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L. Ochrasy

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Beschreibung

Ein berührender, aufrüttelnder Roman über Mobbing, Schlankheitswahn und Selbstvertrauen – von Wattpad-Star L. Ochrasy »Du läufst durch die Welt und denkst, sie gehört dir. Du machst Menschen kaputt und hast nicht einmal eine Ahnung davon.« In sechs Wochen kann viel passieren. In den Sommerferien verändert sich Linas Aussehen radikal: Sie verliert ihren Babyspeck, entdeckt Make-up und wird die gehasste Zahnspange los. Sie erkennt sich selbst nicht wieder – und das Beste ist: ihre Mitschüler, die ihr bisher das Leben zur Hölle gemacht haben, auch nicht! Lina beschließt, Rache zu nehmen. Allen voran an Jona Fitz. Doch dann funkt ihr Herz immer mehr dazwischen ... »Ich liebe dein Buch! Es zeigt die bittere Wahrheit und redet nichts schön. Trotzdem ist die Geschichte total süß.« (Leserstimme auf Wattpad, Leonie36) Triggerwarnung: Diese Geschichte behandelt die Themen Mobbing und Essstörungen. Wattpad verbindet eine Gemeinschaft von rund 90 Millionen Leser:innen und Autor:innen durch die Macht der Geschichte und ist damit weltweit die größte Social Reading-Plattform. Bei Wattpad@Piper erscheinen nun die größten Erfolge in überarbeiteter Version als Buch und als E-Book: Stoffe, die bereits hunderttausende von Leser:innen begeistert haben, durch ihren besonderen Stil beeindrucken und sich mit den Themen beschäftigen, die junge Leser:innen wirklich bewegen!

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Bei »FAT« handelt es sich um eine bearbeitete Version des auf Wattpad.com von Ochrasy ab 2015 unter demselben Titel veröffentlichten Textes.

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Warnung: Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Christiane Geldmacher

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München nach einem Entwurf von Anastasia Wright

Covermotiv: Anastasia Wright

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Kapitel 1

Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich ein schönes Gesicht habe, es aber leider unter einer Fettschicht und hinter einem Doppelkinn versteckt sei. Diese Aussage war hart, aber leider auch wahr.

Wahr gewesen.

Denn ich hatte die Sommerferien ausnahmsweise mal sinnvoll genutzt.

Zwar hatte ich schon seit Monaten an meiner Figur gearbeitet, aber in den letzten Wochen hatte ich noch einmal einen Turbo eingelegt. Und so freute ich mich heute Morgen, in eine Skinny Jeans in Größe 36 zu passen. Wäre sie nicht so verdammt eng gewesen, hätte ich glatt Freudensprünge gemacht. Leider schränkte sie meine Bewegungsfreiheit jedoch so sehr ein, dass ein triumphierendes Lächeln reichen musste. Immerhin war dieses Lächeln das erste Mal seit Jahren wieder komplett drahtfrei. Selbst mein Lispeln war dadurch verschwunden. Meiner Zahnspange würde ich nicht eine Sekunde nachtrauern, doch auf der anderen Seite war ich ihr auch zu Dank verpflichtet. Denn von meinen kindlichen Hasenzähnen war nichts mehr übrig geblieben.

Es war ungewohnt, so eng anliegende Kleidung zu tragen, denn bis vor Kurzem glichen meine Klamotten eher dem Sortiment eines Zeltverkäufers. Immer wieder zupfte ich mein Shirt zurecht und fragte mich, ob ich nicht doch lieber etwas Lockeres wählen sollte. Ich hatte so unglaublich schnell abgenommen, dass mein Kopf noch gar nicht begriffen hatte, dass ich nun zu der glücklichen Gruppe der Normalgewichtigen gehörte. Innerlich war ich immer noch dick.

Doch nun stand ich auf dem Schulhof mit meinen langen kastanienbraunen Haaren, die bei meinem letzten Schulbesuch noch straßenköterblond und kraus wie Stahlwolle gewesen waren. Mum hatte mir als Belohnung für meine Körperreduzierung einen Friseurbesuch geschenkt und war dabei nicht geizig gewesen. Meine Haare fielen seidig über meine Schultern und glänzten wie bei den Models aus einer Shampoo-Werbung. Dafür hatte Mum zweihundert Euro hingeblättert. Doch erstaunlicherweise hatte sie dabei sogar ein Lächeln auf den Lippen gehabt. Schließlich war es immer der größte Traum meiner Mutter gewesen, eine schlanke und schöne Tochter zu haben.

Sie hatte mich sogar in eine Boutique gezerrt, in der mein Kleidungsstil komplett überarbeitet wurde. Lediglich meine geliebten Chucks durfte ich behalten. Das Damentrio aus dem Bekleidungsladen hatte aus mir ein kleines Hipster-Girl gemacht – aber eines mit Stil, wie ich mir einzureden versuchte. Meine Mama war sogar der festen Überzeugung, dass ich jetzt sexy sei. Ich hatte da meine Zweifel. Ich hatte mich noch nie im Leben sexy gefühlt, und ich fürchtete, dass es erst einmal auch so bleiben würde. Ich konnte mit meiner eigenen Weiblichkeit nicht viel anfangen.

