Fenns Villa - Deborah Baudin - E-Book

Fenns Villa E-Book

Deborah Baudin

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Beschreibung

Eine alte verlassene Villa, ein kleines Dorf, Kinder, die erwachsen werden. Augenscheinlich hat Michl nichts mit der Villa am Waldrand zu tun. In der Kindheit dient sie ihm und seinen Freunden als Versteck und Rückzugsort, doch niemand will ihnen sagen, was es mit dem Gemäuer auf sich hat. Erst als Michl dort Zuflucht findet, spürt er eine Verbindung zwischen sich und der Villa. Er durchlebt die schwierige Aufgabe des Erwachsenwerdens, die erste Liebe und verlorene Freundschaften, die Villa aber bleibt. Kann er das Geheimnis um sie schlussendlich lüften?

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Über dieses Buch:

Entstanden ist die Idee, ein Buch über ein Haus und dessen Geschichte zu schreiben, durch die Erzählungen meiner Mutter über Fenns Villa.

Als Kinder spielten sie dort, in Waldbröl, in der alten Villa, die schon da war, seit sie denken konnten. Sie kletterten über die Zäune, versteckten sich im Keller und waren sich oft den Gefahren, in denen sie sich befanden, nicht bewusst.

Diese Geschichten haben mich schon immer fasziniert. Über dieses alte Haus, das Unwirkliche, das Mystische, das Kindsein. So kam der Wunsch in mir auf, dieses Haus mit einem Buch zu würdigen.

Fenns Villa gab es wirklich. Alle in diesem Buch genannten Personen sind jedoch frei erfunden.

Wenn Ihnen dieses Buch gefällt, freue ich mich über eine Rezension und die Weiterempfehlung an Ihre Freunde!

Und jetzt erst einmal viel Spaß beim Lesen!

Ihre Deborah Baudin

Eine alte verlassene Villa, ein kleines Dorf, Kinder, die erwachsen werden …

Augenscheinlich hat Michl nichts mit der Villa am Waldrand zu tun. In der Kindheit dient sie ihm und seinen Freunden als Versteck und Rückzugsort, doch niemand will ihnen sagen, was es mit dem Gemäuer auf sich hat. Erst als Michl dort Zuflucht findet, spürt er eine Verbindung zwischen sich und der Villa.

Er durchlebt die schwierige Aufgabe des Erwachsenwerdens, die erste Liebe und verlorene Freundschaften, die Villa aber bleibt. Kann er das Geheimnis um sie schlussendlich lüften?

Eine Geschichte über Fehler, ihre Folgen und die verschiedenen Arten der Liebe.

Für meine geliebte Schwester Lisa.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1960

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

1961

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

1962

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

1963

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

1964

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Epilog

Prolog

Düstere Tannen wogten im Wind, der aus ihnen ein schauriges, dunkles Meer machte, undurchdringlich, voller Finsternis. Regen peitschte über die oberen Wipfel, verschleierte den Horizont, so dass man kaum zehn Meter weit sehen konnte. Eine grauenhafte Dunkelheit hatte sich über die Ebene gesenkt. Der dichte Wald zog sich mehrere Kilometer weit über das Land, umgeben von Feldern, die in der Dunkelheit wie tiefe Abgründe erschienen, nur schemenhafte Schatten zwischen den Regenfetzen.

Plötzlich zogen ein paar Wolken weiter und gaben den hellen Vollmond frei. Er erstrahlte in silberner Einsamkeit am Himmel, tauchte den Wald in schauriges Licht. Und in seinen Strahlen wurde etwas anderes sichtbar, etwas Einsames, still Schweigendes.

Hinter dem Wald senkte sich die Ebene ab in ein kleines Tal. Hier befanden sich keine Felder, nur dunkles Gras, das im silbernen Licht des Mondes glänzte. Ein schwarzer Streifen zog sich in einem kleinen Kreis durch das Tal. Von oben sah es aus, wie ein dünner Ring, an dem die Erde aufgebrochen war, ein Abgrund, der direkt in die Tiefe der Welt führte. Und direkt in der Mitte dieses unförmigen Kreises stand ein Haus.

Eine Wolke schob sich erneut über den Mond, verdunkelte das Geschehen. Für einen kurzen Moment hörte man nur den Wind peitschen, die Bäume heulten und eine durchdringende Kälte legte sich über das Land.

Dann erschien der Mond erneut, ein Vogel flatterte auf, breitete seine Flügel aus und flog langsam über das dunkle Haus. Dabei schrie er laut, der Regen trug den grellen Ton davon, weiter, bis in die Wipfel der Tannen, wo er rücksichtslos zerrissen wurde. Unbeeindruckt kreiste der Vogel weiter, zog einige Bahnen um die Mauern und landete schließlich auf dem dunklen Dach.

Lose Fensterläden schlugen im Sturm an die Wände, was im Inneren des Hauses widerhallte. Ein einzelner Baum peitschte gegen die Fenster, einige klirrten, gingen zu Bruch und das Glas glitzerte im Schein des Mondes, als es zu Boden fiel.

Es war ein großes Haus, alt und verlassen. Der Garten wucherte seit Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten. Niemand verirrte sich hier her, nicht einmal Tiere, denn sie fürchteten diesen Ort.

Wieder schob sich eine Wolke vor den Mond. Düsternis legte sich über den Wald und die alte Villa. Man hörte die Fensterläden schlagen, man hörte den Wind heulen und noch einmal schrie der Vogel laut durch die finstere Nacht.

Die Villa lag im Dunkeln, wie ein finsterer Schatten. Einsam und verlassen.

Doch jemand hatte dort gelebt …

Jemand …

Alles begann sich zu drehen, wie ein Malstrom schien die Villa alles in sich aufzusaugen. Erst die Linie, den kleinen Hügel, den Wald dahinter, schließlich die Felder.

Dann war da plötzlich nur noch Dunkelheit.

Michl erwachte atemlos. Er zitterte, sein Hemd klebte vor Schweiß am Rücken. Erinnerungsfezen kamen auf, von einer Villa, von Fenns Villa. Er war noch nie dort gewesen, aber sie existierte. Gar nicht weit von ihm stand sie vor einem kleinen Hügel, an einem kleinen Wald. Der Albtraum saß ihm tief in den Knochen, Michl konnte sich kaum bewegen. Noch nie hatte er so von dem Haus geträumt, noch nie so viel Angst in einem Traum erlebt.

Er atmete tief durch, dann stand er auf und schloss das Fenster, so dass der laute Sturm draußen nicht mehr an seine Ohren dringen konnte.

Durch die verschlossenen Krankenhausfenster drang von weitem immer wieder das Sirenengeheul der Krankenwagen. Kaum, dass man es wahrnehmen konnte, schlich es sich ins Unterbewusstsein und gab allen ein bitteres Gefühl von Angst. In den Gängen herrschte gähnende Leere, grelle Neonlampen beschienen die weißen Fliesen, ließen sie steril und kalt aussehen.

An den Wänden hingen in regelmäßigen Abständigen Uhren, deren endloses Ticken die Stille durchbrach. Sie zeigten fünf vor zwei an. Nachts. Außer ihrem Ticken und den Sirenen konnte man beinahe nichts hören. Alle Patienten schliefen und die Schwestern lagen auf ihren Pritschen im Bereitschaftszimmer. Was hinter den einzelnen Türen geschah, die rechts und links von den Gängen abgingen, blieb im Verborgenen.

Ginge man vom Schwesternhäuschen im linken Flügel des vierten Stockwerks aus einige Meter Richtung Lift, bog davor nach rechts ab, in einen langen, weißen Gang voller weiterer Türen, und klopfte man dann an die Tür Nummer 45, würde man von einem sehr großen, muskelbepacktem, etwa dreißig jährigen Mann hinein gebeten werden. Hinter ihm und zwischen ihnen ein Bett, sähe man in das Gesicht dreier verängstigter Kinder: Michl, Georg und Hanna.

Hellen atmete schwer, Michl konnte das Rasseln in ihren Lungen hören. Obwohl er zu wissen glaubte, dass die Krankheit gar nichts mit ihren Lungen zu tun hatte, griff sie diese trotzdem an. Alles an seiner Mutter sah krank aus. Ihre blasse, fast graue Haut, die spröden Haare, die blutunterlaufenen Augen und das fahle Gesicht. Ihre Augen lagen in tiefen Höhlen und Michl erschreckte ihr Erscheinen immer wieder, wenn er sie ansah. Aber er musste sie ansehen, er konnte gar nicht anders.

Sein Vater stand auf der anderen Seite des Bettes, er hielt Hellens Hand und blickte sie ebenso ununterbrochen an. Seine Augen waren voll Trauer und Hilflosigkeit. Er rührte sich keinen Zentimeter. Michl dagegen hielt die Hand seiner Schwester und drückte sie immer wieder fest. Die Vierjährige saß auf dem Bettrand und umklammerte mit der einen Michls Rechte, mit der anderen die Hand ihrer Mutter. Sie weinte seit Stunden, aber mittlerweile liefen nur noch stumme Tränen ihre Wangen hinunter, kein Laut kam über ihre Lippen. Wahrscheinlich verstand sie noch gar nicht genau, was das alles bedeutete. Sie war nur traurig, dass ihre Mutter gehen musste.

