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Jede Familie hat ein dunkles Geheimnis In einer verlassenen Finca in der Serra de Tramuntana findet ein Wanderer einen Toten. Der Mann wurde mit einem Kopfschuss hingerichtet. Inspectora Ana Ortega und Comisario Lars Brückner übernehmen den Fall und entdecken in einer geheimen Kammer der Finca eine zweite Leiche. Wer ist dieses Mädchen, das vor zwei Jahren dort eingemauert wurde? Im Zuge ihrer Ermittlungen stoßen sie auf den deutschen Öko-Investor Mats Sandberg, der über ausgezeichnete Kontakte bis in die höchsten Kreise verfügt. Sein Wagen wurde in der Nähe des Tatorts gesehen. Hat er etwas mit den Morden zu tun? Eine weitere Spur führt zu der angesehenen mallorquinischen Familie Torres y Matell. Welches dunkle Geheimnis verbindet sie mit diesem Verbrechen? Und welche Rolle spielt dabei deren Tochter Leonora, die vor zwei Jahren Nonne wurde und ein Schweigegelübde abgelegt hat? Als auch die engagierte Umweltaktivistin Nala in das Fadenkreuz der Polizei gerät, stoßen Ana und Lars auf neue Hinweise, und eine Tragödie nimmt ihren Lauf … Dieser Krimi ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig von den anderen gelesen werden! Weniger lesen
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Impressum
Anmerkung
Über die Autoren B.C. Schiller
Bücher von B.C. Schiller
Kapitel 1
Kapitel 2
Vier Wochen zuvor
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Damals
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Damals
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Damals
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Damals
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Damals
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Damals
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Damals
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Damals
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Zwei Wochen später
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Danksagung
Sämtliche Figuren und Ereignisse dieses Romans sind der Fantasie entsprungen. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist zufällig und von den Autoren nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung der Blue Velvet Management GmbH urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
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Oktober 2019, März 2021, Februar 2023, Dezember 2023
Lektorat& Korrektorat: www.bueropia.de
Titelgestaltung: www.afp.at
Foto credits:
scenery of dramatic sunset with rocks at foreground: 741203506, abamjiwa al-hadi, copyright shutterstock
Rocky Landscape: 1244604811, PPAMPicture, copyright iStock
alte verlassene Kapelle auf dem Feld: 1689254878, Pablo Garcia photographer, copyright shutterstock
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Women´s haircut a girl with braids Stock Photo: 48283143, Milenko Savovic, copyright 123RF
Wir haben uns erlaubt, einige Namen und Örtlichkeiten aus Spannungsgründen neu zu erfinden, anders zu benennen und auch zu verlegen. Sie als Leser werden uns diese Freiheiten sicher nachsehen.
Barbara und Christian Schiller leben und arbeiten in Wien und auf Mallorca mit ihren beiden Ridgebacks Calisto & Emilio. Gemeinsam waren sie über 20 Jahren in der Marketing- und Werbebranche tätig und haben ein totales Faible für spannende Krimis und packende Thriller.
B.C. Schiller gehören zu den erfolgreichsten Spannungs-Autoren im deutschsprachigen Raum. Bisher haben sie mit ihren Krimis über drei Millionen Leser begeistert.
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ANA ORTEGA Küstenkrimi:
MÄDCHENSCHULD – ist der erste Band der neuen spannenden Inselkrimi-Reihe mit der Inspectora Ana Ortega und dem Europol-Ermittler Lars Brückner. Die Krimi sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
SCHÖNE TOTE – der zweite Band mit Ana Ortega und Lars Brückner.
FAMILIENBLUT – der dritte Band mit Ana Ortega und Lars Brückner.
Die Krimis sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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TONY-BRAUN-THRILLER:
TOTES SOMMERMÄDCHEN – der erste Tony-Braun–Thriller –
»Wie alles begann«
TÖTEN IST GANZ EINFACH – der zweite Tony-Braun-Thriller
FREUNDE MÜSSEN TÖTEN – der dritte Tony-Braun-Thriller
ALLE MÜSSEN STERBEN – der vierte Tony-Braun-Thriller
DER STILLE DUFT DES TODES – der fünfte Tony-Braun-Thriller
RATTENKINDER – der sechste Tony-Braun-Thriller
RABENSCHWESTER – der siebte Tony-Braun-Thriller
STILLER BEOBACHTER – der achte Tony-Braun-Thriller
STRANDMÄDCHENTOD – der neunte Tony-Braun-Thriller
STILLES GRABESKIND – der zehnte Tony-Braun-Thriller
Alle Tony-Braun-Thriller waren monatelang Bestseller in den Charts. Die Thriller sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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DUNKELSTEIG – Trilogie - Krimi:
DUNKELSTEIG: der erste Band mit Felicitas Laudon
DUNKELSTEIG – SCHULD –der zweite Band mit Felicitas Laudon
DUNKELSTEIG – BÖSE: der dritte und letzte Band mit Felicitas Laudon
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Psychothriller:
DIE FOTOGRAFIN
DIE SCHWESTER
DIE EINSAME BRAUT
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Die TARGA-HENDRICKS-Thriller:
DER MOMENT, BEVOR DU STIRBST – der erste Fall mit Targa Hendricks
IMMER WENN DU TÖTEST – der zweite Fall mit Targa Hendricks
DUNKELTOT, WIE DEINE SEELE – der dritte Fall mit Targa Hendricks
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Die DAVID-STEIN-Thriller:
DER HUNDEFLÜSTERER – David Steins erster Auftrag
SCHWARZER SKOPRION – David Steins zweiter Auftrag
ROTE WÜSTENBLUME – David Steins dritter Auftrag
RUSSISCHES MÄDCHEN – David Steins vierter Auftrag
FREMDE GELIEBTE – David Steins fünfter Auftrag
EISIGE GEDANKEN – David Steins sechster Auftrag
TODESFALTER – David Steins siebter Auftrag
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Die LEVI-KANT-Wien-Krimi:
BÖSES GEHEIMNIS – der erste Cold Case
BÖSE TRÄNEN – der zweite Cold Case
BÖSES SCHWEIGEN – der dritte Cold Case
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Ein Schuss zerriss die Stille und schwarze Vögel flatterten kreischend in den nächtlichen Himmel. Mit weit aufgerissenen Augen starrte die Frau auf ihre Hand.
„Was habe ich nur getan!“ Panisch streckte sie ihren Arm weit von sich, spreizte die Finger, und die Pistole, mit der sie soeben geschossen hatte, glitt auf den Boden. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Doch als sie die Lider hob und nach unten sah, lag die Pistole noch immer im Gras.