Die gesamten Sommerferien über hatte ich vor dem Tag Angst gehabt, an dem ich wieder in die Schule müsste, um mein neues Ich zu präsentieren. Nun war dieser Tag da. Ich sah zwar besser aus als zuvor, hatte aber auch neue Angriffsflächen für Mobbing-Attacken zu bieten. Nur weil ich dünn war und nicht mehr lispelte, war ich noch lange nicht vor Hänseleien geschützt. Mit einem mulmigen Gefühl in meinem flachen Bauch betrat ich die Schule. Sie war ein altes Gutshaus, das oft die Postkarten unserer Stadt zierte. Doch der schöne Schein trog, denn für mich war dieses Gebäude mit schrecklichen Erinnerungen verbunden.

Ich ging in den vierten Stock, in dem ich auf meinen Leistungskurs Bio treffen würde. Ich hatte es immer gehasst, dass unser Klassenraum ganz oben war. Jedes Mal war ich mit Schweißrändern unter den Armen und dem Hecheln eines Mopses dort angekommen und hatte mich zum Gespött des Kurses gemacht. Doch nun freute ich mich sogar über die Treppenstufen, denn sie hielten mich fit und verbrannten die hinterhältigen Kalorien, die sich in allem versteckten, was gut schmeckte. Ich war im stetigen Kampf gegen meinen Todfeind, den Jojo-Effekt. Nichts wäre schlimmer, als wieder die fette Paulina zu sein, die alle nur Klopskind nannten.

Die Tür stand offen. Vorsichtig lugte ich in die Löwenhöhle hinein. Jedoch nicht, ohne vorher noch einmal mein Shirt glatt zu streichen und sicherzugehen, dass da wirklich keine Speckröllchen mehr waren. Ich fuhr mir noch einmal durch die Haare und betrat mit falschem Selbstbewusstsein den Klassenraum. Eigentlich sollte ich stolz auf meine Leistung sein, doch irgendwie war es mir unangenehm. Ich wurde mit jedem Schritt unsicherer. Vielleicht war das auch total lächerlich, mich so umzustylen und zu glauben, dass ich jetzt ein anderer Mensch sein könnte. Vielleicht hätte ich mit dem Make-up doch nicht so übertreiben sollen. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein Clown auf einem Kindergeburtstag, der weiße Kaninchen aus dem Hut zog. Warum hatte ich überhaupt auf Mum gehört und diesen knallroten Lippenstift genommen? Das war doch nicht ich! Das war lächerlich.

Ich schluckte, als sich nach und nach die Köpfe in meine Richtung wandten. Man musterte mich von oben bis unten. Ich wünschte mir fast, meinen Fettpanzer wieder um mich zu haben. Ich fühlte mich ungeschützt und wartete auf die ersten dummen Sprüche.

Doch sie kamen nicht.

Zumindest für den ersten Moment schien es ihnen die Sprache verschlagen zu haben.

Noch immer verunsichert ging ich zu meinem Platz, der direkt neben Jona Fitz war. Am Ende des zweiten Semesters war er neben mich gesetzt worden, weil ich nie ein Wort sagte und seine Klappe umso größer war. Für jeden Lehrer war das stets die ideale Kombination an Sitznachbarn, für mich war es ein Albtraum, der seinesgleichen suchte. Jona war ein Fiesling, wie es ihn in jedem Teenie-Film gab. Er war von Grund auf böse und schien es sich zu seiner persönlichen Aufgabe gemacht zu haben, mir das Leben so schwer wie möglich zu machen. Einmal hatte er mir einen in Kirschsaft getränkten Tampon in den Rucksack geschmuggelt, und ein anderes Mal hatte er mir einen Spicker untergejubelt und meine Lehrerin darauf hingewiesen, dass ich betrüge. Das Resultat war ein knallrotes Gesicht meinerseits und eine Sechs hinter meinem Namen im Klassenbuch.

Doch wie es mit Fieslingen so war, hatten sie auch immer irgendwie etwas Anziehendes. Ich gab es nicht gern zu, aber wenn ich manchmal abends im Bett lag und meinen Fantasien freien Lauf ließ, stellte ich mir vor, wie er zu mir käme und mir gestände, dass all seine Gemeinheiten nur Tarnung seien und er sich eigentlich in mich verliebt habe. Dann würde er mich küssen und sich als supernetter Typ herausstellen. Irgendwie glaubte wahrscheinlich jedes Mädchen daran, dass hinter jedem Fiesling auch eine sensible Seite steckte.

Ich liebte meine Fantasien, auch wenn mir bewusst war, wie lächerlich sie waren.

Ohne Jona anzusehen, setzte ich mich neben ihn.

»Wie wäre es mit einer Begrüßung?«, sagte er.

Irritiert wanderte mein Blick zu ihm. Er sprach mich nie an, und schon gar nicht begrüßten wir uns.

War das gerade ein Lächeln auf seinem Gesicht? Was für ein falsches Spiel war das denn? Mir entging nicht, dass der Rest der Klasse uns beobachtete. Ich erwartete einen miesen Streich, der mir den Start ins dritte Semester verderben sollte. Kaum hatte der erste Schultag begonnen, da hatte ich auch schon wieder keinen Bock auf Schule.

»Habe ich irgendwie einen fetten Pickel im Gesicht, oder warum starrst du mich so an?«, hakte er nach, ohne jedoch Feindseligkeit mitklingen zu lassen.

Ich sah ihn erstaunt an und konnte nicht widerstehen, mich kurz an seiner Schönheit zu ergötzen. Seine Haut war so rein, dass er jede Beauty-Kampagne hätte übernehmen können. Ich war mir nicht mal sicher, ob er überhaupt Poren hatte. Jede Strähne seiner braunen Haare saß perfekt, und man wurde das Gefühl nicht los, dass er Gottes Meisterstück unter allen von ihm erschaffenen Menschen sei. Abgerundet wurde seine makellose Erscheinung durch seine hellen Augen, die im Kontrast zu seinem sonnengeküssten Teint standen.

