Familienalbum - Penelope Lively - E-Book

Familienalbum E-Book

Penelope Lively

4,5
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alltägliches Familienchaos: kleine Grausamkeiten, große Gefühle!

Ein großes Haus, einen reichen Mann und viele Kinder hatte sich Alison für ihr Leben gewünscht. Und das Leben, so scheint es auf den ersten Blick, hat es gut mit ihr gemeint. Während ihr Mann Charles seine Bücher schreibt, ziehen Alison und Ingrid, das Au-Pair, eine Kinderschar groß. Es ist das alltägliche Familienchaos: kleine Grausamkeiten und große Gefühle. Und ein Geheimnis, das unter dem brüchigen Siegel der Verschwiegenheit gehalten wird.

Booker-Preisträgerin Penelope Lively eröffnet uns die Welt einer Familie, die Träume, Wünsche und Erinnerungen, die Siege, Niederlagen und unsichtbaren Narben, die von Weihnachts- und Geburtstagsfeiern oder Strandurlauben zurückbleiben. Ein hintersinniger Roman, der zeigt, was Familie ausmacht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 399

Bewertungen
4,5 (16 Bewertungen)
11
2
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Penelope Lively

Familienalbum

Roman

Aus dem Englischen vonMaria Andreas

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Family Album«bei Figtree, einem Imprint von Penguin Books Ltd., London.

Die Arbeit der Übersetzerin an diesem Romanwurde vom Deutschen Übersetzerfonds aus Mitteln der Kulturstiftungdes Bundes gefördert.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2009 by Penelope Lively

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2012 beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: R·M·E Roland Eschlbeck/Rosemarie Kreuzer

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-09973-2

www.cbertelsmann.de

Für Kay und Stephen

Allersmead

Gina bog von der Straße ab, in die Auffahrt von Allersmead. Da war ihr, als liefe im Zeitraffer ihr ganzes Leben noch einmal vor ihren Augen ab. Wie es von Ertrinkenden heißt. Das gab ihr zu denken, aber auch, dass noch niemand einen Ertrinkenden dazu hat befragen können.

Philip, der auf dem Beifahrersitz saß, sah ein großes, um die Jahrhundertwende erbautes Haus mit breiter Treppe, die zu einer Haustür mit Buntglaseinsätzen führte, davor eine weite Kiesfläche voller Unkraut. Ringsum Bäume wie Ausrufezeichen. Wuchernde Sträucher. Am Fuß der Treppe steinerne Urnen mit spillerigen Geranien. Philip kannte Gina seit sechs Monaten und war seit fünf Monaten mit ihr zusammen.

Gina sah auf der obersten Stufe Alison stehen, die Arme zu einer theatralischen Begrüßung erhoben. Sie sah aus der Eingangshalle Charles kommen und auf sie herunterstarren, leicht überrascht, wie es schien.

Philip sah eine mollige ältere Frau mit halb aufgelöstem Haarknoten; zu ihr trat ein großer, gebeugter Mann in einer Tweedjacke, die, sollte man meinen, seit den Siebzigerjahren aus der Mode gekommen war. Ein großer Hund watschelte ihm dicht auf den Fersen und sackte auf der obersten Stufe zusammen.

Gina sah ein paar Gespenster und verscheuchte sie. Viele Menschen redeten durcheinander, sagten immer dasselbe, wie seit Jahren schon, und wurden ebenfalls weggewischt. Gina bremste und stieg aus, Philip ebenso. Sie sagte: »Hallo, ihr beiden. Das ist Philip.«

Alison kam die Treppe herunter, umarmte Gina und strahlte Philip an. »Ich bin Alison. Schön, dass Sie da sind.«

Charles stand bloß da. Der Hund klopfte mit dem Schwanz auf den Boden.

Philip holte das Gepäck aus dem Auto. Er ging mit Gina die Treppe hinauf. Gina stellte vor: »Philip, das ist Charles. Mein Vater.«

Charles ließ den Blick auf Philip ruhen, als überlegte er, ob er ihn schon einmal gesehen hatte. »Und Ingrid«, fuhr Gina fort.

Jetzt erst sah Philip die andere Frau, die mit der Ruhe einer Statue in der weiten Eingangshalle wartete (schwarz-weiß gefliester Boden, alte Standuhr, Schirmständer, eine Reihe von Kleiderhaken mit vielen Regenmänteln, ein mit Werbepost übersäter Eichentisch). Eine etwas jüngere Frau mit glattem blondem Haar, rosigem Gesicht und einem Gemüsekorb am Arm.

»Ingrids Ernte ist dieses Jahr eine Sensation«, sagte Alison. »Die dicken Bohnen kommen uns schon zu den Ohren raus.«

Kochdüfte zogen durchs Haus. Vor allem Knoblauch, Kräuter und Wein ließen sich ausmachen – ein deftiges Schmorgericht, Coq au vin vielleicht, oder Bœuf en daube.

Philips Blick wanderte zur Eichentreppe, zum Treppenabsatz auf halber Höhe, mit einem weiteren Buntglasfenster und einem Sitzplatz auf der Fensterbank, wanderte zur offenen Tür in der Eingangshalle und in den Raum dahinter, der anscheinend voller Bücher war. Ein großes Haus. Aus jenen Tagen, als – für bestimmte Schichten – ein großes Haus selbstverständlich war.

In Gina stiegen nostalgische Gefühle hoch, aber auch Verbitterung und heftige Sehnsucht nach ihrer Wohnung in Camden, wo Philip sonst nach der Arbeit eine Flasche entkorkte.

Da polterte jemand die Treppe herunter und blieb, als er Gina erblickte, abrupt bei der Biegung stehen. »Du lieber Himmel«, sagte er. »Nicht du schon wieder!«

»Verpiss dich«, erwiderte Gina liebenswürdig.

Philip sah eine schmuddlige Jeans, einen ausgefransten Pulli und eine unheimliche Ähnlichkeit mit Gina.

»Also wirklich, Paul!«, rief Alison. »Gina war seit über einem Jahr nicht mehr hier!«

»Das nennt man Ironie, Mum«, erklärte Gina. »Nicht, dass ihm das was sagen würde. Na, Paul, wie geht’s denn so?«

Paul kam die letzten Stufen herunter. »Warum bist du so braun?«

»Afrika.«

»Wir haben dich in den Nachrichten gesehen«, sagte Ingrid. »Dein Interview mit diesen Leuten, die da irgendwo kämpfen. Furchtbar.«

»Das kann man wohl sagen. Paul, das ist Philip.«

»Hi, Philip. Auch unterwegs in Sachen Afrika und so?«

»Ich bin in der Redaktion. Da sitze ich meist am Schreibtisch.«

»Sehr vernünftig.« Charles war schon in Richtung Bücherzimmer unterwegs, blieb nun aber stehen. »Bei der Times, nicht?«

»Nein«, sagte Gina. »Du hast Philip noch nie gesehen. Und er ist nicht bei der Times.«

»Pardon.« Ein liebenswürdiges Lächeln. »Nicht, dass ich die noch läse. Einst die Zeitung des denkenden Menschen. Jetzt kauft man mal dies, mal das und bleibt stets unbefriedigt. Was lesen Sie?«

»Den Independent«, antwortete Philip nach kurzem Zögern. »Im Großen und Ganzen.« Aus Gründen, die er nicht benennen konnte, fühlte er sich unzulänglich.

»Für den Kompost sind die kleineren Zeitungen besser«, sagte Ingrid. »Die mit den großen Überschriften – wie nennt man die gleich?«

»Klatschpresse.« Gina hob ihre Reisetasche auf. »Welches Zimmer, Mum?«

»Warum, weiß ich nicht«, fuhr Ingrid fort. »Das hat vielleicht mit der Druckerschwärze zu tun. Ich gehe jetzt Wasser aufsetzen.« Sie verschwand durch eine Tür hinten in der Eingangshalle.