„Ich muss verschwinden“, murmelte sie und blickte verwirrt umher.
Mit einem Mal geriet der von Spots erleuchtete Swimmingpool in ihr Blickfeld. Wie magisch angezogen stolperte sie auf das Schwimmbecken zu, das groß und größer wurde. Verharrte davor und wagte nicht, den Kopf zu heben.
Sekundenlang stand sie vor dem glitzernden Wasser und starrte auf das Mosaik am Boden. Sezierte die monochromen Bilder, die im Schein der Poollichter beruhigend wirkten. Dann riss sie sich zusammen und schaute auf. Im Becken trieb eine Gestalt mit dem Gesicht nach unten. Es war ein Mann mit breitem Rücken, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Er wurde von der Gegenstromanlage immer wieder vor und zurück getrieben, so als würde er gegen die Drift ankämpfen. Blut aus einer Schusswunde verteilte sich um den Körper des Mannes, was im Licht der Poolscheinwerfer wie ein surreales Kunstwerk wirkte.
„Oh mein Gott!“ Vor Entsetzen schlug sich die Frau die Hände vors Gesicht, wollte auf diese Weise die Wirklichkeit aussperren. Doch als sie die Arme senkte, war alles so präsent wie zuvor: Ein toter Mann trieb im Pool.
„Nein, das wollte ich doch nicht!“ Plötzlich bekam sie keine Luft mehr und ihre Beine begannen zu zittern. Was sollte sie tun? Einfach davonlaufen? Aber das war keine Lösung.
„Denk nach“, rief sich die Frau selbst zur Ordnung und zwang sich zur Ruhe. Sie konzentrierte sich auf den nächsten Schritt. Griff in die Tasche ihrer Hose und zog ihr Handy hervor. Scrollte durch das Menü, um die richtige Nummer zu wählen, schaffte es aber erst beim dritten Versuch. Ungeduldig lauschte sie dem Freizeichen, dann wurde endlich abgehoben.
„Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich bin im Hotel Formentor. Im Pool treibt ein toter Mann. Ich habe ihn erschossen.“
Dunkle Wolken zogen über die Serra de Tramuntana im Nordwesten der Insel Mallorca, und der Wind blies schneidend kalt. Der Gebirgszug, der sich über eine Länge von mehr als neunzig Kilometern erstreckte, stieg beim Puig Major, der höchsten Erhebung der Insel, bis auf über eintausendvierhundert Meter in die Höhe. Die wild zerklüfteten Felsformationen und die unberührte Natur verliehen der Landschaft eine archaische Atmosphäre. Aufgrund der geografischen Lage regnete es bis in den Mai hinein sehr häufig. Nicht selten wurden Wanderer von plötzlich einsetzenden Unwettern überrascht.
„So ein Mist!“, rief Uwe Kranz wütend. Er hatte keinen Regenschutz dabei und begann deshalb zu laufen. Innerhalb weniger Minuten hatte sich der Himmel verdüstert und schwere Regentropfen klatschten auf seinen Kopf. Zum Glück entdeckte er eine verfallene Finca, ein Stück abseits des wenig frequentierten Wanderwegs. Dort konnte er sich vor dem starken Regenfall in Sicherheit bringen und das Unwetter abwarten. Die Ruine der Finca war einstöckig und hatte eine bogenförmige Tür und ein einziges Fenster in der Vorderfront. Hinter dem Gebäude ragte ein Felsmassiv in den düsteren Himmel. Als Kranz vor dem Gebäude stand, sah er, dass die hölzerne Eingangstür lose in den Angeln hing und ein Teil des Dachs bereits eingestürzt war. Er betrat einen großen Raum, der früher einmal die Küche gewesen sein musste, denn an einer Wand befanden sich noch die Überreste eines alten Steinwaschbeckens. In der Mitte stand ein massiver Holztisch mit einigen wackeligen Stühlen. Durch das desolate Dach trommelte der Regen, der sich langsam zu Hagel wandelte, auf den Boden.
„Verdammt, hier ist alles undicht!“ Suchend blickte sich Kranz um und entdeckte eine niedrige Türöffnung, die in einen anderen Raum führte. Vorsichtig kletterte er über den Schutt auf dem Boden. Mit einem lauten Kreischen flatterte ein Vogel direkt vor seinem Gesicht nach draußen. Kranz stieß einen erstickten Schrei aus. In dem Zimmer war es stockdunkel, denn es gab keine Fenster. Das Dach war hier noch nicht eingestürzt, so konnte er sich endlich vor dem Unwetter schützen. Doch irgendetwas irritierte Kranz an diesem Raum. War es die beklemmende Finsternis, die ihm undurchdringlich erschien?
Auf der Suche nach seiner Taschenlampe tastete Kranz wie ein Blinder mit den Fingerspitzen über die Dinge in seinem Rucksack. Es dauerte ein wenig, bis er die Lampe endlich gefunden hatte. Er schaltete sie ein. Der Lichtstrahl geisterte über zerborstene Bodenfliesen, ein eisernes Bettgestell an der rissigen Wand, über einen morschen Tisch und einen Stuhl, der in der Mitte des Raums stand.
„Was war das?“, fragte sich Kranz, als der Lichtschein der Taschenlampe weiterzitterte. Es war nicht der Stuhl gewesen, der ihn beunruhigt hatte, sondern die schemenhaften Umrisse einer Gestalt, die regungslos darauf saß. Kranz beschlich ein ungutes Gefühl und er spürte, dass es jetzt vernünftiger wäre, einfach wieder nach draußen zu verschwinden, und weiter nach Fornalutx hinabzusteigen. Doch dann gewann seine Neugierde die Oberhand. Ganz langsam ließ Kranz den Lichtstrahl über den Stuhl wandern. Ganz deutlich hob sich die Silhouette einer Person, die mit dem Rücken zu ihm dort saß, von dem schwarzen Hintergrund ab.
Vor Schreck hielt er die Luft an. Sein Puls beschleunigte sich und sein Herz klopfte heftig.
„Hallo, sind Sie in Ordnung?“ Doch Kranz bekam keine Antwort. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe tanzte unruhig über die unverputzten Wände, blieb dann am nackten Rücken des Mannes hängen, streifte seine Arme entlang und verharrte schließlich auf den groben Stricken, mit denen er an Armen und Oberkörper an die Stuhllehne gefesselt war. Er bewegte sich nicht.