»Verrätst du mir deinen Namen?«

Ich verstand die Welt nicht mehr und glotzte ihn an.

Er wollte meinen Namen wissen?

»Lina«, antwortete ich und ärgerte mich, dass ich überhaupt auf ihn reagierte.

»Schöner Name. Ich bin Jona.« Das Lächeln war nicht mehr aus seinem Gesicht zu bekommen. Hatte er heute Morgen einen Joint zu viel geraucht? »Wir werden eine gute Zeit haben. Eigentlich sitzt hier so ein Klopskind, aber offensichtlich taucht sie heute nicht mehr auf. Und wenn doch, soll sie ihren fetten Arsch woanders hinschwingen.«

Erst jetzt fiel bei mir der Groschen. Er erkannte mich nicht. Keiner hier tat das. Ich hatte mich so sehr verändert, dass ich für sie das neue Mädchen war. Ich konnte es nicht fassen.

Frau Beyer betrat den Klassenraum, und alle verstummten. Ich kannte sie bisher nur aus Vertretungsstunden, aber jeder wusste, dass sie eine Hexe war. Ihre Finger waren knochig und ihre Beinchen so dünn wie Streichhölzer, dass sogar die schwarze Strumpfhose schlabberte. Der Charakter von Frau Beyer war böse, und ich bezweifelte, dass sie überhaupt so etwas wie eine Seele hatte. Ihr Blick blieb an mir haften.

»Warum hat mir keiner gesagt, dass ich eine neue Schülerin im Kurs habe?«, brabbelte sie genervt vor sich hin. »Wie heißt du?«

Selbst sie erkannte mich nicht? Das war doch unglaublich! Hatte ich mich wirklich so sehr verändert? Ich saß schließlich noch auf dem gleichen Platz wie letztes Jahr. Da war es doch nicht so abwegig, dass ich das Pummelchen war, das sie alle gemobbt hatten. Nur eben mit ein paar Kilos weniger auf den Rippen und einem kleinen Makeover.

Ich hätte sie alle in diesem Augenblick aufklären können. Ich hätte ihnen erzählen können, wie ich in den letzten Monaten jede einzelne Kalorie gezählt hatte, mich ins Fitnessstudio gequält und gegen meinen Schweinehund mit allen ABC-Waffen gekämpft hatte.

Aber warum sollte ich das tun?

»Lina Peterson«, sagte ich entschieden. Wegen der Scheidung meiner Eltern hatte ich Kaufmann als Nachnamen in den Ferien abgelegt.

Auf Frau Beyers Liste stand aber mit Sicherheit Pauline Petersen eingetragen, doch sie fragte nicht weiter nach und machte einfach nur einen Haken. Offensichtlich akzeptierte sie es, dass ich bei meinem Spitznamen genannt werden wollte.

Von nun an war ich für alle die neue Schülerin. Ich hatte einen neuen Namen und ein neues Aussehen. Pauline Kaufmann gab es nicht mehr. Falls man sich überhaupt fragte, was aus ihr geworden sei, würde man vermuten, dass sie einfach weggezogen sei.

»Willkommen im Kurs«, sagte sie knapp und fing dann mit einer Rede über organisatorisches Zeug an.

Ich spürte einen leichten Stoß in meine Rippen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals von einem Mitschüler berührt worden zu sein. Für gewöhnlich wollte mich keiner in seinem Sport-Team haben und, wie sie mir unverblümt sagten, auch nicht in der gleichen Umkleidekabine, da mein Anblick bei ihnen Übelkeit auslöse.

»Hey«, sagte Jona grinsend.

Was sollte das werden? Seine blauen Augen sahen mich an. Er war hübsch, und das Schlimmste war, dass er das wusste. Typen, die sich ihrer Attraktivität bewusst waren, waren mit Abstand die schlimmsten. Und Jona wusste genau, was für tolle Lippen er hatte und wie perfekt sich seine Wangenknochen abzeichneten. Auch seine große und athletische Figur kam bei den Mädchen gut an.

»Soll ich dir in der Pause die Schule zeigen?«, bot er mir an und schien das sogar ernst zu meinen.

Ich hatte noch nie geflirtet, und mit Sicherheit hatte das auch noch nie jemand mit mir getan, weshalb ich in diesem Moment das Gefühl hatte, dass ich gerade eine Premiere erlebte.

Jona flirtete mit mir.

Er stand auf mich.

Kapitel 2

»Nein! Ernsthaft? Das glaub ich nicht!«

»Doch! Er hat mir die gesamte Schule gezeigt, und er wollte sogar, dass wir danach zusammen in der Mensa essen.«

Gloria und ich hatten es uns auf ihrem Bett gemütlich gemacht. Ich war gern bei ihr zu Hause, denn ihre Eltern hatten ein riesiges Haus, und so war Glorias Zimmer im Gegensatz zu meinem eigenen sehr geräumig geschnitten. Durch die großen Fenster war der Raum immer lichtdurchflutet, und in der Nacht konnte man durch die Dachluke sogar die Sterne sehen. Da ich nicht mit so einem schönen Zimmer gesegnet war, trafen wir uns meistens bei ihr.

»WAS?« Gloria fiel die Kinnlade nach unten.