»Das große Gästezimmer, Schatz. Und dann komm runter zum Tee. Ich habe Orangen-Zitronen-Kuchen gebacken. Deinen Lieblingskuchen.«

Gina und Philip stiegen die Treppe hoch. Gina ging ihm voraus in das Zimmer. Philip blickte sich verstohlen um und registrierte, dass hier wohl seit Längerem nichts erneuert worden war – die Einrichtung eher zweckmäßig als ambitioniert, ein Bettüberwurf aus indischem Druckstoff, Wände, denen frische Farbe gutgetan hätte. Philip ging zum Fenster und sah auf einen weitläufigen Garten hinaus: An die Terrasse grenzte eine riesige, von Bäumen umrahmte Rasenfläche, die sich zu weiteren, dem Blick entzogenen Bereichen neigte.

»Viel Platz.«

»Ist auch gut so. Wir waren zu sechst.«

»Hat David für die Times gearbeitet?«

»Zwischendurch mal.«

Sie waren noch in dem Stadium, da man um die Altlasten des anderen einen Bogen macht. Philips Exfrau lauerte in den Kulissen. Ein früherer Freund Ginas tauchte gelegentlich aus der Versenkung auf und löste leichtes Unbehagen aus. Und dann Allersmead. Gina hatte sich zu einem Frontalangriff entschlossen. Philips Eltern lebten als anspruchslose Ruheständler in Cornwall, die hatten sie bereits mit einem Wochenendbesuch abgehakt.

»Was ist denn bei deiner Familie so anders?«, hatte Philip gefragt. »Was soll denn an einem Besuch dort so schlimm sein?«

»Du wirst schon sehen«, hatte sie geantwortet.

Philip machte eine Runde durch das Zimmer. Er nahm ein Foto vom Kaminsims. »Sechs. Hier sind nur fünf.«

»Wahrscheinlich war die Jüngste noch nicht auf der Welt.«

»Paul ist …?«

»Der da. Er kam vor mir. Der Älteste.«

»Und du mit Zahnspange. Deine Fans wären entsetzt.«

»Sei bloß still.« Sie leerte ihre Tasche aufs Bett. T-Shirt, Waschzeug, sonst nicht viel. Sie reiste grundsätzlich mit leichtem Gepäck. In ihrer Wohnung wartete im Schrank immer eine zweite, fertig gepackte Tasche mit ein paar Kleidungsstücken, Pass, Bargeld – falls sie von einem Augenblick auf den anderen losmusste.

»Du warst ein entzückendes kleines Mädchen, trotz Zahnspange.«

»Das fanden die anderen nicht. Die Hübsche bei uns war Sandra.«

Er kehrte ans Fenster zurück. »Paradiesische Sommertage. Versteckspiele. Picknick im Gras. Da kommt man ins Träumen.«

»Haha! Das Bad ist übrigens auf der anderen Seite der Treppe. Die Tür klemmt. Du musst kräftig drücken.«

»Wer kocht? Das riecht ja unglaublich lecker.«

»Meistens meine Mutter, manchmal auch Ingrid.« Sie hatte seinen Koffer aufgemacht und nahm seine Sachen heraus. »Welche Bettseite willst du?«

»Links. Mir gefällt dieses Fenster. Wer ist Ingrid?«

»Das Au-pair-Mädchen.«

»Aber …«

»Aber von Mädchen kann keine mehr Rede sein? Richtig. Ingrid hat schon so manches Au-pair-Mädchen-Jahr abgedient.«

Daran hatte Philip sichtlich zu kauen. »Sie ist keine … richtige Engländerin, stimmt’s?«

»Schwedin oder Dänin oder so. War sie mal.«

»Nicht mehr?«

»Schau sie dir doch an. Allersmead durch und durch, findest du nicht?«

Gina hörte immer noch Stimmen, immer noch blitzten Bilder aus ihrem Leben auf. Es kam ihr seltsam vor, dass nichts davon zu Philip durchdrang, dass ein Mensch, zu dem sie eine so intime Nähe entwickelt hatte, so abartig ahnungslos sein konnte. Dass er nichts merkte. Nichts sah und nichts hörte. Man ist wie versiegelt, dachte sie. Er auch. Jeder. Kein Wunder, dass es zu Blessuren kommt.

»Wir sollten runtergehen.«

»Klar. Der Orangen-Zitronen-Kuchen.« Er hatte sich aufs Bett fallen lassen und die Arme hinter dem Kopf verschränkt. »Wie eigenartig – dass Allersmead dein Ursprung ist und ich nichts darüber weiß.«

»Dasselbe habe ich mir auch gerade gedacht. Aber vergiss nicht: Auch mein Absprung von hier ist schon lange her.«

»Trotzdem … Ich muss schon sagen, viel Familienähnlichkeit sehe ich nicht. Man ahnt vielleicht die väterliche Nase. Hilf meinem Gedächtnis nach: Was genau ist sein Fachgebiet?«

»Fachgebiet? Charles schreibt Bücher. Oder hat welche geschrieben. Universalgelehrter – diesen Titel ließe er sich wahrscheinlich gefallen. Geschichte, Philosophie, Soziologie – ein bisschen von allem.«

»Mir kam der Name tatsächlich bekannt vor. Als wir uns kennenlernten.«

»Da wäre er aber geschmeichelt!«

»Große Leserschaft?«, erkundigte sich Philip nach einer kurzen Pause.

»Eigentlich schon. Er schreibt verständlich. Wohl verständlicher als die Akademiker. Hör mal, wir müssen runter.«

Er breitete die Arme aus. »Komm her.«

»Jetzt nicht. Später.«

*

Die Küche war das Herz von Allersmead. Natürlich. Das ist in jedem Haus so, das von einer echten Familie bewohnt wird, und Allersmead war eine richtige Familien-Kultstätte. In dem riesigen Raum hatte zu viktorianischen Zeiten eine Köchin gewaltet, die ihren wohlhabenden Herrschaften den Sonntagsbraten servierte. Nun gab es hier zwar keinen Aga, aber einen großen, alten Gasherd mit vielen Dellen, eine mit Tellern, Tassen und Bechern überladene Anrichte, einen blank gescheuerten Holztisch mit Platz für zwölf Personen. Hinter dem Steingut auf der Anrichte steckten immer noch Kinderzeichnungen, und auf einem Regal stand neben undefinierbaren, von kleineren Kindern aus Ton gekneteten Tieren ein bemalter Tiger aus Pappmaschee. An Haken hingen Namenstassen: Paul, Gina, Sandra, Katie, Roger, Clare.

Philip aß mit sichtlichem Genuss zwei Scheiben Orangen-Zitronen-Kuchen.

Gina musterte den Pappmaschee-Tiger. Den hatte Katie gemacht. Wo ist denn mein Fisch? Wir haben die Dinger in der Schule gebastelt und Mum zu Weihnachten geschenkt. Der Fisch hat auf Dauer wohl keine Gnade gefunden.

Es gab Tee. In der Küche herrschte ein Kommen und Gehen. Charles kam herein, stand mit der Tasse in der Hand milde lächelnd herum und zog sich wieder zurück. Paul kam herein, schlang Kuchen und Brownies hinunter und bot Gina an, ihr Auto zu warten – »gegen eine kleine Entschädigung natürlich«. Nachdem er gegangen war, heulte draußen ein Motor auf. Gina blickte beunruhigt hoch.

»Keine Sorge«, sagte Alison. »Das ist sein eigenes Auto. Mit der neuen Stelle hat er sich einen alten Golf zugelegt. Und jetzt lernt er ganz viel über Motoren. Er ist ja so gescheit.«

Ingrid saß am Tischende und enthülste dicke Bohnen. Dabei erörterte sie mit Alison die Frage, ob sie die Kartoffeln als Pommes dauphinoises zubereiten sollten oder nur als Püree. An der Wand tickte, vielleicht eine Spur zu laut, eine große, alte Bahnhofsuhr.