„Können Sie mich hören?“ Kranz ahnte, dass diese Frage sinnlos war, aber der bloße Klang seiner Stimme beruhigte ihn. Zögernd wagte er sich einen Schritt nach vorn und leuchtete die Gestalt direkt an. Der Kopf des Mannes war nach unten gesunken. Blut, das bereits geronnen war, hatte sich einen Weg von der Stirn über Nase und Kinn bis zu seiner Brust gebahnt. Erst als Kranz sich bückte, um das Gesicht des Mannes anzustrahlen, entdeckte er das kreisrunde Loch in dessen Stirn.
„Scheiße!“, stammelte Kranz. Mehr brachte er nicht heraus, und er spürte, wie alle Kraft aus seinem Körper wich. Entgeistert starrte er auf den Mann, der sich im auf und ab zitternden Lichtstrahl plötzlich zu bewegen schien und ihn höhnisch angrinste.
Entsetzt drehte sich Kranz auf dem Absatz um und rannte durch den Eingang ins Freie. Er spürte weder die Hagelkörner auf seiner Haut noch achtete er auf den bärtigen Mann, der sich hinter einem Felsvorsprung versteckte und ihn beobachtete. Endlich hatte Kranz den Wanderweg erreicht und hielt schwer atmend an. Mit zitternden Fingern holte er sein Handy hervor und wählte die Notrufnummer,
„Ich habe im Tramuntana-Gebirge eine Leiche gefunden.“
Zwei Männer hockten im Schatten eines alten Olivenbaums auf umgedrehten Bierkisten am Rande eines kleinen Platzes, der von schmalen mehrstöckigen Häusern umgeben war. In der Mitte der Fläche befand sich ein stillgelegter Springbrunnen, der den Jugendlichen des Viertels jetzt als Skateboard-Parcours diente. Ein leichter Wind kam auf und die bunte Wäsche, die auf quer gespannten Leinen vor mehreren Fenstern hing, flatterte fröhlich hin und her.
Das war Son Gotleu, eines der Problemviertel von Palma de Mallorca. Auf den ersten Blick wirkte der Platz wie aus der Zeit gefallen, denn noch gab es alte Emailleschilder, die über winzigen Geschäften hingen, und schwarz gekleidete Frauen, die am Gehsteigrand saßen und wie früher nahrhafte Sobrasada-de-Mallorca-Würste verkauften. Nur selten verirrte sich ein Tourist in dieses Viertel.
Um die beiden Männer auf den Bierkisten hatte sich bereits eine größere Menschenmenge gebildet. Alle blickten gebannt auf das Schachbrett, das auf einem niedrigen Tischchen zwischen den zwei Spielern stand.
„Schach“, sagte José, ein zahnloser Alter. Er trug einen löchrigen Sweater mit dem Logo eines Kaufhauses. Ihm gegenüber saß ein Mann mit kurz geschorenem blondem Haar, ungefähr Mitte fünfzig, der aber durch seine lebhafte Mimik jünger wirkte. Er trug einen dünnen Parka, war Deutscher und hieß Lars Brückner.
Ein schwarzer Lieferwagen kurvte um den Platz, und für einen kurzen Moment hielt Lars die Luft an. Unwillkürlich griff er mit der Hand an die Hüfte, dorthin, wo früher immer seine Pistole im Halfter gesteckt hatte. Ja, damals wäre Lars sofort aufgesprungen und dem Transporter hinterhergelaufen, hätte den Fahrer mit gezogener Waffe gezwungen, die rückwärtigen Türen zu öffnen. Dann hätte er hektisch den Laderaum durchsucht und wie immer keine Spur von seiner Tochter Misaki gefunden. Vor vielen Jahren noch war das Leben von Lars in geordneten Bahnen verlaufen, und nie hätte er sich träumen lassen, einmal auf Mallorca und noch dazu in Son Gotleu zu stranden.
Aber das hatte er seinem Gerechtigkeitssinn zu verdanken. Als Europol-Ermittler war er in Hamburg mächtigen Leuten auf die Zehen getreten und hierher strafversetzt worden.
„Lars, du bist am Zug“, hörte er wie durch einen Nebel die Stimme von José. Die Erinnerung an früher verblasste wie ein böser Traum, den man am Morgen abschüttelt, aber es war keine Einbildung, denn die Entführung seiner Tochter war wirklich geschehen.
„Glaubst du, dass du mich in die Enge getrieben hast“, murmelte Lars und schob seinen König aus dem Gefahrenbereich. „Es ist erst Mai und schon so verdammt warm hier auf der Insel“, beschwerte er sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Gleich wird dir noch heißer werden.“ José öffnete grinsend den zahnlosen Mund und forcierte seinen Angriff.
„Interessant.“ Lars bemühte sich, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen, als er bemerkte, dass José einen Bauern am Rand völlig außer Acht ließ. In aller Ruhe schob Lars die Figur auf dem Brett nach vorn. „Jetzt kann ich meinen Bauern in eine Dame umwandeln“, meinte er zu José und streckte seine Arme in die Höhe.
„Wieso habe ich das nicht gesehen?“ José zog sich die Strickmütze vom Kopf und legte das Kinn in beide Hände.
„Gib auf, José“, riet ihm einer der Zuseher. „Du kannst nicht mehr gewinnen.“
„Aber es geht um zehn Euro!“, jammerte José. „Ich kann mir das Verlieren nicht leisten!“
„Tja, das hättest du dir früher überlegen müssen.“
„Ich weiß.“ Resigniert warf José seinen König um und schob Lars den Schein über das Brett. „Hier hast du mein letztes Geld für diese Woche. Ich bin ein Ehrenmann.“
„Heute haben wir doch gar nicht um einen Betrag gespielt.“ Lars schnippte den Geldschein wieder auf Josés Seite und stand auf.
„Du bist mein Bruder. Vergiss nicht, bald findet der große Stadtteil-Wettkampf Son Gotleu gegen La Soledat statt.“
„Hab’s nicht vergessen.“ Lars erinnerte sich an die kopierten Zettel, die in der Bar von Carmen Miranda hingen und auf das Schachturnier von Son Gotleu hinwiesen. Aus Interesse hatte auch er sich eingetragen, denn er liebte diese Art von Herausforderung, die gleichzeitig eine willkommene Ablenkung war.
„Dann ist ja alles klar“, meinte José und erhob sich ebenfalls. „Reina Rata kommt auch.“
„Wer soll das sein?“, fragte Lars. Er hatte den Namen ‚Rattenkönigin‘ noch nie gehört.
