Fire in the Flesh – Eine Liebe im Schatten - Jennifer L. Armentrout - E-Book

Fire in the Flesh – Eine Liebe im Schatten E-Book

Jennifer L. Armentrout

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Beschreibung

Nach einem schrecklichen Verrat befinden sich Sera und Nyktos in der Gewalt des falschen Königs der Götter. Kolis glaubt, in Sera die Wiedergeburt seiner großen Liebe gefunden zu haben, und wenn sie Nyktos befreien und einen Krieg zwischen den Primaren verhindern will, muss Sera dafür sorgen, dass das auch so bleibt. Zwar wurde sie ihr ganzes Leben lang darin ausgebildet, einen Gott zu verführen – doch einen Gott zu verführen, während ihr Herz einem anderen gehört, darauf war sie nicht vorbereitet ...

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Seitenzahl: 1020

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DAS BUCH

Graeca. In der alten Sprache der Primare bedeutete das Wort Leben. Aber auch Liebe. Wobei ich persönlich glaubte, dass es sogar noch eine dritte Bedeutung hatte. Besessenheit. Denn das, was Kolis für Sotoria empfand, war keine Liebe. Liebe ließ nicht derartige Monster entstehen.

Kolis, der falsche König der Götter, hat die Macht im Iliseeum an sich gerissen. Und er hat seinen Widersacher Nyktos in seiner Gewalt. Um einen Krieg zwischen den Primaren zu verhindern und Nyktos zu befreien, muss Sera Kolis dazu bringen, ihr zu vertrauen. Noch hält Kolis sie für die Wiedergeburt seiner großen Liebe Sotoria, doch sollte er die Wahrheit erfahren, wäre Seras Leben verwirkt und die Welt der Götter dem Untergang geweiht. Doch das Leben am Hof des grausamen Götterkönigs gestaltet sich schwieriger als gedacht, denn Kolis‘ Berater flüstern ihm tückische Worte über Verrat und Intrige ins Ohr. Und wie soll Sera Kolis verführen, wenn ihr Herz Nyktos gehört? Außerdem hängt ihr eigener Aufstieg über Sera wie ein Damoklesschwert, und ohne Nyktos’ Liebe wird sie die Verwandlung nicht überleben.

In der Zwischenzeit versucht Nyktos alles, um Sera zu schützen – und wenn er dafür die Reiche zum Einsturz bringen muss. Und genau das wird geschehen, wenn es ihm nicht gelingt, seiner Bestimmung als wahrer Primar des Lebens gerecht zu werden. Und doch hat er sein eigenes Schicksal nicht in der Hand …

DIE AUTORIN

Jennifer L. Armentrout ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA. Immer wieder stürmt sie mit ihren Romanen – fantastische, realistische und romantische Geschichten für Erwachsene und Jugendliche – die Bestsellerlisten. Ihre Zeit verbringt sie mit Schreiben, Sport und Zombie-Filmen. In Deutschland hat sie sich mit ihrer Obsidian-Reihe und der Wicked- Saga eine riesige Fangemeinde erobert. Mit ihrer Blood and Ash-Reihe ist sie regelmäßig auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste zu finden. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in West Virginia.

JENNIFER L.

ARMENTROUT

FIRE

IN THE

FLESH

EINE LIEBE IM SCHATTEN

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Sonja Rebernik-Heidegger

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

A FIRE IN THE FLESH

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 10/2024

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2023 by Jennifer L. Armentrout

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Karte: Hang Le

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung des Originalentwurfs von Hang Le

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-32134-5V001

www.heyne.de

Für meine Leserinnen und Leser. Ja, genau: Für euch!

1

DAS POCHENDE STECHEN AN MEINEMHals verging langsam, und auch die brennenden Schmerzen, die meinen ganzen Körper ergriffen hatten, waren verschwunden.

Obwohl es in Dalos, der Stadt der Götter, schwül war, hatte eine Kälte von mir Besitz ergriffen, wie ich sie in meinem ganzen Leben noch nie empfunden hatte. Ich hatte das Gefühl, ebenfalls langsam zu vergehen, und verlor immer wieder das Bewusstsein, auch wenn ich versuchte, mich auf die offene Tür der runden Kammer zu konzentrieren, in der ich nach dem Angriff auf die Schattenwelt aufgewacht war. Angekettet in einem Käfig.

Ich hatte mir eingebildet, einen Wolf dort drüben an der Tür gesehen zu haben. Einen Wolf, dessen Fell mehr silbern als weiß schimmerte.

Ich hatte diesen Wolf gekannt.

Es war der Asher, der Gesegnete, der Wächter der Seelen und der Primar des einfachen Mannes und des Todes.

Der Herrscher der Schattenwelt.

Mein Gemahl.

Nyktos.

Ash.

Er hatte nie bestätigt, dass er eine andere Gestalt annehmen konnte, aber ich wusste, dass der Wolf mein Primar des Todes gewesen war. Er war zu mir gekommen, damit ich ihn noch einmal sehen, ihn noch einmal berühren und ihm ein letztes Mal sagen konnte, dass ich ihn liebte. Damit ich mich auf meine Art von ihm verabschieden konnte.

Aber mittlerweile war die Tür leer.

Er war verschwunden.

Vielleicht war er nie da gewesen.

Die Arme, die mich umschlangen, drückten mich fester an die fremde Brust, und mein träges Herz schlug schneller. Kolis, der falsche König der Götter, hielt mich nach wie vor umschlungen und kämpfte wohl noch immer mit der Erkenntnis, wer hier in seinen Armen lag – und an wem er sich genährt hatte.

»Bist du es wirklich?« Seine Stimme klang wie ein Seufzen. Tränen benetzten meine Wangen. Waren es meine? Oder seine? »Mein Liebling?«

Ich erschauderte. Bei den Göttern, Ash hatte sich geirrt, als er meinte, ich würde zwar Angst empfinden, mich aber nicht von ihr überrollen lassen. Allein der Klang von Kolis’ Stimme reichte aus, um mich in entsetzliche Panik zu versetzen. Es spielte keine Rolle, dass es lediglich Sotorias Seele war, die in mir existierte. Dass ich nicht Sotoria war und Sotoria nicht Seraphena. Kolis machte uns beiden gleichermaßen ungeheure Angst.

Zwei in Leder gehüllte Beine traten in mein Blickfeld. Ich hob den Kopf, und mein Blick wanderte über die Schattensteindolche an den schlanken Hüften zu den dunkelblonden Haaren, die bis zum Kragen der schwarzen Tunika reichten. Es war der Primar des Krieges und der Übereinkunft, und er hatte ebenfalls gerade noch zur Tür hinausgesehen. Der verräterische Mistkerl, der mich an Kolis ausgeliefert hatte, musste Ash also ebenfalls entdeckt haben. Oder nicht? Als Wolf war er riesengroß – größer als jeder andere Wolf, den ich bisher zu Gesicht bekommen hatte.

Vielleicht war er aber auch gar nicht da gewesen, und ich hatte es mir lediglich eingebildet.

Meine Brust zog sich zusammen, und der Kummer war mit einem Mal unheimlich groß und legte sich als tonnenschweres Gewicht auf mich, sodass ich befürchtete, er könnte mich zerquetschen.

»Eure Majestät.« Attes hatte sich zu uns umgewandt. »Ihr geht es gar nicht gut«, sagte er. »Sie steht an der Schwelle, das müsst Ihr doch spüren.«

»Ihr müsst die Glut an Euch nehmen, ehe sie weiterzieht«, drängte eine weitere, melodiöse Stimme. Es war Callum, der Wiederkehrer. Eines von Kolis’ Projekten. »Nehmt sie …«

»Die Glut ist jetzt Eure geringste Sorge«, unterbrach Attes Callum und wandte sich direkt an Kolis. »Sie wird sterben.«

Der falsche König reagierte nicht. Er hielt mich einfach nur in seinen Armen, während sein mächtiger Körper bebte. War es, weil er nach allem, was passiert war, unter Schock stand? Ich hätte beinahe laut aufgelacht. Was vermutlich bedeutete, dass ich ebenfalls unter Schock stand.

»Wenn sie mit der Glut im Körper stirbt, stirbt auch die Glut und alles, worauf Ihr so hart hingearbeitet habt«, fuhr Callum beharrlich fort, und ich wandte mich zu ihm um. Zuerst war er nur als verschwommener Umriss erkennbar, dann wurde das Bild deutlicher. Der Wiederkehrer war von Kopf bis Fuß golden – die Haare, die Haut, selbst die kunstvolle, aufgemalte Maske in Form von zwei Flügeln, die von seiner Stirn bis zu den beiden Wangen reichte. »Nehmt sie an Euch, mein König. Nehmt sie und steigt auf zum Primar des Lebens und …«

»Sie wird erneut verloren sein«, unterbrach ihn Attes. »Eure Graeca bliebe unerreichbar.«

Graeca.

In der alten Sprache der Primare bedeutete das Wort Leben. Aber auch Liebe. Wobei ich persönlich glaubte, dass es sogar noch eine dritte Bedeutung hatte.

Besessenheit.