»Ja, ich konnte ihm zum Glück davon überzeugen, dass ich noch ins Sekretariat muss, und habe mich dann aufs Mädchenklo verzogen.«

»Und es hatte wirklich niemand einen Schimmer, dass du es bist? Nicht mal die Lehrerin?«

Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich war das ein ziemliches Armutszeugnis für mich, denn es bedeutete auch, dass ich keinerlei Freunde in der Schule hatte. Eine Tatsache, die unglücklicherweise auf mich zutraf. Mein Fettpanzer war auch ein Abwehrschild gegen potenzielle Freunde gewesen.

Gloria war meine einzige Seelenverwandte. Unsere Mütter hatten gemeinsam studiert, und so kannten wir uns schon von klein auf. Auf gleiche Schulen waren wir leider nie gegangen.

»Nein, die dachten wirklich, ich wäre neu. Du hättest ihre Blicke sehen sollen.«

»Aber hat denn niemand gefragt, wo die alte Pauline ist?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, da ich einen neuen Nachnamen habe und mein alter Name somit auch nicht mehr auf den Listen steht, sind wohl einfach alle davon ausgegangen, dass ich weggezogen bin.«

»Das gibt es doch gar nicht. Ich meine, du siehst großartig aus und hast dich verändert, aber es ist echt krass, dass die dich nicht erkennen.«

Ich zuckte mit den Schultern. Sie hatten doch schon immer nur mein Fett gesehen und nie die Person dahinter. Doch nun war es verschwunden. Warum sollten sie mich noch erkennen?

»Ja, aber mich schockt viel mehr, was Jona abzieht«, kam ich auf das ursprüngliche Thema wieder zurück. »Es hat nur noch gefehlt, dass ihm der Sabber aus den Mundwinkeln läuft. Er hat gar nicht aufgehört, mich vollzulabern und anzustarren. Ich könnte schwören, dass er mir sogar auf den Arsch geschaut hat, als mir ein Stift runtergefallen ist. Normalerweise hätte er gerufen: Häng dir nächstes Mal ein Schild mit ›Vorsicht, schwenkt aus!‹ an den Hintern! Das ist ja gefährlich, was du hier abziehst!, und hätte dafür die Lacher aus der ganzen Klasse für sich kassiert.«

Gloria grinste.

»Ist doch geil, dass er auf dich steht.«

Ich hob meine Hand, um sie zu unterbrechen.

»Ich weiß nicht genau, ob er wirklich auf mich steht. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein. Ich bin, wie du weißt, keine Expertin beim Thema Jungs und interpretiere deren Verhalten gerne mal falsch«, gab ich kleinlaut zu.

Ich hatte die Sprache der Männer noch nie verstanden und konnte alles, was heute geschehen war, fehlinterpretiert haben. Vielleicht bildete ich mir das mit meinem neu gewonnenen Selbstbewusstsein nur ein.

»Natürlich steht er auf dich«, meinte sie, als hätte sie uns den gesamten Tag über beobachtet. »Er wollte dir die Schule zeigen und mit dir Mittag essen. Was willst du noch? Dass er dir ein rosa Herz auf den Platz legt und Rosenblätter verstreut?«

Das wäre doch mal eine sinnvolle Sache. Dann wüsste ich wenigstens, woran ich wäre.

»Ich habe ein bisschen Angst, dass er vielleicht doch weiß, wer ich bin, und mich nur verarscht«, gab ich kleinlaut zu.

»Ach Quatsch«, kam es sofort zurück. »Du siehst gut aus, und er steht auf dich. Glaub an dich selbst und deine neue Schönheit.«

Ich verzog das Gesicht. Auch wenn ich früher dick gewesen war, mochte ich es nicht, dass alle so taten, als wäre ich potthässlich gewesen. Auch wenn ich nicht mehr so übergewichtig war, tat es mir schon noch weh, wenn jemand mein altes Ich beleidigte. Schließlich war das ein Teil von mir.

»Ich traue ihm nicht.«

Gloria verdrehte die Augen. Eigentlich war sie auch eher von der schüchternen Sorte, doch sobald wir zu zweit hinter geschlossenen Türen saßen, strotzte sie vor Selbstbewusstsein.

»Sollst du ja auch nicht! Aber wenn er wirklich auf dich steht, würdest du ihn dann ranlassen?«

Ich legte meinen Ist das dein Ernst?-Blick auf und neigte meinen Kopf. »Ranlassen?«, wiederholte ich ihre Wortwahl.

»Na ja, du weißt schon. Ein paar Dates, ein paar Küsse, ein bisschen Kuscheln und Fummeln.«

»Gloria!«, unterbrach ich sie. »Es reicht. Er ist ein Mistkerl, und ich werde mit ihm weder kuscheln noch fummeln.«

»Aber küssen?«

Ich griff nach einem Kissen und warf es in ihre Richtung. Sie wich aus und lachte.

»Was denn? Er sieht doch gut aus.«

Ich seufzte. Ja, das tat er.

Wir hatten schon oft seine Social-Media-Profile gestalkt. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die Privatsphäre nicht kannte und fast täglich neue Fotos uploadete. Wir hatten es uns zum Spaß angewöhnt, regelmäßig durch seine Posts zu klicken. Er hatte durchaus einen Hang zur Selbstdarstellung und schien mit seiner Frontkamera ein sehr intimes Verhältnis zu pflegen.

»Er sieht gut aus. Mehr aber auch nicht. Er ist ein Ekel, und damit will ich nichts zu tun haben!«

Gloria grinste. »Warum hast du dich dann von ihm durch die Schule führen lassen?«

Ich hatte gehofft, dass sie diese Frage nicht stellen würde. Ich hatte nicht wirklich eine Antwort darauf. Es war einfach ein schönes Gefühl gewesen, dass er mit jemandem wie mir Zeit verbringen wollte. Das hätte ich nie für möglich gehalten.

