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Ein rasantes Fantasy-Abenteuer! Magische Vögel, mächtige Meeresstrudel und ein Geheimnis, das alles verändert: Jedes Jahr kommen sagenumwobene Feuervögel an der Insel vorbei, auf der Ember mit ihrem Vater lebt. Das Besondere: Die goldenen Schwanzfedern der Tiere können Herzenswünsche erfüllen. Eines Tages schließt sich Embers Pa den Flammenstürmern an, um den Vögeln hinterherzusegeln. Ember ist wütend und ratlos. Was hat er bloß für einen Herzenswunsch? Als Embers Pa auch nach einem Jahr nicht zurückgekehrt ist und sie einen kleinen, schwachen Feuervogel namens Hope findet, sieht sie ihre Chance: Wenn sie das Vögelchen retten kann, indem sie es in seine Heimat begleitet, führt es sie danach vielleicht zu ihrem Vater. Mit Hope und zwei neuen Freunden begibt sie sich auf eine gefährliche Reise quer über den Ozean. Die Zeit drängt, und Ember ahnt noch nicht, wie sehr … Macht euch bereit, für einen abenteuerlichen Wettlauf gegen die Zeit! »Eine Geschichte über Freundschaft, Abenteuer und majestätische Kreaturen. Diese Worte glühen vor Magie!« Gill Lewis, Kinderbuchautorin
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Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2025
Julie Pike
Aus dem Englischen von Katharina Herzberger
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Flame Chasers bei Firefly Press, Cardiff, UK.
Deutsche Erstausgabe
© Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2025
Alle Rechte vorbehalten.
Der Verlag untersagt ohne ausdrückliche schriftliche
Zustimmung die Nutzung dieses Werkes im Sinne
des §44b UrhG für das Text- und Data-Mining.
© Text: Julie Pike 2024
Übersetzung: aus dem Englischen von Katharina Herzberger
Coverillustration: David Dean
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Alle Rechte vorbehalten. Der Verlag untersagt ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung die Nutzung dieses Werkes im Sinne des §44b UrhG für das Text- und Data-Mining.
ISBN978-3-03967-056-7
www.WooW-Books.de
www.instagram.com/woowbooks_verlag
Hoffnung ist ein Ding mit Federn,
das mir im Herzen springt.
Sie singt ein Lied, befeuert mich,
ist mir auf immer zugestimmt.
Für Celyn, Trystan und Osian,
deren Augen vor Magie und Abenteuer strahlen.
Als Ember an Deck des Schiffs Frohes Herz stand, durchfuhr sie ein Schauer der Aufregung. Eine kühle Brise blies ihr den Geschmack von salzigem Seetang entgegen. Embers Blick wanderte über die Vorratstruhen und Wasserfässer, die sie mit Pa an Bord gehievt hatte. Doppelt so viele wie sonst, bei ihren üblichen Segeltouren. Schließlich hatte er ihr eine verfrühte Geburtstagsüberraschung versprochen. Seit Jahren bat sie darum, ihn auf Flammenjagd begleiten zu dürfen. Sollte ihr Herzenswunsch jetzt endlich in Erfüllung gehen?
Im Licht des hellen Wintermonds waren die Schaulustigen an der Kaimauer eingetroffen, um sich gute Plätze zu sichern. Manche standen, aber die meisten kuschelten sich dicht an dicht unter ihre Decken und ließen die Beine über dem Wasser baumeln. Blickte man über die Dampfwölkchen ihrer Atemzüge und ans Ende der Halbinsel, sah man den purpurgoldenen Lichtschimmer, der vom steinigen Rastplatz der Flammenvögel aufstieg. Wie Polarlichter schwebte er durch die Nacht. Ein Funken Hoffnung für alle Flammenstürmer in der Bucht, die sich nach einem Wunsch sehnten.
Nach einem langen Flug in Richtung Westen, über karges Ödland und verschneite Gebirge, waren die Flammenvögel gestern nach Leuchtfeuerstedt zurückgekehrt. Bald würden sie ihre Heimreise fortsetzen und aus den Steinklippen aufsteigen wie schillerndes Feuerwerk.