Denn das, was Kolis für Sotoria empfand, war keine Liebe. Liebe ließ nicht derartige Monster entstehen.

»Sie ist es doch gar nicht«, zischte Callum, und die Augen hinter der goldenen Maske wurden schmal. »Hört nicht auf ihn, Eure Majestät. Es ist ein …«

Im nächsten Augenblick zuckte Callum zusammen, und Blut spritzte auf die Gitterstäbe des Käfigs. Sein Mund klappte auf, und er sah auf den Schattensteindolch hinunter, der aus seiner Brust ragte.

Mein Blick huschte zu Attes. Er trug nur noch einen Dolch bei sich. Den anderen hatte er in Callums Richtung geschleudert.

Aber warum?

»Verdammt.« Callum geriet ins Taumeln und sank auf den von goldenen Adern durchzogenen Boden. Er war tot, aber das würde sicher nicht lange so bleiben. Wobei ich mich nicht mehr genau erinnern konnte, warum ich mir dessen so sicher war.

Ich konnte nicht mehr …

Meine Brust zog sich krampfhaft zusammen, und ein Schatten legte sich wie ein Schleier über mich. Eisige Panik packte mich, als ich in die Dunkelheit sank, und die Erleichterung, die ich verspürte, war im nächsten Moment wie weggeblasen.

Keine Geräusche, keine Gerüche. Alles schwarz.

Doch ich wollte nicht sterben.

Nicht jetzt.

Ich konnte nicht …

Liessa …

Ich zuckte zusammen und tauchte aus der Dunkelheit auf. Langsam nahm ich meine Umwelt wieder wahr. Ich sah den goldenen Diwan, auf dem ich geschlafen hatte. Die Kette, die an dem Metallband um meinen Hals hing, die ich allerdings kaum noch spürte. Die goldenen Gitterstäbe des Käfigs, in dem ich gefangen war, und den Schattensteindolch, der aus Callums Brust geragt hatte und der mittlerweile auf dem Boden lag. Der Wiederkehrer erhob sich bereits. Wie lange war ich ohnmächtig gewesen? Ich sah an ihm und dem goldenen Thron vorbei, hinüber zu der offen stehenden Tür.

Der Wolf war wieder da, dieses Mal zumindest teilweise verdeckt von den ausladenden Palmen, die sanft im Wind wogten.

Meine rechte Hand – oder besser gesagt das Zeichen, das während meiner Krönung zu Ashs Gemahlin dort erschienen war – wurde warm. Die goldenen Kringel auf der Handfläche und dem Handrücken prickelten, und die Glut des Lebens in meiner Brust summte und vibrierte. Mein Nacken kribbelte.

Kolis wiegte mich weiter in seinen Armen, während sich um uns ein Sturm reinster Macht zusammenbraute. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper, und die zarten Härchen richteten sich auf.

Attes wandte sich fluchend zur Tür um. »Scheiße!«

Der Wolf senkte den Kopf, seine Augen leuchteten silbern. Er stellte eine riesige Pranke auf den von goldenen Adern durchzogenen Marmor und fletschte knurrend die Zähne.

Dunkler Nebel senkte sich über die Kammer, Schatten sammelten sich unter der Decke, wohin das Licht der Kronleuchter nicht mehr gelangte. Sie lösten sich pulsierend aus dem Marmor und dem Kalkstein der Wände, flossen nach unten und ergossen sich in rauchigen Wellen über den Boden. Mein ohnehin viel zu flacher Atem stockte, als der Wolf zum Sprung ansetzte und in der wabernden Dunkelheit verschwand. Funken stoben, und meine Brust wurde warm …

Die tanzenden Schatten an der Tür breiteten sich aus, und zwei gigantische Flügel aus Schatten und Rauch bildeten sich hinter dem dunklen Umriss im Nebel. Eine Welle der Energie erfasste die Kammer und rollte in Richtung Thron. Der goldene Stuhl bebte und zerfiel zu nichts. Die Welle traf Attes und schleuderte ihn beiseite, ehe sie Callum erfasste und ihn gegen die Gitterstäbe krachen ließ. Ein grauenhaftes Knacken erklang, als Knochen brachen.

Und auch mehrere Gitterstäbe gingen zu Bruch. Ein Riss zog sich über die Decke der Kammer, die splitterte und aufbrach. Die Schatten und der Rauch verdichteten sich in dem hellen Mondlicht, das nun in die Kammer fiel.

Die Wände um uns explodierten, Trümmer flogen durch die Luft, und es waren nur noch die Grundfesten der Kammer übrig, als Ash sich zu noch gewaltigerer Größe erhob.

Einen Sekundenbruchteil lang sah ich ihn in seiner sterblichen Form, das kantige Gesicht steinhart und grausam, die schimmernde, goldbraune Haut, die rotbraunen Haare, die in seine vom Mondlicht beschienenen Wangen fielen. Ich erhaschte einen Blick auf das kräftige Kinn, den ausdrucksstarken Mund und die vollen Lippen, die mich oft auf so verruchte Weise geküsst hatten.

Dann verwandelte er sich in seine wahre Form und schwebte dort, wo der Thron gestanden hatte, in der Luft. Sein Körper bestand aus tanzenden Wirbeln tiefster Dunkelheit und pulsierenden Blitzen aus Äther. Sein frischer, zitroniger Duft umhüllte mich und spendete mir Trost.

Ash war Furcht einflößend, seine Schönheit grausam und atemberaubend zugleich, und das in beiden Formen. Und er gehörte mir.

»Kolis!«, donnerte Ash.

Im nächsten Augenblick fuhr plötzlich und ohne Vorwarnung ein Lichtblitz durch den Nachthimmel und schlug vor Ash in den Boden ein. Hitze breitete sich in meiner Brust aus. Das Licht war so hell, dass ich einen Moment lang nichts erkennen konnte. Nachdem sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, fiel mein Blick auf eine Krone aus rubinroten Geweihen, die im Mondlicht funkelten.

Ein weiterer Primar war eingetroffen.

Hanan, der dunkelhaarige Primar der Jagd und der göttlichen Gerechtigkeit, stand direkt vor Ash. In seiner rechten Hand hielt er einen Speer aus einem matten weißen Material, das mich an Knochen erinnerte.

»Verschwinde, Nyktos.« Hanans Speer begann von innen heraus zu leuchten. »Bevor es zu spät ist.« Trotz der Warnung hörte ich das Zittern in der Stimme des Primars, der die Cimmerier geschickt hatte, um Bele zu holen, anstatt selbst in die Schattenwelt zu kommen. Er hatte Angst.

Hanan mochte ein Primar sein, aber er war auch ein Feigling.

»Bevor es zu spät ist?«, donnerte Ash, und die Macht in seiner Stimme ließ auch noch die verbliebenen Wände einstürzen. »Es ist bereits zu spät.«

Weißes Licht umschloss Hanans Körper, als er sich in die Luft erhob und den Arm zurückriss. Äther prasselte um seinen Speer, dann schleuderte er ihn in Ashs Richtung. Mein Atem stockte.

Doch Ash lachte bloß. Er lachte und breitete die gewaltigen Flügel aus Schatten und Mondlicht aus. Ungeheure Macht schoss aus seinen gespreizten Fingern, als er die Hand hob, und ein gleißend heller Blitz fuhr aus seiner Handfläche und traf den durch die Luft fliegenden Speer. Ein Donner zerriss die Luft, und Licht stob in alle Richtungen.

Im nächsten Moment stand Ash vor Hanan und packte seinen Hinterkopf. Er bewegte sich so schnell, dass ich die zweite Hand erst sah, als Hanan zu schreien begann und Ash den Arm zurückriss. Ein blutiger, pulsierender Klumpen fiel klatschend zu Boden.

Ash hob Hanan in die Luft, und jemand schrie. Vermutlich war es Attes.

Kolis, der von alldem offenbar nichts mitbekam, hörte endlich auf, mich in den Armen zu wiegen, und hob den Kopf.

Ash legte eine Hand unter das Kinn des Primars und …

Mein Mund klappte auf, als Ash dem anderen Primar den Kopf von den Schultern riss.

Etwas fiel zu Boden, und pulsierender Äther drang aus Ashs Hand.

Die primare Glut des Lebens summte immer stärker in meiner Brust und wärmte meine Hände. Ich wusste, was das bedeutete, noch bevor Hanans Krone klirrend auf dem Boden landete.

Ash hatte einen Primar getötet.

Machte man das so? Musste man zuerst das Herz herausreißen und anschließend den Kopf zerschmettern? Es war grotesk und barbarisch.

Und auf beunruhigende Weise heiß.

Die Krone aus rubinroten Geweihen begann zu vibrieren, und ich hörte ein entferntes Grollen. Der Boden unter der Krone brach auf, die Erde bebte. Weißes Licht hüllte den Kopfschmuck ein und sickerte aus den Geweihen, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Das Geräusch setzte sich fort, sank vom Himmel und stieg aus dem Boden, sodass es selbst Kolis erzittern ließ. Stein brach, der Boden außerhalb der zusammengestürzten Kammer brach auf. Palmen erzitterten und fielen in den immer tiefer werdenden Spalt.

