Möglichstes, um ihm in die Fleet Street zu verhelfen, wo man um Längen besser verdient als bei den Lokalblättern. Kurz: Er gab den Ersatzvater für Alec, aufgrund irgendeiner Geschichte, die sich zwischen ihm und Alecs richtigem Vater abgespielt hat, lange vor dem Krieg und für Außenstehende so unergründlich wie alle Arbeitsfreundschaften, die bekanntlich immer auf der Alchemie tagtäglichen Aufeinandersitzens beruhen. Was es auch war, es hat dafür gesorgt, dass Hobson während der letzten acht Jahre ein Auge auf Ray Torrance’ Sohnemann hatte. Hobson ist ein knorriger, rostiger, kantiger Alter mit wirrem, weißem Haar und totengräberschwarzem Anzug, die Schultern leicht beschneit mit Schuppen. Vorname Hrothgar, unglaublicherweise. H-r-o-t-h-g-a-r, setzt Alex den Namen im Kopf mit geistigen Lettern, wie er es inzwischen mit jedem ungewöhnlichen Namen tut, der ihm begegnet. Mrs Ermintrude Miggs (61). Der Angeklagte Dafydd Clewson. Angestellt in der Kanzlei Silverstein und Rule, Manor Road, Hockley-in-the-Hole. Jeder eine kleine Messingkaskade. Hobson sieht auch aus wie ein Hrothgar. Wie eine dieser Nebenfiguren, die in den Illustrationen alter Dickens-Ausgaben aus schmierigen Schatten spähen und die man selbst beinah für einen Schmierfleck halten könnte. Diesen Burnham aber, den muss Alec um den Finger wickeln. Ganz andere Hausnummer. Elegant, ein Tick zu viel Taille, in einen dieser silbrigen Anzüge mit italienischem Schnitt gezwängt und derart braun gebrannt, als käme er direkt vom Strandurlaub.
«Was darf’s denn sein, die Herren?», fragt Alec.
«Für mich bloß ’nen kleinen Whisky, danke», krächzt Hobson.
«Ein Bier und ’n Schnaps», sagt Burnham, ohne sich mit Höflichkeiten aufzuhalten. «Und ’n Schottisches Ei, wenn die eins haben.» Er wirkt gelangweilt; blickt sich im Pub um, als hätte er schon bessere gesehen; unterdrückt ein Gähnen.
«Ein Sandwich vielleicht, Mr Hobson?», fragt Alec. «Ich hol mir auch eins.»
«Nein, danke», antwortet Hobson. «Ich hab heut’ Nachmittag frei, da ess ich später lieber zu Hause.»
Alec geht zur Theke und kommt mit einem vollen Tablett zurück. Sich selbst hat er nur ein Mild Ale bestellt, und bei dem sollte er es auch belassen; schließlich braucht er noch den ganzen Nachmittag lang einen klaren Kopf. Und hier und jetzt erst recht.
«Setz dich, Alec», sagt Hobson. «Ich wollte, dass ihr beiden euch mal kennenlernt, weil, Alec ist ein guter Junge, sehr gewissenhaft, verlässlich. Alter LTS-Stammbaum – die Familie ist schon seit Ewigkeiten bei der Zeitung.»
«Sagtest du schon, ja.»
«Du erinnerst dich bestimmt: Sein Vater Ray hat so kleine Dinger fürs Journal gemacht. Schachprobleme, Fahrradecke, Witze …»
«Nee, da klingelt gar nichts, tut mir leid. Mit der LTS hab ich nichts am Hut – ich bin bei der NGA.» Die Setzer aus London und dem Rest des Landes haben sich im Jahr zuvor verbündet und gehören jetzt immerhin auf dem Papier ein und derselben Gewerkschaft an, doch die Unterscheidung, die noch aus Königin Victorias Mädchenjahren stammt, hält sich hartnäckig – besonders in London.
«Wo haben Sie denn angefangen, Mr Burnham?», erkundigt Alec sich höflich.