Mit einem Blech Zimtschnecken in der Hand bahnte sich Ember ihren Weg durch die herabhängenden Decklaternen zur Kombüse. Allein die Vorstellung, mit den Flammenvögeln durch den Sternenhimmel zu fliegen, ließ sie vor Glück aufseufzen. Ohne Wunsch wäre das natürlich unmöglich, aber es würde trotzdem ein wunderschönes Erlebnis sein, die magischen, wunschgewährenden Schwanzfedern über die Meere zu verfolgen. Und vielleicht, falls Pa und sie die Vögel bis in ihre Heimat begleiteten, würde sie eine Schwanzfeder finden und könnte sich ihre eigenen flammenden Flügel wünschen.
Ember stellte das Blech in der Kombüse ab und kehrte wieder auf das windige Deck zurück. Sie zog sich die Wollmütze tief über ihre roten Locken. Die Flammenjagd hatte Pa bisher immer abgelehnt. Niemand hatte es jemals geschafft, den Flammenvögeln bis in ihre Heimat zu folgen, denn ihre Flügelschläge waren zu schnell und die Westlichen Meere zu stürmisch. Ember zuckte bloß mit den Schultern. Nur weil es noch niemand geschafft hatte, bedeutete das doch nicht, dass es unmöglich war.
Fußstapfen polterten die Leiter aus dem Frachtraum hoch. Pas dunkle Locken erschienen in der Luke, bevor er zu ihr aufs Deck kletterte. »Wie sieht’s aus? Fliegen sie bald?« Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er die Holzrampe hinab zur Kaimauer.
Ember blickte über die Köpfe der Schaulustigen zum Rastplatz der Flammenvögel. Das schimmernde Leuchten wirbelte noch schneller. Sie klatschte in die Hände. »Nicht mehr lange, bald fliegen sie nach Hause.«
»Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit«, murmelte Pa und wuchtete sich eine weitere klobige Truhe auf den Rücken. Vornübergebeugt stapfte er über die Rampe, dann eilte er die Leiter in den Frachtraum hinab.
Bei seinem Anblick schüttelte Ember den Kopf, auch wenn ein Lächeln ihre Mundwinkel kitzelte. Zwar hatte Pa nicht ausdrücklich gesagt, sie würden auf Flammenjagd gehen, aber diese ganze Hektik bewies doch eindeutig, dass sie jagen würden, anstatt gemütlich die Küste entlangzusegeln wie sonst.
Sie kletterte auf ein Fass und blickte auf das Gewimmel in der Bucht, wo sich Boote aller Größen tummelten. Neben den üblichen Schiffen aus Leuchtfeuerstedt waren viele Neuankömmlinge dabei, die erst in der letzten Woche eingetroffen waren, um sich der Jagd anzuschließen. Ihre Masten drängten sich aneinander, während sie gemeinsam auf das Erscheinen der Flammenvögel warteten.
Weiter entfernt rollten hohe, weiß schäumende Wellen in die ruhige Bucht. Flaches, magisches Wasser, das sich die Bürgermeisterin vor fünfzig Jahren gewünscht hatte. Ember schlang die Arme um sich und dachte an die Geschichte dieser tapferen Dame, die auf der Kaimauer einem wütenden Sturm getrotzt hatte. Mit der Schwanzfeder eines Flammenvogels in der erhobenen Hand hatte sie ihren Herzenswunsch, eine Bitte um Frieden, in die Böen geschrien. Da funkte und krachte die Feder, während sich das wogende Meer beruhigte und der Sturm vom Ufer abließ, bis die Wasseroberfläche nur mehr so flach war wie ein Teich. Bei diesem Wunsch war viel Magie übergeblieben und nun war sie überall, beruhigte alles und jeden, trennte sogar Streithähne voneinander. Es schien niemandem etwas auszumachen, solange sie die Meeresstürme fernhielt.
Langsam war es an der Zeit. Sie mussten ihre restlichen Vorräte einladen. Ember sprang vom Fass und spähte über die Heckreling. Nur ihre beiden prall gefüllten Segeltaschen standen noch auf der Hafenmauer. Sie lief die Rampe hinab und versuchte, Pas Tasche anzuheben. Puh! Er hatte wirklich viele Klamotten eingepackt. Er plante wohl, ewig unterwegs zu sein. Hätte sie selbst doch nur mehr eingepackt. Mit ihrem ganzen Gewicht stemmte sie sich gegen die Tasche, um sie die Rampe hinaufzubefördern.