„Reina Rata ist eine der erfolgreichsten Blitzschach-Spielerinnen aus Katalonien. Sie stammt aus La Soledat“, klärte ihn eine junge Frau auf, die ein T-Shirt mit dem Slogan ‚Bad Bitch‘ trug. „Manchmal rappt sie dazu. ‚Jaque mate para los hombres‘ hat auf YouTube über zwei Millionen Klicks.“
‚Schachmatt für die Männer‘ klingt echt spannend. Da bin ich schon sehr gespannt auf den Zweikampf“, erwiderte Lars.
„Du wirst schon sehen, Lars. Beim Blitzschach schießt sie dich durch das Universum“, meinte jetzt auch José mit glänzenden Augen. „Hier auf diesem Platz hat sie gegen zwanzig Gegner gespielt und alle waren in weniger als zwei Minuten geschlagen.“
„Reina Rata hat die katalonischen Meisterschaften im Blitzschach gewonnen. Ihre Spezialität sind die schnellen Ratten-Züge“, erzählte die junge Frau weiter. „Du setzt dir Kopfhörer auf, hörst den Rapper Valtonyc, hast vor dir das Brett, die Uhr tickt und – peng – legst du los. Das ist wie Sex.“
„Schach ist wie Sex, das gefällt mir“, meinte Lars. „Ich freue mich richtig darauf, gegen diese Reina Rata zu spielen.“
„Freu dich nicht zu früh“, meinte die junge Frau lachend. Sie setzte ihre Kopfhörer auf und schlängelte sich zum Rhythmus der Musik durch die Menschenmenge.
„Sie mag dich“, meinte José und klopfte Lars anerkennend auf die Schulter.
„Kennst du diese Frau in dem ‚Bad Bitch‘-Shirt?“
„Aber klar doch. Das ist Reina Rata.“
„Ach, das war die berühmte Blitzschach-Meisterin selbst.“ Interessiert blickte Lars der jungen Frau hinterher. „Warum hat sie sich nicht vorgestellt?“
„Sie war inkognito hier, um das Terrain zu sondieren. Die Gegner abzuchecken, besonders den Deutschen, der für Son Gotleu spielt.“ José grinste wissend.
„Und du wusstest das natürlich.“
„Ja, klar doch.“
Lars verabschiedete sich von José und machte sich auf den Weg zu seiner Pension. Schon im Treppenhaus hörte er sein Handy läuten, das er im Zimmer vergessen hatte. Schnell öffnete er die Tür, doch in diesem Moment hörte das Klingeln auf. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass jemand mehrfach vergeblich versucht hatte, ihn zu erreichen. Jetzt piepste das Handy und eine WhatsApp-Nachricht erschien. Sie bestand aus einem einzigen Wort: ‚Mord.‘
Das rotierende Blaulicht huschte über die verwitterten Mauern, als der bullige Geländewagen der Policia Nacional vor der verfallenen Finca anhielt. Eine Frau öffnete energisch die Tür und stieg aus. Sie hatte ein interessantes Gesicht mit dunklen Augen, und ihre dicken schwarzen Haare trug sie straff zu einem Zopf zusammengebunden. Bekleidet war sie mit Combathosen, T-Shirt und einer weiten Bomberjacke.
„Jefe Inspectora Ana Ortega”, sagte sie und hielt dem Polizisten, der neben dem Eingang der Finca an der Mauer lehnte, ihre Marke entgegen. „Wo befindet sich die Leiche?“
„Im hinteren Raum.“ Der Beamte der Lokalpolizei deutete gelangweilt mit der Hand in die Richtung und musterte Ana dabei ungeniert von oben bis unten.
„Hast du jetzt genug gesehen?“, fragte Ana den Mann sarkastisch, während sie Latexhandschuhe aus den Taschen ihrer Hose fischte und sie überstreifte.
„Äh, was meinst du?“ Der Polizist wurde rot und schob sich nervös die Sonnenbrille hoch.
„Du verstehst mich schon.“
Ana kannte diese Blicke, hatte es schon unzählige Male erlebt, dass Männer ihr hinterherpfiffen oder sich machomäßig in den Weg stellten, etwa wenn sie in einer engen Gasse unterwegs war. Doch sie hatte von früh auf gelernt, sich in dieser arroganten Männerwelt zu behaupten. Schließlich war Ana in Son Gotleu aufgewachsen und das war keiner der feinen Stadtteile von Palma, sondern ein Problemviertel mit jeder Menge krimineller Energie. Doch Ana war dem teuflischen Kreislauf aus Armut und Kleinkriminalität entronnen und Polizistin geworden. Und auch in der männerdominierten spanischen Polizeihierarchie hatte sie sich mit Können und Ehrgeiz durchgesetzt. Jetzt, mit knapp dreißig Jahren, war sie bereits leitende Ermittlerin und konnte eine beeindruckende Aufklärungsbilanz vorweisen.
„Es gibt einen Zeugen, wo ist er?“ Ana blickte suchend umher.
„Sitzt bereits in unserem Jeep. Es ist ein Deutscher namens Kranz, Uwe Kranz“, buchstabierte der Polizist den Namen von seinem Handy ab. „Er war hier wandern“, ergänzte der Beamte.
„Wie hat er die Leiche gefunden? Die Finca liegt doch ein Stück vom Wanderweg entfernt.“
„Der Mann wollte sich vor dem starken Regen schützen.“
„Das ist alles? Der Mann hat nichts bemerkt, keine anderen Personen oder etwas Auffälliges?“
„Nein, Inspectora. Der Zeuge steht noch immer unter Schock.“
„Das ist verständlich. Ich befrage ihn später ausführlich. Warten wir jetzt erst auf die Gerichtsmedizinerin und die Spurensicherung.“
Aus den Taschen ihrer Hose zog Ana ein Handy und wählte eine Nummer. Ungeduldig wartete sie, bis sich endlich jemand meldete:
„Warum gehst du nicht ans Telefon? Es gibt eine Leiche, deshalb rufe ich auch schon ständig an.“
„Heute ist mein freier Tag, da schalte ich das Handy meistens aus“, hörte sie die raue Stimme ihres Kollegen Lars Brückner.
„Ich weiß, aber wir haben einen personellen Engpass. El Papa hat freie Tage bis auf Weiteres gestrichen“, antwortete Ana ohne auf Lars’ Einwand einzugehen. Ihr Chef Pedro Gonzales, von allen El Papa genannt, hatte heute Morgen klare Anweisungen gegeben. Und niemand traute sich, El Papa zu widersprechen, nicht mal Ana.
„Gibt es denn niemand anderen, der den Fall übernehmen kann?“, machte Lars noch einen Versuch.
„Nein, alle Kollegen sind unterwegs“, blieb Ana hartnäckig.