»Ha!«, rief Gloria triumphierend. »Siehst du, du stehst auf ihn!«

»Red keinen Mist«, bremste ich sie genervt aus. »Ich hasse ihn. Und das meine ich so.«

Sie biss sich auf die Unterlippe. Dann begann sie schief zu grinsen. »Nutze es aus.«

»Was meinst du?«

Sie machte eine Grimasse. Gloria führte sich gerne auf, als wären wir in einer Daily Soap und die Welt voller Verschwörungen.

»Nutze ihn aus! Brich ihm sein Herz!«

Ich lachte. »Ja, ist klar. Als ob Jona so etwas wie ein Herz besäße! Da ist maximal ein schwarzes Loch, dass alles Böse anzieht und es an seine Mitmenschen verteilt.«

»Okay, okay«, lenkte Gloria ein. »Vielleicht hat er kein Herz, aber er hat ein überdimensionales Ego. Das kannst du zerstören. Stell ihn bloß! Zeig ihm, wie es sich anfühlt, wenn man zum Gespött der Leute gemacht wird!«

Gloria schien überzeugt von dem, was sie da redete. In meinen Augen hatte sie zu viele Serien gesehen, in denen Intrigen wirklich funktionierten.

»Wie soll ich das bitte anstellen?«

Sie verengte ihre Augen, wodurch ihre eh schon buschigen Augenbrauen noch gigantischer wirkten. »Lerne ihn besser kennen. Finde seine Schwächen heraus. Jeder Mensch hat welche. Selbst er!«

»Gloria!«, sagte ich nun ernst. »Du weißt, dass ich nicht so bin. Ich wüsste nicht mal, wie ich mit ihm normal reden soll.«

Theatralisch rollten ihre Pupillen im Kreis.

»Auch wenn er ein Y-Chromosom und ein Arschloch-Gen besitzt, wirst du doch wohl in der Lage sein, mit ihm zu reden. Du siehst hammermäßig aus, und er steht auf dich. Alles, was du machen musst, ist seine niederen Triebe anzusprechen. Spiel mit deinen Reizen, und er wird dir aufs Wort gehorchen. Nutze das aus!«

Das war so lächerlich, dass ich kichern musste.

»Ich soll mit meinen Reizen spielen? Sehe ich aus, als hätte ich eine Ahnung, wie ich das mache? Bis vor Kurzem hätte man mich noch als Hüpfburg benutzen können, und meine Brüste waren von meinen Fettringen kaum zu unterscheiden. Wie soll ich bitte mit meinen Reizen spielen?«

Gloria spuckte immer gerne große Töne, doch die Wahrheit war, dass sie mit Jungs so viel am Hut hatte wie der Nordpol mit dem Südpol. Ein Junge musste sie nur angucken, und schon verwandelte sich ihr Gesicht in eine rote Tomate. Gloria war dünn. Rundungen oder eine Taille suchte man bei ihr vergeblich. Die Pubertät ließ bei ihr immer noch auf sich warten. Nur die fiesen Pickel verrieten, dass Hormone sie langsam zu einer erwachsenen Frau machten.

»Mach, was eine Frau tut. Trage ausgeschnittene Sachen und beuge dich vor, sodass er einen vorteilhaften Blick auf deine Brüste hat. Fahre dir durch die Haare und iss eine Banane, um ein bisschen Erotik in die Sache zu bringen und seine sexuellen Bedürfnisse anzusprechen.«

Ich schlug mir gegen die Stirn. »Aus welcher Teenie-Illustrierten hast du dir diese primitiven Sachen rausgeschrieben?«, zog ich sie auf.

Sie warf ihre Hände in die Luft.

»Nichts gegen die Girly Time. Die haben wirklich gute Tipps. Dank ihnen weiß ich jetzt, wie ich Smokey Eyes schminken kann. Das war eine echt gute Anleitung.«

»Nur weil eine Zeitschrift gute Schminktipps gibt, heißt das nicht, dass sie auch gut in Liebessachen sind. Einen guten Schneider frage ich schließlich auch nicht, ob er mir meine schlaffe Brust straffen kann.«

Sie sah mich mahnend an. »Deine Brüste sind hübsch«, widersprach Gloria und ignorierte meinen Einwand wegen der Flirt-Tipps.

»Sind sie nicht. Die hängen wie leere Hautlappen runter.«

Das war der Nachteil vom schnellen Abnehmen. Die Haut an der Brust bildete sich nicht so schnell zurück, weshalb meine Brüste aussahen wie Luftballons, aus denen man die Luft herausgelassen hatte. Sie hingen schlaff von meinem Oberkörper herunter. Der Anblick war ein Jammer. Sie waren das einzige Körperteil, das durch die Diät in Mitleidenschaft gezogen worden war. Bauch und Beine waren glücklicherweise wieder straff geworden.

»Ach, Quatsch«, tat sie es ab. »Du siehst gut aus, und genau deshalb wirst du Jona auch um den Finger wickeln.«

Kapitel 3

»Lina!«, hörte ich eine vertraute Stimme rufen.

Ich erblickte Jona, der wild mit seinen Armen in der Luft herumfuchtelte. Es sah fast schon ein bisschen lächerlich aus, doch sein Aussehen machte es wieder wett. Er konnte sich alles erlauben, und es hinterließ keinen Kratzer auf seiner coolen Fassade.