Da fasste Pa sie an der Schulter, ein ernster Blick lag auf seinem schweißüberströmten Gesicht. »Bevor die Flammenvögel losfliegen, will ich dir noch dein Geburtstagsgeschenk geben. Zu früh, wie versprochen. Warte kurz hier.«
Ember nickte, während Aufregung in ihr hochsprudelte. Sie hielt sie zurück, wollte ihm bloß nicht zeigen, dass sie schon ahnte, was gleich kommen würde.
Pa trug seine Tasche an Deck, ehe er wieder die Rampe hinablief. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich kenne deinen Herzenswunsch. Du willst mit den Flammenvögeln fliegen, das weiß ich.« Er strich sich über die alte Narbe auf seiner Handfläche, sein Blick wanderte in weite Ferne. »Aber manche Wünsche gehen nicht in Erfüllung, sosehr wir es uns auch erhoffen.«
Ember biss sich auf die Lippe. Das behauptete er schon, solange sie denken konnte. Aber sie glaubte ihm nicht. Wenn man etwas nur genug wollte, ließ es sich immer irgendwie möglich machen.
»Ist alles in Ordnung, Pa?« Sie sah ihn nicht gern traurig. Vor allem nicht heute.
Er schüttelte seine Traurigkeit ab. »Was ich damit sagen will – deinen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen, aber das Nächstbeste.«
Jetzt ist es so weit, dachte Ember und versuchte, nicht vor Aufregung zu zappeln.
Nervös blickte Pa zum Versteck der Vögel, dann nahm er eine kleine Samtschatulle aus der Tasche seiner Segelhose. »Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz.« Er reichte ihr die Schatulle. »Möge es dir deinen Herzenswunsch erfüllen.«
Ember blinzelte. Das hatte sie nicht erwartet. Vielleicht war es ein Kompass oder irgendetwas Praktisches, um ihren Kurs zu bestimmen? Sie öffnete den Deckel. Gold, Rubine und Amethysten glitzerten im Laternenlicht. Ember rang nach Luft. In der Schatulle lag ein Anhänger: ein Vogel mit einem goldenen Schnabel und langen, feurigen Schwanzfedern. Er flog mit weit aufgespannten, rubinroten Flügeln.
»Ein Flammenvogel«, hauchte sie. »Er ist wunderschön.« Einem echten war sie noch nie so nahe gekommen. Das war niemand. Sahen sie wirklich so aus? Sie sehnte sich danach, es herauszufinden.
»Ich weiß, du liebst sie und willst ihnen immer nahe sein, nicht nur einmal im Jahr.« Er nahm den Anhänger und legte ihr die Goldkette um den Hals. »Jetzt kannst du das.«
Der Anhänger lag schwer auf ihrem Herzen. Mit zittrigen Fingern strich sie über die Rubine, drehte den glänzenden Flammenvogel im Licht hin und her, stellte sich seine schimmernden Schwanzfedern voller Wünsche vor. Pa hatte es nicht ausgesprochen, doch der Anhänger bewies es. Sie würden den Flammenvögeln bis in ihre Heimat folgen.
»Danke!« Strahlend sah sie zu ihm auf. »Ich werde immer gut auf ihn aufpassen.« Sie vergrub das Gesicht in Pas weicher Wolljacke, atmete seinen warmen Duft nach Sägespänen und Schweiß ein. »Ich hab dich lieb, Pa.«
Er küsste sie auf den Kopf und zog sie an sich. »Und ich hab dich lieb. Auf immer und eh.«
Eine Glocke läutete stürmisch, Jubelschreie ertönten. Pa umarmte sie so fest, als wolle er sie nie mehr loslassen.
Mit einem Ruck hob Ember den Kopf und sah, wie der Himmel von flackerndem Feuer erfüllt wurde. »Die Flammenvögel fliegen! Pa, schau nur, wie wunderschön sie sind!« Er legte den Arm um ihre Schultern und gemeinsam blickten sie zur Halbinsel, von der sich Hunderte flammende Vögel in den samtigen Nachthimmel erhoben.
Durch die »Ooohs« und »Aaahs« der Schaulustigen hindurch hörte Ember einzelne Fetzen des trällernden Vogelgesangs. Sie sehnte sich aus tiefstem Herzen danach, mit ihnen zu fliegen. Der Jubel wurde lauter, als die prächtigen Wesen über der Stadt kreisten, majestätisch über den Hafen flogen. Ember reckte den Hals, war wie hypnotisiert von den riesigen, flammenden Flügeln. Ein warmer Wind strich ihr übers Gesicht, als die Vögel ein letztes Mal herabsanken, um sich dann übers Meer zu erheben und ihre Federn goldhell über dem dunklen Wasser glänzen zu lassen.