„Na gut. Wo bist du?“
„Ich bin in der Serra de Tramuntana. Ziemlich unwegsames Gelände oberhalb von Fornalutx.“
„O. k., dann schick mir die Adresse auf mein Handy“, seufzte Lars resigniert.
„Hast du nicht zugehört? Das Gebiet ist ziemlich unzugänglich. Es führt nur ein Forstweg von Fornalutx bis hierher. Da gibt es keine Hausnummern. Du fährst am besten durch Fornalutx und folgst dem Wanderweg zum Puig de sa Bassa. Ungefähr auf halber Strecke gibt es eine verfallene Zisterne. Dort musst du rechts abzweigen.“
„Das hört sich ziemlich kompliziert an“, gab Lars zu bedenken.
„Stimmt, man kann sich leicht verirren. Weißt du was? Ich markiere den Standort für dich. Beeil dich bitte“, erwiderte Ana und sandte die Nachricht mit ihrer genauen Position an Lars. Obwohl die Zusammenarbeit mit ihrem deutschen Kollegen in den letzten Monaten etwas besser klappte, waren sie beide wie Feuer und Wasser, und das konnte manchmal anstrengend sein.
Ana trennte die Verbindung und blickte hinunter ins Tal. Zwei robuste Geländewagen der Policia Nacional holperten den steinigen Güterweg entlang und hielten dann hinter Anas Toyota.
Aus dem ersten SUV stieg das Team der Spurensicherung mit seinen glänzenden Metallkoffern, gefolgt von einer schlanken Frau. Anmutig wie eine Balletttänzerin kam sie auf Ana zu. Sie hatte ihren weißen Schutzanzug noch lässig um die Hüften geknotet und trug ihre langen braunen Haare offen.
„Flora Gomez. Ich bin die Gerichtsmedizinerin für diesen Fall. Du musst Ana Ortega sein. Ich habe schon viel von dir gehört“, begrüßte die Frau Ana und streckte ihr die Hand entgegen.
„Ach ja?“, meinte Ana skeptisch. Sie hatte noch nie mit Flora zu tun gehabt. Aber sie wusste, dass die attraktive Frau eine der profiliertesten Gerichtsmedizinerinnen von Katalonien war.
„Sehr cool, wie du den Mord an der balearischen Schönheitskönigin aufgeklärt hast“, bemerkte Flora. „Das hat unser Institut ziemlich beeindruckt.“
„Ach, das war nur eine glückliche Kombination aus Fakten und Intuition“, meinte Ana verlegen. In ihrer Abteilung kam es nicht sehr häufig vor, dass man ihre Arbeit lobte.
„Trotzdem, es war eine perfekte Ermittlung. Hast du die Leiche hier schon begutachtet?“, wechselte Flora das Thema.
„Nein, ich habe auf dich gewartet“, erwiderte Ana.
„Sehr gut, dann wollen wir uns gemeinsam einen ersten Eindruck verschaffen.“ Flora band ihre Haare zusammen und steckte sie unter eine Plastikhaube, dann schlüpfte sie auch mit dem Oberkörper in ihren Schutzanzug und zog den Reißverschluss bis oben hin zu.
„Der Name Flora passt so gar nicht zu deinem unschönen Beruf“, meinte Ana, als sie in das Innere der Finca gingen.
„Mein Beruf ist nicht unschön. Ich versuche immer, Gerechtigkeit für die Opfer zu erlangen, indem ich helfe, die Täter zu überführen. Das ist etwas Positives.“
„Da hast du recht, das ist die richtige Lebenseinstellung. Ich denke genauso.“ Schon immer hatte Ana ein ausgesprochenes Gerechtigkeitsempfinden gehabt. Das hatte ihr zwar des Öfteren Ärger eingebrockt, aber sie konnte einfach nicht aus ihrer Haut.
Beide Frauen warteten, bis die Mitarbeiter der Spurensicherung im hinteren Raum Scheinwerfer aufgebaut hatten. In dem grellen Licht wirkte die Szenerie unwirklich wie in einem Theaterstück. Ana blickte konzentriert auf den blutigen Tatort. In der Mitte des kargen Raums stand ein alter Stuhl und darauf saß das Opfer. Der Oberkörper war nackt und die Arme waren mit Seilen an die Stuhllehnen gefesselt.
Sie trat näher und betrachtete das Opfer. Mit der Fingerspitze hob sie den Kopf des Mannes leicht an.
„Ein Kopfschuss“, sagte sie zu Flora.
„Das sieht aus wie eine Exekution.“ Flora wies auf den dunklen Rand rund um die Eintrittswunde. „Ein aufgesetzter Schuss. Aber mit einem kleinen Kaliber.“
„Wie kommst du darauf?“, fragte Ana.
„Die Kugel ist nicht am Hinterkopf ausgetreten, sondern steckt irgendwo im Schädel. Das spricht für eine geringere Durchschlagskraft.“ Flora bückte sich und untersuchte den Oberkörper des Toten. „Er hat überall Hämatome auf dem Brustkorb, die wahrscheinlich von Schlägen herrühren.“ Flora wies auf die blauen Stellen, die sich scharf von der bleichen Haut abzeichneten. Mit den Fingerspitzen strich sie über einen der Flecke. „Irgendetwas ist merkwürdig“, murmelte Flora.
„Was meinst du?“
„Kann ich noch nicht genau sagen, ist nur ein Gefühl. Ich glaube, das war eine Hinrichtung.“
Im Sonnenlicht glänzt das gelockte Haar des Mädchens wie ein goldener Helm. Ein sanfter Wind weht eine Strähne aus ihrer Stirn. Durch das Zielfernrohr wirkt das Gesicht des Mädchens fast unwirklich, als sie den Blick über die Wiese in seine Richtung schweifen lässt. Das Mädchen ist zwölf Jahre alt und schon jetzt kann man erkennen, dass sie einmal sehr hübsch sein wird. Vorsichtig robbt er auf dem Wiesenboden näher heran, das hohe Gras entzieht ihn ihren Blicken. Plötzlich hat er sie aus dem Fadenkreuz verloren und er sieht nur noch den blauen Himmel mit den wogenden Gräsern.
„Verdammt, wohin ist sie verschwunden?“, murmelt er und unterdrückt im letzten Augenblick den Impuls, aufzuspringen und das Mädchen zu suchen. Stattdessen bleibt er am Boden liegen und bewegt das Zielfernrohr langsam die Wiese entlang. Da, jetzt hat er das Mädchen wieder im Objektiv. Das Fadenkreuz zerteilt ihr Gesicht. Und wenn er sich konzentriert und die Windrichtung stimmt, dann trifft er sie mitten in die Stirn.