Michls Bruder Georg stand neben ihm. Er war erst zwei Jahre älter als Hanna, sein braunes Haar glich dem seines Vaters und er hatte Hellens Stupsnase. Auch auf seinen Wangen liefen die Tränen hinunter, er verstand bereits, was gleich geschehen würde.

Am liebste hätte Michl sich selbst an Hellen geklammert, die Hand seiner Mutter gehalten und ihren Herzschlag gespürt. Aber er musste jetzt stark sein, musste seinen Geschwistern Halt geben. Deswegen unterdrückte er die aufkommenden Tränen und konzentrierte sich auf ihren Atem.

Michl wusste, dass seine Mutter zu jung war, um zu sterben. Keiner hatte ihm gesagt, was ihre eigentlich fehlte, und vor ein paar Monaten, als es ihr noch besser ging, hatte sie nur gesagt, es sei eine Krankheit, gegen die niemand ein Mittel wusste. Kein Arzt konnte ihr helfen, keine Medizin der Welt hätte sie gesund gemacht.

Michl wollte schreien, wenn er daran dachte, denn er verstand es einfach nicht. Man konnte sie ihm doch nicht einfach wegnehmen, er brauchte sie doch! Wie sollte ein Leben ohne seine Mutter aussehen?

Ein weiteres Mal kämpfte Michl gegen die Tränen, doch es gelang ihm nicht. Die Zeit schien viel zu schnell zu vergehen, er wünschte sich die letzten Stunden zurück, die letzten Monate und Jahre. Voller Verzweiflung dachte der Achtjährige an all die Dinge, die seine Mutter nun nicht mehr erleben würde, all die Zeit, die er ohne sie verbringen musste. Sein Herz zog sich vor Verzweiflung zusammen.

Nun liefen auch ihm die Tränen über die Wange und er fing an zu schluchzen. Es durchbrach die bedrückende Stille im Raum. Sein Vater blickte ihn an, doch er sah beinahe durch seinen Sohn hindurch. Er schien ihn nicht wirklich zu sehen.

Durch seinen Tränenschleier nahm Michl eine Bewegung wahr. Seine Mutter entzog die Hand ihrem Mann und streckte sie Michl entgegen. Ihr Sohn stürzte sich beinahe auf sie, klammerte sich an ihre Hand, umarmte sie so fest er konnte. Seine Tränen liefen auf ihren Krankenhauskittel.

Nun existierte nichts mehr für den Jungen, nur noch das regelmäßige Atmen seiner Mutter, ihr Herzschlag und die Hand, welche seine fest umschlossen hielt.

Irgendwann, nach einer viel zu kurzen Zeit, wurde ihr Herzschlag schwächer, ihr Atem ging langsamer. Mich richtete sich ein wenig auf, sah in das kranke Gesicht seiner Mutter.

„Bitte stirb nich‘“, brachte er hervor.

Sie lächelte ihn an. Ein warmes, freundliches Lächeln, das sie ihrem ältesten Sohn vererbt hatte. Michl würde es so sehr vermissen, jeden Tag in seinem Leben. „Bitte“, flehte er erneut, doch er wusste, dass keine Worte der Welt den Tod umstimmen konnten.

Mit letzter Kraft strich Hellen ihm über das lockige Haar.

„Hab keine Angst, Michl … kümmer dich gut um deine Geschwister, ich weiß, du kannst es … Und vergiss nicht: Du bist niemals allein … niemals.“

Sie blinzelte, berührte Hanna und Georg an der Wange und legte dann ihre Hand wieder zurück in die ihres Mannes.

Ein letztes Mal brachte ihre Lunge den Sauerstoff bis tief in die Zellen hinein, dann atmete sie langsam wieder aus. Und starb.

1960

1.

Leise schlichen die Jungen durch das hüfthohe Gras. Die goldene Septembersonne schien warm auf ihre Köpfe und der Wind wehte in regelmäßigen Abständen sanft über sie hinweg. Immer wieder blieben sie stehen, mit der Hand das Licht abschirmend, in die Ferne blickend. Irgendwo dort draußen, das wussten sie, befand sich, was sie suchten. Unter ihren Füßen knackten kleine Ästchen und die Dornen der Hagebuttenbüsche kratzen ihre weiche Kinderhaut an den Beinen auf. Sie bemerkten es nicht. Schweigend verständigten sie sich und bahnten sich ihren Weg durch das Gestrüpp der Felder, nahe am Waldrand entlang, dem Sonnenuntergang entgegen.

Die Mission durfte nicht abgebrochen werden, denn nur sie allein waren nun verantwortlich für das Überleben der Prinzessinnen. Sie hatten sie geschickt, die seltene Pflanze zu suchen, die ihre Leiden heilen würde. Natürlich hatten die tapferen Krieger nicht gefragt, um welche Art Leiden es sich handelte, schließlich hatte man zu gehorchen. Also waren sie losgezogen, schwer bewaffnet, jedem Gegner überlegen, um das kostbare Gewächs zu finden. Jeder von ihnen schlich vorsichtig und beinahe geduckt. Sie waren auf der Hut, denn in dieser Gegend gab es unheimlich viele von jenen unsichtbaren Gestalten, die sich jederzeit aus dem Hinterhalt auf sie stürzen konnten. Jede noch so kleine Unvorsichtigkeit konnte sie das Leben kosten. Und die Devise hieß: Entweder alle kommen zurück, oder keiner. Wenn einer verloren war, waren sie es alle. Auf ihren Stirnen glitzerten kleine Schweißperlen, die sich vor lauter Konzentration gebildet hatten. Über ihnen kreischten ein paar Bussarde und der Wind raschelte nun unheimlich und ungewöhnlich laut in den Bäumen.

„Wartet!“

Die Jungen blieben augenblicklich stehen. Franz, der gerufen hatte, sicherte sein Gewehr, die anderen Jungen taten es ihm nach.

„Da ist etwas“, flüsterte er, kaum dass man ihn verstehen konnte. Die Jungen bewegten sich nicht, atmeten so leise wie möglich und lauschten angestrengt. Eine Böe wehte wieder über das Feld und ließ die Grashalme rascheln. Ihr folgte ein weiterer Luftzug, der den Kindern die Nackenhaare sträubte. Sie bewegten sich noch immer nicht. Franz hatte Recht. Irgendetwas beobachtete sie, wenn es sich nicht schon direkt neben ihnen befand und sie gleich aus dem Hinterhalt anspringen würde.

Michl, der nur eine kleine Pistole bei sich trug, tastete vorsichtig nach seinem Messer, dass er in den Gürtel gesteckt hatte. Gleich würde etwas geschehen, das spürte er. Nicht nur, weil der Wind gedreht hatte, er konnte es riechen, der Geruch von frischem Blut lag in der Luft. Kaum hatte er sein Messer sicher in der Hand, schrie Bernhard auch schon laut auf.

„Für die Prinzessinnen!“

„Für die Prinzessinnen!“, riefen die Jungen wie aus einem Mund und stürzen sich fest entschlossen auf die Feinde, die plötzlich überall auftauchten. Sie hatten sich im Gras und hinter den Bäumen versteckt, so lange, bis die Krieger nahe genug heran gekommen waren. Angriffslustig sprangen sie die Truppe von allen Seiten an.

Ein jeder von ihnen kämpfte um sein Leben. Franz schoss erst wie wild um sich, dann entschied er sich plötzlich für zwei Langschwerter und nachdem er einige der Feinde niedergemetzelt hatte, tauschte er mit Georg, der noch immer traditionsbewusst mit Pfeil und Bogen schoss.

Der Kampf dauerte lange an und die Jungen trugen viele Verletzungen davon, aber keine tödlichen. Als endlich alle Feinde besiegt waren, stand die Sonne schon etwas tiefer am Himmel. Erschöpft ließen sie ihre blutbeschmierten Waffen sinken und fielen ins zertrampelte Gras. Michl konnte kaum atmen, so hart hatte er gekämpft und während er noch darüber grübelte, woher die Feinde denn nun gekommen waren und woher sie wussten, dass die Gruppe unterwegs war, rappelte sich einer der Jungen auf und kroch zu Georg hinüber.

„Er ist schwer verletzt!“, rief Leopold, den alle eigentlich nur Leo nannten. Jetzt aber hieß er Leopold. Georg richtete sich auf und betastete seinen rechten Arm, der viele rote Blutstriemen aufwies. Erst jetzt setzte der Schmerz ein und sein Gesicht verzerrte sich.

„Es tut mir Leid, Männer, so kann ich unmöglich weiter laufen. Geht ohne mich“, sagte er schwach.

„Unsinn!“, Michl stand auf. Er würde keinen Mann zurücklassen, nicht, solange die Truppe unter seinem Schutz stand. „Wir werden einfach sicherere Wege gehen. Dann brauchen wir vielleicht länger, aber wir vermeiden einen weiteren Kampf.“

Leopold sah erst Georg mitleidig an, dann blickte er zu Michl. In seinen Augen lag Entschlossenheit.