Vor Aufregung blieb ihr der Atem im Hals stecken. »Schnell, Pa! Wir müssen ablegen!«
Zwar ging Pa zur Rampe, schob Ember jedoch mit ausgestreckten Armen zur Steinmauer. Unglücklich kniff er die Augen zusammen, verzog die Mundwinkel. »Es tut mir leid, mein Schatz. Ich muss alleine flammenstürmen.«
Embers Aufregung war mit einem Mal wie weggeblasen. Fassungslosigkeit überrollte sie wie eine eisige Welle. »Aber … ich komme doch mit!«
»Es tut mir leid. Ich konnte es nicht ertragen, es dir früher zu sagen.« Er zog einen Umschlag aus seiner Tasche und schob ihn ihr in die Hand. »Dieser Brief erklärt alles.« Dann ließ er sie los und trat einen Schritt zurück. »Ich komme so bald wie möglich wieder zurück nach Hause.«
Verwirrung ließ Embers Gedanken in alle Richtungen stieben. »Pa … wir segeln immer zusammen. Ich muss einfach mitkommen.« Sie stellte sich zu ihm auf die Rampe.
»Nicht dieses Mal. Die Westlichen Meere stecken voller Stürme und gefährlicher Magiereste. Es würde mir das Herz brechen, falls dir etwas zustößt.« Er ging noch einen Schritt zurück, dann noch einen. »Ich mache es wieder gut, wenn ich nach Hause komme. Versprochen.«
Sie runzelte die Stirn. Nichts ergab mehr Sinn. »Wenn die Meere rau sind, brauchst du meine Hilfe erst recht.«
»Ich brauche nichts, außer zu wissen, dass du in Sicherheit bist. Ich habe dafür gesorgt, dass du im Internat bleiben kannst, bis ich wiederkomme.« Er zeigte auf einen Schatten, der in einiger Entfernung an der Mauer stand. »Mrs Appleby wartet schon, sie wird dich begleiten.«
Ember drehte sich zur Seite und erblickte ihre Lehrerin. Mit ihrem dicken Mantel und Embers Segeltasche in der Hand, versuchte sie, nicht allzu schuldbewusst dreinzuschauen.
Das Publikum jubelte laut, während die Flammenstürmer in der Bucht ihre Segel setzten, um die Winde auszunutzen. Pa warf einen fahrigen Blick auf die Flammenvögel, die langsam am Horizont verschwanden. »Ich muss los, sonst verliere ich sie.« Er sprang aufs Deck. »Ember, bitte geh zurück zur Mauer. Ich muss die Rampe einziehen.«
»Bitte warte.« Sie marschierte auf ihn zu. Sie musste ihn davon überzeugen, sie mitzunehmen.
»Ich habe mich entschieden. Komm mir nicht näher! Ansonsten erledigt die Magie den Rest.« Schmerz flutete seinen Blick. »Es tut mir leid. Das ist meine Schuld, ich hätte dir das eher sagen sollen. Ich will nicht, dass wir uns so verabschieden müssen.«
Sie schüttelte den Kopf, wollte nicht glauben, dass Magie sie voneinander trennen konnte. Das hatte die ehemalige Bürgermeisterin mit ihrem Wunsch nie beabsichtigt. Ember erreichte das Ende der Rampe. »Wir müssen uns überhaupt nicht verabschieden. Sag doch einfach, dass ich mitkommen kann.« Entschlossen ließ sie einen Fuß in Richtung Deck sinken.
Pa schüttelte den Kopf, bestürzt und unglücklich. »Ich wünschte, ich könnte dich mitnehmen, aber du darfst nicht …«
»Sag es nicht!«
Mit lauter Stimme beendete er den Satz: »… du darfst nicht an Deck kommen.«
Sobald ihr Fuß die Holzbretter berührte, schoss ein klirrender Schmerz durch ihr Bein und ihren Körper. Pa und die Frohes Herz waren verschwunden.