»Zeig Philip doch den Garten«, sagte Alison. »Geht Ingrids Gemüsegarten bewundern. Sie hat auch ein paar Dahlien. Aber einen Ziergarten hatten wir natürlich nie.« Sie strahlte Philip an. »Wir haben Kinder großgezogen, keine Blumen.«

Gina schob geräuschvoll den Stuhl zurück, stand auf und nickte Philip zu. »Dann komm mal mit.«

Sie stiegen die paar Stufen von der Terrasse in den Garten hinunter. Es war August. Der weite, schräg abfallende Rasen war struppig und stellenweise auch gelb. Ein paar Hortensien leuchteten, aber insgesamt hatte man den Eindruck von ungezähmtem Grün – wuchernde Büsche, mächtige Bäume. An einem dicken, in den Rasen hinausragenden Ast hing eine einfache Schaukel, ein Brett an zwei Seilen. Als sie zu den verborgenen Bereichen hinter der Rasenfläche gelangten, sah Philip an einem anderen Baum eine Strickleiter hängen, eine zweite Schaukel, einen Sandkasten mit einer Decke aus totem Laub.

»Eine leere Bühne sozusagen«, bemerkte er. »Irgendwie rührend. Noch keine Enkel?«

»Bisher ist noch keiner dazu gekommen.«

Dieser Teil des Gartens war noch stärker verwildert, bis auf einen ausgesprochen ordentlichen Gemüsegarten ganz hinten – ein Tipi aus Bohnenstangen, ein Beet mit buschigen dicken Bohnen, Reihen von Möhren, Kopfsalat, Zwiebeln. Eine baumbestandene Böschung begrenzte das Grundstück; davor breiteten sich Sträucher aus, es gab Flecken von ungemähtem Gras, einen alten Komposthaufen mit Zweigen und verrottenden Pflanzenresten, und direkt unterhalb des Rasens, in der Mitte des Grundstücks, ein völlig ebenes, mit welkem Gras bewachsenes Rechteck, das von archäologischer Bedeutung schien.

Philips Blick blieb daran hängen. »Was war denn hier?«

»Ein Teich«, sagte Gina. Sie ging zum Gemüse hinüber. »Hiermit bewundere ich euch«, sagte sie zu den Pflanzen. »Wie befohlen. Und die Dahlien.«

Philip trat neben sie. »Und du warst wirklich über ein Jahr nicht mehr hier?«

»Gut möglich«, sagte sie. »Ich bin sehr beschäftigt. Wie du vielleicht bemerkt hast.«

»Dieser Garten muss für Kinder ein Paradies gewesen sein.«

»Paradies?« Gina lachte aus unerfindlichen Gründen, immer noch das Gemüse betrachtend. Damals gab es das Grünzeug noch nicht, dachte sie. Ingrid hat ein neues Talent entdeckt – neu und nützlich.

»An meiner Schule gab es eine Familie mit fünf Kindern«, sagte Philip. »Die habe ich immer beneidet, eine Bande frei Haus. Dagegen habe ich mich mit nur einer mickrigen Schwester immer nackt und bloß gefühlt. Wart ihr auch so eine Bande?«

»Mafia-Aktivitäten beschränkten sich aufs Haus. In der Schule haben wir getan, als würden wir uns nicht kennen.«

»Und wo seid ihr jetzt alle? Du erwähnst die anderen kaum. Von Paul hast du ein-, zweimal gesprochen, das war alles.«

»Weit verstreut.« Gina zerdrückte einen Stängel Majoran und schnupperte. »Mmm! Kräuter hat sie auch.«

»Wohin verstreut? Erzähl doch mal.«

»Ach …« Sie winkte vage ab. »Roger ist in Kanada. Katie hat einen Amerikaner geheiratet. Clare – wo die gerade steckt, weiß ich auch nicht. Sandra ist wohl in Italien, das war jedenfalls das Letzte, was man von ihr gehört hat. Hast du Lust auf einen Spaziergang durch die Gegend? Es gibt hier einen ganz hübschen Park.«

»Wohnt Paul ständig hier?«

»Paul kommt und geht«, sagte sie. »Der Park, wie ich schon sagte. Auch die Kirche ist einen Blick wert, Neugotik, kann jeden Moment aufgegeben werden, die Gemeinde ist nicht größer als ein Dutzend. Gehen wir.« Sie entfernte sich.

*

Sie lagen im Bett. Ringsum knarzte das Haus, als würde es sich setzen. Dielenbretter ächzten. Ein Schrank gab einen gedämpften Pistolenknall von sich. Gina erinnerte sich an das Gespenstergewimmel hier, als sie acht war. Unter Lebensgefahr schlich man zum Bad.

»Ich habe zu viel gegessen«, sagte Philip. »Ausgezeichnet, das Essen. Ist das immer so?«

»Meine Mutter kocht gern.«

Nach einer Weile sagte Philip: »Er ist ganz schön gesprächig, wenn er sich dazu entschließt.«

»Entschließen ist das richtige Wort.«

»Manchmal kommt man ziemlich ins Hintertreffen. Deutsche Philosophen sind nicht gerade meine Stärke.«

»Und wenn sie es wären, dann wäre ihm das wahrscheinlich gar nicht recht.«

Kurzes Schweigen. »Wie schlägt sich da Alison? Und – äh – Ingrid?«

»So etwas wird von ihnen nicht verlangt.«

»War er nie Akademiker im klassischen Sinn? Kein Lehrauftrag an der Uni?«

»Eine regelmäßige Beschäftigung lag ihm wohl nicht.«

»War ich in Sachen Irak vielleicht ein bisschen zu heftig? Das einzige Thema, bei dem ich mich für relativ gut informiert hielt. Man kann sich jetzt nicht mehr darauf versteifen, dass Blair Informationen über Massenvernichtungswaffen gehabt haben muss, wenn das offenkundig nicht stimmt.«

»Mein Vater kann das schon«, sagte Gina.

»Bist du …«, fragte Philip vorsichtig, »bist du … gelegentlich … mit ihm aneinandergeraten?«

Sie lachte. »›Aneinandergeraten‹ gefällt mir. So zartfühlend. Ja, ich bin mit ihm aneinandergeraten. Besser gesagt, ich bin gegen ihn angerannt.«

»Egal – für jugendliche Denker ist so etwas sehr anregend. Es gab nicht viel, wozu meine Eltern eine Meinung hatten.«

»Kein Wort gegen deine Eltern.«

Er drehte sich auf die Seite und streckte den Arm aus. »Komm her.«

»Ich warne dich – dieses Bett quietscht.«

Er kniff die Augen zusammen. »Ich dachte, wir sind hier im Gästezimmer. Ach so – David …«

Sie seufzte.

»Egal – komm trotzdem her.«

*

Die Familie wirbelt durch das ganze Haus, glücklich lächelnde Gesichter, in Rahmen auf Kaminsimsen und Fensterbrettern, auf dem Klavier, an den Wänden. Der dick gewickelte Kokon in Alisons Armen verwandelt sich in ein niedliches Kleinkind mit Wuschellocken, und ein neuer Kokon erscheint. Die Kleinkinder bekommen lange Beine, winken von Ästen herunter, schlagen Räder auf dem Rasen. Grinsend stehen sie der Größe nach aufgereiht, jeder mit dem Arm auf der Schulter des Nächsten. Die Großen tragen die Kleinen huckepack. Die Sonne vergangener Sommer malt Lichttupfen auf ihre Gesichter. Einmal haben sie einen Schneemann gebaut und ihm Charles’ Pfeife in den Mund gesteckt. Sie sind in einer ewigen Kindheit konserviert, verzückt, versunken, durch nichts getrübt.