Er hält den Atem an und hält das schwere Gewehr so ruhig wie möglich. Noch einmal atmet er durch, dann drückt er ab. Als er das trockene Klacken hört, sieht er Bilder vor seinem geistigen Auge vorbeirasen. Durch die Wucht des Schusses wird das Mädchen wie von einer unsichtbaren Hand in die Luft geschleudert. Die dunkelblonden Locken vermischen sich mit dem Blut, das Fontänen gleich aus der Wunde spritzt. Jetzt wird sie ihn niemals wieder bei Vater verpetzen.
„Habe ich dir nicht verboten, auf deine Schwester zu zielen?“ Der Onkel steht breitbeinig hinter dem Jungen, der sich überrascht umdreht.
„Aber ich habe das Gewehr doch gar nicht geladen“, stammelt er und die Bilder in seinem Kopf verschwinden.
„Es kann noch eine Patrone von der letzten Pirsch im Lauf sein“, belehrt ihn der Mann. „Du bist immerhin schon fünfzehn Jahre alt. Da macht man sich doch Gedanken über die möglichen Konsequenzen.“
„Ach, vergiss es!“ Wütend rappelt sich der Junge hoch und hält dem Onkel das Gewehr hin. „Da, nimm deine blöde Flinte, ich habe sowieso keine Lust mehr, ständig auf dem Boden herumzukriechen.“
„Du musst doch lernen, wie man sich lautlos an das Wild anschleicht.“ Der Mann fährt sich mit der Hand über das schweißnasse Gesicht.
„Was hat er denn jetzt schon wieder angestellt?“ Das Mädchen bahnt sich seinen Weg durch die hohen Gräser. In der Hand hält es einen Blumenstrauß. Sie kennt ihren Bruder. Er ist undiszipliniert und jähzornig. Nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau. Ist also das genaue Gegenteil von ihr. Obwohl sie erst zwölf Jahre alt ist, weiß sie bereits, dass sie später einmal die Umwelt retten will. Deshalb kümmert sie sich in ihrer Freizeit auch um die Bienen, die geschäftig über die Wiese summen.
„Es ist nichts passiert, dein Bruder möchte das Schießen nicht mehr üben.“
„Warum soll er denn überhaupt Tiere töten?“
„Weil das wichtig für den Artenschutz ist. Nur so kann man das ökologische Gleichgewicht in der Natur erhalten“, erklärt der Mann dem Mädchen.
„O. k., wenn das so ist“ erwidert das Mädchen, ist aber nicht wirklich davon überzeugt.
„Ist ja gut.“ Der Junge rauft sich die Haare und verdreht die Augen, denn er weiß, dass er gegen seine Schwester keine Chance hat, obwohl sie jünger ist. Manchmal denkt er, dass sie bei der Geburt ein Wahrheitsserum bekommen hat. Immer bei den Tatsachen bleiben, nie lügen.
„Ich stelle jetzt den Fasan aus Plastik wieder an seinen Platz“, erklärt der Mann. Er greift in seine Hosentasche und reicht dem Jungen eine Patrone. „Mehr gibt’s diesmal nicht. Also reiß dich zusammen.“
Der Junge lädt das Gewehr und beobachtet den Mann, der durch das Gras bis zu einem Baumstrunk stapft, wo er den Plastikvogel platziert.
Der Junge legt das Gewehr an, wirft einen schnellen Blick durch das Fernrohr und zielt spielerisch. Dann verengt sich mit einem Mal die Perspektive, und wie von selbst gleitet sein Finger zum Abzug und er drückt ab. Der Knall dröhnt in seinen Ohren, Blut spritzt in den Himmel, und wie in Zeitlupe stürzt der Mann zu Boden.
„Was hast du getan?“, schreit das Mädchen und lässt den Blumenstrauß fallen. „Du hast ihn totgemacht!“
„Ich sollte doch schießen üben. Aber das wollte ich nicht“, stammelt der Junge. Er wirft das Gewehr von sich und läuft auf den Onkel zu, der lang ausgestreckt im Gras liegt. Blut rinnt aus einer Wunde in seinem Oberschenkel.
„Verzeih mir, bitte“, fleht er.
„Du bist ein totaler Idiot!“, flucht der Mann. Er richtet sich ächzend auf und betrachtet die Verletzung an seinem Bein. „Nur ein wenig höher und du hättest meine Schlagader getroffen. Dann wäre ich jetzt am Verbluten.“
„Das muss ich Papa erzählen“, flüstert das Mädchen, das inzwischen zu den beiden getreten ist.
„Du blöde Petze mit deinem ständigen Wahrheitsfimmel. Irgendwann zahle ich dir das schon noch heim.“
Lars Brückner schritt langsam auf den toten Mann zu und umrundete den Stuhl. Wie immer trug er seinen dünnen Parka und war unrasiert.
„Er wurde also brutal hingerichtet. Und das kannst du ohne Untersuchung sofort feststellen“, erwiderte Ana spitz und blickte ihren Kollegen herausfordernd an. „Du bist doch erst seit knapp einer Minute hier.“
„Alles deutet darauf hin. Die verfallene Finca, der Stuhl und die Fesseln“, ließ sich Lars nicht aus der Ruhe bringen. „Ist das Opfer an dem Kopfschuss gestorben?“, fragte er dann die Gerichtsmedizinerin.
„Ja, der Mann war sofort tot“, antwortete Flora.
„Sorry, habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich bin Lars, der Kollege von Ana“, meinte er und nickte Flora freundlich zu.
„Flora. Ana hat mir schon von dir berichtet. Du bist also der Comisario aus Deutschland, der so ruhig bleibt und kluge Sprüche von sich gibt“, entgegnete Flora ironisch.
„Ich sehe schon, mein schlechter Ruf ist mir vorausgeeilt“, kommentierte Lars augenzwinkernd. Dann beugte er sich zu dem Opfer. „Könnte ein Jagdgewehr gewesen sein. Was meinst du?“ Fragend blickte Lars die Gerichtsmedizinerin an.
„Durchaus, das würde zum kleinen Kaliber passen. Aber Genaueres gibt’s erst nach der Obduktion.“
„Wissen wir bereits, wer der Tote ist?“ Lars erhob sich und trat zur Seite.
„Nein. Aber das holen wir gleich nach“, sagte Ana. Mit zwei Fingern zog sie ein Portemonnaie aus der Hosentasche des Opfers und klappte es auf. „Einhundertfünfzig Euro sind drin. Ein paar Rechnungen. Hier ist auch ein Ausweis.“ Sie reichte Lars das Dokument.