Ember war wieder zu Hause auf ihrem Bett und starrte in die Dachbalken. Sie sah zu Pas Brief in ihrer Hand. Aber sie wollte ihn nicht lesen, sie wollte bei Pa sein. Sie sprang auf und rannte zum großen Fenster im Flur, aus dem sie die Bucht sehen konnte. Der Flammenvogel-Anhänger schlug gegen ihr Herz.
Fieberhaft suchte sie den Hafen ab. Da!
Pa hatte die Rampe eingezogen und war schon zwei Meter vom Kai entfernt. Sie grub ihre Fingerkuppen in die scharfen Kanten des Vogelanhängers. Pa hatte gar nicht ihre gemeinsame Flammenjagd feiern wollen, sondern sich verabschiedet!
Sie nahm ihr Fernglas vom Fensterbrett. Die Frohes Herz glitt an der Ufermauer vorbei und in die Bucht. Mit schwerem Herzen sah Ember zu, wie Pa sich der Flotte laternenerleuchteter Segelschiffe anschloss, die in Richtung der rollenden Wellen fuhren. Sie starrte und starrte ihm hinterher, bis ihr die Augen schmerzten.
Die Flammenvögel zogen davon. Pa zog davon. Das Verlangen, mit ihnen zu fliegen, brannte wie ein Feuer in Embers Innerem. Sie wusste nicht, wie, aber irgendwie würde sie ihnen folgen. Als könnte er ihre Gedanken hören, drehte sich Pa um und sah traurig in ihre Richtung. Er legte die Hand aufs Herz, küsste seine Fingerspitzen und pustete ihr sanft einen Kuss zu.
Ember schüttelte den Kopf, verweigerte sich dem Abschied. Eine Frage drängte sich ihr auf. Warum wollte er allein auf Flammenjagd gehen? Noch nie zuvor hatte er den Flammenvögeln folgen wollen. Es war ihr Herzenswunsch, nicht seiner. Er hatte doch immer behauptet, er brauche keinen Wunsch. Deshalb hatte er ihr Schiff auch Frohes Herz getauft.
Im Hafen brauste der Jubel auf, als die Flammenstürmer die hohen Wellen erreichten. Pas Schiff erklomm eine Wasserwand und … verschwand.
Ein Schluchzen entfloh Embers Kehle.
Sie konnte es nicht fassen. Pa ging auf Flammenjagd und sie war nicht dabei.
(Ein Jahr später)
Die Möwen schrien. Sie kreisten über Ember, die im Schneidersitz auf einem Fass an der Hafenmauer saß, den Blick auf die schäumenden Wellen in weiter Ferne gerichtet. Immer und immer wieder faltete sie Pas Brief, erst auseinander, dann wieder zusammen. Sie kannte ihn auswendig, Wort für Wort.
Ember, bitte vergib mir.
Ich wollte dir schon so oft sagen, dass ich bei der Flammenjagd mitsegeln werde. Die letzten Tage waren eine Qual, weil ich wusste, dass ich dich zurücklasse. Dabei sehe ich doch genau, wie deine Augen strahlen, ein Lächeln über dein Gesicht tanzt, weil du dich so auf unsere gemeinsame Flammenjagd freust. Ich konnte es nicht ertragen, zu sehen, wie dieses Lächeln erstirbt.
Denn wenn ich dir schon jetzt von meinem Vorhaben erzähle, werde ich schwach, nehme dich am Ende doch mit. Aber die Reise ist zu gefährlich und übersät von Magieresten. Selbst für mich ist sie zu gefährlich, aber ich muss gehen. Ich brauche eine magische Feder für einen sehr wichtigen Wunsch. Schon tausendmal hast du mich sagen hören, dass manche Wünsche nicht in Erfüllung gehen. Aber ich hoffe von ganzem Herzen, dass es bei meinem anders sein wird. Bis dahin wirst du mir jeden einzelnen Tag fehlen.
Bitte sei nicht traurig oder wütend. Ich verspreche, es wiedergutzumachen. Ich werde eine magische Feder für dich mitbringen, dein strahlendes Lächeln wiedersehen, wenn dein eigener Wunsch wahr wird und du dich in die Lüfte erhebst, um mit den Flammenvögeln zu fliegen.
Du bist das Licht meines Lebens, vergiss das nie – auf immer und eh.