Seine Lederjacke saß wie angegossen, und jedes einzelne Haar schien genau zu wissen, wie es sich am besten in Szene zu setzen hatte, um eine perfekte Frisur zu ergeben. Ich vermutete, dass er die Jacke ausschließlich aus modischen Gründen trug, denn heute sollten es immerhin dreißig Grad werden, und selbst zu dieser frühen Stunde war es schon angenehm warm.

Ich hingegen hatte mich heute mal in ein Kleid gezwungen. Meine Beine, die früher eher Baumstämmen geglichen hatten, hatten es nie zugelassen, Kleider zu tragen. Doch nun war es mir endlich möglich, etwas Luftiges anzuziehen, wobei ich prompt feststellen musste, dass es einer logistischen Meisterleistung glich, stets so zu sitzen, dass man die Farbe meiner Unterwäsche nicht erkennen konnte. Aber immerhin kam ich bei diesem Wetter auch einmal in den Genuss einer Sommerbrise, da ich nicht wie früher jeden Quadratzentimeter meiner Haut unter einer Stoffschicht verstecken musste.

Zögerlich näherte ich mich Jona, der sich in einer Gruppe von Mitschülern befand. Am Hintereingang der Schule standen drei Kiefern, unter denen sich immer die vermeintlich Coolen der Schule in den Pausen trafen. So auch heute. Sie alle hatten mich immer aufgezogen und behandelt, als wäre ich ein wertloses Stück Dreck. Und nun grinsten sie mich an, als wäre ich eine Bereicherung für ihre Clique. Ich hätte kotzen können, doch ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. Wenn ich sie bloßstellen wollte, dann musste ich sie besser kennenlernen.

»Hey, Lina!«, sagte Jona, als ich bei ihm ankam. Er zog mich in eine lockere Umarmung. Ich stellte fest, dass Jona duftete, als wäre er gerade aus der Dusche gekommen. So viel Körperkontakt ließ die Hitze in meinen Kopf steigen. Ich war hin- und hergerissen, ob ich ihm eine klatschen oder doch lieber heimlich ein Foto von dem Moment schießen sollte, um zu beweisen, dass mich ein so verdammt attraktiver Junge tatsächlich freiwillig umarmt hatte. Auf Klassenfahrt war es mal eine Mutprobe gewesen, mich zu umarmen. Niemand hatte sich getraut. Aus Angst erdrückt zu werden, wie sie mich wissen ließen.

Ich spürte die Blicke der anderen auf mir, doch keiner sah die dicke Pauline, die ich gewesen war. Ich konnte fast so etwas wie Bewunderung erkennen, aber vielleicht täuschte ich mich auch.

»Geiler Nagellack«, hörte ich Jenny sagen.

Sie war die schlimmste Zicke des Jahrgangs und hatte den Ruf, dass sie gerne die Beine breitmachte, und das definitiv nicht, um einen Spagat zu üben.

»Danke«, sagte ich höflich.

Sie lächelte mich an und schaffte es gleichzeitig, mit ihrem Lippenpiercing herumzuspielen.

»Ich bin Jenny«, kam es erstaunlich freundlich zwischen der Masse von Lipgloss hervor. Dann reichte sie mir ihre zarte Hand, die die Krallen eines Tigers hatte.

»Lina«, nuschelte ich vor mich hin.

»Ich weiß. Jona hat schon von dir erzählt.«

Jona sprach mit denen über mich? Was verschaffte mir denn diese Ehre?

»Ich bin Mirko«, wollte nun auch ein Muskelprotz mit mir Bekanntschaft schließen.

»Henry.«

»Lexy.«

Und schon hatten sie mir alle ihre Patschehändchen gereicht. Ich hätte nicht vermutet, dass sie mit solchen Umgangsformen vertraut waren.

»Kippe?«, erkundigte sich Mirko und reichte eine Schachtel herüber.

»Ich rauche nicht«, sagte ich entschieden.

Er zuckte mit den Schultern und zog die Schachtel zurück.

»Woher kommst du?«, erkundigte sich Jenny und blies Rauch aus ihrer Nase, wodurch sie auf mich wie ein wilder Stier wirkte.

»Kleines Dorf im Norden«, log ich, so gut ich es konnte. Jetzt aufzufliegen, wäre wohl der absolute Super-GAU. »Meine Eltern haben sich scheiden lassen, und meine Mutter ist mit mir hierher gezogen.« Immerhin war das mit der Scheidung nicht gelogen.

»Hat dein Vater eine andere gehabt?«, kam es aus dem Mund von Henry.

Entgeistert starrte ich ihn an. So etwas fragte man doch nicht, und wenn man es fragte, dann doch nicht auf diese Art und Weise. Ich schien jedoch die Einzige zu sein, die das als unangebracht empfand. Alle sahen mich neugierig an.

Das hier war wirklich eine andere Welt, und bis vor zwei Tagen hätte ich es noch nicht für möglich gehalten, bei ihnen zu stehen, ohne mir dumme Sprüche anhören zu müssen.

»Keine Ahnung«, meinte ich ehrlich. »Sie haben mir gesagt, dass es zwischen ihnen nicht mehr funkt, aber kann schon sein, dass da ’ne Neue im Spiel ist.«

Ich wollte daran ehrlich gesagt nicht denken. Für mich hatten meine Eltern immer zusammengehört. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass es zwischen ihnen gekriselt hatte. Ihre Scheidung war für mich wie aus heiterem Himmel gekommen.

