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Der in London geborene Christopher Nolan (*1970) gehört zu den maßgebenden und erfolgreichsten Regisseuren der Gegenwart – auch und besonders in Hollywood. Mit Filmen, die einen hohen Unterhaltungswert mit visueller Ästhetik, technischer Qualität und philosophischer Tiefe in seltenen Einklang bringen, versteht es der Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Christopher Nolan, Kritik und Publikum gleichermaßen zu begeistern. Von experimentellen Independentfilmen wie "Memento" (2000) bis zu globalen Blockbustern wie "The Dark Knight" (2008) und "Inception" (2010) gelingt es Nolan zudem immer wieder, die Grenzen filmischen Erzählens auf verblüffende Weise zu erweitern. Getreu seiner Überzeugung, dass es weniger aufregend ist, bestehende Regeln zu brechen, als vielmehr neue Regeln zu definieren, erweitert er das Potenzial nichtlinearen Erzählens im Kontext fundamentaler Themen wie Zeit, Erinnerung und Identität. Der Band geht diesen Phänomenen nach und präsentiert Nolans Filme in einem breiten Bogen von "Doodlebug" (1997) bis "Tenet" (2020).
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Seitenzahl: 208
FILM-KONZEPTE
Begründet von Thomas Koebner
Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz
Heft 62 · September 2021
Christopher Nolan
Herausgeber: Jörg Helbig
Print ISBN 978-3-96707-468-0 E-ISBN 978-3-96707-470-3
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © Alamy / Christopher Nolan: TENET (2020)
Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021
Jörg Helbig DOODLEBUG. Eine Reise durch das Universum von Christopher Nolan in 180 Sekunden
Marcus Stiglegger Ekstasen der Zeitlichkeit. Achronologische Montage und Existenzerkundung in Filmen von Christopher Nolan
Désirée Kriesch »This hint of things to come«. Stilistische Merkmale, Figurensubjektivität und nicht-lineares Erzählen in FOLLOWING
Sebastian Seidler Wandelnde Identitäten. Überlegungen zum Ereignis der Grenzüberschreitung in INSOMNIA
Andreas Rauscher Why so Serious? Christopher Nolans DARK-KNIGHT-Trilogie
Sabrina Gärtner Im Bann der Elemente. Annotationen zur Ästhetik von THE PRESTIGE
Arno Rußegger Metaleptische Abenteuer. Über Christopher Nolans INCEPTION
Jannik Müller The Science of Fiction. Die Computersimulation eines Schwarzen Lochs in INTERSTELLAR
Barbara Korte DUNKIRK und die Zeit. Mythos und Thriller im Gegenspiel
Biografie
Filmografie
Autor*innen
Jörg Helbig
Eine Reise durch das Universum von Christopher Nolan in 180 Sekunden
Die Filmkritik des 21. Jahrhunderts hat ihre Stiefkinder und ihre Lieblingskinder. Christopher Nolan gehört definitiv zur zweiten Gruppe. Der gebürtige Londoner hat sich das Interesse und den Respekt der akademischen Forschung – ebenso wie die Gunst des Publikums – erarbeitet, weil er es in beeindruckender Weise versteht, filmtechnische Innovation mit philosophischem Tiefgang und außerordentlichem kommerziellen Potenzial zu vereinen und dadurch Erwartungshaltungen zu bedienen, die oft als gegensätzlich empfunden werden – oder, wie Joseph Bevan es formuliert: »His films allow arthouse regulars to enjoy superhero flicks and multiplex crowds to engage with labyrinthine plot conceits.«1 Obwohl er bislang erst elf Spielfilme inszeniert hat, ist Nolan schon heute der kommerziell erfolgreichste britische Regisseur seit Alfred Hitchcock,2 und sein noch schmales Œuvre hat bereits eine Vielzahl wissenschaftlicher Bücher3 und unzählige Artikel angeregt, die kaum einen Aspekt seiner Filme unbeleuchtet lassen.