In Liebe
Pa
Sie hörte die Worte in seiner tiefen Stimme. Irgendwie fühlte sie sich ihm so näher. Sie sehnte sich danach, ihn zu umarmen und all die Fragen zu stellen, die immer noch in ihr brannten. Warum bist du auf Flammenjagd gegangen? Warum hast du mich zurückgelassen? Ganz offensichtlich brauchte er einen Wunsch. Aber was war so wichtig, dass er sein Leben dafür riskieren würde? Und warum hatte er ihr nichts davon erzählt?
Vor einigen Monaten noch war sie nie alleine gewesen, wenn sie in die weit entfernten Wellen gestarrt und auf Pas Rückkehr gewartet hatte. Alle Einwohner und Einwohnerinnen von Leuchtfeuerstedt kannten Flammenstürmer, die noch auf See waren. Aber als sie nach und nach zu Hause eintrudelten, natürlich allesamt mit leeren Händen, starrten immer weniger Menschen aufs Meer. Insgeheim hatte Ember gehofft, dass Pa die Heimat der Flammenvögel gefunden hatte und jeden Augenblick in einem Auflodern von Magie zurückkehren würde. Doch als im letzten Monat das Wrack der Frohes Herz in den Westlichen Meeren entdeckt worden war, änderte sich auch das. Für die Hafenmeisterei gehörte Pa nun zu den auf See Gebliebenen. Ihre Schulfreunde baten Ember, nicht mehr so viel Zeit auf der Hafenmauer zu verbringen, doch sie schüttelte nur den Kopf. Pa war irgendwo dort draußen. Vielleicht hatte ein anderes Schiff ihn mitgenommen? Er konnte schließlich sehr gut schwimmen. Vielleicht war er auf irgendeiner Insel gelandet? Sie konnte die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihm einfach nicht aufgeben. Nach einer Weile verstanden ihre Freunde, dass Ember nicht auf Pa wartete, sondern auf ein Schiff, das sie mit auf Flammenjagd nehmen würde, um nach ihm zu suchen.
Ein Fischkutter erklomm eine Welle, ehe er in die graublaue Bucht glitt. In der Hoffnung auf Frühstück kreischten die Möwen entzückt auf und flogen eilig los. Mit einem Auge spähte Ember durch ihr Fernglas und suchte nach einem Namen auf dem abblätternden Lack des Schiffsrumpfs. Die Salzige Kapriole.
Sie ließ die Schultern sinken. Kapitän Anders war nur einen Tag fort gewesen, und ihn hatte sie schon gebeten, sie auf die nächste Flammenjagd mitzunehmen. Zwei Mal. Er hatte genau das Gleiche geantwortet wie alle anderen auch: »Tut mir ja leid, Kleine, aber ich kann mein Wort nicht brechen. Musste deinem Pa versprechen, dich nicht mitzunehmen.«
Die Möwen landeten auf den prall gefüllten Netzen des Kutters und krallten sich Fischfetzen. Polternd rannte Anders aus dem Ruderhaus, eine Tasse Tee in der Hand. Mit wedelnden Armen verschüttete er den Tee auf seinem Pulli. Ember ließ das Fernglas sinken. Die Möwen hatten Glück. Nur einen Tag hatten sie auf den Kutter warten müssen. Sie wartete schon ein ganzes Jahr. Und heute Abend würden die Flammenvögel zurückkehren! Bald blieb ihr keine Zeit mehr, um einen willigen Bootsführer zu finden. Sie schob den Deckel auf ihr Fernglas, lautstark rastete er ein. Es musste einen Weg geben, sich der Jagd anzuschließen, sie hatte ihn nur noch nicht gefunden.
Mit einem letzten Blick auf die fernen Wellen stopfte sie das Fernglas und Pas Brief in die Hosentasche ihrer Schuluniform und begutachtete die eng aneinandergedrängten Boote im Hafen. Weil die Flammenjagd schon morgen beginnen würde, lagen doppelt so viele Schiffe an wie üblich und alle waren damit beschäftigt, ihre Vorräte für die lange Reise einzuladen. Auf der Suche nach einem Neuankömmling sah Ember hoffnungsvoll zum Ufer.