„Francesc Torres y Matell“, las Lars laut vor. „Das ist ein sehr klingender Name. Und es ist ein Ausweis des Ajuntaments von Felanitx.“
„Was hat jemand vom Gemeindeamt aus Felanitx in dieser Gegend zu suchen?“, wunderte sich Ana.
„Vielleicht hat er einen Ausflug gemacht?“ Lars blickte fragend von Ana zu Flora. Dann drehte er sich zu dem Team der Spurensicherung. „Habt ihr schon etwas Brauchbares entdeckt?“
„Jede Menge Fußabdrücke, aber die müssen wir erst auswerten“, antwortete einer der Mitarbeiter.
„Es gibt doch einen Zeugen“, sagte Lars.
„Den befragen wir jetzt auch.“
Uwe Kranz stand an die Steinmauer gelehnt und atmete heftig. Sein Gesicht war kreidebleich.
„Herr Kranz, erzählen Sie uns bitte, wie Sie den Mann entdeckt haben“, forderte Lars den Zeugen auf, nachdem er sich ausgewiesen hatte.
„Ich suchte Schutz vor dem Unwetter und habe durch Zufall die Ruine gesehen“, sagte Kranz stockend und berichtete, wie er die Leiche gefunden hatte.
„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? Vielleicht in der näheren Umgebung?“, fragte Lars.
„Nein, nicht dass ich wüsste. Da war nur ein alter Schafhirte, aber sonst niemand.“
„Ein Schafhirte?“ Ana, die bisher geschwiegen hatte, wurde hellhörig. „Wo genau haben Sie den Mann gesehen?“
„Oberhalb der Ruine. Er stieg gerade dort den Hügel hinauf, als ich auf die Finca zuging.“ Kranz deutete unbestimmt nach oben zu einem Felsvorsprung. „Jetzt fällt mir ein, dass ich ein Geräusch gehört habe, als ich drinnen bei dem Toten gewesen bin.“
„Was für ein Geräusch?“
„Herabkollernde Steine, so als würde jemand von oben zur Ruine heruntersteigen. Vielleicht war das der Schafhirte, der wissen wollte, ob ich den Toten entdeckt habe.“ Kranz wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke über die Stirn. „Ist er vielleicht der Täter? Mein Gott, dann war ich ja in Lebensgefahr.“
„Keine Angst, jetzt kann Ihnen nichts mehr geschehen. Können Sie den Schafhirten beschreiben?“, stellte Lars die nächste Frage an Kranz.
„Er trug einen Strohhut und hatte einen schwarzen Bart. Aber an mehr kann ich mich nicht erinnern.“ Der Zeuge schloss die Augen und reckte das Kinn in die Höhe. „Nein, an weitere Details kann ich mich beim besten Willen nicht entsinnen.“
„Sie haben uns trotzdem sehr geholfen.“ Lars lächelte dem Mann aufmunternd zu.
„Eins noch: Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass es ein Schafhirte war?“, fragte Ana.
„Ich habe oben Schafe blöken gehört. Da dachte ich, das sind wohl seine Tiere.“
„Das macht Sinn“, nickte Lars zustimmend. „Hast du noch Fragen, Ana?“
„Nein, danke“, winkte Ana ab. „Geben Sie bitte bei dem Polizisten vorn an, wie wir Sie erreichen können.“
Währenddessen ging Lars mit großen Schritten zurück an den Tatort.
„Merkwürdig“, murmelte er.
„Was ist los?“, fragte Ana, die ihm gefolgt war.
„Ich wundere mich bloß über diese Mauer“, brummte Lars und deutete darauf.
„Wieso? Hast du noch nie eine alte Steinwand gesehen? Was ist damit?“ Ana runzelte fragend die Stirn.
„Für diese Mauer wurden Steine verwendet, doch der schmale Streifen hier ist mit Ziegeln zugemauert worden.“ Lars trat nahe heran und klopfte mit den Knöcheln seiner Hand gegen einen Ziegel. „Klingt hohl, was meinst du?“ Er drehte sich zu Ana.
„Stimmt, warum besteht nicht die ganze Wand aus Steinen?“
„Genau. Meiner Meinung nach wurde dieses Teilstück erst später hochgezogen und dahinter befindet sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein Hohlraum. Deshalb wirkt hier drinnen alles kleiner als erwartet.“
„Du meinst also, hinter dieser Wand gibt es eine geheime Kammer?“
Zwischen Plastikmüll und bunt schillernden Benzinlachen wiegten sich einige Palmen im Wind. Die Böen trugen den Lärm der nahen Flughafenautobahn weiter bis zu den Hotelburgen am Horizont, hinter denen sich das Meer erahnen ließ.
Auf einer gerodeten Fläche, an deren Rand sich Autowracks wie Kunstwerke auftürmten, befand sich eine Bühne. Die glänzenden Aluminiumplatten, aus denen das Podium gezimmert war, standen in krassem Gegensatz zu der heruntergekommenen Umgebung. Das Gelände befand sich in Sichtweite der Touristenhochburg El Arenal, war aber zu nahe an der Autobahn, um für Hotelketten interessant zu sein. Einige Wagen parkten am Wegrand und etliche Leute stiegen aus. Unschwer erkannte man die Inselratspräsidentin, gefolgt von ihrem Umweltbeauftragten und einigen Mitgliedern der Balearen-Regierung. Aus einem kleinen Elektroauto, das zwischen den Limousinen wie ein Fremdkörper wirkte, kletterten nur zwei Personen. Eine davon war ein dynamisch aussehender Mann um die Mitte dreißig. Er trug Chinos, ein offenes weißes Hemd und handgenähte Schuhe ohne Socken. Seine längeren dunkelblonden Haare wehten im Wind, und der Dreitagebart gab ihm ein verwegenes Aussehen. Die junge Frau neben ihm war seine Assistentin und telefonierte geschäftig mit ihrem Handy. Gerade traf ein Kamerateam des regionalen Fernsehsenders ein und begann seine Gerätschaften aufzubauen. Eine Reporterin mit einem Mikro in der Hand hastete auf den energischen Mann zu.
„Mats Sandberg, darf ich Ihnen eine Frage stellen?“, rief sie atemlos schon von Weitem.
„Sehr gern. Aber etwas später bitte, ich möchte zunächst die Repräsentanten der Insel begrüßen“, erwiderte Sandberg mit einem professionellen Lächeln. Dann drehte er sich um und eilte zur Präsidentin, die bereits neben dem Podium stand und auf ihn wartete.