Hanans Krone pulsierte und löste sich im nächsten Moment in Luft auf.

Ein ohrenbetäubendes Donnern erfüllte die Luft, und mir war klar … bei den Göttern, mir war klar, dass man es bis weit über Dalos hinaus hören konnte. Im ganzen Iliseeum und bis in die sterbliche Welt.

Irgendwo in der Schattenwelt hatte sich eine neue Herrscherin über Sirta erhoben. Eine Göttin der Jagd. Ich wusste es mit unumstößlicher Sicherheit, aber nicht nur, weil Bele die einzige Göttin aus Hanans Hofstaat war, die aufgestiegen war – und zwar durch meine Hände –, sondern weil es mir die Glut des Lebens verriet, die ich in mir trug.

Und Kolis schien es ebenfalls zu wissen.

Die Kette, die an dem Metallband um meinen Hals befestigt war, fiel rasselnd zu Boden, als er mich ablegte. Er stützte meinen Hinterkopf mit seiner Hand, und es war eine so grauenhaft zärtliche Geste, dass ich zu ihm aufsah. Als sich unsere Blicke trafen, machte mein Herz einen Satz. Ein eisiger Windstoß fuhr in den Käfig und wehte Kolis die blonden Haare ins Gesicht, während er langsam meine Wange auf den goldenen Fliesenboden senkte. Ich zuckte zusammen, so schrecklich sanft glitt seine Hand über meine Haut.

Ein kehliges, überirdisches Knurren ließ den Käfig erzittern. »Lass deine dreckigen Finger von meiner Gemahlin.«

Kolis grinste schief, und mir wurde eiskalt. Er erhob sich. »Ach Nyktos, mein Junge«, meinte er fröhlich und warf einen Blick auf die Stelle, an der Hanans Krone verschwunden war, vorbei an Callum, der in einer Blutlache lag und dessen Finger bereits zuckten. »Wie ich sehe, konntest du vor mir verbergen, wie mächtig du inzwischen geworden bist.« Kolis wandte sich an Ash. »Ich bin beeindruckt.«

»Das ist mir so was von scheißegal«, knurrte Ash.

»Unverschämt wie immer«, murmelte Kolis.

Ich musste aufstehen. Ich musste Ash helfen und an seiner Seite kämpfen. Kolis war nicht wie Hanan. Auch wenn er bloß der falsche Primar des Lebens war, war er dennoch der älteste lebende Primar und unglaublich mächtig.

Ich musste Ash helfen.

Doch mein Körper war tonnenschwer und schien an den Fliesen unter mir zu kleben. Ich versuchte, mich zur Seite zu rollen, doch allein diese einfache Bewegung ließ mich vor Anstrengung keuchen.

Kolis seufzte schwer, als hätte er es mit einem trotzigen Kind zu tun. »Du gehörst zur Familie, und deshalb werde ich dir eine Gunst erweisen, die dein Vater mir verweigert hat. Du darfst gehen.«

Ich runzelte die Stirn, und meine blassblonden Haare fielen mir ins Gesicht. Kolis ließ Ash einfach so gehen, obwohl er gerade einen Primar getötet hatte? Das ergab keinen Sinn.

Aber andererseits tat es das sehr wohl.

Kolis konnte Ash nicht töten. Wenn er es tat, würde die primare Glut des Todes wieder auf ihn zurückfallen, und er würde seine Stellung als Primar des Lebens und König der Götter verlieren.

Es würde keinen König mehr geben.

Das Reich der Götter würde ins Chaos stürzen.

»Du wirst an deinen Hof zurückkehren, und falls Bele noch dort ist«, fuhr Kolis fort, »wirst du sie zu mir schicken, sodass sie mir die Treue schwören kann.«

In der Ferne erhellte ein silberner Blitz den Nachthimmel, und flammender Äther rollte wie ein heraufziehendes Gewitter auf uns zu. In dem Licht erkannte ich zwei riesige, geflügelte Kreaturen, die am Horizont ineinanderkrachten.

Draken.

Oh Götter, war das Nektas? Oder ein anderer? Ich wusste nicht einmal, ob Orphine den Angriff der Dakkai überlebt hatte. Ich hatte gesehen, wie sie vom Himmel fiel. So viele waren gefallen.

Ich musste aufstehen.

»Und du wirst deinem Gefolge sagen, dass sie sich zurückziehen und Dalos in Frieden lassen sollen, und zwar sofort.« Kolis’ Kiefermuskeln mahlten. »Ich würde dir raten, dieses Angebot anzunehmen, Nyktos.«

Meine Arme zitterten vor Anstrengung, doch ich schaffte es, mich zur Hälfte hochzustemmen. Allerdings hatte diese normalerweise mühelose Tätigkeit ihren Preis, und Schwindel packte mich. Ash schien es zu spüren und wandte sich zu mir um.

Der Äther in seinen Augen sprühte Funken, während sein Blick auf die sicher bereits blutunterlaufene Haut unter dem Band um meinen Hals und auf Kolis’ Bissspuren fiel. Er sah das hauchdünne Kleid, das man mir angezogen hatte, und ich spürte seinen Zorn. Er legte sich wie eine Eisschicht über meine Haut. Ich hätte ihm gern gesagt, dass es mir gut ging, aber meine Zunge war zu schwer, und die Lüge kam mir nicht über die Lippen. Ich war mir nicht sicher, ob es mir je wieder gut gehen würde.

Und Ash schien es zu spüren.

Seine Brust hob sich ruckartig, dann wandte er sich wieder an Kolis. »Ich bringe dich um.«

Der falsche König der Götter legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Ach komm, das ist doch lächerlich.«

Ash schoss nach vorne und durch die Öffnung zwischen den Gitterstäben. Einen Moment lang schien alles wie erstarrt, dann landete er auf dem Käfigboden, nur wenige Schritte von Kolis entfernt. Dunkle Schatten rankten sich um seine Beine, seine Augen bestanden nur noch aus flammendem Äther.

»Denk nicht einmal daran«, warnte ihn Kolis.

»Wie ich schon vorhin sagte …« Die Spannung in der Luft war beinahe greifbar, und Ätherblitze drangen aus Ashs Handflächen. »Dafür ist es jetzt zu spät.«

Kolis setzte sich in Bewegung und war nur noch als verschwommener Umriss zu erkennen, doch nichts war schneller als Ashs entfesselte primare Macht. Die Blitze schossen aus seinen Handflächen und trafen Kolis mit voller Wucht, sodass er gegen die Gitterstäbe geschleudert wurde. Das Gold gab unter der Wucht des Aufpralls nach.

Schatten breiteten sich über den Boden und über meine Beine hinweg aus, als Ash herumfuhr. Seine Hand glitt zu seiner Hüfte, und Schattenstein blitzte auf, als er sein Schwert zog und von sich schleuderte.

Die Klinge bohrte sich in Kolis’ Brust. Er wurde noch weiter zurückgeschleudert, bis er gegen die Außenwand krachte. Das Schwert drang tief in den Stein und nagelte den falschen König daran fest.

Bei den Göttern.

Donnernde Schritte näherten sich. Wächter mit goldenen Brustplatten und Beinschienen stürzten mit erhobenen Schattensteinschwertern in den Käfig.

Ash warf den Neuankömmlingen über die Schulter einen Blick zu.

Die primare Essenz ergoss sich in tiefen Schatten aus seinem Körper und schlang sich um die Stiefel der Männer.

Schrille, schmerzerfüllte Schreie zerrissen die Luft, bevor sie abrupt verstummten.

Dunkelheit umfing mich, als Ash sich neben mich kniete, und sein Gesicht war in dem tiefen Schwarz kaum zu erkennen.

Ich schluckte den Schmerz hinunter, befeuchtete meine staubtrockenen Lippen und zwang meine Zunge, die Worte zu formen. »Das … war … so unglaublich … scharf.«

Ash erstarrte einen Moment, dann stieß er ein raues Lachen aus. »Halte den Blick auf meine Augen gerichtet«, sagte er und umfasste das Band um meinen Hals. »Und nicht bewegen, Liessa.«

Liessa.

Etwas Wunderschönes.

Etwas Mächtiges.

Eine Königin.

Mein Herz schmolz, als ich dieses eine Wort aus seinem Mund hörte. Es war albern, aber es war nun einmal so.

Das tanzende Silber in seinen Augen hielt meinen Blick gefangen. Ich hörte, wie Metall brach, und mein ganzer Körper bebte. Ich kippte nach vorne, als die Kette zu Boden fiel.

Schatten breiteten sich über meine Brust und meine Mitte aus, als Ash die Arme um mich schlang und mich auffing. Seine Essenz umhüllte mich wie ein Mantel, doch sie verursachte keinerlei Schmerzen. Das hatte sie noch nie.

Er zog mich an sich. Seine so unglaublich kalte, aber gleichzeitig zärtliche Hand legte sich auf meinen Hinterkopf, während er mich an seine Brust drückte.

Ich atmete seinen frischen, zitronigen Geruch ein und erschauderte. Als sich Kolis’ Zähne in mein Fleisch gebohrt hatten, hatte ich die Hoffnung aufgegeben, Ash jemals wiederzusehen. Dass ich nun seine Stimme hörte und in seinen Armen lag, trieb mir die Tränen in die Augen. Es war ein überwältigendes Gefühl.