«Bei der Birmingham Post, aber das tut jetzt nichts zu Sache. Der Punkt ist, Kleiner, auch wenn du hier unten sicher gute Arbeit leistest, bist du doch nur bei ’ner Wochenzeitung und da hast du alle Zeit der Welt. Wenn du was verpfuscht, kannst du’s problemlos wieder ausbügeln, stimmt’s?»
«Ich verpfusche aber nichts», erwidert Alec. Hobson blitzt ihn mahnend an.
«Das glaubst du», beharrt Burnham. «Kannst du aber vorher gar nicht wissen. Erst wenn dir ’ne halbe Stunde nach Drucklegung die Waldschrate aus der Druckerei im Nacken sitzen, die Chefs wegen Überstunden und verlorener Auflage meckern, und dann irgendein Korrektor mosert, dass Seite zwei nicht passt, weil der Artikel vom Korrespondenten aus Leckmichstan mit lauter hochspannenden Details über die Lage in Leckmichstan, wovon keine Sau jemals gehört hat – und du schon gar nicht –, hundertfünf Wörter zu lang ist. Kürzen, bitte. Exakt hundertundfünf Wörter müssen raus, ohne dass der Leckmichstan-Artikel zu Kauderwelsch verkommt. Zeit dafür: keine. Oder anderthalb Minuten. Was eben schneller geht. Glaubst du, damit kommst du klar?»
Burnham grinst. Seine Zähne sind so ebenmäßig wie kleine Resopalquadrate.
«Ich denke schon», antwortet Alec. «Ehrlich gesagt glaub ich, das könnte mir sogar Spaß machen.»
«Ach ja?»
«Wir ‹hier unten› sind auch nicht alle Schnarchnasen. Man fängt sich ja nicht gleich die Schlafkrankheit ein, sobald man über die Waterloo Bridge fährt.»
«Ach ja? Hat der immer so ne große Klappe?», fragt Burnham Hobson.
«Alec hält mit seiner Meinung eben nicht hinter dem Berg», antwortet Hobson. «Aber solange man ihm nicht mit Absicht auf die Zehen tritt, ist er meistens eher ruhig.»
Burnham lacht. «Ich will ja nur rausfinden, ob er Stress abkann. Um Schichten in der Fleet Street reißen sich alle, weißt du ja. Der Heilige Gral sind die. Der Jackpot. Und du weißt auch, wie wichtig es ist, dass wir die verteilen, nicht die Chefs. Nen Hitzkopf kann ich da nicht brauchen.»
«Ich bin kein Hitzkopf», sagt Alec.
«Ach nein? Und trotzdem hatt’ ich dich im Handumdrehn auf hundertachtzig.»
«Ich würde vorschlagen», wendet Hobson sich an Alec, «du holst Clive jetzt erst mal ein neues Bier.»
Alec macht einen zweiten Gang zum Tresen, ruft sich dabei noch mal ins Gedächtnis, wie dringend er die Schichten braucht, und als er wieder an den Tisch kommt, hat Hobson Burnham irgendwie zum Lachen gebracht und lacht auch selbst, ein gummiartiges Gegurgel, das klingt, als drückte man auf einer Wärmflasche herum.
«Was ist denn so lustig?»
«Ach, gar nichts», sagt Burnham und hält Alec die glänzende Packung Filterzigaretten hin. Wahrscheinlich kein schlechtes Zeichen. Auch sein Feuerzeug glänzt. Hobson lehnt dankend ab, entschuldigt sich kurz zur Toilette. Sie sehen ihm nach, während er davonhumpelt wie eine Vogelscheuche.
«Ganz schöne Type, was?», sagt Burnham. «Läuft der immer rum, als … na, du weißt schon, als hätte er grade einen einbalsamiert?»
«Meistens, ja», antwortet Alec, verstummt dann aber sofort wieder.
Burnham seufzt.