„Georg hat recht, Meister. Die Prinzessinnen werden nicht überleben, wenn sie die Pflanze nicht vor Sonnenuntergang haben.“ Er deutete auf die blutrote Sonne, die in wenigen Stunden untergehen würde. „Entweder wir opfern Georgs Leben, oder wir verlieren die Prinzessinnen.“

Michl sah sich seine Männer an, er blickte von einem zum anderen.

Georg, sein Bruder, lag noch verletzt im hohen Gras. Michl wusste, dass er es schaffen würde, seine Muskeln waren stark und sein Wille noch stärker. Hinter ihm Franz, der trotz der angespannten Situation begonnen hatte, seine Waffen zu ordnen und gründlich zu putzen.

Sein bester Freund würde ihm folgen, wie auch immer Michl entschied. Unbekümmert lächelte der große Junge Michl an und widmete sich wieder seinen Waffen. Neben ihm stand Bernhard. Obwohl er so klein und dicklich war, konnte er sich geschickt bewegen und war ein guter Kämpfer. Michl mochte ihn nicht besonders, er neigte dazu sich andauernd zu beklagen, was Michl missfiel, aber er war Teil der Gruppe und somit war Michl auch für ihn verantwortlich. Neben Georg kniete Leopold. Seine wachen Augen blickten Michl unverwandt an. Er traf meistens die rationalen Entscheidungen. Michl schätzte ihn als Berater.

„Ich muss jetzt eh bald heim.“

Bernhards plumpe Worte zerstörten die Illusion, in die sich die Kinder zurückgezogen hatten, sie zerplatzte wie eine Seifenblase und schickte sie in die nüchterne Realität zurück. Wütend standen sie auf.

„Du sollst das doch nich‘ immer so sagen!“, rief Franz aufgebracht. Er hasste es, wenn sich seine kostbare Waffensammlung, die er über Jahre hinweg aufgebaut hatte, plötzlich in eine gewöhnliche Stocksammlung verwandelte, nur weil ein dummer Junge seinen Mund nicht halten konnte.

„Aber wenn’s halt so is‘!“, antwortete Bernhard.

„Dann musst du’s anders verpacken! Du hättest ja sagen können, dass du weißt, wo eine andere Pflanze is’ und dass du da allein hingehn’ musst“, meinte Leo.

„Aber dann wisst ihr ja nich’, dass ich heimgegangen bin.“ Bernhard schüttelte den Kopf. Es passierte ihm so oft, dass er die anderen wütend machte, aber irgendwie wusste er nie das Richtige zu sagen. In den Momenten bevor er es sagte, fiel ihm nichts Kreatives ein, aber schweigen konnte er auch nicht. Seine Mutter wurde furchtbar wütend, wenn er zu spät nach Hause kam. Sie hatte ihm sogar extra eine teure Armbanduhr gekauft und Bernhard wusste ganz genau, dass sie für so etwas sparen musste. Nun durfte er auch nicht mehr zu spät kommen. Etwas beschämt sah der kleine, rundliche Junge seine Freunde an.

„Is‘ ja jetzt egal“, sagte Michl beschwichtigend. „Wir können auch morgen weiterspielen, is‘ sowieso bestimmt schon nach fünf. Die Mädels sind sicher schon lang daheim.“

Die Jungen nickten. Wenn Michl das sagte, dann war es sicher richtig so.

„Ich muss auch noch Schulaufgaben machen.“ Leo hob seine Stöcke auf, steckte sie in seinen Gürtel und ging ein paar Schritte.

„Kommst du, Hardl? Bis morgen dann, Jungs!“

„Bis morgen!“, riefen sie, als die beiden schon einige Meter weit weg waren. Sie stapften über das Feld in Richtung Dorf zurück.

„Dieser Bernhard.“ Georg klopfte sich ärgerlich das Gras von der Hose und hob seinen Bogen auf. „Der wird’s nie lernen!“

Franz steckte die sauberen Stöcke nacheinander in seinen Gürtel und Michl befreite sein Messer von Erde und Moos.

„Ob er’s jetzt so oder anders gesagt hätte, wir müssen sowieso heim. Wir sollten uns mal angewöhnen, 'ne Uhr mitzunehmen, Bernhard macht das schon richtig. Vater wird sicher nicht begeistert sein.“

Georg nickte und die drei machten sich auf den Weg zurück ins Dorf.

„Is auch irgendwie blöd für die Mädels, dass sie nie mitkämpfen dürfen“, meinte Michl, als sie am Lager vorbeikamen, das völlig verlassen dalag. Im Laufe der Sommermonate hatten sie den Boden vom Gestrüpp befreit, für jeden ein eigenes Zimmer und einen Gemeinschaftsraum eingerichtet. Äste und Blätter waren zu Türen, Vorhängen und Abgrenzungen verwebt, zeigten Wege, Öffnungen und dienten als Nachtlager. Natürlich hielt es Anne und Hanna nie lange, nachdem die Jungs ausgerückt waren um wieder irgendetwas zu suchen. Was sollten sie auch hier? Mit Puppen ließ es sich leichter zu Hause spielen, im Lager konnten sie nur die Rinde von Ästen schälen, sie ins Wasser tunken und so tun, als wäre es etwas Nahrhaftes zu essen. Franz zuckte die Schultern.

„Sind halt Mädchen, was sollen die auch mit Waffen anfangen?“

Sie ließen das mühsam errichtete Lager hinter sich und kletterten über den zerbrochenen Zaun, der die offene Wiese vom Land der Bauern abtrennte. Auf den Wegen zwischen den Feldern gingen sie zügig aufs Dorf zu.

„Wir bringen dich noch heim“, sagte Michl entschlossen zu Franz, aber der winkte ab.

„Ne, lass mal, dein Vater wird eh schon total sauer sein. Bis morgen dann!“ Er entfernte sich schnell, drehte sich vor der ersten Hausecke noch einmal um und winkte. Die Brüder winkten zurück und dann waren sie allein.

Einige Zeit liefen sie schweigend nebeneinander her. Sie betraten das eigentliche Dorf mit den befestigten Straßen nicht, sondern gingen außen herum, an den Feldern entlang zum entlegenen Hof, der bereits still und scheinbar friedlich vor ihnen lag.

„Wieso nennt eigentlich niemand Vater beim Vornamen?“, fragte Georg plötzlich. Der Neunjährige sah seinen Bruder mit klaren Augen an. Michl klopfte ihm beruhigend auf die Schulter.

„Schau, als Kind ist es doch immer komisch einen Erwachsenen beim Vornamen zu nennen und wenn man erwachsen ist macht man das nicht, weil man Respekt zeigen will. Und außerdem is’ das doch verwirrend, weil ihr dieselben Namen habt!“ Michl Bauer sah seinen kleinen Bruder liebevoll an. Dessen strohblondes Haar und hellblaue Augen strahlten eine unbändige, starre Kraft aus, die in wenigen Jahren zur kampflosen Rebellion werden würde, das wusste Michl. Georg war im Geiste schon immer stärker als er gewesen und Schwäche zeigte er nur in Momenten, in denen er mit Hanna, seiner Schwester, oder ihm alleine war. Michl hingegen scheute sich vor Rebellion. Er schlug nicht um sich, kickte nicht nach Steinen und brach keine Fenster ein. Und er hatte gelernt das Geschehene zu akzeptieren, beinahe vorbehaltlos. Das Einzige, was ihn wütend machte, war Ungerechtigkeit.

Georg nickte verständnisvoll. Was Michl sagte, stimmte wohl. Es ärgerte ihn dennoch, dass er nicht selbst darauf gekommen war. Sie gingen weiter und je näher sie dem Hof kamen, desto zwiespältiger wurden die Gefühle der Jungen. Michl freute sich nach Hause zu kommen, weil Hanna dort auf ihn wartete und sie sich wahrscheinlich schon um das Essen gekümmert hatte, in seinem Magen rumorte es gewaltig. Diese Freude wurde jedoch durch die Tatsache getrübt, dass sein Vater auch dort sein würde. Er wusste, warum Franz sich immer scheute, ihn zu erwähnen. Er wusste es nur zu gut. Michl konnte nicht leugnen, dass er seinem Vater eine äußerst zurückhaltende Art der Liebe entgegen brachte, indem er sein Verhalten nicht öffentlich in Frage stellte, aber trotzdem konnte er diese Liebe nicht ausweiten, oder gar in anderen Taten zeigen.

Georg dachte daran, dass sie zu spät kamen und dass es nie gut war, zu spät zu kommen. Außerdem hatte er seine Schulaufgaben nicht ganz erledigt. Wenn er sie heute Abend nicht mehr machen konnte, musste er es entweder morgen in der Schule tun, oder er ließ es darauf ankommen. Und er hatte nicht die geringste Lust, seinem Vater unter die Augen zu treten. An einer Hand konnte er sich abzählen, was passieren würde. Seine blauen Augen verhärteten sich und schweigend trotteten sie nebeneinander her, während die Sonne hinter den Feldern verschwand. Als sie den Zaun erreichten, tauchte sie für Sekunden alles in goldenes Licht und erhellte den Hof und die Weiden dahinter. Die Jungen sprangen über den Zaun und näherten sich dem Eingang. Michl lächelte als er den Geruch von frischen Kartoffeln und Möhren wahrnahm, der aus der Küche über den Hof drang.