»Falls deine Mutter nur halb so heiß ist wie du, ist dein Vater ein ziemlicher Idiot«, hörte ich Jona sagen.

Stopp! Zurückspulen und Replay drücken, bitte!

Hatte Jona Fitz mich gerade tatsächlich als heiß bezeichnet? Könnte da jemand bitte einen Wikipedia-Artikel dazu schreiben?! Das gehörte in die Geschichtsbücher und in das Gedächtnis des World Wide Webs!

Im nächsten Augenblick ärgerte ich mich über mich selbst. Wieso schmeichelte es mir, wenn das größte Arschloch der Welt mir ein Kompliment machte? Es sollte mir egal sein.

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, weshalb ich einfach schwieg. Stattdessen genoss ich die Bestätigung, dass ich mich nicht geirrt hatte. Jona stand auf mich, und das war mein Trumpf im Ärmel.

»Mirko gibt am Wochenende eine Party. Seine Eltern sind nicht da. Willst du auch kommen?«, wechselte Jona das Thema, als er spürte, dass ich auf seine Worte nicht so reagiert hatte, wie er es sich gewünscht hatte.

»Ähm«, zögerte ich.

»Komm schon! Es wird witzig. Wir sind alle da«, motivierte mich Jenny, die in mir schon ihre neue Busenfreundin zu sehen schien. »Für Alkohol ist auch gesorgt.«

Davon sollte ich lieber die Finger lassen. Seitdem mir diverse Kilos fehlten, vertrug ich nicht einmal mehr halb so viel Alkohol wie früher. Ein Glas genügte, um mich zu einem Plappermaul zu machen, das seinesgleichen suchte. Angesichts meiner Situation könnte das für mich fatal enden.

»Okay«, stimmte ich zu und hatte keine Ahnung, worauf ich mich damit eigentlich einließ.

Partys. Ich hatte keine Ahnung von richtigen Partys. Ich kannte Familienfeiern und die Geburtstagspartys von Gloria, doch die bestanden hauptsächlich aus Kuchenessen, Geschenkeauspacken und Abendbrotessen. Manchmal wurde auch noch Activity gespielt. Coole Partys waren das nicht gerade gewesen, eher gemütlich. So wie mein komplettes bisheriges Leben.

Ich war noch nie auf einer richtigen Party, wo die Bässe laut dröhnten und am Abend die Leute ineinander verschlungen auf den Sofas saßen und gegenseitig ihren Speichel schmeckten. Wo man aus Plastikbechern billigen Alkohol trank und am nächsten Tag peinliche Fotos auftauchten.

»Alter!«, zischte Henry plötzlich Jona zu und stieß ihm in die Rippen, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Dann wies er mit seinem Blick auf ein Mädchen, das gerade an uns vorbeiging. Wenn ich mich nicht irrte, hieß sie Swetlana und war ein oder zwei Jahre unter uns. Auch Jona sah sie nun und setzte einen Blick auf, den ich nur zu gut kannte.

Den Blick, der jegliches Mitgefühl fehlen ließ. Seinen Angriffsblick. Dann konnte man sich innerlich schon mal auf eine verbale Attacke vorbereiten.

»Ey, Streuselschnecke!«, brüllte er laut.

Ich sah, dass das Mädchen wusste, dass sie angesprochen war, doch es versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ich kannte diese Reaktion bestens. Man wollte nicht, dass die anderen den Schmerz sahen, doch innerlich zuckte man bei diesen Kommentaren zusammen. Das Mädchen war von einer fiesen Akne befallen. Man brauchte ihr das jedoch nicht auch noch auf gemeine Art hinterherzubrüllen, denn ich war mir sicher, dass sie sich ihres Leidens so schon bewusst war.

»Streuselschnecke, ich rede mit dir!«, rief er erneut und freute sich darüber. Noch zeigte Swetlana keine Regung. »Wenn ich so aussehen würde wie du, würde ich mich freiwillig köpfen lassen, um mein Gesicht loszuwerden.«

Meine Kinnlade klappte nach unten.

Es gab schwarzen Humor, es gab richtig schwarzen Humor, es gab fiesen Humor, und es gab Dinge, die man nicht sagen sollte. Dies hatte definitiv zum Letzteren gehört. Das war unterhalb jeder Gürtellinie und an Geschmacklosigkeit nicht zu übertrumpfen. Während die anderen lachten, steckte mir ein riesiger Kloß im Hals. Mir wurde richtig schlecht.

Swetlana lief zügig weiter, doch ich war zu einer Statue erstarrt.

»War das wirklich nötig?«, kratzte ich meinen Mut zusammen. Ich konnte das nicht schweigend ertragen.

Er legte seinen Kopf schief. »Ach komm schon. Ist doch nur Spaß. Sie wird daran schon nicht sterben. Ihr Gesicht sieht doch wirklich unappetitlich aus. Würde sie mir in der Kantine gegenübersitzen, würde ich mich wegsetzen. Da müsste ich ja Angst haben, dass Eiter auf mein Essen spritzt.«

Wieder erntete er Lacher. Er schien aber zu merken, dass ich es nicht lustig fand.

»Ihr Gesicht sieht aus, als wäre darauf Harry Potter in Blindenschrift gedruckt worden«, steckte Jenny auch noch den Finger in die Wunde.

Wie konnte man so gemein sein? Was ging in solchen Menschen vor?