»Es tut mir leid«, meinte er mit rauer Stimme. »Es tut mir leid, dass ich nicht schneller hier war, aber jetzt habe ich dich wieder, Liessa, und ich werde dich nicht mehr gehen lassen. Nie wieder.«

Seine Entschuldigung brach mir das Herz. Kolis’ Wahnvorstellungen waren schuld an alldem. Genau wie Eythos, Ashs Vater, der die Glut und Sotorias Seele in einer Sterblichen versteckt hatte, ohne seinem Sohn etwas davon zu sagen. »Das hier ist nicht deine …«

Ash fluchte und fuhr mit mir in den Armen herum. Ein Herzschlag verging, dann prallte etwas Heißes, Schweres gegen seinen Rücken. Er grunzte, als sich unsichtbare Hände um uns schlangen und uns nach unten zogen. Meine Kehle war vor Angst wie zugeschnürt.

Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, als Ash zu Boden krachte und die Wucht des Aufpralls mit seinem Körper dämpfte. Die Schatten wurden schwächer, und ich sah, wie er schmerzerfüllt die Zähne aufeinanderbiss.

»Schon gut«, presste er hervor, und seine leuchtend silbernen Augen drangen in meine. »Ich hab dich …«

Sein Kopf wurde zurückgerissen, und ich stieß ein heiseres Kreischen aus, als sich die Sehnen in seinem Hals spannten. Doch Ash hielt mich fest, während er sich erneut erhob. Er ließ mich nicht los. Er würde mich nie mehr loslassen, denn er hatte es versprochen. Trotz der Qualen. Egal, was es ihn kostete.

»Ash«, flüsterte ich.

Seine Augen weiteten sich, und er erstarrte einen Moment lang. »Sera«, keuchte er.

Dann wurde er mir entrissen.

Mein Herz zog sich zusammen, und Panik packte mich. Ich fühlte mich einen Moment lang wie schwerelos, bevor ich auf den Boden krachte. Mein Kopf knallte auf die Fliesen, und ein unglaublicher Schmerz breitete sich aus, dann versank die Welt in Dunkelheit.

Alles war still.

Nichts rührte sich.

Ashs überirdisches, brutales und zornerfülltes Brüllen riss mich aus meiner Ohnmacht. Der Mond. Ich sah den Mond. Ich wandte den Kopf zur Seite.

Kolis kam mit großen Schritten auf uns zu, aus dem ausgefransten Loch in seiner Brust sickerte glänzendes Blut. Äther ließ die Wunde erstrahlen, ergoss sich aus seinen Handflächen und floss durch die Kammer auf uns zu.

Ash kniete auf einem Bein und streckte beide Hände von sich, um sich vor der tödlichen Essenz zu schützen.

»Das hättest du besser bleiben lassen«, sagte Kolis und seufzte verstimmt und auch ein wenig enttäuscht. »Denn ich fürchte, du hast mir gerade den Krieg erklärt.«

2

VOM ÄTHER DURCHZOGENE SCHATTEN FLOSSENaus Ashs Körper und erstickten die goldenen Flammen der Macht, bis diese erloschen. Er warf einen kurzen Blick auf mich, ehe er sich an Kolis wandte. »In dem Moment, in dem du mit unserem Glauben und unseren Grundsätzen gebrochen hast, hast du uns den Krieg erklärt«, erwiderte Ash vor Wut kochend und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

»Du scheinst etwas Wichtiges vergessen zu haben, Neffe.« Äther stieg Funken sprühend aus Kolis’ Fingerspitzen, als der erneut von den Toten auferstandene Wiederkehrer Callum hinter ihn trat. »Denn ich bin dein König.«

»Du bist nicht mein König.« Ein Blitz schoss aus Ash hervor, schlug in die Fliesen ein und traf Callum, der daraufhin zurückgeschleudert wurde. Der Gestank nach verbranntem Fleisch erfüllte die Luft. »Ich könnte behaupten, dass deine Herrschaft über mich in dem Moment verwirkt war, als du meine Gemahlin entführt hast, aber in Wahrheit bist du niemals mein König gewesen.«

Mein Blick fiel auf die Schattensteinschwerter, die den toten und schrecklich zugerichteten Wächtern aus den Händen gefallen waren, und ich ignorierte den Schweiß in meinem Nacken und drehte mich zur Seite. Es kostete mich noch mehr Kraft als zuvor.

»Was für eine gewagte Behauptung.« Kolis trat nach vorne, und Äther peitschte in Ashs Richtung. »Und überraschend zugleich. Ich habe deinen Vater getötet, und du hast mir die Treue geschworen. Ich habe lediglich deine Gemahlin zu mir geholt, doch du hast einen deiner Brüder getötet und mich angegriffen. Aber aus welchem Grund, Nyktos? Etwa wegen der Glut des Lebens, die deine Gemahlin in sich trägt?«

Ich verdrehte die Augen und verlagerte das Gewicht auf meine Handflächen, die auf dem Boden lagen. Das war Ashs Plan gewesen, aber dann hatten wir herausgefunden, welchen Preis wir dafür bezahlen würden, und nun war es das Letzte, was er wollte.

Denn es hätte meinen Tod bedeutet, wenn er die Glut an sich genommen hätte, und er hatte sich für mich entschieden, auch wenn ich praktisch im Sterben lag und es ziemlich unklug war.

Aber gleichzeitig wunderschön.

»Das ist es, nicht wahr? Du wolltest die Glut an dich nehmen und zum Primar des Lebens aufsteigen«, warf Kolis Ash vor. »Du hast versucht, die Glut vor mir zu verbergen. Du wolltest sie vor mir verstecken. Das ist Hochverrat.«

»Hochverrat?« Ash stieß ein tiefes, dunkles Lachen aus, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte. »Du hast meine Mutter und den wahren Primar des Lebens getötet.« Die Schatten wogten um Ashs Beine wie Rauch. »Das soll wohl ein verdammter Scherz sein.«

Kolis erstarrte. »Willst du wissen, was ein Scherz ist? Dass du geglaubt hast, ich hätte keine Ahnung, was du vorhast. Dass ich deine falschen Versprechen und Gelöbnisse nicht durchschaut hätte. Dass du dachtest, ich hätte keine Ahnung, dass du planst, mich zu stürzen und alles an dich zu reißen, was mir gehört.«

Ashs Zorn loderte erneut hoch, und gleichzeitig sank die Temperatur erheblich, während ich begann, langsam in die Richtung der toten Wächter zu robben. »Nichts von alldem gehört dir. Du hast es gestohlen …«

»Von deinem Vater«, unterbrach ihn Kolis, und das Mondlicht spiegelte sich in dem goldenen Ring um seinen Oberarm. »Und du glaubst offenbar, dass sich die Geschichte wiederholen kann, aber da täuschst du dich. Die Glut des Lebens gehört dir nicht.«

»Und meine Gemahlin gehört dir nicht!«, erwiderte Ash brüllend.

Die Luft wurde erneut dünner. Ich hielt mit zitternden Armen inne. Rohe, brutale Gewalt machte sich in der zerstörten Kammer breit und bescherte mir eine Gänsehaut.

»Du glaubst, sie würde dir gehören, bloß weil du sie gekrönt und zu deiner Gemahlin genommen hast?« Kolis lachte, und mein Herz zog sich zusammen. Goldener Äther wirbelte über seine nackte Brust, wo die Wunde, die Ash ihm zugefügt hatte, bereits verheilt war. »Wenn sie das ist, was sie vorgibt zu sein, hattest du kein Recht, sie zu krönen.«

Ich musste auf die Beine kommen und mir eines der Schwerter schnappen, und zwar schnell. Aber in meinem Kopf drehte sich immer noch alles, und meine Beine schienen nicht zu meinem Körper zu gehören. Schuld daran war allerdings nicht der Schlag auf den Kopf – obwohl der sicher auch nicht gerade förderlich gewesen war –, sondern der Blutverlust. Kolis hatte mir zu viel genommen. Ich spürte, wie schwer mein Herz arbeiten musste, um das Blut, das noch in mir verblieben war, durch meinen Körper zu pumpen, und wie schnell es raste. Hätte ich nicht die Glut in mir getragen, wäre ich längst ohnmächtig oder tot gewesen, das wusste ich instinktiv.

Ich stemmte mich auf die Knie hoch. Es war schon seltsam, dass mich das, was mich am Ende unweigerlich töten würde, im Moment am Leben erhielt.

Kolis trat nach vorne, die perfekten Lippen zu einem Lächeln verzogen. »Sie hat niemals dir gehört, Neffe. Sie war immer mein.«

Ashs Zorn war so stark, dass der Atem, den ich ausstieß, in der Kälte eine Wolke bildete. Er sprang durch die Luft auf Kolis zu.

Ich sah Kolis’ höhnisches Grinsen, dann schoss der Äther aus dem Körper des falschen Königs. Er erhob sich, verwandelte sich in seine primare Gestalt und begann so hell zu leuchten, dass es zu schmerzhaft war, ihn anzusehen.