Noch weitgehend unbeachtet blieb indes sein Frühwerk DOODLEBUG, ein dreiminütiger Schwarz-Weiß-Film, den Nolan 1997 drehte, ein Jahr vor seinem ersten Spielfilm FOLLOWING. Von der Forschung wurde dieser Film ebenso vernachlässigt wie seine beiden zuvor produzierten Kurzfilme, der Super-8-Film TARANTELLA (1989) und der 16-mm-Film LARCENY (1996), Letzterer angeblich »one of the finest short films that University College London ever produced«4. Über TARANTELLA ist lediglich bekannt, dass der Film einen surrealen Inhalt hat, in Chicago gedreht wurde und in der Halloween-Ausgabe der örtlichen Fernsehshow Image Union ausgestrahlt wurde.5 Zu LARCENY hat sich Nolan etwas ausführlicher geäußert. Die Idee zu dem Schwarz-Weiß-Film sei ihm gekommen, als eines Tages in seine Londoner Wohnung eingebrochen und dadurch die Intimität seiner Privatsphäre verletzt wurde. Mit Hilfe einiger Freunde habe er den Film dann an einem Wochenende abgedreht. »It’s about somebody breaking into somebody’s flat. It was very much the model of Following. In fact, one of the reasons I never showed it to people afterward is that Following took over.«6 Dies erklärt, weshalb LARCENYzwar 1996 auf dem Cambridge Film Festival gezeigt wurde, seither aber unter Verschluss blieb. So bedauerlich dies aus Sicht der Nolan-Forschung ist, verrät es doch immerhin, dass dem Regisseur Originalität wichtiger zu sein scheint als eine lückenlose und transparente Werkdokumentation.
Der Protagonist ist auf der Jagd nach sich selbst
Der Protagonist erschlägt seinen Doppelgänger
Umkehrung der Verhältnisse: Der Mörder wird zum Opfer
Für die Öffentlichkeit zugänglich ist hingegen der dritte Kurzfilm, DOODLEBUG.7 Nolan produzierte diesen »kafkaesken psychologischen Thriller«8 in Personalunion als Autor, Regisseur, Koproduzent, Kameramann und Cutter. Der mit einer Arri 16-mm-Kamera (die er sich als ehemaliger Student des University College London und Leiter der dortigen Film Society ausborgen konnte) gedrehte Film spielt ausschließlich in einem Zimmer, das einen verwahrlosten Eindruck macht. Die Wände sind kahl und schmuddelig, unverputzte Rohrleitungen sind sichtbar, auf dem Boden liegen achtlos Gegenstände und Kleidungsstücke herum. Das unwirtliche Zimmer, das wie ein Kellerraum wirkt, ist ein hermetisch abgeriegeltes Universum: Die Tür ist verschlossen, das einzige Fenster durch eine Jalousie verdunkelt. Der schäbige Raum wird von einem jungen Mann (Jeremy Theobald9) bewohnt, der, offensichtlich verängstigt und bewaffnet mit einem Schuh, Jagd auf etwas Winziges macht, das unerkannt über den Fußboden huscht. Dieses Etwas bleibt zunächst verborgen hinter Möbeln und unter herumliegenden Sachen. Als der Mann es endlich stellen kann, wird klar, dass das mutmaßliche Ungeziefer eine Miniaturversion seiner selbst ist.
Damit nicht genug: Auch die Handlungen des zwergenhaften Doppelgängers spiegeln diejenigen des Protagonisten wider, denn er ist soeben im Begriff, mit seinem Schuh auf etwas noch viel Kleineres einzuschlagen. Augenblicke später tut der Protagonist das Gleiche: Er holt mit seinem Schuh aus und erschlägt den winzigen Menschen.
Unmittelbar darauf schiebt sich im Rücken des Protagonisten eine riesenhafte Version seiner selbst ins Bild. Der Riese erschlägt seinerseits den Protagonisten mit einem Schuh und etabliert damit eine existenzphilosophische Mise en abyme.
Das Element des Fantastischen, das hier so effektiv eingesetzt wird, veranlasste Darren Mooney zu der Behauptung, »Doodlebug is much more surreal than the bulk of Nolan’s feature-length output.«10 Unabhängig davon, ob man diese Auffassung teilt oder nicht, soll im Folgenden gezeigt werden, dass es nicht das Trennende, sondern das Gemeinsame ist, das die Stellung des Kurzfilms in Nolans Werk kennzeichnet. In seinen 180 Sekunden Laufzeit lässt DOODLEBUG in komprimierter Form bereits zahlreiche Merkmale, Themen und Motive erkennen, die der Regisseur in seinem späteren Schaffen immer wieder aufgegriffen und variiert hat. Der Kurzfilm bietet daher in geradezu idealer Weise Gelegenheit, Nolans filmisches Gesamtwerk ab ovo zu betrachten.