Philip vertieft sich in die Bilderflut, bleibt auf der Treppe stehen. »Bist du das? Auf dem Trampolin. Mit Paul?«

»Ja und ja.«

»Erinnerst du dich daran?«

»Erinnern?«, fragt Gina. »Ich bin nie sicher, ob ich mich erinnere oder es nur erzählt bekommen habe. Das Foto erzählt mir, dass Paul und ich an jenem Tag Trampolin gesprungen sind. Also muss es so gewesen sein.«

Philip sah sie an. »Was wird dir denn sonst noch so erzählt?«

Gina lachte. »Familiengeschichte natürlich. Wie jeder sie hat. Letzten Monat haben wir in Fowey ausgewählte Auszüge aus der deinen gehört. Höchst erbaulich. Wie du deiner Schwester den Pferdeschwanz abgeschnitten hast.«

»Reine Verleumdung«, sagte Philip. »Sie hat mich dazu aufgefordert.«

»Nicht in der Version deiner Mutter. Aber da siehst du’s. Diese Unzuverlässigkeit ist berüchtigt.«

Philip wandte sich von dem Trampolinfoto ab und ging die Treppe hinunter. Gina wurde immer empfänglicher für die Anzeichen, die seine Seelenverfassung verrieten, eine geradezu unheimliche Sensibilität, die sich da in Paarbeziehungen entwickelt. Sie spürte seine Aufmerksamkeit und sein Interesse, aber auch sein Unbehagen. Sie erkannte es an der Haltung seiner Schultern, am Trommeln seiner Finger auf dem Treppengeländer. Ohne sie anzusehen, steuerte er auf die Küche zu, aus der Frühstücksgerüche und -geräusche drangen: der Röstduft von Toast, das Klicken einer auf dem Unterteller abgesetzten Tasse.

Gina hatte Kopfschmerzen. Ihr siebenjähriges Ich strahlte sie zahnlückig von der Wand her an. Sie fragte sich, ob Philip gern die Flucht ergreifen würde. Ich hab’s dir ja gesagt, murmelte sie seinem Rücken zu. Das wird eine größere Sache. Ich habe dich vorgewarnt. Seine Eltern waren unauffällig bis zur Wesenlosigkeit. Gina hatte sie reizend gefunden.

Charles saß im karierten Morgenmantel auf einem großen, geschnitzten Stuhl am Kopfende des Tischs und las in einem Buch. Er blickte flüchtig auf, hob die Hand zu einem vagen Gruß und las weiter.

Alison stand am Herd. »Tee oder Kaffee? Ich mache für alle, die möchten, Spiegeleier mit Speck.«

Philip sagte, dass er mochte.

Charles sagte, ohne von seinem Buch hochzublicken: »Dieser Kerl hat eine völlig falsche Auffassung vom Kalten Krieg. Würdest du dich der Meinung anschließen, dass der entscheidende Punkt die gegenseitig zugesicherte Zerstörung war, David?« Alison drehte sich um und lächelte Gina und Philip entschuldigend zu. »Soll ich dir dazu eine Scheibe Brot in der Pfanne mitbraten, Philip?« Alle waren Philip gegenüber schnell zum Du übergegangen.

Charles wartete Philips Ansicht über den Kalten Krieg gar nicht ab. »Abgesehen von allem anderen hat der Mann eine völlig falsche Vorstellung von der sowjetischen Mentalität …«

»Schreibst du eine Rezension?«, erkundigte sich Gina.

Charles überging die Frage. Er hob die Tasse, trank und winkte mit der leeren Tasse in Richtung Ingrid. Sie griff nach der Kaffeekanne und schenkte ihm nach.

»Charles rezensiert nicht mehr viel«, sagte Alison. »Das war immer eine recht lästige Arbeit.«

Aus der Eingangshalle kam ein Klappern, dann ein dumpfer Aufprall. Die Zeitung war da. Charles hatte sich wieder seinem Buch zugewandt, aber jetzt streckte er die Hand aus, die Handfläche nach oben. Alison holte die Zeitung und reichte sie Charles.

»Es gab Zeiten«, sagte Gina, »als dein Name ständig in der Sunday Times oder im Observer oder einem anderen Blatt stand. Mir war nicht bewusst, dass du Rezensieren lästig fandst.«

Charles schlug die Zeitung auf und vertiefte sich darin.

»Einmal Eier mit Speck«, rief Alison fröhlich. »Für dich, Philip.«

Charles schlug mit ausladenden Bewegungen die Zeitungsseiten um und fegte dabei eine Scheibe Toast auf den Boden. »Es gab Zeiten, Gina«, sagte er, »wo du im Lokalradio Stadträte interviewt hast. Jetzt kennt man dich nur noch aus dem Fernsehen. Man zieht eben weiter.« Er lächelte; keinerlei Tadel schien beabsichtigt.

Oder manövriert sich ins Abseits, dachte Gina. Du wirst einfach nicht mehr gefragt, oder?

Der Hund hatte sich ruck, zuck den heruntergefallenen Toast geschnappt und sich damit unter den Tisch verkrochen.

Ingrid ergriff zum ersten Mal das Wort. »Im Fernsehen bemerkt man die Narbe nicht. Fast gar nicht.«

»Dazu sind die Maskenbildnerinnen schließlich da«, sagte Gina. »Ich werde ihnen dein Lob ausrichten, Ingrid.«

Philip blickte von ihr zu Ingrid und wieder zurück. Er schien zum Sprechen anzusetzen, überlegte es sich dann aber anders und stürzte sich auf sein Essen.

Welche Narbengeschichte habe ich ihm erzählt?, fragte sich Gina. Unfall auf dem Schulhof oder Sturz vom Fahrrad? Sie verfügte über ein gewisses Repertoire, das sie inzwischen recht nachlässig einsetzte.

»Du siehst immer wunderbar aus, Schatz«, sagte Alison. »Und hast immer frisch gewaschene Haare, sogar in Flüchtlingslagern oder so.«

»Und du versprichst dich nicht. Sagst kaum einmal ›äh‹.« Ingrid erwärmte sich merklich für das Thema.

Philip hielt mitten im Essen inne und legte klirrend Messer und Gabel nieder.

»Ich tue mein Bestes«, sagte Gina frostig. »Kann ich noch Kaffee haben? Und wo ist Paul?«

»Im Bett«, antwortete Charles, ohne von der Zeitung aufzublicken. »Wo sonst? Seit langen Jahren sein natürliches Biotop.«

»Er findet den Job sehr anstrengend.« In Alisons Stimme klang ein leiser Vorwurf durch. »Er muss um halb neun dort sein, deshalb muss er am Sonntag mal ausschlafen.«

»Manchmal kann er aus dem Gartencenter Sachen mitnehmen, die sie nicht mehr brauchen«, sagte Ingrid. »Letzte Woche kam er mit einer Kamelie und ein paar schönen großen Töpfen.«

»Beschädigte Ware«, erklärte Alison. »Die Töpfe waren etwas angeschlagen, und die Kamelie hatte Frost abbekommen.«

»Eine Hortikultur-Karriere ist ein unerwarteter Aufbruch in eine neue Richtung. Aber natürlich kann Paul schon auf so manchen Neubeginn zurückblicken.« Schwer zu sagen, ob Charles sarkastisch war oder nicht. »Ein größerer Aufbruch von zu Hause war allerdings nie vonnöten.«

»Was macht er denn im Gartencenter?«, fragte Gina.