Am liebsten wäre ich zu Swetlana gegangen und hätte ihr gesagt, dass sie hübsch sei. Auf alle Fälle hübscher als die, von denen ich gerade umgeben war. Denn das waren die wirklich hässlichen Menschen, und genau aus diesem Grund blieb ich stehen. Ich wollte mich rächen. Nicht nur für das, was sie mir angetan hatten, sondern im Namen aller, die in den letzten Jahren genauso gelitten hatten wie ich.

Ich fühlte mich als Robin Hood für all diejenigen, die nicht den Schönheitsidealen entsprachen. Ganz egal, wie jemand aussah: Niemand sollte sich solche Sprüche anhören müssen. Es war Zeit, dass jemand durchgriff und ihnen klarmachte, dass jeder abfällige Kommentar sich ins Selbstbewusstsein bohrte wie ein Schwert.

»Entspann dich!« Jona legte einen Arm um meine Schulter. »Zu dir würde ich so etwas nie sagen.«

Ich unterdrückte ein höhnisches Lachen. Wenn er nur wüsste, dass er solche Sachen schon längst zu mir gesagt hatte. Er würde wahrscheinlich angewidert von mir wegspringen, wenn er die Wahrheit wüsste.

Kapitel 4

»Schatz, es tut mir so leid, dass ich gestern Abend nicht da war. Erzähl, wie war dein erster Tag als Schönheit in der Schule?«

Seitdem ich abgenommen hatte, blühte meine Mutter auf und zeigte Interesse für mein Leben. Es war, als hätte sie endlich die Tochter, die sie sich immer gewünscht hatte.

Wir hatten es uns in unserem Wohnzimmer mit einer Tasse Tee gemütlich gemacht. Natürlich ungesüßt.

»War okay«, murrte ich und schnappte aus Gewohnheit nach einem Kissen und hielt es mir vor den Bauch.

Mum legte ihren Kopf schief. »Okay? Das kann doch nicht alles gewesen sein? Du bist doch ein komplett neuer Mensch. Was haben deine Mitschüler und die Lehrer gesagt?«

Ein neuer Mensch? Ich konnte mir bei diesen Worten nur verwundert die Augen reiben. Auch wenn ich anders aussah, war ich noch immer die Gleiche.

»Sie haben mich nicht wiedererkannt.«

Meine Mutter begann fröhlich zu lachen und steckte sich eine Karotte in den Mund. »Kein Wunder. Mit dem dicken Kind von früher hast du ja auch nichts mehr zu tun.«

Sie schien nicht zu begreifen, wie sehr mir das wehtat. Sie gab mir das Gefühl, dass ich früher die reinste Enttäuschung gewesen war. Machten ein paar Kilo mehr oder weniger wirklich so einen Unterschied für sie?

»Ich kann es kaum erwarten, bis du endlich deinen ersten Freund mitbringst. Jetzt hast du ja auch richtig tolle Chancen und kannst einen guten Fang machen, der vorzeigbar ist.«

So oberflächlich, wie meine Mutter redete, war sie auch. Sie selbst zählte jede Kalorie, die sie zu sich nahm, und führte akribisch Buch über ihr Gewicht. Das Ergebnis war, dass sie noch immer den Körper eines Teenies hatte, auch wenn man dem Gesicht die vierzig Jahre schon deutlich ansehen konnte. Während jedoch die Ärsche von anderen Müttern verschrumpelten Apfelsinen glichen, konnte meine Mutter einen ziemlich knackigen Apfelhintern vorweisen. Das musste man ihr lassen. Sie war stolz auf ihr wohlgeformtes Gesäß und präsentierte es am liebsten in kurzen, eng anliegenden Röcken.

»Vielleicht will ich ja auch einfach nur einen netten Freund, der mich gut behandelt«, gab ich schnippisch von mir. »Und keinen, der sein Spiegelbild mehr liebt als mich.«

Mum verdrehte die Augen. »Jetzt stell mich nicht so dar, als würde für mich nur das Äußere zählen. So war das nicht gemeint.«

Wem genau wollte sie gerade etwas vormachen? Wir beide wussten, dass sie mein Aussehen nie gemocht hatte. Es war ihr peinlich gewesen, mich ihren Arbeitskollegen vorzustellen, denn niemand hätte erwartet, dass so ein zartes Persönchen wie meine Mutter einen solchen Klops als Tochter haben könnte.

Auch wenn Mum es nie ausgesprochen hatte, so wusste sie ganz genau, wie sie mir zeigen konnte, dass sie mit meiner Figur nicht zufrieden gewesen war.

»Hat sich aber so angehört«, maulte ich und nahm mir ebenfalls einen Karottenstick.

Ich hatte schon seit Wochen keine Süßigkeiten mehr gegessen, was jeden Tag ein Höchstmaß an Disziplin erforderte. Ich war nie der Fast-Food-Mensch gewesen, dafür hatte ich aber eine riesige Schwäche für Süßigkeiten. Alles, was bunt war, klebte und einen hohen Zuckergehalt hatte, stopfte ich gerne in mich hinein. Doch damit war Schluss. Mittlerweile war nur noch der Gemüseteller bunt. Zucker suchte ich vergebens, was auch daran lag, dass Mum alles aus dem Haus verbannt hatte, was sich irgendwie auf meinen Hüften absetzen könnte.

»Wollen wir heute noch joggen gehen und danach noch ein kleines Work-out machen?«, erkundigte sich Mum bei mir und schien voller Energie.

Ich hatte das Gefühl, dass sie ständig meine Figur beurteilte und darauf achtete, dass ich ja nicht wieder zunähme und der Jojo-Effekt einsetzte.

»Ich war heute Morgen schon joggen«, informierte ich sie. »Ich wollte noch zu Dad.«