Die Ähnlichkeiten beginnen bereits mit der scheinbar banalen Tatsache, dass die einzige Figur in DOODLEBUG ein Mann ist. Sämtliche seither von Nolan inszenierte Filme werden stark von männlichen Rollen dominiert. Diese überwiegen nicht nur quantitativ bei weitem die Anzahl der weiblichen Figuren, sondern besitzen auch eine ausgeprägtere psychologische Komplexität als die Frauengestalten, die, wie Anna Kessler aus feministischer Perspektive feststellt, oft »einseitig, eindimensional und archetypisch«11 angelegt sind, etwa wie die Figuren von Hilary Swank in INSOMNIA (2002), Maggie Gyllenhaal in THE DARK KNIGHT (2008) oder Marion Cotillard in INCEPTION (2010). Als häufigste weibliche Archetypen in Nolans Filmen identifiziert Bevan die Femme fatale, das Opfer und die rehäugige Unschuld und führt dies auf die Tradition des Film noir zurück, von dem Nolan gerade in seiner Anfangsphase stark beeinflusst war: »The fear of empowered femininity that runs through Nolan’s films is perhaps a hangover from the noir tradition. Any suggestion of aggressive sexuality or vulgarity tends to indicate corruption (...). Nolan’s women, it seems, are only to be longed for, mourned or mistrusted.«12
Bei den männlichen Figuren in Nolans Filmen handelt es sich nicht selten um labile Charaktere, die einen Zwei-Fronten-Krieg ausfechten. Zum einen suchen sie die Konfrontation mit einem Antagonisten, deutlich ausgeprägt zum Beispiel bei Batman/The Joker in THE DARK KNIGHT, Leonard Shelby/Teddy Gammell in MEMENTO (2000), Will Dormer/Walter Finch in INSOMNIA, Robert Angier/Alfred Borden in THE PRESTIGE (2006) und Sator/The Protagonist in TENET (2020). Zum anderen tragen Nolans Charaktere einen inneren Konflikt aus. Dies ist bei Bruce Wayne (in der Batman-Trilogie) ebenso der Fall wie bei The Young Man (FOLLOWING), Leonard Shelby (MEMENTO), Will Dormer (INSOMNIA), Dominick Cobb (INCEPTION) oder Joseph Cooper (INTERSTELLAR, 2014).
In DOODLEBUG ist sowohl die äußere als auch die innere Konfliktebene vorhanden, interessanterweise lassen sie sich hier aber (noch) nicht voneinander trennen. Auch der Protagonist des Kurzfilms ist labil und trägt einen Kampf gegen einen äußeren (zunächst unsichtbaren) Gegner aus. Offensichtlich befindet er sich in einer psychischen Ausnahmesituation, Mimik und Gestik sind die eines Gehetzten am Rande der Paranoia. Symbolisiert und zugleich verstärkt wird dieser Eindruck durch die klaustrophobische Isolation des Protagonisten in einem geschlossenen Raum sowie die darin herrschende Unordnung. Der Mann macht keinen Versuch, dieser Isolation zu entkommen. Im Gegenteil, er verweigert sich sogar ausdrücklich jeglicher Kommunikation mit der Außenwelt: Als plötzlich sein Telefon klingelt, hebt er den Telefonhörer lediglich ab, um ihn augenblicklich in einer gläsernen Wasserkaraffe zu versenken und so das geräuschvolle Eindringen der außerhalb seiner vier Wände befindlichen Welt zu unterbinden. Nichts soll ihn ablenken von dem bevorstehenden Showdown mit dem noch unbekannten Gegner.