„Ah! Hanna hat Kartoffeln gemacht“, rief Georg begeistert.

Sie schlüpften durch die Scheune, anstatt die Eingangstür zu nehmen. Dort zogen sie sich bis auf die Unterhose aus und wuschen sich ihre Hände unter dem Wasserschlauch. Der Vater mochte es nicht, wenn sie dreckig im Haus erschienen. Dann schlüpften sie durch eine andere Tür hinein auf den Flur und rannten so schnell sie konnten die alte Holztreppe hinauf in ihre Zimmer, um sich saubere Kleidung anzuziehen. Sie hätten viel Auswahl haben können, wenn sich irgendjemand um ihre Garderobe gekümmert hätte. Stattdessen fanden sich braune Leinenhosen oder sehr unbequeme Arbeitsjeans, dazu Strickpullover oder einfach gehaltene Hemden, das genügte ihnen. Durch Tätigkeit des Vaters als Bauer waren sie wohlhabend, der Hof war der größte im Dorf, es gab über sieben Schlafzimmer und nur vier wurden genutzt.

„Ihr müsst euch nicht so schicken! Er ist noch gar nicht zu Hause!“, rief Hanna aus der Küche herauf.

Die Jungen atmeten erleichtert auf, jeder für sich. Langsam kamen sie die Treppe wieder hinunter und gesellten sich zu ihrer Schwester in die Küche.

„Wann seit ihr denn eigentlich gegangen? Du und Anne?“, fragte Michl. Er sah hungrig in den Topf, in dem große, goldene Kartoffeln kochten.

„So zehn Minuten, nachdem ihr weg wart“.

Seine kleine Schwester drückte ihn vom Herd weg. Michl erstaunte es immer wieder, wie sie es mit ihren acht Jahren fertig brachte, überhaupt so viele Aufgaben zu übernehmen. Jeder hier im Haus hatte Aufgaben, aber da der Vater sich weigerte, eine Haushilfe einzustellen, musste sich die kleine Hanna eben um die Küche kümmern. Immer wenn sie dort auf ihrem kleinen Hocker stand und in den Töpfen rührte, sah sie so erwachsen aus, dass Michl großen Respekt vor ihr bekam.

„Wann kommt er denn wieder? Wo is’ er denn überhaupt? Und wann gibt’s Essen?“ Georgs Magen knurrte. Er setzte sich an den breiten Holztisch und begann mit seinen Fingernägeln die Kerben nachzufahren, die Jahr für Jahr größer wurden, nicht zuletzt durch sein Zutun.

„Entweder er is‘ noch beim Pfarrer, oder beim Mister Struan oder er is‘ noch am Feld“, meinte Hanna und kletterte auf den Hocker.

„Und das Essen?“

„Kartoffeln sind schon fertig, ich warte eigentlich nur noch auf ihn.“

„Hat er nichts gesagt? Dass wir schon mal anfangen sollen oder so?“ Georg wurde ungeduldig. Das war typisch für den Vater. Sie durften nie zu spät kommen, aber wenn er zu spät kam, dann war das egal!

„Hat er sowas jemals gesagt?“, fragte Michl. „Könnte mich nicht erinnern.“

„Wär schon 'ne große Hilfe, wenn ihr den Tisch decken würdet.“ Hanna goss unter großer Anstrengung das Wasser mit den Kartoffeln in ein Sieb, das in der Spüle lag. Michl wollte ihr den Topf abnehmen, aber sie wehrte sich. Er lächelte und sein Herz schwoll an vor Stolz über seine kleine Schwester. Ja, sie war ein so starkes Mädchen. Sie erinnerte Michl an seine Mutter. Wie Hanna hatte sie lange, blonde Haare gehabt, die sie meist in einen Zopf geflochten an den Kopf hochgesteckt hatte. Die Augen ihrer Tochter strahlten in demselben Grün, das Michl jedes Mal ans Meer denken ließ, obwohl er noch nie am Meer gewesen war. Er stellte sich die Farbe nur so vor; eine Mischung aus Blau und Grün, mit einem intensiven Stich ins Dunkelgrüne, beinahe so geschwungen, wie Wellen. Hanna trug ihre Haare in zwei Zöpfen, die lang über ihre Schultern baumelten. Sie war klein und zierlich gebaut, hatte aber einen umso größeren Verstand. Vorsichtig begann sie, die Kartoffeln aus dem Topf zu picken und in eine vorgewärmte Schüssel zu legen. Michl und Georg nahmen die Teller und das Besteck aus den alten Holzschränken und begannen den Tisch sorgfältig zu decken. Sie wussten, wie viel Wert der Vater darauf legte. Gerade als Hanna die frischen Karotten und das Brot von gestern auf den Tisch stellte, hörten sie schwere Schritte auf den Holztreppen vor dem Haus. Sie hallten durch den Flur und verstummten im Bad. Kurzzeitig hörten sie Wasserrauschen. Die Kinder beeilten sich, die Stühle gerade zustellen. Dann standen sie wartend hinter der Lehne. Erst wenn der Vater eintrat, seinen Stuhl zurückzog und sich setzte, durften auch sie sich setzen. Nun trat er ein. Michl erkannte sofort, dass er keinen guten Tag gehabt hatte. In sein wettergegerbtes Gesicht gruben sich tiefe Falten und um seinen Mund spielte dieser kampflustige Zug, den die Kinder nur allzu gut kannten.

„Guten Abend, Vater!“, sagten sie wie aus einem Munde. Er antwortete nicht. Mit seiner schweren Gestalt setzte er sich auf den wackeligen Stuhl. Die Kinder taten es ihm gleich und falteten die Hände auf dem Tisch, so dass der Vater es sehen konnte.

„Himmlischer Vater, wir danken dir, dass du uns Unwürdige gespeist hast und nicht aufhörst uns deine Wohltaten zu zeigen. Lob und Ehre sei dir, oh großer Herr. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“

Seine tiefe Stimme erfüllte den Raum. Michl hatte immer das Gefühl, das ganze Haus würde erbeben, wenn er sprach.

„Amen“, sagten die Kinder wie aus einem Munde.

Nun warteten sie, bis der Vater sich als erster genommen hatte. Er griff zu den dampfenden Kartoffeln, nahm sich die drei größten und häufte sich dann einen Großteil der Möhren auf den Teller. Als Michl und Georg sahen, dass sie nun nur noch für eines der Kinder reichen würden entschieden sie sich in stillem Einvernehmen, dass Hanna sie bekommen sollte. Georg sah seinen Vater misstrauisch an. Kein Mensch, den er kannte, nannte ihn beim Vornamen. Jeder nannte ihn „Herr Bauer“ oder „dein Vater“, so wie Franz es vorhin getan hatte. Georg verstand nicht, warum ausgerechnet er den gleichen Namen wie sein Vater trug. Georgs Meinung nach hatte er kein Recht darauf, den Vornamen Georg zu tragen, der Vater verdiente überhaupt keinen Namen. Wie schon hunderte Male zuvor fragte er sich, warum seine Eltern, und besonders seine Mutter, ihn selbst Georg getauft hatten. Schließlich war Michl der Erstgeborene, ihm gebührte die Ehre, den Namen des Vaters zu tragen.

Jedoch glich sein Bruder nicht im geringstem seinem Vater. Michl ist ruhig und leise, dachte Georg. Niemals könnte er etwas Unaufrichtiges tun. Ich könnte das.

Solange der Vater nicht sprach, durften auch die Kinder nicht sprechen. Sie aßen schweigend. Die Jungen bekamen nur noch Kartoffeln ab, von denen sie nicht satt wurden.

„Es ist zu wenig, Hanna“, brummte der Vater.

„Tut mir leid“, flüsterte sie und senkte den Kopf.

„Wir sin‘ ja hier nich‘ bei armen Leuten, oder was meinst du?“ Seine Stimme klang scharf und trieb dem Mädchen die Tränen in die Augen.

„Nein“, antwortete sie mit erstickter Stimme.

Michl und Georg hatten aufgehört zu essen und warteten. Niemand sagte ein Wort, alle spürten nur die unerträgliche Spannung am Tisch und achteten auf jede noch so kleine Veränderung. Der Vater hatte Hanna noch nie geschlagen, er schlug grundsätzlich keine Frauen. Er suchte sich andere Gegner, die ebenso schwach waren.

Der Vater hob die Gabel und zeigte damit auf die kleine Hanna am Ende des Tisches.

„Ich sag' dir was, kleines Fräulein. Wenn hier noch einmal so wenig Essen auf dem Tisch steht, dass deine Brüder nicht satt werden, dann werd‘ ich dir das Kochen schon beibringen!“

„Sie kann nichts dafür! Du hast dir doch so viel auf den Teller gehäuft!“, rief Georg laut.

Sofort sauste die mächtige Hand des Vaters auf Georgs Wange nieder. Der Junge schrie nicht auf, er ertrug den Schmerz und die Demütigung mit wütendem Schweigen. Michl schwieg ebenso und starrte auf seine kalten Kartoffeln nieder.