»Er ist an der Kasse«, antwortete Ingrid. »Und fährt Pflanzen herum. Wahrscheinlich muss er heute Nachmittag hin.«

»Und er etikettiert neue Ware«, ergänzte Alison. »Und hilft den Kunden finden, was sie suchen. Der Arme, er muss später wirklich arbeiten, Sonntag ist der größte Ansturm. Und was habt ihr beiden so vor? Natürlich gibt es einen Sonntagsbraten, aber wir essen eher spät, bis dahin könnt ihr faulenzen.«

*

»Ganz allein, Philip?«, fragt Alison. »Wo ist Gina denn abgeblieben?«

»Sie holt eine Zeitung. Ein Sonntag ohne Zeitung ist für sie kein richtiger Sonntag.«

»Und Charles hat die unsere wohl in sein Arbeitszimmer mitgenommen. Ich setz mich zu dir – das Essen gart jetzt von allein, und an einem sonnigen Vormittag ist es auf der Terrasse richtig schön.« Sie sackt auf einem Liegestuhl nach unten. »Ups! Ich vergesse immer, dass der kaputt ist. Paul ist vor Jahren mal draufgesprungen, der Lauser. Und siehst du die vielen Macken am Geländer? Da sind Katie und Roger immer mit dem Dreirad dagegengedonnert, als sie klein waren. Das ist ein richtiges Familienzuhause mit allen Narben, die dazugehören. Und so vielen glücklichen Momenten – an allem hängt eine Erinnerung. Die Silberbirke dort haben wir an Ginas erstem Geburtstag gepflanzt, schau mal, wie groß die jetzt ist. Bist du auch in einer großen Familie aufgewachsen, Philip? Ah ja … Also, ich wollte immer nur Kinder haben, und dagegen ist wohl nichts zu sagen, meine ich.« Fröhliches Lachen. »Eine richtige, altmodische Familie – für die Kinder ein wunderbares Fundament. Wie sie alle im Trupp zur Schule aufgebrochen sind, ich sehe sie noch vor mir. Und später hab ich sie durchgezählt, als sie wieder heimkamen, da hat ein leckeres Essen auf sie gewartet, und alle hatten ihren eigenen Platz am Tisch. Gina hat dir sicher schon viel erzählt. Was zählt, sind die ersten zehn Jahre, nicht wahr? Zehn, fünfzehn Jahre. Da werden die Weichen gestellt, nicht? Ich selbst hatte auch eine glückliche Kindheit und war immer dankbar dafür. Es kommt mir vor wie gestern – ihre Kindheit, meine ich, nicht die meine.« Wieder Lachen. »Ich kann’s immer noch nicht glauben, dass sie alle erwachsen sind und … nein, fort sind sie natürlich nicht, überhaupt nicht, nur eben ausgezogen. Für mich sind sie immer noch da, wie ein Schwarm lieber kleiner Poltergeister.« Alison seufzt. »So eine wunderbare Zeit, Philip, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Natürlich hatten wir auch viel Glück. Niemand … na ja, gelegentlich gab’s auch mal Ärger, aber das ist schließlich normal, oder? Nichts geht über ein richtiges, altmodisches Familienleben.«

*

»Ich mach dir Kaffee«, sagt Ingrid. »Für Gina auch? Nein, das ist keine Mühe. Setz dich doch bitte«, fügt sie liebenswürdig hinzu.

Philip setzt sich an den Küchentisch. Ingrid geht mit dem Wasserkocher zur Spüle, holt bedächtig das Schraubglas mit dem Kaffeepulver und die Kaffeebecher herunter. »Der ist für Gina, ihr Becher. Schön. Schade, dass sie nicht öfter nach Hause kommen kann. Schade, dass nicht alle öfter nach Hause kommen können. Jetzt ist es sehr leer im Haus, aber gut, dass Paul noch da ist. Paul ist oft gegangen und wiedergekommen. Schade, dass es keine Enkel gibt, aber vielleicht wird es noch. Alison hätte gern wieder Kinder hier. Bei Charles bin ich mir nicht so sicher, aber er hat seine Arbeit. Ich bin natürlich schon lange hier, aber ohne Kinder ist es immer noch seltsam, dieses Haus. Hast du Kinder, Philip? Nein? Na ja, vielleicht eines Tages. Sechs Kinder waren viel Arbeit, aber wir waren immer zwei Frauen, und das war gut. Das Haus ist groß, da gibt es viel zu tun, aber auch viel Platz – jeder hat Raum für sich. Charles muss natürlich Raum haben, vor allem Charles. Als die Kinder da waren, haben manche sich mehr Raum genommen als andere, aber so ist das eben in einer Familie, glaube ich. Manchmal Streit, manchmal ein bisschen Ärger. Man erinnert sich nur an die guten Zeiten. Die schlechten Zeiten – na ja, je weniger man darüber redet, desto besser, nicht? Möchtest du Zucker, Philip? Gina nimmt, glaube ich, keinen Zucker.«

*

Philip begegnet Charles auf der Treppe.

Charles bleibt stehen. »Ah, David. Ich möchte noch zu bedenken geben: Wenn Blair aufgrund seiner Informationen von der Existenz von Massenvernichtungswaffen überzeugt war, dann war er moralisch verpflichtet, auf eine Invasion zu dringen. Der Mann hatte keine andere Wahl.«

Paul taucht aus dem Bad auf, ein Handtuch um die Hüften. »O Gott – wie spät ist es denn?«

»Halb eins«, sagt Philip.

»Scheiße. Ich hätte vor einer Stunde im Gartencenter sein sollen. Ach, was soll’s – dann ist eben das Auto mal wieder liegen geblieben.« Er grinst. »Na, was hältst du von unserem guten, alten Elternhaus? Trautes Heim, was? Hat Gina schon eine Führung mit dir gemacht? Die Messwand mit den Markierungen, wie wir gewachsen sind? Die Schublade mit den Verkleidesachen? Nein? Sie sollte sich was schämen. Kein Sinn für Tradition. Hat sie dir vom Kellerspiel und dem Gruselschrank erzählt? Auch nicht? Was ist denn los mit dem Mädchen? Dieses Haus hat doch einiges erlebt.« Paul lacht, zieht das Handtuch fester und schlendert den Gang entlang davon.

*

Tatsächlich hat jedes Zimmer im Haus seinen eigenen Charakter. Die von Gina nicht vorgeschlagene Führung würde vielleicht in dem großen Wohnzimmer beginnen. Hier befindet sich der offene Kamin, in dem früher die Briefe an den Weihnachtsmann aufgegeben wurden. Wir überqueren die Eingangshalle und gelangen in das Arbeitszimmer von Charles, das sehr viel weniger vom Familienleben geprägt ist; ein Riegel innen an der Tür scheint auf eine gewisse Festungsmentalität hinzudeuten. In der Küche wimmelt es natürlich nur so von Beziehungsreichem – die Becher, die Basteleien –, und wenn wir die Treppe hochsteigen, finden wir am Ende des Gangs die Messwand mit den Größenmarkierungen. Da sind sechs Spalten, für jedes Kind eine, mit minutiösen Bleistiftstrichen an der Seite; waagrechte Linien zeigen an, wie groß das Kind an jedem seiner Geburtstage war. Gina ist mit sechs größer als Paul, aber dann schießt Paul in die Höhe, und als er sechzehn ist, überflügelt er alle, dann hören die Markierungen auf. Katie scheint immer die Kleinste gewesen zu sein; bemerkenswert dagegen Clares Wachstumsschub als Teenager. In der Nähe steht eine riesige Aufsatzkommode, in deren geräumiger unterster Schublade die Kostüme zum Verkleiden liegen, ein Wust von Cowboyanzügen, Hexenmänteln, Tutus, Masken, Polizeihelmen, Tierkostümen und diversen, von den Erwachsenen ausgemusterten Stücken – Paillettenkleider, Tücher, billiger Modeschmuck und ein zerbeulter Zylinder.

Bei näherer Betrachtung hat jedes Zimmer Narben. In einem hat jemand eine Reihe anstößig nackter Figuren unter das Fensterbrett gemalt, wo man sie nur bemerkt, wenn man genau hinsieht. In einem anderen Zimmer finden sich an der Decke Tintenkleckse, eine interessante Leistung. Es wird klar, dass in Allersmead eine Zimmerrenovierung nie zu den Vordringlichkeiten gehört hat. Das Elternschlafzimmer ist schlichtweg schäbig, das Pflaumenblau der Samtvorhänge ist an den Falten zu Beige verblichen, der Teppich stellenweise bis zum Grundgewebe abgetreten. Es gibt ein breites Himmelbett, vermutlich der Schauplatz der beeindruckenden Fortpflanzungstätigkeit, und einen Wandschrank, in dem die elterliche Garderobe hängt, ein Ort der Dunkelheit und langer, wirklich gruseliger Schatten, in den man einander hineingeschubst und, vom Gekreisch ungerührt, eingesperrt hatte.