Das Paradoxe und zugleich Faszinierende hierbei ist, dass sich der Kontrahent als der Protagonist selbst erweist. Es handelt sich also um einen inneren Konflikt, der jedoch externalisiert wird, denn während Nolans spätere (Anti-)Helden von abstrakten inneren Dämonen heimgesucht werden, werden diese Dämonen in DOODLEBUG tatsächlich sichtbar, und es kommt zu physischen Interaktionen zwischen den unterschiedlich großen Versionen des Protagonisten. Eine Erklärung für das selbstzerstörerische Handeln seines Protagonisten bietet Nolan zwar nicht explizit an, dennoch lässt sich über dessen Gründe spekulieren: »Although the protagonist in Doodlebug may indeed be irrational for wanting to squash himself, it’s not altogether clear that he might not have some reason for doing so; or, at the very least, his perhaps irrational action might bespeak a fundamental flaw of the human condition insofar as many of us willingly engage in potentially self-destructive behaviors. Doodlebug, for better or worse, may be the most Freudian of Nolan’s films as subconscious motivations lead one to self-destructive behavior (...).«13
Wenn also in DOODLEBUG die verhängnisvolle Jagd auf einen vermeintlichen Gegner als Projektion eines inneren Konflikts dient, den der Protagonist mit sich selbst austrägt, so stellt sich die Frage, ob Ähnliches nicht auch auf Nolans spätere Filme zutrifft. Repräsentieren auch dort die Antagonisten lediglich Projektionen eines Alter Ego des gebrochenen Helden, Aspekte seiner gespaltenen Identität?
Angefangen bei FOLLOWING – dessen Protagonist The Young Man sich äußerlich zum Doppelgänger seines Gegenspielers Cobb macht – taucht das Doppelgängerthema in vielen von Nolans Filmen auf. Am augenfälligsten wird dies in THE PRESTIGE, wo das Motiv des Doppelgängers auf mehreren Ebenen inszeniert wird.14 Die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Protagonisten Alfred Borden (Christian Bale) und Robert Angier (Hugh Jackman) werden schon extratextuell dadurch betont, dass sie mit zwei sich ähnlich sehenden Schauspielern besetzt wurden. Vor allem aber auf intratextueller Ebene veranstaltet Nolan ein filigranes Verwechslungsspiel, etwa durch zahlreiche Parallelen in ihren Lebensläufen, durch nahezu identische Verkleidungen, hinter denen sie ihre Identität verbergen, sowie insbesondere durch den spektakulärsten Trick der beiden Illusionisten, Der transportierte Mann, für dessen Gelingen ein echtes Double erforderlich ist.
Doppelgänger: Vertauschung zweier Figuren in MEMENTO
Ebenso innovativ wie in DOODLEBUG hat Nolan das Doppelgängermotiv auch in späteren Filmen umgesetzt. In MEMENTO tritt ein Nebendarsteller namens Sammy Jankis (Stephen Tobolowsky) auf, dessen Geschichte auffällige Parallelen zur Hauptfigur Leonard Shelby (Guy Pearce) besitzt. Ein visueller Hinweis darauf, dass es sich bei den beiden um Doppelgänger handelt, erfolgt nur einmal sehr kurz. An einer Stelle des Films sieht man Sammy in einer statischen Kameraeinstellung auf einem Stuhl in einem Therapiezentrum sitzen. Nachdem im Vordergrund eine Person durchs Bild läuft, sitzt plötzlich nicht mehr Sammy auf dem Stuhl, sondern Leonard – ein verstecktes Indiz dafür, dass es sich bei beiden Männern um ein und dieselbe Person handeln könnte. Diese Information ist jedoch nur für 0,2 Sekunden im Bild zu sehen, liegt also fast im subliminalen Bereich, so dass viele Zuschauer*innen die Vertauschung der Personen gar nicht bemerken.
Auch in Nolans bislang jüngstem Film, TENET, kommt das Doppelgängermotiv erneut vor, und dort knüpft der Regisseur sogar deutlich an die in DOODLEBUG angelegte Konstellation an. Hier wie dort handelt es sich bei den Doppelgängern um ein und dieselbe Person, und hier wie dort kommt es zwischen dem Protagonisten und einer zeitversetzten Version seiner selbst zu physischer Aggression, die das Selbstzerstörerische dieser Konfrontation betont.