Ash und Kolis krachten über mir gegeneinander, und es war, als würden die Sonne und die Nacht übereinander herfallen. Die vom Äther durchzogenen Schatten und das gleißende goldene Licht wirbelten mit schwindelerregender Geschwindigkeit umeinander, während der Wind mit einem Mal innehielt und die Wolken reglos am Himmel verharrten.

Ich kniff die Augen zusammen und sah immer wieder die beiden Primare im Schatten und im hellen Licht aufblitzen. Goldene Haare, dann wieder rotbraune. Eine schwarze Tunika, weiße Leinenhosen. Ein silberner Reif, ein goldenes Band, das weiß aufblitzte. Fäuste. Nach hinten peitschende Köpfe.

Kolis und Ash prügelten sich.

Im nächsten Moment hielt der wirbelnde Äther um sie inne, und die Luft begann zu vibrieren. Die Glut in meiner Brust summte …

Ein Ätherblitz schoss aus Ash hervor, traf Kolis und trennte die beiden Primare. Doch der falsche König erholte sich rasch und machte sich mit erschreckender Geschwindigkeit wieder über Ash her. Ich stieß einen heiseren, kaum hörbaren Schrei aus, als er gegen Ash prallte. Der Äther knisterte und stob auf, als sie sich erneut erhoben.

Sie kamen als ein einziger verschwommener Umriss auf mich zu. Ich starrte mit aufgerissenen Augen zu ihnen hoch und verstand nicht, was das alles zu bedeuten hatte, bis sie neben mir auf den Fliesenboden krachten und Marmor splitterte.

Erleichterung packte mich, als sich die Essenz um Kolis gerade genug lichtete, um zu sehen, dass Ash sich aufrichtete. Er stieg über seinen Onkel hinweg und spuckte glänzendes Blut auf den Primar hinunter, ehe er die Hand nach Kolis’ Kopf ausstreckte.

Der falsche König schoss hoch, und Ash wurde zurückgeschleudert. Der Wind gewann an Kraft und wehte mir die Haare ins Gesicht. Ein Blitz durchzuckte den Himmel. Ich hob den Blick und richtete ihn gen Westen. Die Draken waren nirgendwo zu sehen.

Mein Herz machte einen Satz, als Ash und Kolis erneut aufeinander einprügelten, umgeben von primarer Energie, in der sich ihre Körper viel zu schnell bewegten. Ich wandte mich wieder zu den Wächtern um. Die Entfernung zwischen ihnen und mir schien unüberwindlich.

Aber ich brauchte ein Schwert. Ich hatte zwar keine Ahnung, was ich tun würde, wenn ich eines hätte, aber ich musste irgendetwas tun.

In diesem Moment legten sich Hände um meine Oberarme. Ich stieß einen Schrei aus, und der Instinkt übernahm das Kommando. Ich versuchte sofort, mich aus dem Griff zu befreien. Mein Geist wusste, was zu tun war, denn ich hatte von den Besten gelernt, aber mein Körper reagierte nicht schnell genug. Ich fühlte mich träge und fahrig und schien mich bloß wie ein sterbender Wurm zu winden.

»Aufhören«, zischte eine Stimme in mein Ohr, die mir nur allzu bekannt vorkam.

Attes.

Ich fuhr wütend herum. »Lass mich … los, du … verdammter … Verräter.«

Attes umfasste meine Arme noch fester und drehte mich, sodass wir einander ansahen.

Er sah nicht gut aus. Blaurotes Blut sickerte aus seiner Nase, den Augen, den Ohren und den Mundwinkeln. Die Narbe, die von seiner Stirn über seine Nase und seine linke Wange verlief, trat überdeutlich hervor.

Verdammt. Dabei hatte Ash ihn gar nicht richtig erwischt.

»Hör mir zu«, schrie er mir über den Wind hinweg zu.

»Fick dich.« Ich trat nach ihm, fiel jedoch zurück, als mein Fuß von seiner Brust abrutschte.

Attes hob die Augenbrauen. »Spar dir deine Kraft, Sera. Und hör mir zu.«

Auf keinen Fall. »Du hast uns … verraten«, presste ich hervor, und der Schwindel packte mich erneut. »Ich habe Thad geholfen, und du hast uns … verraten.«

Die Erde bebte, als Ash und Kolis irgendwo rechts von uns ineinanderkrachten. Fliesen brachen, und Marmorbrocken flogen durch die Luft.

Attes drehte mich fluchend herum und drückte mich an sich, um mich vor den Trümmern abzuschirmen. Ich griff nach seinen Haaren und zog so fest ich konnte daran. Es war hinterhältig, das war mir klar, aber mehr schaffte ich im Moment nicht.

Attes zischte mit aufeinandergebissenen Zähnen und riss den Kopf zurück. Zufrieden betrachtete ich die goldbraunen Haare zwischen meinen Fingern.

»Verdammt noch mal«, knurrte er. »Hör auf …!«

Ich formte die Finger zu Krallen und schlug nach seinem Gesicht.

»Mir ist durchaus klar, was ich getan habe.« Er packte mein Handgelenk, und der Äther prasselte, als Ash und Kolis sich wieder in den Himmel erhoben. »Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden oder Rache zu nehmen.«

Mein Mund klappte auf.

»Kolis wird Ash töten«, fuhr Attes fort, und unsere Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt. »Auch wenn es unabsichtlich sein wird. Nicht, weil er es nicht will, sondern weil er weiß, was passieren wird, wenn er es tut.« Etwas Feuchtes traf meine Wange und schließlich meinen Arm. »Ash ist nicht mächtig genug, um Kolis und seine Draken zu besiegen, die sofort im Anflug sein werden, sobald sie merken, dass sich ihr König in echter Gefahr befindet. Ash wird sterben.«

Ich betrachtete den Primar, der so sorglos in Ashs Arbeitszimmer spaziert war. Er hatte mit mir geflirtet, als er uns Kolis’ Nachricht überbracht hatte, und scherzhaft mit Ash über die Truppen der Schattenwelt diskutiert, die entlang der Grenze zu dem Hof stationiert waren, den er sich mit seinem Bruder Kyn teilte. Ash hatte ihm zwar nicht uneingeschränkt vertraut, aber da war etwas zwischen den beiden gewesen. Nicht unbedingt Freundschaft, aber vielleicht so etwas wie Kameradschaft.

Doch er hatte uns verraten.

Er hatte vermutlich gewusst, dass Kolis mir befehlen würde, den armen Draken zu töten, bloß um ihm danach sofort zu berichten, dass ich Thad zurückgeholt hatte.

Denn genau darauf hatte der falsche König gewartet. Es war das Zeichen, dass die Glut stark genug geworden war, um übertragen zu werden.

Etwas tropfte auf Attes’ Hand. Blut, das rotblau schimmerte.

Das Blut eines Primars.

Ich schnappte überrascht nach Luft.

»Sie müssen damit aufhören«, warnte Attes eindringlich. »Und du bist die Einzige, auf die sie hören werden.«

Da war ich mir nicht so sicher. Kolis schien auf niemanden zu hören, und Ash war über das Stadium, in dem er irgendjemandem zuhörte, längst hinaus. Er war in einem Wirbelsturm der Wut gefangen, der sich jahrhundertelang in ihm aufgebaut hatte. Hier ging es nicht nur um mich. Es ging um seine Mutter, die Kolis getötet hatte, während Ash noch in ihrem Bauch war. Es ging um seinen Vater, dem Kolis das Leben genommen hatte und dessen Seele er noch immer gefangen hielt. Es ging um die Leben, die Ash ausgelöscht hatte, weil Kolis ihn dazu gezwungen hatte, und die er als Zeichen auf seiner Haut trug.

Aber auch wenn Attes ein verdammter Mistkerl war, hatte er recht.

Kolis würde Ash töten.

Und der Tod eines der beiden würde nicht nur die sterbliche Welt zerstören, sondern auch das Iliseeum und jeden Primar. Für immer. Ich war mir nicht sicher, ob die Draken überleben würden. Vielleicht würden am Ende nur noch die Arae – die Schicksalsgeister – übrig bleiben.

Aber das war mir alles egal. Für mich zählte nur Ash. Also musste ich es versuchen. Aber wie? Sie prügelten immer noch aufeinander ein und beschossen sich mit Äther. Das strahlende Licht, das Kolis umgab, war weniger gleißend, sodass es nicht mehr wehtat, ihn anzusehen, doch auch die Schatten um Ash wurden schwächer. Und ich hatte immer noch keine Ahnung, was ich tun würde, wenn ich zu einem der Schwerter gelangte.

Mein Blick huschte zu den Dolchen an Attes’ Hüften, und ich … vielleicht kannte ich einen Weg, Kolis aufzuhalten.

Ich versuchte, mich aufzurichten, doch meine Beine waren wie Gelee. »Hilf mir … aufzustehen.« Meine Wangen glühten vor Scham, was angesichts der Situation mehr als lächerlich war. »Ich … schaffe es nicht.«

Attes zögerte, sein Gesicht wirkte wie versteinert. Es war offensichtlich, dass er mir nicht traute. Und das war auch gut so. Denn wenn ich den heutigen Tag überlebte, würde ich mir viele schreckliche Dinge für diesen Mistkerl einfallen lassen.