„Hausarrest“, sagte der Vater ruhig, als wäre nichts geschehen. „Michl, putz‘ die Küche, Hanna, geh auf dein Zimmer und rechne aus, wie viele Kartoffeln ein Erwachsener und drei Kinder nach einem langen Arbeitstag essen müssen, um satt zu werden. Jetzt sofort.“ Georg und Hanna flüchteten erleichtert aus der Küche. Michl stand langsam auf, bedacht darauf, so wenig Bewegungen wie möglich zu machen, und machte sich daran, den Tisch abzuräumen. Der Vater verließ den Raum ohne ein weiteres Wort. Erst als seine Schritte im Arbeitszimmer verklungen waren, atmete Michl auf. An einem guten Tag hätte er Georgs Kommentar mit einem verächtlichen Kopfschütteln abgetan, dachte Michl. Und er hätte ihm auch keinen unbegrenzten Hausarrest gegeben.

Warum war heute kein guter Tag?

Niemand konnte seinem Vater etwas anhaben. Auf der einen Seite war das gut, er schützte seine Familie. Aber nur von außen, er schützte sie nicht vor sich selbst. Seine große Gestalt, die kräftigen, von der Landarbeit gestählten Arme, mit denen er ohne großen Aufwand dicke Äste zerbrechen konnte, flößten den Menschen Respekt ein. Sie flößten auch den Kindern Respekt und noch mehr Angst ein. Zu Recht, denn sie wussten, was er anrichten konnte. Eigentlich sollten wir dankbar sein, dachte Michl, das sagt er sich auch immer wieder. Er gibt uns Essen und Trinken, ein Dach über dem Kopf und warme Kleidung. Er legt sich sogar manchmal mit Herrn Struan an, wenn es um Schulaufgaben geht, … aber ein Vater ist er nicht.

Als Michl die Küche geputzt hatte, Hanna ihre Rechnung vorsichtig in Vaters Arbeitszimmer gelegt und die Kinder sich gewaschen und ihre Schulsachen für den nächsten Tag gepackt hatten, schlichen sie sich über den Flur in Georgs Zimmer. Der alte Holzfußboden knarrte unter ihren leichten Schritten, doch der Vater würde von unten nicht erkennen können, aus welchem Bereich das Knarren kam. Georg lag im Bett und las, ‚Die Insel der Abenteuer‘ von Enid Blyton. Es war eines der letzten Geschenke ihrer Mutter gewesen und die Kinder warteten sehnsüchtig darauf, die nächsten Exemplare lesen zu können. Der Vater machte sich jedoch nichts aus Büchern und in die Stadt, wo man sie hätte kaufen können, nahm er sie nicht mit. Also lasen sie ‚Die Insel der Abenteuer‘ schon seit vier Jahren und kannten beinahe jeden Satz auswendig.

Michl und Hanna setzten sich zu Georg aufs Bett und wickelten sich in eine der Decken, die am Fußende zusammengerollt lagen. Georg legte sein Buch weg und setzte sich ihnen gegenüber. Auf seiner Wange prangte ein blauer Fleck, aber er lächelte.

„Wollen wir …“ setzte Hanna an.

„Warte, warte!“ unterbrach sie Michl und hastete zum Schrank hinüber. Daraus kramte er ein langes weißes Laken, schleppte es hinüber zum Bett und faltete es aus, so gut er konnte. Mit einem großen Schwung ließ er es über Georg und Hanna fliegen und krabbelte anschließend selbst darunter. Das Licht der Nachttischlampe verwandelte sich von hellem Gelb in ein angenehmes Beige. Georg und Michls Köpfe hielten die selbst erschaffene Höhle aufrecht, während Hanna die weißen Wände nicht einmal berührte. Die Kinder kicherten. So leicht war es, aus der Realität zu fliehen.

Hanna rollte sich zwischen ihren Brüdern zusammen.

„Manchmal glaube ich, er hat uns gar nich’ lieb“, sagte sie traurig und sah Michl und Georg von unten in die Augen. Sie verbarg ihren großen Kummer unter ihren langen Wimpern. Unter diesem Zelt konnte sie alles sagen, konnte sie alles denken und fühlen. Auch wenn der Vater im Zimmer unter ihnen saß, hier waren sie sicher.

„Natürlich hat er uns lieb. Vielleicht anders als andere Väter ihre Kinder lieben, aber er liebt uns. Ich bin ganz sicher“, flüsterte Michl und Georg stimmte ihm zu. Manchmal, wenn sie es sagten, konnten sie ihren eigenen Worten kaum glauben, doch beide ertrugen es nicht, wenn Hanna weinte.

„Wenn er uns nicht lieben würde, warum sollte er sich dann um uns kümmern?“ Georg wusste, dass seine Worte nicht dieselbe Ausstrahlung wie Michls hatten und trotzdem sprach er sie aus. Mehr um sich selbst zu überzeugen als seine Schwester. Hanna lächelte müde und gähnte. Sie griff nach den Händen ihrer Brüder und hielt sie fest in ihren kleinen, zarten Fingern.

2.

Ein paar Tage später saßen Georg in Bernhard noch nach der Schule in ihren Bänken und der Lehrer Struan beobachtete sie. Er ließ sie wegen Zettelschreiberei nachsitzen und hoffte, der Störenfried Georg würde endlich einmal etwas daraus lernen. Noch konnte man den Jungen erziehen. Er war herausfordernder als sein Bruder Michl und ständig auf Krawall gebürstet, weshalb Struan mit ihm oft an seine Grenzen kam.

Jedoch schrieb Georg heute das Kapitel ab, ohne zu jammern. Hoffentlich wusste er, was er falsch gemacht hatte. Struan hatte gehört, in welch schwieriger Situation die Kinder von Herrn Bauer sich befanden und sicher war dessen Erziehung ein Grund dafür, warum Georg sich so verhielt. Nur hatte der Lehrer dafür keine Lösung parat, außer den Mitteln, die ihm gegeben waren, um den Jungen in seine Schranken zu weisen.

Bernhard jammerte. Sein Arm sei so schwer, er könne nicht mehr sitzen, er verhungere fast, er habe Kopfschmerzen, seine Mutter würde ihn umbringen. Struan wollte gerade ein Machtwort sprechen, da die Beschwerden des dicklichen Jungen ihm in den Ohren lagen, da öffnete sich die Tür. Frau Maier trat ein. Sie trug einen hübschen roten Rock und eine feine, weiße Bluse. Ihr blondes Haar war zu einer aufwändigen Frisur geflochten und in ihren Ohrläppchen steckten goldene Steinchen. Die Jungen hörten augenblicklich auf zu schreiben.

„Mr. Struan! Sie sind ja noch hier! Ich wollte sehen, ob noch jemand in den Klassenzimmern sitzt und danach abschließen.“

Alexander Struan stand auf. In dem Moment, als Anna den Raum betreten hatte, vergaß er die beiden Jungen augenblicklich.

„Nein, ich muss noch die zwei hier beaufsichtigen. Sie müssen nicht immer hier bleiben, das wissen Sie doch! Die Putzfrau ist für gewöhnlich die letzte hier im Haus.“

Anna lächelte. Struan wurde nervös. Er hoffte, sie wäre nicht nur gekommen, um nachzusehen ob jemand im Haus war, sondern ob er im Haus war. Einige Sekunden wusste niemand etwas zu sagen. Der Uhrzeiger tickte nervös weiter und dehnte die Zeit. Georg und Bernhard hielten ihre Füller still und blickten von Struan zu Frau Maier und wieder zurück. Obwohl sie noch nicht genau benennen konnten, was zwischen den beiden vor sich ging, konnten sie trotzdem sagen, dass etwas vor sich ging. Und Georg fühlte sogar einen Anflug von Eifersucht.

„Darf ich Sie vielleicht nach Hause begleiten, sobald ich hier fertig bin?“ Struan bemühte sich, nicht zu aufgeregt zu klingen. Was mache ich hier, dachte er. Ich benehme mich wie ein kleiner Schuljunge. Sein Blick fiel auf die Jungen, die mit offenen Mündern die Szenerie verfolgten. Struan lächelte. Natürlich wussten sie es, beinahe jeder Schüler wusste es und er selbst war nicht länger fähig es zu verheimlichen. Warum auch.

„Gerne, ich warte im Lehrerzimmer auf Sie“, antwortete Anna mit einem bezaubernden Lächeln. Sie ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

„So Jungs, ihr dürft eure Münder wieder zuklappen und weiter schreiben.“ Struan setzte sich, doch eine leichte, angenehme Unruhe breitete sich in ihm aus, so dass ihm das Sitzen schwer fiel.

„Heiraten Sie Frau Meier irgendwann?“, platzte Bernhard plötzlich heraus.

Georg rollte mit den Augen und sah Herrn Struan entschuldigend an. Nur Bernhard konnte so unsensible Fragen in den Raum stellen.

„Ich glaube kaum, dass dich das etwas angeht, Bernhard. Außerdem hast du, wie ich gerade sehe, Wichtigeres zu tun“, sagte Struan bestimmt. Die Frage des Jungen machte ihn jedoch ein wenig traurig. Warum sollte Anna einen Amerikaner heiraten wollen?