Die oben erwähnte Scharade des Figurentauschs in MEMENTO ist ein typischer Baustein sogenannter Puzzlefilme bzw. mind-game films16. MEMENTO ist der wohl außergewöhnlichste, aber keineswegs der einzige Puzzlefilm in Nolans Werk. Verwirrspiele mit den Zuschauer*innen gehören quasi zum Standardrepertoire des Regisseurs: »The structure of a Nolan film plays on the spectator’s investment in the idea of truth, but this investment always results in the spectator being deceived. Insofar as we believe in what we see, Nolan’s films lead us into error.«17 Genau diese Absicht, sein Publikum hinters Licht zu führen und zu falschen Hypothesen zu verleiten, hat Nolan ebenfalls bereits in DOODLEBUG umgesetzt. Wer den Film zum ersten Mal sieht, wird das Verhalten des Protagonisten zwangsläufig als Jagd auf ein Ungeziefer missdeuten. Der unordentliche Zustand der Wohnung und vor allem der präjudizierende, aber irreführende Titel18 verstärken diese Suggestion.
Was den Protagonisten von DOODLEBUG jedoch am Nachdrücklichsten charakterisiert, ist die Tatsache, dass er obsessiv nach etwas sucht. Bezeichnenderweise wird lange Zeit nicht klar – weder für die Zuschauer*innen noch für ihn selbst –, wonach er eigentlich sucht. Wie in den meisten Puzzlefilmen stellt sich erst am Schluss in einem finalen Plot-Twist heraus, dass der Protagonist kein vielbeiniges Getier jagt. Vielmehr ist das scheinbar triviale Objekt seiner Suche von wesentlich grundlegenderer Bedeutung. Die Enthüllung dieser Wahrheit erbringt aber keine Erkenntnis, sondern mündet lediglich in das nächste, wesentlich komplexere Rätsel, nämlich die Frage nach dem Wesen der Realität. Die Frage, ob wir die Welt, die uns umgibt, verstehen können, wird Nolan in seinen folgenden Spielfilmen immer wieder aufwerfen, am nachdrücklichsten in INCEPTION und INTERSTELLAR.19 Diese Frage fächert er dabei in zahlreiche philosophische Probleme auf: »They (Christopher Nolan’s films) raise a number of philosophical questions. What is the nature of personal identity? How should actions be understood and interpreted? How can we determine whether actions are moral? What, if anything, can be known about certainty? (...) At the heart of Nolan’s narrative aesthetics (...) we find ambiguity and uncertainty, misleading clues and unexpected changes of character, doubling and duplicity, deliberate artifice and fabrication. As viewers, we can’t necessarily trust what we see as we watch characters who often only imperfectly understand the situations in which they find themselves.«20
Das dominante Motiv der Suche in DOODLEBUG erweist sich so gesehen als philosophische Sinnsuche, wobei das verzweifelte Individuum auf sich selbst zurückverwiesen wird. Im Moment der Erkenntnis zerstört das Individuum zugleich die kleinere, ältere Version seiner selbst, nicht ahnend, dass eine größere, zukünftige Version bereits eigene Pläne schmiedet oder dass diese Version überhaupt existiert.
Als eine der größten Herausforderungen an die menschliche Erkenntnis stellt sich für Nolan das Phänomen der Zeit dar. »I’ve always been fascinated by time, by the subjectivity of time«21, bekennt der Regisseur, und an anderer Stelle bestätigt er, dass diese Faszination direkte Auswirkungen auf seine Filme hatte: »I’ve always been interested in time and the manipulation of time in my films«22. Seine Manipulationen der Zeit sind durchaus von anderen Filmen inspiriert und beeinflusst – Tom Shone nennt hier Nicolas Roegs PERFORMANCE (1970), DON’T LOOK NOW (WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN, 1973) und THE MAN WHO FELL TO EARTH (DER MANN, DER VOM HIMMEL FIEL, 1976)23, ebensogut könnte man David Lynchs LOST HIGHWAY (1997) und Stanley Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY (2001: ODYSSEE IM WELTRAUM, 1968) ergänzen – dennoch geht Nolan beim Ausloten der filmischen Möglichkeiten innovativer, kühner und konsequenter vor. MEMENTO gilt mittlerweile als das Standardbeispiel für Zeitumkehrung im Film, und in TENET findet diese Herausforderung der Zuschauer*innen eine spektakuläre Fortsetzung.