«Ich glaube, wir haben irgendwie falsch angefangen. Ich will dir nicht ans Bein pinkeln. Der alte Zausel spricht in den höchsten Tönen von dir, und ich find’s gut, dass du zu ihm hältst; das spricht für dich. Aber hier geht’s um einen großen Schritt, und ich muss wissen, ob du das Zeug dazu hast. Zufälligerweise könnten wir im Setzerraum ganz gut einen gebrauchen, der nicht auf den Mund gefallen ist. Einen, der sich wehrt, beschwert und Grenzen zieht, wenn nötig. Die Geschäftsleitung wird immer dreister, und auf der anderen Seite machen die Maschinenaffen Druck. Aber dazu braucht man ’nen kühlen Kopf – keinen, der schneller redet, als er denkt. Hast du den Mist von der Royal Commission gelesen? Angeblich sind wir völlig überbesetzt und kurz vorm Absturz. Bisher merkt man davon nichts; in den Druckereien ist mehr los als je zuvor. Aber wir müssen da ein Auge drauf haben; ist ’ne brenzlige Sache. Also, sag du’s mir: Was macht dich friedlich genug, dass ich nachts ruhig schlafen kann?»
Alec ist unschlüssig, was Burnham hören will.
«Na ja … ich brauche eben diese Schichten. Wirklich dringend, meine ich.»
«Nee, nee», erwidert Burnham. «Das reicht nicht. Du bist jung. Wenn man dir vier Pfund mehr in die Tasche steckt, versäufst du die ja doch nur. Wein, Weib und Gesang. Platten mit grässlichem Jazz ohne Melodie. Lauter solcher Unfug.»
Alec mustert ihn und sieht jemanden, der von ihm verlangt, die kompliziertesten Aspekte seines Lebens in Kneipengeplänkel zu übersetzen. Da muss er wohl durch.
«Nein», sagt er. «Also … ich bin verheiratet, ja?»
«Wirst du wohl selbst am besten wissen», flachst Burnham. «Bist du’s?»
«Haha. Ja, bin ich. Ich hab ’nen kleinen Sohn, ein zweites Kind ist unterwegs, und ich kann das Geld wirklich gebrauchen, weil wir derzeit bei Sandras Mutter wohnen, und meine Mutter lebt ebenfalls bei uns.»
«Oh», macht Burnham argwöhnisch, eindeutig irritiert von diesem Ausstieg aus dem Männergewitzel. «Verstehe. Ihr sitzt euch wohl langsam etwas auf der Pelle?»
«Ja, das kann man wohl sagen.»
An der Stelle sollte Alec wohl einen Witz einbauen. So was wie: Die Krise in Leckmichstan ist ein Dreck dagegen. Das würde Burnham gefallen. Er bekäme seinen eigenen Witz quasi mit Sahnehäubchen und Kirsche obendrauf zurück, und das mag schließlich jeder. Schwiegermütter, Jungvermählte, drei andere Leute in der Wohnung, die einen beim Vögeln hören könnten – der Klamauk schreibt sich praktisch von selbst. Nur ist der leider das falsche Genre für die tiefe, unerschütterliche Abneigung, die Sandras Mutter gegen ihn und alles, was mit ihm zu tun hat, hegt. Und Gewitzel ist der falsche Ton, um zu erzählen, wie seine Mutter mit jedem Tag in dieser Wohnung weiter abbaut, wie sie langsam eingeht, als glaubte sie, nicht mal das kleinste Eckchen auf dem Sofa stünde ihr zu. Sandras Mutter wollte nichts aus der alten Wohnung in ihrem geliebten Heim haben: keine Möbel, weder die Regale, die Alecs Vater noch selbst gebaut hatte, noch die Bücher darin. So gut wie alles musste weg. Bloß ein einziger Bücherkarton ist noch übrig, in einem feuchten Eck unter der Treppe. Inzwischen macht sich schwarzer Schimmel auf den Einbänden breit. Sozialismus und Schimmel von Walter Schimmel. Eigentlich Walter Citrine. C-i-t-r-i-n-e.
«Hm», macht Burnham. «Ich kann’s mir lebhaft vorstellen.» Eine Pause; er glotzt auf seine Zigarette; hebt die Braue in gequältem Mitgefühl. «Du willst also raus. Deine eigenen vier Wände.»