Dort lag der rostige Schlepper vom alten Crawford, die Starke Seefahrerin. Er hatte schon Nein gesagt. »Dein Pa hat dich aus gutem Grund nicht mitgenommen.« Sanft hatte er ihre Schulter gedrückt. »Ich weiß, du vermisst ihn. Das tun wir alle. Aber wir mussten ihm versprechen, dich nicht mit rauszunehmen. Das Versprechen kann ich nicht brechen. Erst recht nicht jetzt, wo … wo er nicht mehr wiederkommt.«
Sie griff sich ihren Flammenvogel-Anhänger und strich über die juwelenbesetzten Schwanzfedern. Pa würde wiederkommen. Und wenn sie ihn nicht finden konnte, dann würde sie so lange Flammen jagen, bis sie die Heimat der Flammenvögel gefunden hatte und sich ihn mit einer magischen Feder herbeiwünschen konnte.
Neben dem Schlepper lag ein kleines Hausboot, die Sicherer Hafen. Es war zwar nicht für die hohe See gemacht, aber Kapitänin Kris ließ sich nicht von der Flammenjagd abhalten. Zwar glaubte Ember nicht, dass dieses Boot bei einer langen Reise gute Chancen haben würde, aber trotzdem konnte es nicht schaden, Kristina noch einmal zu fragen. Vor allem nicht, wenn sie Ember wieder ein Stück Kirschkuchen geben würde, um die Wucht der Absage zu mildern.
Hinter dem Hausboot lag stolz die frisch lackierte Haudegen im Wasser. Wie bei jeder Flammenjagd würde die schnittige Jacht ab Fischfels an der Küste entlangsegeln. Sollte sie noch einmal bei Kapitän Lars nachfragen? Vielleicht waren ja wirklich alle guten Dinge drei. Die Haudegen hatte die besten Chancen, den Flammenvögeln bis in ihre Heimat zu folgen. Falls Lars Nein sagte, wollte Ember sich als blinde Passagierin versuchen. Aber das war kein sonderlich guter Plan. Wenn er sie entdeckte, würde er sich nur aufregen und alles wäre ruiniert. Und falls er sie fand, bevor sie die ruhigen Gewässer von Leuchtfeuerstedt hinter sich gelassen hatten, würde die restliche Friedensmagie sie schneller von der Jacht befördern, als sie »’tschuldigung« sagen konnte. Genau wie an dem Abend, als Pa sie verlassen hatte.
Die Glocke der Hafenmeisterei schlug neun Mal. Mist. Sie musste sich beeilen. Sie wollte nicht zu spät zur Schule kommen. Nicht schon wieder. Nachsitzen bei Mrs Appleby war wirklich das Letzte, was Ember gebrauchen konnte. Nicht heute, wo doch die Flammenvögel zurückkehrten.
Sie verstaute den Anhänger in ihrem Schal, sprang vom Fass runter und rannte entlang der Kaimauer zur Strandpromenade. Sie eilte durch die provisorischen Stände, die für das diesjährige Flammenvogelfest bereitstanden. Dekoriert waren sie mit goldenen und purpurnen Hühnerfedern, die wie Flammen aussehen sollten. Letztes Jahr war Ember beim Anblick der Stände noch ganz aufgeregt gewesen. Jetzt empfand sie nichts als Angst und Sorge.
Das Läuten der Schulglocke klang noch in Embers Ohren, als sie nach dem Unterricht durch die kalte, schattige Straße rannte. Sie bog auf die Promenade ab und musste die Augen zusammenkneifen, weil die Sonne so niedrig stand. Die warmen Sonnenstrahlen trugen zu Embers wachsender Hoffnung bei. Heute Morgen war sie zwar zehn Minuten zu spät zur Schule gekommen, aber Mrs Appleby hatte nur vom Erdkundebuch aufgeschaut und Ember einen finsteren Blick zugeworfen, ohne sie jedoch zum Nachsitzen zu verdonnern.
Auf der Strandpromenade drängten sich die Schaulustigen erwartungsvoll aneinander. Ember lief zwischen den Ständen durch, atmete den würzigen Duft von heißer Schokolade, Karamell und Zimt tief ein. Inmitten der Menschen stolzierten Möwen, in der Hoffnung auf einen süßen Snack. Sehnsüchtig starrte Ember auf einen Berg Butterkekse mit Schokolade und Karamell. Ihr Magen grummelte. Bald stand das Abendessen im Internat an, aber Ember würde nicht dorthin zurückkehren. Auf gar keinen Fall wollte sie die Ankunft der Flammenvögel verpassen. Sie zog sich einen ihrer Wollhandschuhe von den Fingern und durchsuchte ihre Jackentasche nach Münzen.