Der Keller. Auf der einen Seite des Hauses führt eine Treppe zu einer schwarzen Tür hinunter. Der Schlüssel steckt im Schloss – ein riesiger Eisenschlüssel. Drehen Sie ihn herum, öffnen Sie die Tür, und Sie stehen in einem muffigen, dunklen Raum halb unter der Erde, der sein Licht von zwei schmutzigen, ebenerdigen Fenstern hoch oben an der Wand erhält. Der Keller hat einen feuchten Ziegelboden; an einer Wand steht ein riesiges Weinregal, in dem das spätviktorianische Großbürgertum einst seine guten Tropfen lagerte. Die übrigen Holzregale sind mit irgendwelchem Müll vollgestopft – schimmligen Pappkartons, rostigen Werkzeugen, einer alten Matratze, Milchflaschen und Marmeladengläsern voller Spinnweben, einem Eimer ohne Griff, einer Gasmaske, einem Vogelkäfig, ein paar Blechtabletts. In einer Ecke steht, wie mit dem Boden verschweißt, ein kaputter Rasenmäher. An einer Wand scheint aus einer großen Holzkiste und einem türlosen Schrank eine Art Unterkunft improvisiert, darüber hängt eine Tafel, mit Kreide in krakeliger Schrift bekritzelt, zwei Spalten mit Namen und Zahlen. Unter der Überschrift STRAHFAUFGABENsteht: Paul 5, Gina 4, Sandra 5 …, unter STRAHFPUNGTE steht: Paul 1, Gina 2 … Clare 16. Hier hat sich offensichtlich etwas abgespielt.

»Was gibt’s denn da im Keller?«, erkundigt sich Philip, den Blick auf die Tür gerichtet.

Gina zuckt mit den Achseln. »Schwarze Käfer. Spinnen. Kellerleichen.«

Nach dem Sonntagsessen – viel zu viel Sonntagsessen – schlendern sie durch den Garten. Lammkeule, Minzsauce, Röstkartoffeln, dicke Bohnen – das volle Programm. Rhabarberstreusel mit Sahne. Käseplatte für alle, die das Vorangehende überlebt haben.

»Sollen wir nicht lieber bald nach Hause fahren?«, fragt Gina.

Philip denkt nach. »In gewissem Sinn bist du natürlich schon zu Hause.«

»Ich rede von unserer Wohnung.«

Er legt den Arm um sie. »Ich weiß. War nur ein Witz. Trotzdem, du kannst sagen, was du willst, deine Mutter ist eine erstklassige Köchin. Okay, packen wir zusammen. Möchtest du diese Zeitungen mitnehmen? Dein Vater würde sie sicher noch lesen.«

*

Philip trug ihr Gepäck nach unten. Gina stand mit Alison und Ingrid in der Eingangshalle. Alison sagte, es sei so nett gewesen, Philip kennenzulernen, und sie müssten bald wiederkommen. Gina sagte, ja, klar, natürlich, das Problem ist nur, dass ich nie weiß, wann ich ins nächste Flugzeug springen muss. Ingrid hatte eine Plastiktüte mit Bohnen, Möhren, Salat und Kräutern vollgepackt: »Den Salat musst du noch heute Abend essen, solange er frisch ist. Die Kräuter stell ins Wasser.«

Alison rief: »Charles! Sie fahren.«

Charles tauchte aus seinem Arbeitszimmer auf. Gina trat einen Schritt auf ihn zu, küsste ihn. »Wir brechen auf«, sagte sie. »Der Verkehr. Sonntagabend. Da wollen wir nicht zu spät los.«

Charles nahm den Kuss entgegen und tätschelte sie am Arm. »War schön, dich mal nicht nur auf dem Bildschirm zu sehen. Nicht, dass ich viel fernsehe – ich lese die Nachrichten lieber in der Zeitung. Aber gelegentlich bekommen wir doch etwas von dir mit.« Er streckte Philip die Hand entgegen. »Schön, dass wir dich kennengelernt haben … äh. Hoffe, ich habe gestern Abend nicht zu viel geredet.« Ein fragender Blick. »In Gesellschaft komme ich manchmal richtig in Fahrt.«

Philip sagte, ihm habe die Diskussion Vergnügen bereitet.

Alison wedelte mit einem Blatt Papier vor Gina herum. »Die Adressen, Schatz. Von allen, E-Mail und sonstige, weil du nicht sicher bist, ob du sie hast oder nicht. Roger ist in Toronto an eine neue Klinik gegangen. Und Katies Mann wird gerade nach San Francisco versetzt; sie freuen sich ja so. Clare ist im Moment mit ihrer Truppe auf Japantournee. Sie schickt so hübsche Postkarten. Hier steht nur ihre Pariser Adresse. Sandra hat natürlich ihre Wohnung in Rom.«

»Und wir glauben, dass es da vielleicht einen Italiener gibt«, sagte Ingrid.

»Glauben wir das?«, fragte Charles. »Mir hat man nichts davon erzählt. Hat er ehrenwerte Absichten?«

Alison lachte. »Also wirklich! Sandra ist achtunddreißig. Ich vermute, sie kann selbst auf sich aufpassen.«

»Zweifelsohne. Ich wollte nur den verantwortungsbewussten Vater hervorkehren. Da hast du’s übrigens, Gina – ein kurzer familiärer Abriss. Die Familie setzt sich über den ganzen Erdball ab, wie du merkst.«

»Wir haben immer noch Paul«, sagte Ingrid.

»Und sind so dankbar dafür.« Alison umarmte Gina und drückte ihre Wangen kurz an Philips Wangen. »Ich wünschte, ihr hättet ihn länger gesehen, aber das Gartencenter ruft natürlich. Gute Fahrt. Und kommt bald wieder.«

Diesmal fuhr Philip. Als er das Tor passierte, sah er im Rückspiegel die Gruppe auf der Treppe: Alison und Ingrid winkten, Charles stand einfach da, mit dem hechelnden Hund zu seinen Füßen. Philip fand, sie sähen aus wie in einer anderen Zeit erstarrt, vielleicht gegen 1975, und sagte das auch, ohne damit eine Kritik zu beabsichtigen.

»Wahrscheinlich siebenundsiebzig«, sagte Gina. »Im Sommer, als ich meinen achten Geburtstag hatte.«

Aber erstarrt sind sie nicht, dachte sie. Sie sah ihre junge Mutter, ihren jungen Vater. Sie sah alle in anderen Inkarnationen – Paul, Sandra, Katie … alle. Tante Corinna – auch sie war damals da. Nein, sie waren nicht erstarrt, sondern weitergezogen, davongezogen. Trotzdem ist alles auch immer noch da und besteht so fort, wie es damals war. An jenem Tag. An anderen Tagen.

Ginas Geburtstagsparty

Corinna sitzt auf der Terrasse und blickt in den Garten hinunter. Sie hat sich verspätet, die Party ist schon voll im Gang. Dafür kassiert sie zweifellos einen Strafpunkt, der das Goldsternchen für die gute Tat, überhaupt hier zu sein, womöglich wieder auslöscht. Corinna ist Ginas Patentante, wenn auch nicht Taufpatin – der Haushalt ist atheistisch –, und da besteht bei Geburtstagen Anwesenheitspflicht. »Gina wäre ja so gekränkt, wenn du nicht kämst« – im Klartext, Alison wäre gekränkt.

Überall Kinder. Der Garten ein einziges Gewusel. Ein einziges Protzen mit Alisons Fruchtbarkeit. Natürlich sind nicht alle Kinder ihre eigenen, es sind auch Besuchskinder darunter, Ginas Gäste. Hier gilt die Familienregel, erinnert sich Corinna, dass nur das Geburtstagskind Gäste einladen darf, und auch nur eine Handvoll, weil die Familie selbst schon so groß ist. Also hat Gina das bewilligte Grüppchen Freundinnen hier.