„Frau Präsidentin, vielen Dank, dass Sie sich für unser Projekt Zeit genommen haben“, bedankte sich Sandberg in perfektem Spanisch.
„Wenn es sich um ein interessantes Umweltschutzprojekt zum Wohl unserer schönen Insel handelt, dann habe ich immer Zeit“, erwiderte die Präsidentin. „Und ein Vorhaben, das mit modernen ökologischen Aspekten verbunden ist, genießt unsere besondere Wertschätzung.“
„Das ist es in der Tat. Folgen Sie mir bitte.“ Sandberg schritt mit der Delegation auf einen grünlichen Tümpel zu. „In diesem Bereich sichern wir das Überleben der seltenen ‚Sapo Partero Ibérico‘, der mallorquinischen Geburtshelferkröte, um nur ein Beispiel zu nennen. Dieses Brachland wird von unserem Fonds zu einem ökologischen Paradies umgestaltet. Und wissen Sie, was das Schöne daran ist?“ Sandberg machte eine Pause und lächelte spitzbübisch. Genüsslich ließ er sich die Worte auf der Zunge zergehen: „Es kostet die Inselregierung keinen Euro.“
„Das ist wirklich sehr großzügig von Ihrer Gesellschaft und natürlich auch von Ihnen, Mats“, meinte die Präsidentin anerkennend. Gemeinsam stiegen sie auf das Podium und Sandbergs Assistentin tippte auf ihr Tablet, um das Logo von Sandbergs Fonds ‚Green Future‘ auf eine Leinwand zu projizieren. Erst dann gab die junge Frau den wartenden Fotografen ein Zeichen, Sandberg und die Präsidentin samt deren Begleitung zu knipsen.
„Ich stelle der Presse jetzt das Projekt vor“, meinte Sandberg nach dem Fototermin und griff nach einem Mikrofon, das ihm seine Assistentin reichte. Er wartete kurz, bis die Kameras in Position waren und ließ seinen Blick über die kleine Gruppe von Zuschauern schweifen, die sich am Rand des Brachlandes versammelt hatte.
„Mein Name ist Mats Sandberg“, begann er seinen Auftritt. „Ich habe mit meiner Firma die letzten Jahre viel Glück und Erfolg gehabt. Und ich möchte Mallorca an diesem Glück teilhaben lassen. Unsere Fondsgesellschaft Green Future hat dieses brachliegende Land erworben und wird es wieder in ein ökologisches Paradies verwandeln.“ Sandberg gab seiner Assistentin ein Zeichen und diese tippte erneut einige Befehle in das Tablet. Innerhalb weniger Augenblicke entstand eine 3-D-Animation auf der Leinwand im Hintergrund. Man sah knospende Sträucher, feines Gras, seltene Insekten und kleine Kröten, die geschäftig in einen klaren Teich hüpften.
Die junge Frau strich wieder über die Oberfläche ihres Tablets und eine weitere Animation baute sich auf. Diesmal waren es typisch mallorquinische Häuser, die sich am Rand der blühenden Wiesen aneinanderreihten.
„Zusätzlich errichten wir in der Umgebung nachhaltige Betriebe, um das typisch mallorquinische Handwerk zu fördern. Dadurch wird die Insel zu einem Vorreiter für eine behutsame ökologische Industrie im Einklang mit der Natur. Und das alles finanziert unser Fonds Green Future.“
Mats erwähnte noch kurz einige Details und beendete seine Präsentation.
„Warum tun Sie das alles für unsere Insel?“, fragte eine Journalistin mit skeptischer Miene. „Wie steht es um Ihren Profit bei der ganzen Sache?“
„Natürlich interessieren uns auch die Erlöse“, erwiderte Sandberg, der diese Frage erwartet hatte. „Wir verkaufen die erzeugten Produkte, um die Fixkosten zu decken. Doch die einheimischen Handwerker bekommen faire Preise und stehen unter keinem Konkurrenzdruck. Es ist ein soziales marktwirtschaftliches Projekt.“
Während die Journalisten weitere Fragen stellten, drängte sich ein junger Mann von hinten durch die Reihen und blieb knapp vor dem Podium stehen.
„Was passiert mit den Fischerhäusern in Es Jonquet?“, rief der Zuschauer Sandberg zu.
„Das ist ein anderes unserer vielen nachhaltigen Projekte und ich kann Ihnen versichern, dass die alten Häuser behutsam saniert werden“, erwiderte Sandberg ruhig. „Die Renovierung wurde im Einklang mit den Bewohnern vereinbart. Diese Menschen erhalten neue hochwertige Häuser.“
„Alles Lüge!“, rief der unbequeme Fragesteller. „Die ehemaligen Bewohner kommen in ein Ghetto mit Plattenbauten an der Peripherie von Palma, und in dem ehemaligen Fischerviertel siedeln nur wohlhabende Ausländer, die sich die teuren Häuser leisten können.“
„Nein, das stimmt so nicht“, unterbrach Sandberg. „Informieren Sie sich bitte auf unserer Website.“
„Wir werden dagegen protestieren und uns zur Wehr setzen.“ Blitzschnell langte der Mann in seine Tasche. Ehe ihn jemand daran hindern konnte, holte er zwei weiche Tomaten hervor und warf sie auf Sandberg. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und lief über das Feld auf die Straße zu. Das Security-Personal wollte die Verfolgung aufnehmen, doch Sandberg hielt sie zurück.
„Lassen wir es gut sein“, meinte er und wischte sich die Tomatenreste von seinem Hemd. „Man kann es eben nicht jedem recht machen.“
„Ist da etwas dran, dass die sanierten Fischerhäuser nur an vermögende Ausländer verkauft werden sollen?“, fragte ein anderer Journalist argwöhnisch.
„Ich kenne dieses Gerücht“, entgegnete Sandberg, „Aber ich kann Ihnen versichern, dass daran nichts Wahres ist. Jeder der alteingesessenen Bewohner kann selbstverständlich in seinem Viertel bleiben. Unsere Intention ist es, das alte Fischerviertel in eine attraktive Wohngegend zu verwandeln. Aber lassen Sie uns doch über das aktuelle Projekt weitersprechen.“
„Das klingt wie ein zu schönes Märchen“, meldete sich eine Reporterin zu Wort. „Der Fonds saniert dieses Brachland, fördert die Handwerkskunst und restauriert verfallene Häuser. Und das alles gratis. Wo ist der Haken?“
„Es gibt keinen. Green Future will sich mit diesen Projekten als nachhaltiger Fonds auf dem Markt positionieren.