Außerdem war es tatsächlich eine Lüge gewesen – zumindest zum Teil. Ich konnte allein aufstehen, aber es hätte mich zu viel Kraft gekostet, und ich tat, was Attes mir geraten hatte: Ich sparte meine Energie.

Es dauerte einen Augenblick, dann nahm er die Hände von meinen Armen, legte sie auf meine Schultern und erhob sich mit mir. »Kannst du stehen?«

Ich spürte kaum den Boden unter den Füßen. »Ja.«

»Gut.« Attes musterte mich und wirkte tatsächlich besorgt. Aber das bildete ich mir vermutlich nur ein. »Also, was hast du …?«

Ich bewegte mich so schnell es ging, was nicht sonderlich schnell war. Es war ein Wunder, dass ich einen der Dolche an seiner Hüfte packen konnte, ehe er mich davon abhielt. Aber damit hatte er offenbar nicht gerechnet.

»Willst du mich verarschen, verdammt?«, rief Attes und beäugte den Dolch, den ich ihm abgenommen hatte. »Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt?«

»Beruhige dich.« Ich nahm einen flachen Atemzug, der sich einigermaßen seltsam in meiner Brust anfühlte. So, als wäre er gar nicht bis in meinen Körper gelangt. »Du bist … den Aufwand nicht wert.«

Überrascht sah er mich an. Diese Antwort hatte er nicht erwartet.

Ich drehte mich schwerfällig zu den beiden Primaren um, die ganz in der Nähe gelandet waren. Sie umfassten gegenseitig ihre Kehlen, und Äther strömte aus ihren Fingern.

Ich trat einen Schritt nach vorne und schrie: »Aufhören!«

Sie hörten mich nicht, und falls doch, achteten sie nicht weiter auf mich. Ihre Adern leuchteten von innen heraus, und hätten sie nicht gerade versucht, einander umzubringen, wäre es ein seltsam schöner Anblick gewesen.

Wobei dieser Gedanke vielleicht darauf zurückzuführen war, dass viel zu wenig Blut in mein Gehirn gelangte.

Panik packte mich, als ich erneut schrie. Und dann noch einmal.

Ich geriet ins Schwanken, doch Attes, der verräterische Mistkerl, hielt mich fest. Mein Herz schlug mittlerweile langsamer, was vermutlich kein gutes Zeichen war. Vor allem, weil es am Rande meines Blickfeldes immer dunkler wurde. Ich fragte mich, wie eine Sterbliche zwei primare Götter dazu bringen sollte …

Aber ich war keine Sterbliche, nicht wahr?

Nicht mehr.

Die Glut des Lebens hatte das geändert. Die Glut der primaren Essenz.

Mein Hinterkopf kribbelte, und meine Gedanken rasten. Die Macht der Glut war an extreme Gefühle geknüpft, wie bei einem Gott oder Primar, der sich seinem Aufstieg näherte. Ash hatte versucht, sie bewusst zu entfachen, aber es hatte nicht wirklich funktioniert.

Doch als ich jetzt so dastand und das Gefühl hatte, nicht mehr wirklich in meinem Körper zu existieren, wusste ich plötzlich, warum die Glut damals nicht erwacht war.

Ich trug sie seit meiner Geburt in mir, aber ich hatte sie nie als Teil von mir angesehen. Ich war lediglich das Gefäß gewesen, in dem die Glut aufbewahrt und versteckt werden konnte. Genau das hatte Eythos, Ashs Vater, beabsichtigt.

Aber das war nicht mehr der Fall. Die Glut war ein Teil von mir. Und sie gehörte – zumindest in diesem Augenblick – mir allein.

Ich hatte es bis jetzt nur nicht verstanden. Hatte nicht daran geglaubt.

Ich nahm einen langen, tiefen Atemzug und konzentrierte mich auf das Pulsieren in meiner Brust. Die Glut erwachte, als ich den Äther heraufbeschwor und darin versank.

»Gute Götter«, flüsterte Attes.

Was als Nächstes passierte, geschah einfach wie damals, als Rhain mir von dem Pakt erzählt hatte, den Ash mit Veses eingegangen war. Bloß, dass ich dieses Mal bewusst spürte, wie die Essenz an die Oberfläche stieg. Ich hatte sie unter Kontrolle, ohne darüber nachzudenken, wie es funktionierte. Es war ein uralter, primarer Instinkt.

Die primare Essenz sickerte heiß und samtig in meine Adern, und als ich sprach, spürte ich die Macht in meiner Stimme. »Aufhören.«

Mir wurde erst klar, was ich gerade getan hatte, als Ash und Kolis innehielten.

Ich hatte den beiden mächtigsten Primaren dieser Welt meinen Willen aufgezwungen.

»Gute Götter«, flüsterte Attes erneut mit heiserer Stimme und ganz offensichtlich schockiert. Ash und Kolis wandten die Köpfe in meine Richtung.

Ich war genauso überrascht wie Attes. Ich hatte nicht erwartet, dass so etwas passieren würde, aber ich drängte das Staunen zurück, denn ich spürte bereits, wie die Glut schwächer wurde. Sie war zwar ein Teil von mir, aber der Tod rückte immer näher, und wenn ich starb, starb sie mit mir. Ich musste mich beeilen. Ich trat nach vorne und tat das Einzige, was mir in den Sinn kam.

Ich bedeutete Ash sehr viel. Wäre er dazu fähig gewesen, hätte er mich geliebt. Das hatte er mehr oder weniger selbst gesagt, nachdem wir mit Delfai, dem Gott der Weissagung, gesprochen hatten. Aber er hatte seine Kardia entfernen lassen, jenen Teil der Seele, der einem Lebewesen ermöglichte, einen anderen unumstößlich zu lieben und alles für diese Person zu tun. Die Göttin Penellaphe hatte mir erklärt, dass es unglaublich schmerzhaft gewesen sein musste. Für mich war es hauptsächlich tragisch, denn er hatte es getan, um sich selbst und diejenige, die er vielleicht lieben würde, vor seinem Onkel zu beschützen.

Kolis war ein bösartiger, kranker Mistkerl, und meiner Meinung nach war das, was er für Sotoria empfand, keine Liebe. Eher eine Besessenheit. Allerdings hatte er seine Kardia noch und glaubte, Sotoria zu lieben. Er hätte alles für sie getan.

Und er dachte, ich wäre sie.

Mein Herz setzte einen Moment lang aus, als ich den Dolch an meine Kehle hob.

»Verdammte Scheiße«, keuchte Attes mit leiser Stimme hinter mir. »So hatte ich das aber nicht gemeint.«

»Hört auf zu kämpfen«, befahl ich mit fester Stimme und ignorierte den Primar des Krieges und der Übereinkunft. »Für mich. Bitte.«

Ich sah Kolis in die Augen und sprach direkt zu ihm, doch Ash reagierte zuerst.

Die schwächer werdenden Schatten, die ihn umgaben, verschwanden. Blut sickerte aus seinem offen stehenden Mund und seiner Nase. Sein Kinn schwoll bereits an, und seine Tunika wies mehrere Brandlöcher auf, unter denen verbranntes Fleisch hervorblitzte. Doch es waren seine Augen, die meinem Herzen einen Stich versetzten. Sie waren weit aufgerissen und ausdruckslos, der Äther darin starr und reglos.

Kolis reagierte langsamer, das goldene Licht verblasste gerade genug, um sein Gesicht zu erkennen. Er hatte weniger abbekommen, doch auch seine Brust war verbrannt, und er blutete an mehreren Stellen.

»Sera«, krächzte Ash und hob die Hände. »Was machst du da?«

Ich schluckte. Mein Magen zog sich vor Angst zusammen, doch meine Hand war vollkommen ruhig. »Hört auf zu kämpfen, sonst schneide ich mir die Kehle durch.«

Kolis sah mich an. »Nein, das wirst du nicht.«

Ich drückte die Klinge an meinen Hals, bis ich einen brennenden Schmerz spürte. Im nächsten Moment machte Ash … bei den Göttern, er schien keinerlei Kontrolle über sich zu haben, denn er taumelte einen Schritt zurück.

»Doch«, sagte ich und behielt den Blick auf die Brustkörbe der beiden gerichtet. Ich wollte nicht, dass sie mir ihren Willen aufzwangen, wenn ich ihnen in die Augen sah. »Ich werde es tun. Und wenn ich auch nur den leisesten Verdacht habe, dass einer von euch versucht, mir seinen Willen aufzuzwingen, mache ich es ebenfalls.«

»Sera«, wiederholte Ash. »Leg den Dolch weg.« Er machte einen Schritt auf mich zu und schien Kolis vollkommen vergessen zu haben. Seine verbrannte Brust hob und senkte sich ruckartig. »Bitte.«

Ich zog die Luft ein, und meine Hand begann zu zittern. »Ich werde …« Ich keuchte auf, als ich einen brennenden Schmerz an meiner Kehle spürte. Jemand hatte mir den Dolch aus der Hand gerissen.