Mit der Manipulation und dem subjektiven Empfinden von Zeit hat sich Nolan in seinen Filmen immer wieder auseinandergesetzt, und auch hierfür ist das Fundament bereits in DOODLEBUG gelegt. Der Protagonist des Kurzfilms tritt in drei Versionen auf, die sich nicht nur hinsichtlich ihrer Größe unterscheiden, sondern auch in ihrer (minimal versetzten) Existenz in der Zeit. Die Abfolge ihrer quasi-identischen Handlungen repräsentiert so gesehen die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Protagonisten. Obwohl konkret nur drei Versionen der Figur gezeigt werden, ist die gedankliche Fortsetzung dieser Kette in die eine wie in die andere Richtung ebenso gewollt wie unausweichlich. Die Handlungen des Protagonisten werden in einer potenziell unendlichen Anordnung identischer Handlungen von Versionen seiner selbst reflektiert und unterlaufen dadurch das gängige Konzept von Zeit als eines linearen, unwiederholbaren Verlaufs. So werden die jeweils kleineren Versionen des Protagonisten zwar getötet, doch impliziert gerade dieser Akt paradoxerweise das Konzept von Ewigkeit bzw. Unsterblichkeit. Dies erinnert an die hierarchisch verschachtelten Traumebenen in INCEPTION, und Darren Mooney verweist in diesem Zusammenhang zudem auf INTERSTELLAR: »Interstellar has the strongest connection to Doodlebug, both films hinging on the image of rooms within rooms piled on top of one another recursively.«24
Dass das Konzept der Zeit in DOODLEBUG eine zentrale Rolle spielt, macht Nolan unmissverständlich klar. So sind mehrmals zwei Uhren im Bild zu sehen, eine davon, ein Wecker, sogar in einer Großaufnahme und in einer Detailaufnahme. Zugleich ist auf der Tonspur überlaut das Ticken des Weckers zu hören.
Nolans Interesse am Metaphysischen – das Mysterium der Zeit und die obsessive, selbstzerstörerische und oft vergebliche Sinnsuche des Individuums, das eine isolierte, alptraumhafte Existenz führt – äußert sich in DOODLEBUG nachhaltig auf engstem Raum und hat den Regisseur seither nie wieder losgelassen.
1 Joseph Bevan, »Christopher Nolan: escape artist«, in: Sight and Sound, 21.7.2020, https://www2.bfi.org.uk/news-opinion/sight-sound-magazine/features/christopher-nolan-escapeartist (letzter Zugriff am 22.3.2021). — 2 Vgl. Tom Shone, The Nolan Variations. The Movies, Mysteries, and Marvels of Christopher Nolan, London 2020, S. 8–9. — 3 Allein seit 2015 haben sich zahlreiche Buchpublikationen mit Nolans Filmen auseinandergesetzt: Robbie Goh, Christopher Nolan. Filmmaker and Philosopher, London 2021; Shone, The Nolan Variations (s. Anm. 2); Stuart Joy, The Traumatic Screen. The Films of Christopher Nolan, Bristol 2020; Darren Mooney, Christopher Nolan. A Critical Study of the Films, Jefferson 2018; Jason T. Eberl/George A. Dunn (Hg.), The Philosophy of Christopher Nolan, Lanham/London 2017; Jacqueline Furby/Stuart Joy (Hg.), The Cinema of Christopher Nolan. Imagining the Impossible, New York 2015; David Bordwell/Kristin Thompson, Christopher Nolan. A Labyrinth of Linkages, 2013; Todd McGowan, The Fictional Christopher Nolan, Austin 2012. — 4 Mooney, Christopher Nolan (s. Anm. 3), S. 5. — 5 Vgl. Shone, The Nolan Variations (s. Anm. 2), S. 48–49. — 6 Ebd., S. 66. — 7 Der Film ist auf der 2007 erschienenen DVD British Short Films (Cinema16) enthalten. — 8 Christopher Hooton, »Christopher Nolan’s student short film Doodlebug shows the Dunkirk director’s humble beginnings«, The Independent, 10.4.2017, https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/films/news/christopher-nolan-director-dunkirk-short-first-film-doodlebug-student-ucl-london-a7675861.html (letzter Zugriff am 19.10.2020). — 9 Nolans Zusammenarbeit mit seinem Kommilitonen Jeremy Theobald begann bereits mit LARCENY. 