Nachdem die Jungs das Kapitel abgeschrieben hatten, hetzten sie aus dem Klassenraum. Georg wollte nicht zum Hof zurück, doch er beeilte sich trotzdem.

Er winkte seinem Freund kurz zu und rannte dann so schnell wie möglich um die nächste Hausecke, die Straße entlang und dann auf den Feldweg. Als Georg völlig außer Atem beim Hof ankam, hatte Hanna tatsächlich schon gekocht und der Vater saß bereits auf einem der Küchenstühle. Georg schickte sich, er wusch sich die Hände und rannte in die Küche.

„Warum bist du so spät?“, fragte der Vater.

„Entschuldigung, ich musste Bernhard noch abwimmeln“, log er.

„Der wohnt doch in der anderen Richtung.“

„Ja, ich weiß auch nich’, warum er mitgekommen is’.“

Hanna und Michl wechselten einen verschwörerischen Blick. Die Mägen der Kinder knurrten und auch Georg überkam plötzlich ein unbändiger Hunger, der Geruch des Essens ließ ihm das Wasser im Mund zusammen laufen. Er setzte sich mit den anderen und faltete die Hände.

„Himmlischer Vater, wir danken dir, dass du uns Unwürdige gespeist hast und nicht aufhörst uns deine Wohltaten zu zeigen. Lob und Ehre sei dir, oh großer Herr. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen“, betete der Vater, und kaum hatte er geendet, griffen die Kinder nach dem Essen.

„Warum habt ihr heut so’n Hunger? Ihr sollt doch in der Pause was essen!“

„Der Lehrer hat die Pause ausgelassen“, antwortete Georg. Sein Hunger ließ ihn vergessen, dass er selbst der Grund dafür gewesen war.

„Macht er das öfters? Muss ich doch mal mit ihm reden, scheint mir.“

„Nein, nein!“ Georg häufte sich die Bratkartoffeln auf den Teller. Heute hatte Hanna so viel gemacht, dass jeder satt werden würde. „Er macht das nur, wenn ein Schüler den Unterricht stört.“, erklärte er ohne groß über seine Wort nach zu denken.

„Und wer hat den Unterricht heute gestört?“, hakte der Vater nach. Seine Mine zeigte keine Gefühlsregung, nur die Augenbrauchen lagen zusammen gezogen über den dunklen Augen.

Die Kinder schwiegen. Doch gerade ihr Schweigen verriet sie. „Ich war’s“, flüsterte Georg, da er erkannte, dass es sowieso einen von ihnen treffen würde, warum dann nicht den Richtigen.

Michl hätte beinahe den Topf fallen gelassen und Georg starrte wie gebannt auf den Boden. Plötzlich herrschte eine beunruhigende, fast schon gefährliche Ruhe am Tisch. Die zuvor unbeteiligten Augen des Vaters blitzten.

„Stimmt das?“

Georg schwieg und blickte weiter zu Boden.

Der Vater schlug mit den Fäusten auf den Holztisch, so dass ein Glas umfiel und die Teller klirrten. „Ich habe gefragt, ob das stimmt!“, brüllte er laut.

Kaum merklich nickte Georg, vielleicht zuckte er auch nur aufgrund der Schärfe seines Vaters zusammen, aber das genügte.

Mit seiner großen Pranke packte er Georg am Arm, zerrte ihn vom Stuhl und warf ihn mit aller Kraft durch die Tür. Georg prallte im Flur mit dem Rücken hart an die Wand und sein Kopf schlug mit einem dumpfen Ton an die Tapete. Auf seiner Haut zeichneten sich sofort ein riesiger roter Fleck und die Fingerabdrücke des Vaters ab.

„Für Kinder, die im Unterricht nicht aufpassen, gibt’s auch kein Essen! Vielleicht lernst du was draus!“

Der Vater knallte die Tür zu und ließ seinen Sohn draußen im Flur stehen. Augenblicklich fing Hanna an zu weinen.

„Hör auf damit. Er wird daraus lernen.“

Michl wusste, dass das die Art des Vaters war, Hanna zu beruhigen. Er begriff einfach nicht, dass seine Tochter in stetiger Angst vor ihm lebte und keine Erklärung der Welt ihr hätte klarmachen können, warum ihr Vater sich so verhielt. Michl hingegen verstand den Beweggrund seines Vaters, er verstand nur nicht die Konsequenz, die er daraus zog. Gewalt löste keine Probleme, das sagte auch Herr Struan immer. Das Einzige, was man mit Gewalt erreichen konnte, war Macht und Unterdrückung. Vielleicht hatte der Vater das auch nicht begriffen. Obwohl Michl noch immer Hunger hatte, aß er nur wenig an diesem Nachmittag, aus Solidarität seinem Bruder gegenüber. Wenn Georg nichts zu essen bekam, welches Recht hatte dann er auf eine Mahlzeit?

Hanna aß nichts, weil sie vor sich hin schluchzte. Nur der Vater aß beinahe seelenruhig, als fehle keiner am Tisch und die Welt wäre durchflutet mit Liebe und Barmherzigkeit. Am liebsten wären Michl und Hanna sofort vom Tisch aufgestanden und hätten ihrem Vater die gleiche Kaltherzigkeit entgegen geschleudert, die er sie spüren ließ, doch in seiner Autorität befand er sich auf einem unerreichbaren Sockel, er würde nicht einmal wahrnehmen, wenn die Kinder sich anders verhielten.

Vielleicht ist er einsam, dachte Michl. Er konnte sich erinnern, dass vor vier Jahren vieles anders gewesen war. Da hatte der Vater nie zu Gewalt gegriffen und an einigen Tagen – Michl kam es vor wie ein ferner Traum – hatten sie ihn sogar Papa genannt. Nie hatte er auch nur eines seiner Kinder geschlagen, geschweige denn herumgeschleudert. Immer war seine Mutter da gewesen, um ihn zu beruhigen, oder um ihm klarzumachen, dass es einen anderen Weg gab, als Gewalt. Eine strenge Erziehung musste nicht zwangsläufig damit einhergehen, das wusste Michl. Seine Mutter hatte es ihm so oft gesagt.

Aber nun war sie fort, für immer, und keines der Kinder konnte sich in ihren schützenden Arm werfen, wenn der Vater wieder auf eines von ihnen losging. Michl schob sich mühevoll die Kartoffeln in den Mund und erinnerte sich daran, wie solche Situationen verlaufen waren, als seine Mutter noch am Tisch gesessen hatte.

Sie war immer ruhig gewesen und freundlich. Ein Strahlen hatte ihre Augen umschmeichelt und es war ihr gelungen, den Vater zu zähmen. Nie war es zu Streitereien gekommen, nie zu Schlägen. Michl kam es vor, wie eine andere Zeit.

Einmal hatte er beobachtet, wie der Vater und seine Mutter in der Küche in einer innigen Umarmung gestanden hatten. Er hatte keinen Schmerz gesehen, keine Trauer oder Wut. Dann hatten sie sich auf den Mund geküsst, wie Erwachsene es taten. Michl hatte Genuss gesehen und etwas Wildes in ihren Händen, das er nicht verstehen konnte. Dann hatte er sich schnell abgewandt und war zurück in sein Zimmer gelaufen.

Michl erwachte aus seiner Erinnerung, als Hanna die Teller zusammenstellte. Die Welt erschien im plötzlich hoffnungslos grau und leer. Was hielt ihn hier, wenn seine Mutter schon gegangen war? Ihm kamen die Tränen, aber er unterdrückte sie.

Zeit heilt die Wunden nicht, dachte er. Auch wenn alle es immer sagten. Frau Maier sagte es dauernd. Doch die Zeit machte Michl nur noch mehr bewusst, wie sich alles veränderte und wie es hätte sein können.

Georg blieb den Rest des Tages verschwunden. Wahrscheinlich hatte er sich zu Bernhard verkrochen, um dort etwas zu essen. Oder er hatte sich im Wald versteckt. Michl verbrachte den Tag damit, Hanna zu trösten und ihr zu versichern, dass Georg bestimmt nicht für alle Ewigkeit weg sein würde. Sein Bruder konnte lange nachtragend sein, aber nicht, wenn er kein Bett zum Schlafen hatte. Hanna weinte jedoch unaufhörlich und schlief schließlich in Michls Bett ein. Er ließ sie dort, erledigte seine Schulaufgaben, rief Franz an, dass er heute nicht draußen spielen konnte und wartete auf Georg.

Der kam erst spät, entschuldigte sich beim Vater, der ihm kaum Beachtung schenkte, und ging ins Bett, ohne Michl zu sagen, wo er sich herumgetrieben hatte. Das tat er oft. Michl beharrte auch nicht darauf, es von ihm zu erfahren. Georg kannte die Gefahren und war vorsichtig und vernünftig genug, nicht irgendetwas Dummes anzustellen.

Spät abends saß der Vater auf der Terrasse hinter dem Haus und rauchte Pfeife. Michl sah ihn, als er sich ein Glas Wasser in der Küche holen wollte. Auf nackten Sohlen schlich er sich ans Fenster und spähte hinaus. Die Sonne ging gerade hinter den Feldern unter, Septemberwärme lag noch immer in der Luft und der Wind wehte sacht durch die Bäume. Groß und weiß stiegen die Rauchwolken aus der Pfeife hinaus in die Dämmerung.