Ash schrie auf, und die Angst in diesem Schrei war beinahe greifbar. Mir war sofort klar, dass ich einen schrecklichen Fehler gemacht hatte.

Oh Götter.

Ich hatte unterschätzt, was sie tun oder nicht tun würden.

Ich hatte gedacht, ich könnte Kolis ablenken. Weil er verletzlich war, wenn es um seine Liebe zu – und seine Besessenheit von – Sotoria ging.

Aber Ash war genauso abgelenkt gewesen.

Und der Dolch, den ich an meiner Kehle hatte, befand sich nun in Kolis’ Hand.

Der falsche König der Götter war so verdammt schnell. Er fuhr herum und rammte den Dolch in Ashs Brust.

Direkt ins Herz.

3

ASH WURDE ZURÜCKGERISSEN, UND ENTSETZENpackte mich.

Die Klinge war zwar nur aus Schattenstein und hatte prinzipiell kaum Auswirkungen auf ein Wesen, das so mächtig war wie ein Primar, aber Ash hatte zahlreiche Verletzungen erlitten, die ihn mit Sicherheit geschwächt hatten.

Er schaffte es gerade noch, sich auf den Beinen zu halten, und streckte die Hand nach dem Griff des Dolches aus, während er nach vorne stolperte. Seine weit aufgerissenen Augen waren auf mich und das Blut gerichtet, das warm und feucht aus der Wunde an meinem Hals sickerte. Im nächsten Moment sank er auf die Knie.

Oh Götter.

»Lauf!«, presste er keuchend hervor, kippte nach vorne und konnte sich nur noch mit einer Hand abfangen.

Ein schrilles, angsterfülltes Kreischen zerriss mir beinahe das Trommelfell.

Ein Schrei.

Mein Schrei.

Die Glut in mir erzitterte und schwoll an, fiel jedoch kurz darauf zusammen. Der Druck auf meiner Brust und in meinem Kopf wurde unerträglich. Ich wollte zu Ash, doch ich schaffte es nicht. Meine Beine gaben unter mir nach, und ich knallte auf den aufgesprungenen Boden. Sterne tanzten vor meinen Augen.

Kolis packte Ash knurrend an den Haaren und riss ihn zurück. Das Messer steckte immer noch in seiner Brust.

»Ich habe Nachsicht mit dir gezeigt.«

»Aufhören«, keuchte ich, und meine Finger krallten sich in den Boden, während ich auf dem Bauch nach vorne robbte.

Kolis schleuderte Ash auf den Rücken. »Aber du hast es nicht gewürdigt.«

Ich stemmte mich zitternd auf die Knie hoch. »Bitte«, presste ich hervor, während Blut auf den Boden vor mir tropfte. »Aufhören.« Meine Kehle krampfte, und ich brachte kein Wort mehr heraus.

»Dabei solltest gerade du es besser wissen.« Kolis zog das Bein an und trat mit voller Kraft auf den Griff des Dolches.

Ashs Körper bäumte sich auf.

Eine Hand legte sich über meinen Mund und erstickte den Schrei, der in mir hochstieg.

»Hör mir zu«, zischte Attes. »Ash ist noch am Leben. Eine Klinge aus Schattenstein kann ihn nicht töten. Der Kampf mit Kolis hat ihn lediglich geschwächt. Aber wenn du weiter so herumschreist, wird Kolis seinem Leben mit Sicherheit ein Ende setzen.«

Kolis trat erneut auf den Dolch, und ich hätte schwören können, dass ich den Schmerz in meiner eigenen Brust spürte. Ich zitterte am ganzen Körper.

Die Welt um mich drehte sich und wurde immer schneller. Die zerstörte Kammer. Attes’ Worte. Was ich vor mir sah.

Ich wehrte mich gegen den Griff des Primars des Krieges und der Übereinkunft. Ich musste zu Ash. Kolis … oh Götter, er zog den Dolch aus Ashs Brust und rammte ihn erneut in sein Fleisch. Ein brennender Schmerz durchfuhr mich. Mein Körper erschlaffte. Ich blieb regungslos liegen.

Attes fluchte leise und drehte mich in seinen Armen herum. »Sera?« In seinen Augen tanzte der Äther. »Sera?«

Mein Mund stand offen, doch es gelangte kaum noch Luft in meine Lunge, und ich hörte ein schreckliches feuchtes Klopfen. Ich versuchte zu atmen und meinen Kopf in Ashs Richtung zu drehen, doch ich sah lediglich Kolis’ Arm, der in einem fort auf und nieder fuhr. Auf und nieder. Auf und nieder. Der blutige Dolch glänzte im Mondlicht.

Ich schrie, obwohl kein Laut über meine Lippen kam. Ich schrie und schrie, während mein Körper zitterte und bebte.

»Scheiße!« Attes’ Kopf fuhr hoch. »Kolis! Sie braucht Eure Hilfe!«, rief er, und seine Haut wurde dünner. »Verdammt noch mal, hört mir zu! Sotoria könnte jeden Moment sterben.«

Klopf. Klopf. Klopf.

»Wenn Ihr das zulasst, werdet Ihr sie erneut verlieren. Hört Ihr mich?« Attes schloss die Augen, und ich sah die Panik in seinem Gesicht. Wobei ich nicht sicher war, ob es wirklich das war, was ich sah. Mein Blick war verschwommen. »Ihr werdet Eure Graeca verlieren.«

Das schreckliche Klopfen verstummte.

»Nein«, krächzte Kolis. »Nein.«

Ein kaum wahrnehmbarer Geruch nach Vanille und verblühtem Flieder umfing mich, und im nächsten Augenblick lag ich nicht mehr in Attes’ Armen, sondern in Kolis’. Er erhob sich mit mir, und mein Kopf sackte nach hinten. »Steck ihn in eine Zelle«, befahl er. »Ich kümmere mich später um ihn.«

Falls er noch mehr sagte, hörte ich es nicht. Ein Windstoß umfing uns, und ich spürte die warme Nachtluft auf der Haut.

Ich bemühte mich, die Augen zu öffnen, doch sie reagierten nicht auf meine Befehle. Die Dunkelheit umfing und erstickte mich. Mein Atem ging keuchend und flach, mein Herz raste und geriet dabei immer wieder aus dem Rhythmus. Die Zeit verging schneller und gleichzeitig zu langsam, und ich existierte nur noch in den zu langen Pausen zwischen meinen Herzschlägen und dem unaufhörlichen Donnern des Windes.

Ich wollte nicht sterben.

Nicht so.

Nicht allein. In der Dunkelheit. Mit diesem Ungeheuer.

Ich wollte bei Ash sein. Ich wollte an meinem See in seinen Armen liegen, wie er es mir versprochen hatte, wenn der Zeitpunkt schließlich gekommen war.

Das hier war nicht richtig.

Es ist nicht gerecht, flüsterte Sotoria, und ihre Gedanken vermischten sich einen Moment lang mit meinen.

Die Glut des Lebens begann heftig zu vibrieren, und die Panik glich einem wilden Tier in einem Käfig, das verzweifelt entkommen wollte, obwohl es keinen Ausweg gab.

Der Tod war unausweichlich.

Ich spürte, dass wir innegehalten hatten und nicht mehr durch den Schatten traten. Eine Hand presste sich auf meine Brust, und mein Atem und mein Herz verstummten, als ein seltsam stechendes Gefühl von mir Besitz ergriff.

Dann war da nichts mehr.

Ash.

Er war das Erste, woran ich dachte, als ich wieder zu mir kam. Der Kampf zwischen ihm und Kolis. Das Messer in seiner Brust. Das Auf und Ab, während es immer wieder in seinem Körper versank.

Ich öffnete mühevoll die Augen. Sterne funkelten am Himmel über mir, und ich atmete hektisch die salzige, feuchte Luft ein, die jedoch kaum etwas gegen die Enge in meiner Brust ausrichten konnte. Das Summen in meinen Ohren verschwand, und ich hörte Stimmen aus allen Richtungen.

Ein Flüstern folgte uns, und ich glaubte, Leute zu sehen, die auf die Knie sanken. Funkelnde Lichter in Sandsteingebäuden und größeren Bauten in der Ferne. Vielleicht bildete ich es mir aber auch bloß ein. Ich wusste lediglich mit Sicherheit, dass ich immer noch getragen wurde, während ich verzweifelt nach Luft rang.

Ash.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich war oder wo man mich hingebracht hatte. Ich glaubte mich zu erinnern, dass jemand von einer Zelle gesprochen hatte. Und davor hatte ich dieses feuchte, fleischige Klopfen gehört. Das Aufblitzen des blutverschmierten Dolches gesehen.

Oh Götter.

Die Ränder meines Blickfeldes wurden weiß. Ich bekam keine Luft mehr …

»Beruhige dich«, befahl eine Stimme voll bitterer Wärme und eiskaltem Sonnenschein.

Überrascht hob ich den Blick und sah in silberne, von goldenen Sprenkeln durchzogene Augen. Kolis starrte mich an, und unter der Haut auf seinen Wangen tanzten goldene Wirbel. Ein Schaudern durchlief mich.