1998 übernahm Theobald die Hauptrolle (The Young Man) in FOLLOWING, den er gemeinsam mit Nolan und dessen Ehefrau Emma Thomas auch produzierte. In BATMAN BEGINS (2005) und TENET (2020) trat Theobald in kurzen Nebenrollen auf. — 10 Mooney, Christopher Nolan (s. Anm. 3), S. 6. — 11 Anna Kessler, »It’s a man’s man’s man’s world... The cinema of Christopher Nolan«, in: the f word. contemporary UK feminism, 24.10.2012, https://thefword.org.uk/2012/10/films_of_christopher_nolan/ (letzter Zugriff am 20.10.2020). Der Eindruck, dass Nolan ein vergleichsweise geringes Interesse an seinen oft eindimensional konzipierten Frauenfiguren hegt, ist nicht von der Hand zu weisen und hat ihm, wie Kesslers Artikel zeigt, von feministischer Kritik sogar den Vorwurf der Misogynie eingebracht. — 12 Bevan, »Christopher Nolan: escape artist« (s. Anm. 1). — 13 Jason T. Eberl/George A. Dunn, »Introduction«, in: The Philosophy of Christopher Nolan, hg. von Jason T. Eberl und George A. Dunn, Lanham/London 2017, S. vii. — 14 Ausführlich dargestellt wird dies in Kwasu David Tembos Artikel »On the Work of the Double in Christopher Nolan’s The Prestige«, in: The Cinema of Christopher Nolan, hg. von Jacqueline Furby und Stuart Joy, New York 2015, S. 201–218. — 15 So lautet die letzte Dialogzeile in THE PRESTIGE. — 16 Begriff von Thomas Elsaesser, »The Mind-Game Film«, in: Puzzle Films. Complex Storytelling in Contemporary Cinema, hg. von Warren Buckland, Chichester 2009, S. 13–41. — 17 McGowan, The Fictional Christopher Nolan (s. Anm. 3), S. 3. — 18 Das Wort doodlebug dient im Englischen als Bezeichnung für verschiedene Insektenarten (Ameisenlöwe, Maikäfer), hier dürfte es jedoch als Synonym für woodlouse (Kellerassel) verwendet werden. — 19 Ein Echo des DOODLEBUG-Prinzips, wonach eine höhere Erkenntnisstufe mit dem Tod der vorausgegangenen Stufe einhergeht, findet sich in THE PRESTIGE. Einer der dort wiederholt gezeigten Zaubertricks besteht darin, dass ein Vogel aus einem präparierten Käfig scheinbar verschwindet und kurz darauf an anderer Stelle wieder auftaucht. Die Lösung des Rätsels besteht darin, dass der Vogel getötet werden muss und durch ein Double ersetzt wird. — 20 Deborah Knight/George McKnight, »›Are You Watching Closely?‹ Narrative Comprehension in Nolan’s Early Films«, in: The Philosophy of Christopher Nolan, hg. von Jason T. Eberl und George A. Dunn, Lanham/London 2017, S. 101–114, hier S. 101. — 21 Nolan in der britischen Fernsehdokumentation INTERSTELLAR: NOLAN’S ODYSSEY (Erstausstrahlung am 5.11.2014), zit. nach Jacqueline Furby, »About Time Too. From Interstellar to Following, Christopher Nolan’s Continuing Preoccupation With Time-Travel«, in: The Cinema of Christopher Nolan, hg. von Jacqueline Furby und Stuart Joy, New York 2015, S. 247. — 22 Shone, The Nolan Variations (s. Anm. 2), S. 313. — 23 Ebd., S. 9. — 24 Mooney, Christopher Nolan (s. Anm. 3), S. 6.
Marcus Stiglegger
Achronologische Montage und Existenzerkundung in Filmen von Christopher Nolan
Das faktisch geworfene Dasein kann sich nur Zeit »nehmen« und solche verlieren, weil ihm als ekstatisch erstreckter Zeitlichkeit mit der in dieser gründenden Erschlossenheit des Da eine »Zeit« beschieden ist.