Der Vater sah friedlich aus, nicht glücklich, aber ruhig. Nichts deutete darauf hin, dass er Georg verjagt hatte. Dass er seine Söhne schlug und sie behandelte wie Fremde in seinem Haus. Dass er keine Zärtlichkeit mehr kannte.

Oh Vater, dachte Michl, ich vermisse sie auch.

Einmal mehr erschien Fenns Villa vor Michls innerem Auge. Er sah das alte Haus, die roten Backsteine und die flache Wiese rundherum. Ein paar Vögel umkreisten das Dach, der Wind rauschte in den Tannen und eine immerwährende, weite Stille lag über der Ebene.

Doch dieses Mal wies nichts auf einen Albtraum hin. Michl suchte nach den Anzeichen, während er träumte, aber er fand sie nicht.

Weder verdunkelte sich der Himmel, noch schrie ein Käuzchen bei Nacht und es waberte auch kein Nebel über dem Hügel. Die Luft schien stattdessen von einer brillanten Klarheit erfüllt zu sein, in ihr ein weitumfassender Friede, der nicht nur die Villa einnahm, sondern auch die Felder, den kleinen Teich und den Wald.

Michl wunderte sich. So friedlich hatte er das Haus noch nie gesehen, und erst recht nicht in seinen Träumen. Meistens überwog die Düsternis und Angst vor etwas Ungewissem.

Nun drang leises Vogelgezwitscher an seine Ohren und seine Gedanken ließen es zu, dass er näher an die Villa heran kam, als ob er selbst ein Vogel wäre, der langsam auf dem Dach landete. In einem abgebrochenen Teil der Dachrinne hatten Vögel ein Nest gebaut und darin quickten die Jungen, gierig nach etwas zu Essen. Sie reckten ihre spärlich mit Federn bedeckten Köpfchen nach oben und öffneten die winzigen Schnäbel, aus denen die piepsigen Geräusche kamen.

Michl lächelte im Traum, wollte sich die Szenerie noch einige Minuten mitansehen, doch plötzlich stand er nicht mehr auf dem Dach der großen Villa, sondern vor dem Teich.

Ausgetrocknet lag er vor ihm, es hatte offensichtlich seit vielen Tagen nicht mehr geregnet. Dann überlagerten sich die Bilder vor seinem Auge. Er sah einen anderen Teich, der voller Wasser stand, blau und frisch. Beinahe hätte Michl seine Hand ausgestreckt, um daraus zu trinken. Ein anderes Bild erschien, mit einem zugefrorenen Teich und nach diesem noch viele andere, veränderte Jahreszeiten.

Die Bilder begannen sich so schnell zu überlagen, dass Michl gar nicht mehr wusste, in welcher Jahreszeit sein Traum spielte.

Schließlich verwischte das Bild, zerfloss vor seinem Auge, wurde heller und heller, bis schließlich nichts mehr übrig blieb, bis auf die gleißende Sonne.

Bevor er erwachte, spürte er ein sonderbares Gefühl, eines, das er nie zuvor wahrgenommen hatte. Als ob er etwas in der Villa verloren hätte. Er meinte zu spüren, dass ihn irgendetwas mit dem alten Haus verband. Doch als er die Augen aufschlug, verschwand das Gefühl so schnell, wie es gekommen war.

3.

Langsam begannen die Blätter von den Bäumen zu fallen und die Luft wurde kühl und feucht. Der morgendliche Marsch zur Schule war für die Kinder immer unangenehmer, denn je mehr Bekleidung sie trugen, desto verschwitzter kamen sie dort an. Immer wieder fragten sie sich, warum sie auf das Rad verzichteten, schließlich hätte es ihnen viel Zeit und Anstrengung erspart. Doch wenn sich ein jeder von ihnen dem Treffpunkt näherte, von dem aus sie noch etwa sieben Minuten zur Schule benötigten, wussten sie, warum das Fahrrad zu Hause stehen blieb.

Jeden Morgen trafen sie sich dort, an einer der wenigen Kreuzungen im Dorf. Franz und seine Brüder, Bernhard, Leopold, Alexander, Elisabeth und Anne kamen von der Straße, die, wenn man sie weiter verfolgte, erst durch die am dichtesten bevölkerte Stelle im Dorf und nach einigen Kilometern in die nächst gelegene Stadt führte.

Michl, Georg und Hanna hingegen kamen von außerhalb, vom dem am weitest entfernten Bauernhof des Dorfes. Sie trafen sich alle an der Kreuzung, die in Richtung Kirche und Schule führte. Dort kam man auch automatisch am Friedhof und Dorfplatz vorbei.

Michl, Georg und Hanna kamen als erste am Treffpunkt an, sie mussten die längste Strecke laufen und in den kälteren Monaten kam es ihnen vor, als wäre sie drei Mal so lang. Aus der anderen Richtung entdeckten sie Leopold. Es war leicht, den zehnjährigen Jungen mit dem kurzen braunen Haar aus der Ferne auszumachen. Für sein Alter war er überdurchschnittlich groß und in seinen Bewegungen lag stets ein optimistischer Schwung, egal welche Tages- oder Nachtzeit es gerade sein mochte. Im Gegensatz zu Franz‘ durchgreifendem und manchmal anstrengendem Gemüt legte Leopold Gelassenheit und Aufmerksamkeit an den Tag, was vielleicht daran lag, dass er sich oft um seine Geschwister kümmern musste, wenn seine Mutter arbeitete.

Michl betrachtete ihn als einen guten Freund, als jemanden, der an manchen Tagen mehr mit ihm gemeinsam hatte, als sein eigener Bruder. Leopold winkte fröhlich und schleppte seine kleine Schwester Elisabeth an der Hand hinterher. Das kleine Mädchen wirkte wie immer etwas verschüchtert, und schien sich in der Gegenwart der älteren Jungs nicht sehr wohl zu fühlen.

„Wo is‘ Anne?“, rief Michl laut über die Kreuzung hinweg, wobei seine Stimme weit in die Stille des dunklen Morgens getragen wurde. Eigentlich sollte er nicht draußen herum schreien, solange die Sonne noch nicht schien. Doch Michl konnte beinahe sicher sein, dass in den Häusern um sie herum die Menschen bereits wach am Frühstückstisch saßen.

„Weiß‘ nich‘! Is‘ nich‘ gekommen oder war schon weg!“, hallte es von Leopold zurück.

Michl zuckte mit den Achseln und hüpfte von einem Bein auf das andere, um seine kalten Füße zu wärmen. Anne kam oft zu spät, oder sie fuhr mit dem Rad, damit sie früher in der Schule sein konnte. Manchmal hatte Michl den Eindruck, sie wollte gar nicht mit der Gruppe zusammen laufen. Vielleicht fühlte sie sich als einziges Mädchen in ihrem Alter ein wenig verloren.

Michl lächelte in sich hinein. Anne war schon komisch. Auf der einen Seite wollte sie unbedingt auch ein Krieger sein, auf der anderen Seite bestand sie jedoch voll und ganz darauf, ihre Rolle als Mädchen zu verteidigen. Sie wollte keinen Jungen spielen, sie wollte eine Kriegerin sein.

Aber das gestaltete sich schwieriger, je älter sie wurden. Früher hatte es niemanden gekümmert, ob sie nun Mädchen oder Junge war. Heute sah das ganz anders aus.

Hanna rieb ihre Hände aneinander. Sobald Elisabeth und Leopold die Kreuzung überquert hatten, fasste sie die Kleine an der Hand und schleifte sie weiter Richtung Schule. Beiden Mädchen machte die Kälte zu schaffen und sie beschleunigten ihren Schritt, um schneller das warme Schulgebäude zu erreichen. Um die Häuserecke bogen bereits Bernhard, Franz und Alexander, die nun, als sie sahen, dass Hanna und Elisabeth sich in Bewegung setzten, anfingen zu laufen. In kürzester Zeit hatten sie sich zu den Jungen gesellt und gemeinsam liefen sie die Straße zur Schule hinauf.

„Wo is‘ Anne?“, fragte Franz.

„Nicht da“, antworteten Leopold und Michl aus einem Munde.

Franz zuckte mit den Achseln, wie Michl vor einigen Minuten. Auch er kannte Annes Angewohnheiten.

Sobald die Jungen zusammenkamen, verschwand die Müdigkeit sofort. Sie unterhielten sich über das letzte Fußballspiel, was es am Abend zu essen gegeben hatte, wer welche Schulaufgaben nicht gemacht hatte und wann der richtige Zeitpunkt wäre, um sie abzuschreiben. In diesem Moment vergaßen sie, dass sie auf dem Weg zur Schule waren und dass zu Hause immer Probleme auf sie warteten.

Sie liefen an der Dorfkirche vorbei, die ein wenig an eine zu groß geratene Kapelle erinnerte. Bis auf ein großes, braunes Holzkreuz und ein riesiges, verziertes Tor wies sie keine Spuren des Reichtums der katholischen Kirche auf. Tatsächlich war der weiße Putz der Außenmauer bereits durch die Jahre schwarz gefärbt und die Stufen vor dem Eingang wiesen mehrere Brüche auf.