»Du wirst es überleben«, erklärte Kolis. »Wenn du tatsächlich die bist, für die du dich ausgibst.«

Seine Worte trugen nicht dazu bei, dass mir das Atmen leichter fiel. Meine Lunge zog sich mit jeder Sekunde weiter zusammen. Mein Herz schlug nicht mehr träge, es raste und setzte immer wieder aus. Ein weißes, statisches Rauschen breitete sich am Rand meines Blickfeldes aus, und ich versuchte krampfhaft, mich daran zu erinnern, was Holland mir beigebracht hatte. Was Ash mir gezeigt hatte. Einatmen. Luft anhalten …

Der Boden unter uns bewegte sich, die Erde verwandelte sich in Sand. Kolis wurde langsamer und verlagerte mein Gewicht in seinen Armen. Ich hörte ein rhythmisches Rauschen, das sanfte Auf und Ab der Wellen, die an Land schwappten. Mein Kopf rutschte zur Seite, und ich sah den goldenen Ring um Kolis’ Oberarm. Einen Moment lang vergaß ich, dass ich keine Luft mehr bekam, so gebannt war ich vom Mondlicht, das sich in dem weiten, mitternachtsschwarzen Meer vor uns spiegelte.

Kolis stand am Rand eines perlenweißen Strandes, doch das Wasser wurde nicht nach und nach tiefer, wie es an den Stränden am Stroud-Meer der Fall war. Wir befanden uns an einem tiefen Abgrund, der Meeresboden blieb verborgen. Aber etwas bewegte sich dort im Wasser …

Sie schwammen Kreise, über- und untereinander, und es waren Dutzende, vielleicht sogar Hunderte. Ihre kräftigen Arme und die schlanken, nackten Körper waren zur Hälfte von Haut und zur Hälfte von Schuppen bedeckt. Die Schwänze der uns am nächsten schwimmenden Gestalten leuchteten im Mondlicht in strahlendem Blau, Pink, Grün und Gelb.

Bei den Göttern, das mussten Ceeren sein.

»Phanos!«, donnerte Kolis.

Ich zuckte zusammen, während die Ceeren auseinanderstoben und in tiefere Gewässer abtauchten. Ihre überstürzte Flucht ließ das ruhige Wasser wogen. Wellen mit weißen Schaumkronen bewegten sich über die Oberfläche, und eine Gestalt tauchte zwischen den Ceeren auf.

Der Körper eines Mannes stieg in wellenförmigen Bewegungen nach oben, angetrieben von einer gewaltigen Schwanzflosse.

Als er näher kam, schoss ein silberner Blitz aus seiner Hand und bildete einen Speer mit drei Zacken.

Ein Dreizack aus Äther.

Wasser stob in alle Richtungen, als Phanos, der primare Gott des Himmels und der Meere, aus den Tiefen stieg, und der Dreizack spie Funken, die an der warmen dunkelbraunen Haut an seinen Schultern und der breiten Brust erloschen. Sein Schwanz blieb unter Wasser und sorgte mittels wellenförmiger Bewegungen dafür, dass er aufrecht im Wasser stand. Die anderen Ceeren hatten sich so weit beruhigt, dass ich auch die kleineren Gestalten weiter unten erkennen konnte. Es waren Kinder, die hin und her schossen und immer wieder kurz nach oben kamen, ehe sie sich erneut hinter den Erwachsenen versteckten.

Phanos musterte Kolis, bevor sein Blick auf mich fiel. Das vom Mondlicht beschienene, attraktive Gesicht wurde hart. Er neigte den Kopf. »Eure Hoheit.«

Kolis ging mit mir in den Armen in die Knie. Meine Unterschenkel berührten den warmen, rauen Sand. Er ließ mich jedoch nicht los, sondern richtete mich lediglich auf und presste meinen Oberkörper gegen seine Brust. »Ich brauche deine Hilfe. Sie hat zu viel Blut verloren.«

Phanos betrachtete mich, und sein Blick blieb an meinem Hals hängen. »Sagt mir, wenn ich mich irre, aber ist das nicht Nyktos’ Gemahlin?«

»Ja«, keuchte ich. Zumindest glaubte ich es. Ich war mir nicht sicher. Meine Zunge war schwer wie Blei und zu nichts zu gebrauchen.

»Das tut hier nichts zur Sache«, erwiderte Kolis.

»Eurer Meinung nach vielleicht nicht. Aber ich habe gespürt, dass einer unserer Brüder von uns gegangen ist und sich eine neue … Schwester erhoben hat. Wir haben es alle gespürt.« Phanos’ Blick glitt an mir vorbei, und ich hörte Schritte, die sich langsam entfernten. Dann wandte er sich wieder an Kolis. »War sie der Grund dafür?«

»Du stellst zu viele Fragen«, knurrte Kolis, und seine sanfte Stimme wurde härter. »Und ich habe nicht die Geduld, sie zu beantworten.«

»Bitte entschuldigt, mein König.« Phanos neigte erneut den Kopf. »Aber ich will keine Schwierigkeiten mit Nyktos bekommen.«

»Mein Neffe ist derzeit keine Gefahr. Für niemanden«, erklärte Kolis, und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Außerdem sollte es dir mehr Sorgen bereiten, meinen Zorn auf dich zu ziehen als Nyktos’«, warnte Kolis mit kalter Verbitterung in der Stimme, während von Gold durchsetzter Äther aus seinen Poren sickerte. Ich zuckte zusammen, als seine Essenz über meine Haut glitt, bevor sie sich über den Sand ausbreitete. »Oder soll ich dein Gedächtnis auffrischen?«

Phanos beäugte die Ätherranken, die kurz vor dem Wasser innehielten und sich wie Schlangen erhoben, die jeden Moment zuschlagen konnten. Ihr Anblick ließ mich erschaudern. Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn der Äther ins Wasser glitt, aber ich vermutete, dass es schreckliche Auswirkungen haben würde.

Phanos’ Nasenflügel bebten, und der Dreizack fiel in sich zusammen und verschwand. »Nein, das müsst Ihr nicht.«

»Gut.« Kolis’ Stimme klang wieder warm, beinahe sanft. Dass sich seine Stimmungen derart schnell ändern konnten, machte mir Angst. »Sie darf nicht sterben. Ihr müsst sicherstellen, dass das nicht passiert.«

Verwirrung packte mich. Ich hatte viel Blut verloren und machte mir schreckliche Sorgen um Ash, sodass mein benebeltes Gehirn nicht immer allem folgen konnte und vieles hinter einem Schleier verborgen blieb, aber selbst in diesem Zustand fragte ich mich, wie Phanos dabei helfen sollte, mich am Leben zu erhalten.

»Wenn Ihr nicht wollt, dass sie stirbt, warum macht Ihr nicht dasselbe wie bei den anderen?«, wollte Phanos wissen. »Wieso macht Ihr sie nicht zu einem Eurer Wiederkehrer? Sie ist eine Gottheit, nicht wahr? Das sollte doch kein Problem sein, oder?«

Ich war keine Gottheit – ich stammte nicht von einem Gott und einer Sterblichen ab –, aber für die Götter und Primare fühlte es sich aufgrund der Glut in mir so an.

Auf jeden Fall wusste Phanos offensichtlich über die Wiederkehrer Bescheid. Vielleicht taten das alle Primare – alle, außer Ash. Von der Glut des Lebens hatte Phanos jedoch keine Ahnung.

Wobei ich nicht wusste, ob mir diese Erkenntnis einen Vorteil brachte. Ich hatte mir noch keine Gedanken darüber gemacht, dass Kolis mich womöglich in eine Wiederkehrerin verwandeln könnte. War er dazu überhaupt in der Lage? Und was würde dann …?

»Wiederkehrer sind wiederauferstandene Tote«, antwortete Kolis, und die Wärme verschwand erneut aus seiner Stimme. »Und ich will nicht riskieren, dass ihre Seele im Verlauf der Wiedergeburt verloren geht.«

Im nächsten Moment passierten zwei Dinge gleichzeitig. Erstens wurde mir klar, dass ein Wiederkehrer erst sterben musste, um anschließend wiederaufzuerstehen, und zweitens erkannte Phanos den wahren Grund, warum Kolis zu ihm gekommen war.

»Ist sie das?«, hauchte er. »Ist sie Eure Graeca?«

Wut flammte in mir auf und vertrieb einen Moment lang die Kälte, die von jeder Zelle meines Körpers Besitz ergriffen hatte. Die Worte brannten auf meiner Zunge, und ich hätte alles dafür gegeben, sie aussprechen zu können. Ich war nicht Kolis’ Graeca. Und Sotoria ebenso wenig. Wir waren nicht sein Besitz. Ich wollte meine Lippen dazu zwingen, sich zu bewegen, wie ich es vorhin getan hatte, als ich Ash und Kolis angebrüllt hatte, aber die Glut in mir rührte sich kaum noch, und so stieß ich nur ein leises Wimmern aus.

»Sie … ich glaube schon.« Kolis’ Finger gruben sich in meinen Arm und meine Hüfte. »Ich halte ihre Seele in ihrem Körper gefangen, aber ich bin mir nicht sicher …« Er brach ab, dann gestand er flüsternd: »Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich es noch schaffe.«