(Martin Heidegger, Sein und Zeit [2001], S. 410)
Die Zeit ist bedeutsam, genau wie die Welt.
(Michael Inwood, Heidegger [1999], S. 127)
Was können wir von Christopher Nolans Filmen lernen? Zweifellos, wie die Mechanismen des Kinos funktionieren. Auch, wie das Kino Identität konstruieren und in Frage stellen kann. Vor allem aber bekommen wir ein ganz eigenes Gespür dafür, wie Zeit erfahren werden kann – und was die Zeitlichkeit für unser Dasein bedeutet. Nolans Kino ist eine Verführung zur existenzialphilosophischen Reflexion mittels filmischer Zeitkonstruktionen. Und während Nolan seinem Metier gemäß mit der Bild- und Tonebene seiner Filme philosophiert, äußert er sich gerne nur über jenen Formalismus, der seine Filme oft so mathematisch, formalistisch und kalt erscheinen lässt. Diese Kälte verbindet ihn jedoch zugleich mit jenem Ansatz eines deutschen Existenzialismus, den der umstrittene Philosoph Martin Heidegger in seinem Hauptwerk entfaltete.
In seinem philosophischen Opus magnum Sein und Zeit entwickelt der Existenzialist eine Theorie des menschlichen »Daseins« in der Welt, das von seinem Tod her bestimmt werde, von entsprechender Sorge geprägt sei und drei Ebenen der Zeitlichkeit umfasse, die auf das Dasein einwirken. Die Ebenen der Zeitlichkeit definiert Heidegger im Kontext der Sorge als 1. Geworfenheit (»Schon-sein-in-der-Welt«) – die Gewesenheit; 2. Verfallenheit (»Sein-bei«) – die Gegenwart; und 3. Entwurf (»Sich-vorweg-sein«) – die Zukunft. In den drei Momenten der Sorge (Geworfenheit, Verfallenheit und Entwurf) »zeitigen sich« stets je alle drei »Ekstasen« (»aus sich herausragen«), was so viel heißt wie: Es gibt keine Vergangenheit ohne Gegenwart und Zukunft usw. Sie fangen nicht an, gehen nicht vorbei oder ineinander über, sondern sind stets miteinander verflochten und »zeitigen sich« ausschließlich zu dritt.1
Um diese komplexe Relation von Dasein, Sorge und Zeitlichkeit in ihrem Verhältnis zu erkunden, führt Heidegger den von ihm spezifisch definierten Begriff der »Ekstase« ein, mit dem er die Relativität und Endlichkeit des Daseins betont, was nicht nur, aber auch seine Sterblichkeit meint, die der Zukunft eine ebenso unbestimmte wie verlässliche Grenze setzt. »Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des ›Auf-sich-zu‹, des ›Zurück auf‹, des ›Begegnenlassens von‹. Die Phänomene des zu ..., auf ..., bei ... offenbaren die Zeitlichkeit als das ἐϰστατιϰόν schlechthin.«2 Ekstase oder ékstasis (ἔϰστασις) kommt ursprünglich aus dem Altgriechischen und bedeutet außerhalb von sich selbst. Ekstase ist folglich kennzeichnend für einen veränderten Bewusstseinszustand, der durch ein vermindertes Bewusstsein für andere Objekte oder das völlige Fehlen des Bewusstseins für die Umgebung und alles um sie herum gekennzeichnet ist. Ekstase kann zudem spezifischer ungewöhnliche mentale Räume benennen, die als spirituell wahrgenommen werden. Die letztere Form von Ekstase wäre dann die religiöse Ekstase.3
Christopher Nolans Inszenierungen bauen vom ersten Film an bewusst auf einen kreativen Umgang mit der Zeit, vor allem durch eine Fragmentierung der linearen Narration.4 Wie für Heidegger ist ihm »die Bedeutsamkeit der Zeit (...) grundlegender als die Zeitberechnung oder die Zeitmessung«5. Er erzählt oft vom Ende her und schlüsselt die Zeitebenen nach bestimmten Codes auf; er denkt die filmische Diegese folglich vom metaphorischen oder konkreten Tod her: »Und weil die Zeitlichkeit des Daseins, das sich seine Zeit nehmen muss, endlich ist, sind seine Tage auch schon gezählt.«6