Alison schwimmt im Glück, wie Corinna sieht. Die Erdmutter. In Laura Ashley gekleidet – »wallend« träfe es vielleicht besser: ein halber Hektar Blümchenstoff, bodenlang, die nicht vorhandene Figur gnädig verhüllend. Ist sie vielleicht schon wieder …? Gott bewahre! Produktiv war sie allerdings, die Erdmutter, der Küchentisch zeugt von ihrem Kreißen. Platte um Platte Häppchenschnickschnack mit ausländischen Flaggen, Minibrötchen, Würstchen im Schlafrock, winzige glasierte Kuchen in gerüschten Papierförmchen, Brandy Snaps, Schokoladenplätzchen, dazu krügeweise Apfelsaft und Limonade. Und in der Mitte DIE TORTE: fast einen halben Meter im Durchmesser, selbst gemacht bis zur letzten aufgespritzten Rosette und dem akkuraten Schönschriftzug: Happy Birthday, Gina. Auch wenn die acht Kerzen wohl von Woolworth stammen, denkt Corinna. Ja, die Erdmutter hat sich ins Zeug gelegt.

Warum bringt mich Alison so in Rage? Weil sie sechs Kinder hat und ich keins? Aber wir haben 1977, und die Leistung einer Frau wird nicht am Ausstoß ihres Uterus gemessen. In meinen Kreisen, in denen Feminismus kein Fremdwort ist, wäre Alison ein Atavismus: Sie ist völlig abhängig von ihrem Mann, ihre Fähigkeiten und Talente beschränken sich auf das Wechseln von Windeln und das Backen von Geburtstagstorten, ich dagegen bin eine hoch angesehene Wissenschaftlerin und Dozentin. Ich weiß mehr über Christina Rossetti als jeder andere, außer einem Langweiler in Yale, der aber ziemlich alt aussehen wird, wenn mein Buch erscheint. In der modernen Welt bin ich die Erfolgsfrau, nicht Alison.

Na schön, vielleicht spielen die Kinder eine Rolle. Irgendwie. Aber die Abneigung sitzt tiefer. Sie hat mit diesem unermüdlichen Lächeln zu tun, mit der Art, wie Alison einem den Arm tätschelt, mit ihrer wabernden Formlosigkeit und mit der Tatsache, dass sie in ihrem Leben kaum ein Buch gelesen hat, mit diesem leichten Stottern und mit ihrer majestätischen Selbstzufriedenheit.

Was hat meinen Bruder nur dieser Frau in die Arme getrieben? Plötzlich war sie da und, schwupp, mit ihm verheiratet, und gleich kam ein Kind nach dem anderen. Was hat Charles davon? Tollen Sex? Bestimmt nicht. Drei Mahlzeiten am Tag und Zimmerservice nach Wunsch, das schon. Von Charles wird sicher nie verlangt, im Haushalt auch nur einen Finger krumm zu machen. Stolz auf die Verbreitung der eigenen Gene? Vielleicht. Wer weiß, welche dunklen, namenlosen Gelüste in ihm stecken? Ich bin die Letzte, die von sich behaupten würde: Ich kenne meinen Bruder.

Corinna hält eine Tasse Tee in der Hand, die Alison ihr gebracht hat: »Du bist nach der Fahrt sicher ganz ausgetrocknet, und an den Geburtstagstisch setzen wir uns erst, wenn sie mit der Schatzsuche fertig sind.« Corinna trinkt ihren Tee und sieht zu, wie die Kinder umherflitzen, rein ins Gebüsch und wieder raus. Alison steht mittendrin, klatscht in die Hände und feuert sie an. Ingrid schlendert vom Teichgarten heran, ein Baby auf der Hüfte. Ihre Aufgabe besteht heute offenbar darin, das Baby aus der Gefahrenzone herauszuhalten. Seit wann gibt es dieses Kind? Man hat kaum mitgekriegt, dass wieder eins zur Welt kam.

Jetzt ist, ebenfalls aus dem Teichgarten, auch Charles aufgetaucht. Er stellt sich neben Alison, während sie ein Mädchen tröstet, das noch keinen Schatz gefunden hat; neben seiner Frau sieht er irgendwie unbeteiligt aus, als hätte das Ganze nicht viel mit ihm zu tun, als hätte er sich nur hierher verirrt. Eigenartigerweise schafft er es trotzdem, in den Mittelpunkt zu rücken; er fordert Aufmerksamkeit, dieser große Mann in Jeans und grün kariertem Hemd, der mit seiner leicht gebeugten Haltung aussieht, als ließe er sich herab zu den kleineren Wesen ringsum, die er durch eine dickrandige Brille bestaunt. Da stehen sie nun, Alison und Charles, inmitten ihres weiten Vorortgartens und ihrer lärmenden Nachkommenschaft.

*

Alison driftet und schwebt. Sie driftet mit den Kindern durch den Garten, ihre Röcke umschweben sie, sie schwimmt auf einer Woge des Vergnügens. Auch ihre Gedanken driften und schweben: herrlicher Tag … Sonne … Kinder … Sandra, schubs Katie nicht, es gibt reichlich Schätze für alle … die Sommergeburtstage sind immer die besten, der arme Paul, der mit dem Januar geschlagen ist, daran hätte man vorher denken sollen … Paul geht ein bisschen unter, so viele Mädchen, mit Ginas Freundinnen noch dazu … wird die Limonade reichen? … Werden sie die Pâté-Sandwiches essen? Die sind vielleicht zu pikant … Gina, pass auf, dass auch die Kleinen ein paar Schätze finden; ich glaube, Roger hat noch gar nichts … Sonne … Kinder … ah, da ist Charles.

Mit Charles neben sich muss Alison ihren Schwebeflug abbrechen. »Sie haben so viel Spaß«, berichtet sie ihm. Aber Charles ist nicht hier, sieht sie, er ist mit geistigen Dingen beschäftigt, die sich in seinem Kopf abspielen, Dingen, denen sie unmöglich folgen könnte. Sie hakt sich bei ihm ein und lächelt. Lächelt und lächelt.

»Wer sind die ganzen Kinder?«, fragt er. »Diejenigen, die nicht von uns sind?«

»Das sind Ginas Schulfreundinnen«, erklärt sie ihm. »Nur sechs, zum Geburtstag. Rowena, Sally, Rosie und … hm … Corinna ist hier. Trinkt auf der Terrasse Tee. Geh doch mal zu ihr rüber.«

Und da kommt Ingrid übers Gras geschlendert, das Baby auf der Hüfte; ihre Haare leuchten in der Sonne. Charles geht. Alison lächelt Ingrid an. »Ist Clare müde?«, fragt sie. »Du könntest versuchen, sie eine Weile in ihr Bettchen zu legen.«

»Ihr geht’s gut«, sagt Ingrid. »Soll ich bald das Eis aus dem Gefrierschrank nehmen?«

»Ja, bald«, sagt Alison. »Sie haben jetzt fast alle Schätze gefunden.«

*

Sie sitzt oben auf dem grasigen Abhang, der zum Teichgarten hinunterführt, und wartet. Der Schatz ist im ganzen Garten versteckt, goldene und silberne Schokoladenmünzen. Die Kleinen glauben, dass die Elfen den Schatz versteckt haben, aber Gina weiß es besser: Sie hat vorhin gesehen, wie Alison zwischen den Büschen hin und her lief, den Arm zu Ästen hochreckte, bei der Schaukel, bei der langen Bank, bei den Terrassenstufen haltmachte. Die Schatzsuche fängt erst an, wenn Alison »Auf die Plätze – fertig – los!« ruft, deshalb stehen alle reglos da, über den ganzen Garten verteilt. Gina sieht hier und da bunte Kleider aufleuchten, alle lauern dort, wo sie glauben, ein persönliches Jagdrevier zu haben. Drüben beim Rhododendron steht Paul. Er genießt die Party nicht besonders, wie Gina weiß; es ist nicht sein Geburtstag, und er hat keine Freunde hier. Das tut ihr leid, denn sie selbst ist selig, aber schließlich ist heute sie an der Reihe. Sie hat ein ganzes Jahr darauf gewartet, und er hat, wie alle, seinen Geburtstag ja auch gehabt.