Na los, komm schon, denkt Alec.
«Genau. Auf dem Hügel wird demnächst ein Haus frei, das könnten wir mieten. Wir brauchen mindestens drei Zimmer, damit wir nicht … na ja. Damit wir zurechtkommen.»
Burnhams Miene erhellt sich.
«Das lass mal lieber bleiben», sagt er, jetzt wieder mit Schwung in der Stimme.
«Was?», fragt Alec.
«Mieten. Da wird man doch nur übers Ohr gehauen», erklärt Burnham, endlich wieder festen Kneipengrund unter den Füßen. «Mach keine halben Sachen und kauf dir gleich was Eigenes. Und wenn du mich fragst – nicht böse gemeint, ja? –, dann besser woanders. Diese alten viktorianischen Kästen tropfen doch aus allen Löchern, ständig ist irgendwas kaputt, und jetzt ziehen auch noch all die Farbigen in die Gegend. Such dir lieber was außerhalb, was Neues, Sauberes. Wir haben ’ne Doppelhaushälfte in Welwyn. Brandneu, keine Spinnweben in den Ecken, kleiner Garten für die Kinder, Kiesstellplatz fürs Auto. Mit dem Zug bin ich schneller auf Arbeit als du von hier aus. Und: Es gehört uns.»
«Klingt klasse», sagt Alec steif. «Wirklich. Aber ich bin eben Londoner. Ich kann mir nichts anderes vorstellen.»
«Du weißt ja nicht, was dir entgeht», erwidert Burnham.
«Die Fankurve von Luton Town und ’ne eigene Hecke, wie sich’s anhört», kann Alec sich nicht verkneifen.
«Du frecher kleiner Scheißer», sagt Burnham, aber ohne Groll. «Lag ich also doch richtig, hm? Hirn aus, Klappe auf. Tja, dein Pech.»
Scheiße, scheiße, scheiße, denkt Alec.
«Clive, ich –»
«Für dich immer noch Mr Burnham.»
«Mr Burnham. Es tut mir leid. Ehrlich, ich bin sonst nicht so. Das Baby hat Koliken, und wir kriegen kaum ein Auge zu. Sie wissen ja bestimmt noch, wie das ist, oder?»
«Ja, klar. Und weißt du, was ich mache, wenn bei uns einer krank ist? Ich lass meine Frau das regeln und schlafe im Gästezimmer. Aber richtig, ihr habt ja gar keins, hm?»
«Touché», sagt Alec.
«‹Tuu-schee?›», spottet Burnham. Wieder blitzen die Resopalzähne. «‹Tuu-schee?›»
«Mein Vater mochte Die drei Musketiere.»
«So, so, verstehe. Oh, du hättest sicher deinen Spaß bei der Times – was wir da manchmal zu setzen kriegen …»
Burnham verzieht das Gesicht, denkt nach.
«Ach, scheiß drauf», sagt er dann. «Lassen wir’s drauf ankommen. Aber schön langsam. Du machst erst mal ein, zwei Probeschichten, und wenn die gut laufen, fein; aber wenn du frech wirst, bist du schneller zurück am Arsch von South London, als du tuu-schee sagen kannst. Verstanden?»
«Ja, Mr Burnham», sagt Alec. «Vielen Dank.»
«Und träum gar nicht erst von Auslandsnachrichten und dergleichen. Die ersten Jahre kommst du nicht mal in die Nähe der Seiten, die auf den letzten Drücker noch geändert werden. Erst mal nur Hofnachrichten, Gerichtsmeldungen, Kleinanzeigen und Leserbriefe. ‹Die Braut erstrahlte in einem Traum aus kirschrotem Taft› und dergleichen. Trotzdem, auch da brauchst du ’ne dicke Haut. Mistkerle, wohin du kuckst. Musst du wegstecken können.»
«Das schaffe ich.»
«Wehe, ich muss das bereuen, d’Artagnan.»