Trotzdem fand man im Inneren Platz für eine kleine Galerie, Orgel und mindestens fünfzig Bänke, die jeden Sonntag gefüllt wurden. Sogar Bernhards Mutter, die uneheliche Kinder hatte, deren Väter nicht einmal aufzufinden waren, traf jeden Sonntag zehn Minuten vor der Messe ein.

Vielleicht versucht sie dadurch, ihre Sünden zu begleichen, dachte Michl, obwohl er daran zweifelte, dass ihr Plan aufgehen würde. Hinter der Kirche und seitlich davon befand sich der Friedhof. Hier lagen mehr Tote begraben, als es Bewohner im Dorf gab und der Platz musste ständig vergrößert werden.

Vor vielen hundert Jahren hatte es hier, am Rande des Dorfes, ein Kloster gegeben, doch die damalige Kirche war abgebrannt und man hatte sie durch eine schlichtere ersetzt. Das Gebäude, welches als Schule benutzt wurde, stellte den Rest des Klosters dar. Fünf große Zimmer dienten als Klassenzimmer, die restlichen, kleineren als Abstellräume, Toiletten, Lehrerzimmer und Sportsäle. Drumherum hatten die damaligen Mönche einige Felder angelegt, die jetzt nur noch als Kuhweiden dienten.

Michl ging mit Leopold, Anne und Franz in eine Klasse. Hanna und Elisabeth besuchten eine gemeinsame, die kleinste Klasse, in der bis jetzt nur vier Mädchen und drei Jungs waren, und die immer wieder mit Stillarbeit beschäftigt wurden. Bernhard, seine Geschwister, Alexander und Georg fanden sich ebenfalls in einer gemeinsamen Klasse wieder. Da so wenige Kinder auf die Schule gingen, wurden die Schüler in drei Klassen untergebracht, um sich die Lehrer zu sparen, was bis jetzt sehr gut funktionierte.

Auf der Volksschule wurden meist erste bis vierte Klasse und fünfte bis achte zusammengefasst. Das führte oft zu erheblichen Altersunterschieden, was den Kindern nicht selten zu schaffen machte. Besonders die Älteren betrachteten die Jüngeren als nicht schlau genug und anders herum brachten die Älteren durch ihre pubertäre Aufmüpfigkeit viel mehr Unruhe in die Klasse, als ihre jüngeren Schulkameraden.

Der erste Schulgong war schon ertönt, aber die wenigsten kamen auf die Sekunde genau. Die Jungen stürmten mit den anderen Kindern die alte Treppe hinauf in ihr Zimmer. Die 3a war die dritte Klasse von fünf. Leider sagte sie nichts darüber aus, ob sie nun erste bis vierte oder fünfte bis achte waren.

Michl hätte sich zu den Sechstklässlern gezählt, aber bei so einer Mischform konnte man sich ja nie sicher sein. Nur drei Schüler saßen bereits in ihren Bänken. Anne und zwei ältere Schüler. Michl fragte sich, warum Anne manchmal die Erste war und manchmal die Letzte und ob wohl irgendein Sinn dahinter steckte. Er lächelte ihr kurz zu, er wusste selbst nicht warum, und setzte sich dann neben Franz.

„Hey Anne, wo warste denn? Wir haben auf dich gewartet!“

Der zweite Schulgong unterbrach Anne in dem Moment, als sie antworten wollte. Herr Struan trat durch die Tür und blitzartig standen alle Kinder auf, sie standen kerzengerade und warteten darauf, dass der Lehrer das Wort ergriff.

„Guten Morgen.“

„Guten Morgen, Herr Struan“, antworteten sie in einem perfekt vollendeten Singsang.

„Setzt euch.“

Die Stühle wurden gerückt und die Kinder setzten sich. Michl mochte Herrn Struan; er war für ihn ein Mann, dem er als Junge sein Vertrauen schenken konnte, ohne Angst zu haben, dessen Verhalten könne sich durch einen Fehler von Michl ändern. Authentizität nannte man das, soviel wusste Michl. Außerdem hatte Struan Humor und verhielt sich gerecht. Ja, er war absolut fair.

„So, ich weiß es ist noch viel zu früh für Mathematik, aber leider führt kein Weg daran vorbei. Wir wär’s, wenn Anne an die Tafel kommt und die Aufgabe für ihre Partei rechnet und Ludwig die für seine Partei?“ Er nannte die zwei Klassen `Parteien`, um einen Anflug von Gleichheit herzustellen, wenn der Altersunterschied schon so eine klaffende Lücke darstellte. Ludwig war fünfzehn und somit in der achten Klasse, Anne war elf und eigentlich erst in der fünften.

„Herr Struan, ich hatte gestern wirklich keine Zeit, mich auf die Stunde vorzubereiten!“, jammerte Ludwig. Das tat er immer.

Struan verdrehte die Augen.

„Ludwig, langsam solltest du dir wirklich eine originellere Ausrede einfallen lassen. Komm nach der Stunde zu mir.“

Ludwig nickte geschlagen. Anne hingegen war währenddessen aufgestanden und ging nun auf die Tafel zu. Sie verstand nicht sehr viel von Mathematik, aber sie hatte sich vorbereitet. Ludwigs ewige Faulheit verachtete sie von Herzen. Wer jemals etwas erreichen wollte, musste hart arbeiten. Selbstbewusst schrieb sie die Aufgabe an die Tafel, erklärte kurz, was es damit auf sich hatte und setzte sich dann wieder.

Struan lächelte. Er mochte Anne. Jedes Mal wenn er sie sah, erinnerte sie ihn an seine Mutter, die genauso aufbrausend, intelligent und vor allem liebenswürdig gewesen war. Und jedes Mal wenn er Anne sah, wurde ihm bewusst, wie sehr ihm seine Mutter fehlte. Auch wenn er es nie laut sagen würde, dies Klasse war seine liebste. Und das lag nicht zuletzt an Anne und Michl.

Der Junge ohne Mutter, ruhig und gelassen, nachdenklich und trotzdem glühte in ihm etwas, das Struan unbedingt wachsen sehen wollte. Er bewunderte ihn um seine tugendhaften Eigenschaften und seinen starken Willen. Jeden Tag ging Michl nach Hause zu einem Vater, der selbst ihm als Lehrer Angst einflößte.

„Danke, Anne, das war sehr gut. Setz dich!“

Nach der Schule gab es für die Kinder kein Halten mehr. Sie stürmten hinaus und Franz, Michl, Anne und ein paar andere rannten in den Pausenhof. Einige Hecken wuchsen an der Mauer, gerade so breit, dass die Kinder sich einen Tunnel im Inneren angelegt hatten, in den sie schlüpfen konnten, auch wenn es ihre Arme und Beine zerkratzte.

In diesen Tunnel schlüpften sie nun. Von außen konnte man sie nur entdecken, wenn man genau hin sah. Heute war Dienstag, es gab also etwas Spannendes. Endlich! Etwas Spannendes, was mit Schule zu tun hatte gab es schließlich viel zu selten.

Nur jeden Dienstag. Weil Struan weniger Stunden hatte als sonst und sie zur gleichen Zeit die Schule verließen. Nach einer Weile - alle anderen Schüler hatten sich bereits vom Gebäude entfernt und befanden sich auf dem Heimweg - kam Anna Maier aus der schweren Holztür, strich sich die braunen Haare, die aus ihrem geflochtenen Zopf gefallen waren, aus dem Gesicht und ging die Stufen hinunter. Gerade als sie anfing, in ihrer Tasche nach dem Fahrradschlüssel zu suchen, kam Alexander Struan aus der Tür. Er rückte seine Jacke zurecht und klopfte seine Hose ab. Die Kinder im Gebüsch fingen an zu kichern, gerade so leise, dass sie nicht gehört wurden. Sie liebten diese Szenerie.

Festen Schrittes ging der Lehrer die Stufen hinunter.

„Frau Maier, Sie schließen heute gar nicht ab?“

Sie lächelte und ihr schoss die Röte ins Gesicht.

„Nein, Sie sagten ja, die Putzfrau käme noch…“

Beide schwiegen peinlich berührt und die Kinder hielten gespannt den Atem an.

„Ich konnte Sie noch gar nicht fragen, wie Ihr Wochenende war?“ Struan steckte seine Hände in die Hosentaschen, doch seine Nervosität konnte er damit kaum verbergen. Anna lächelte und schloss ihr Rad auf.

„Ich habe nicht viel unternommen, wenn Sie das meinen. Die Vorbereitung auf den Unterricht nimmt immer viel Zeit in Anspruch und am Sonntag war ich in der Kirche. Sie waren übrigens nicht dort!“

Er lachte.

„Ja, schuldig! Pfarrer Alfred wird furchtbar böse sein.“

„Er wird Ihnen die Leviten lesen!“

„Na hoffentlich nicht! Mit allzu schlechtem Gewissen kann man keine Schule leiten!“

„Da haben Sie auch wieder Recht.“