Seligkeit. Sie kann es nicht ganz fassen – das ist ihr Tag, ihr Geburtstag, der lang ersehnte Tag, der nie zu kommen scheint. Dieser Tag ist sogar noch schöner als Weihnachten, denn er gehört ihr ganz allein. Die Geschenke, die Geburtstagskarten, die Tatsache, dass sie jetzt acht ist, nicht mehr sieben. Acht, acht – sie lässt sich die Zahl auf der Zunge zergehen. Ich bin acht.

Da ist Dad; er steht mit Ingrid am Teich. Normalerweise bleibt Dad an Geburtstagen in seinem Arbeitszimmer, hinter geschlossener Tür, deshalb freut sich Gina, dass sie ihn sieht. Ingrid hat Clare bei sich; sie hebt Clare von ihrer Hüfte und scheint sie Dad hinzuhalten, aber Dad nimmt sie nicht. Natürlich nicht – Ingrid sollte inzwischen wissen, dass Dad keine Babys herumträgt.

Acht. Acht, acht, acht. Und ihr großes Geschenk von Mum und Dad ist ein neues Fahrrad, grün, mit Klingel und Satteltasche. Geburtstag. Ich habe Geburtstag. Und später gibt’s Geburtstagskuchen, und gleich beginnt die Schatzsuche. Aber Mum hat gesagt, dass sie nicht zu gierig sein und zu viele Münzen finden darf; sie muss den Jüngeren helfen, auch etwas zu finden, und ein paar Schätze für die Gäste übrig lassen. Gina kennt alle Verstecke, weil es solche Schatzsuchen schon öfter gegeben hat.

Sie wartet, die Augen auf Alison gerichtet, die mitten auf dem Rasen steht. Hinter ihr kann Gina Corinna sehen – Tante Corinna, aber sie sagen nicht Tante, nur Corinna. Sie ist auf die Terrasse herausgekommen und sieht auch zu – beobachtet Alison, den ganzen Garten. Und jetzt ruft Alison »Auf die Plätze – fertig – los!«, und sofort entdeckt Gina eine glänzende Münze, da drüben auf dem großen Stein.

*

Sie hat fünf Münzen. Fünf Schätze. Aber sie muss acht zusammenkriegen – acht für ihren achten Geburtstag. Es ist egal, wenn sie nicht die meisten Schätze findet, aber acht müssen es schon sein. Wo soll sie als Nächstes suchen? Nicht in dem großen Gebüsch, das durchkämmen Rowena und Sally, die haben sicher schon alles entdeckt. Das hohe Gras bei der Schaukel und das Blumenbeet unter der Terrassenmauer hat sie schon abgesucht. Sie läuft den Rasen hinunter zum Teichgarten. Ingrid sitzt auf der Grasböschung und spielt mit Clare; dahinter sieht Gina Sandra, die sich eifrig zwischen den Rohrkolben beim großen, rechteckigen Teich mit der Steineinfassung zu schaffen macht. Was findet sie dort?

»Geh weg«, sagt Sandra. »Ich such hier.«

»Ich kann auch hier suchen«, sagt Gina. »Das ist mein Geburtstag.«

Sie wühlen zwischen den Binsen herum, etwa einen Meter voneinander entfernt. Gina greift in ein dickes Büschel, um es zu durchsuchen, da sehen beide sofort den Schatz. Und beide stürzen sich, dicht am Teichrand, zugleich auf die Beute. Sie stoßen zusammen, Sandra schreit: »Ich hab’s zuerst gesehen! Das gehört mir!« Gina streckt die Hand aus, will zupacken … und das ist alles, woran sie sich erinnert.

Das stimmt nicht ganz. Da gibt es noch eine traumartige Filmsequenz, in der sie von uniformierten Männern auf einer Bahre davongetragen wird; Alisons verängstigtes Gesicht starrt auf sie herab, ihr Mund öffnet und schließt sich, aber Gina hat keine Ahnung, was sie sagt; dann ein anderes Bett woanders, ihr Kopf tut scheußlich weh, und jemand sagt: »Alles in Ordnung, Kleine, du wirst jetzt eine Weile schlafen.«

*

»Den Rettungsdienst«, spricht Corinna knapp in den Hörer. »Ein Kind mit Kopfverletzung. Allersmead, Temperley Avenue 14, eine Einfahrt mit weißen Torpfosten, auf der rechten Seite, wenn Sie Richtung Osten fahren.«

Sie kehrt auf die Terrasse zurück. Alison und Charles sind beim Teich. Alison kniet. Charles beugt sich herunter. Ingrid trommelt die anderen Kinder zusammen. »Kommt alle mit, kommt«, ruft sie fröhlich. »Wir gehen rein – die Schatzsuche ist zu Ende.« Aber die Kinder hören nicht. Roger sagt, dass er zur Mama will. Die Gastkinder sind bestürzt, aber auch neugierig; beklommen blicken sie zum Teich hinüber. Katie fragt, ob sie jetzt den Geburtstagskuchen essen können. Sandra scheint verschwunden. Ingrid hält Roger an der Hand und versucht, die anderen auf die Terrasse zu treiben. Das Baby schreit.

»Was genau ist passiert?«, fragt Corinna.

Ingrids helles, flaches, immer ziemlich unbewegtes Gesicht wird noch ausdrucksloser. »Ich konnte es nicht richtig sehen«, sagt sie.

*

»Warum zum Teufel hast du was direkt am Teich versteckt?«, fragt Charles.

*

Alison weint. Das ist nicht wahr. Solche Dinge passieren einfach nicht. Nicht in dieser Familie, nicht ihr. Es ist alles eine grässliche Halluzination. Gleich wird sie wieder zu sich kommen, und die Kinder werden wieder herumrennen, und sie wird sie gleich hereinrufen, damit sie die Geburtstagstorte essen.

Dies also der Geburtstag, den jeder anders in Erinnerung behalten wird.

Gina wird sich daran erinnern, wie sie mit dickem Kopfverband nach Hause kam. Und es war gar nicht mehr ihr Geburtstag, der war längst den Bach runter, abgeschrieben, gelöscht. Es kam nie dazu, dass sich alle an den Geburtstagstisch setzten. Später, an einem anderen Tag, aßen sie die Torte, und Gina blies die Kerzen aus, aber das zählte nicht.

Es bildet sich eine Narbe seitlich an der Stirn, wo sie auf die Steineinfassung des Teichs geprallt war. Und es folgen weitere Klinikbesuche.

»Ein bedauerlicher Unfall«, sagt Alison. »Ein dummer, bedauerlicher Unfall. Sie ist ausgerutscht.«

Katie sagt: »Du kannst meinen Schatz haben. Alles. Ich hab ihn für dich aufgehoben.«

Ingrid sagt nichts. Noch nicht.

Paul wird sich daran erinnern, wie er Ginas Freundinnen hasste, diese zusammengluckenden, tuschelnden Mädchen. Er wird sich an die Männer vom Rettungsdienst erinnern, die wie Aliens aus dem Weltall durch den Garten marschierten. Er wird sich daran erinnern, wie er aus seinem Zimmerfenster sah, während die anderen in der Eingangshalle umhersausten und Ingrid rief: »Wir spielen jetzt ein Spiel – kommt rein, und wir spielen Reise nach Jerusalem.« Er wird sich daran erinnern, dass viele in die Küche schlichen und sich selbst an den Geburtstagsleckereien bedienten.

Alison wird sich an die Fahrt im Rettungswagen erinnern, an die Sirene, Ginas Gesicht, die Stimmen von Fremden, die Ärzte, die Krankenschwestern, den Krankenhausgeruch, die Liege, auf der Gina davongerollt wurde, das Warten, das Warten.