Dann warf sie einen Blick zum Hafen und hielt inne. Dort, umwoben von goldenem Sonnenschein, sah sie die aufragende Silhouette einer einmastigen Schaluppe. Endlich hatte ein neues Schiff in Leuchtfeuerstedt angelegt.
Sofort waren die Butterkekse vergessen, während Ember die Kaimauer entlanglief, um sich das Boot genauer anzuschauen. Die eingerollten Segel in Kirschrot und Orange flatterten im Wind, als wollten sie ihre Leinen geradezu loswerden. Ember suchte den Schiffsrumpf nach einem Namen ab. Seeabenteuer. Es schien ein schnelles Boot zu sein und noch besser war, dass sein Kapitän kein Versprechen abgelegt haben konnte, Ember nicht mit auf Flammenjagd zu nehmen.
Durch das Fenster der Deckkabine waren leuchtende Laternen zu sehen und auch auf dem Deck selbst neben einer geöffneten Ladeluke. Die Seeabenteuer musste einmal ein Frachtschiff gewesen sein, aber jetzt wirkte sie so gemütlich wie Kristinas Hausboot. Um die Luke herum waren dicke Teppiche und bunte Kissen drapiert worden. Daneben knisterte ein einladendes Feuer in einer Feuerschale. Eine pflaumenfarbene Plane war sorgfältig über das Deck gespannt worden, um auch vor jedem Wetter geschützt zu sein. Der behagliche Anblick erinnerte Ember an Pas Frohes Herz. In ihrer Nase kitzelte es, doch Ember rieb das Gefühl weg. Sie würde nicht weinen. Nicht hier, wo alle sie sehen konnten.
Ein drahtiger Junge mit schulterlangen dunklen Haaren verließ die Kabine. Er zog sich gerade einen dicken Pulli über. Ihm folgte eine Frau in weiten Segelhosen und einer dicken Bluse mit Kordelzug. Das dichte braune Haar floss ihr wie eine Welle über den Rücken. In der Hand hielt sie einen marineblauen Schal mit einem gelben Streifen. Er sah genauso aus wie der Schal, den Ember trug.
»Hier, zieh deinen Schulschal an, Stanley«, sagte die Frau und versuchte, ihn um den Hals des Jungen zu wickeln.
Er verzog das Gesicht und duckte sich. »Lass das, Ma. Mir ist schon warm genug in dem Pulli.«
Die Frau verdrehte die Augen. »Wie du meinst. Aber morgen musst du ihn tragen.« Sie verschwand wieder in der Kabine. »Gib mir fünf Minuten. Ich will mich noch umziehen, bevor wir an Land gehen.« Ihre Stimme segelte durch die Kabinentür. »Kämm dir zumindest die Haare und binde sie zusammen. Du willst doch einen guten Eindruck machen.«
»Nein, will ich nicht«, murmelte Stanley mürrisch und blies nach und nach die Kerzen der Decklaternen aus. Als er nach oben guckte, fiel sein Blick auf Ember. Mit einem verhaltenen Lächeln kam er auf sie zu. Doch als er ihre Schuluniform bemerkte, verfinsterte sich sein Blick erneut. »Und wer bist du? Das Begrüßungskomitee?«
Ember verkniff sich die fiese Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag. Wenn sie die beiden überzeugen wollte, sie mit auf Flammenjagd zu nehmen, musste sie einen guten Eindruck machen. Freundlich breitete sie die Arme aus. »Willkommen in Leuchtfeuerstedt.«
Stanley lehnte sich über die Heckreling und flüsterte: »Ich will wirklich nicht unhöflich sein, aber könntest du bitte schnell abhauen, bevor Ma rauskommt? Die Flammenvögel kommen bald. Es hat keinen Zweck, ihr Hoffnung zu machen. Ich bleibe hier sowieso nicht.«
Ember lächelte in sich hinein. Sie wusste zwar nicht, was ihm auf dem Herzen lag. Aber wenn er nicht blieb, hieß das, er würde jagen.
Stanleys Mutter betrat erneut das Deck. Statt ihrer Hose trug sie jetzt einen langen Rock und einen bunten Patchworkumhang. Ihr langes Haar hatte sie unter einem eleganten Hut zusammengesteckt. In polierten Stiefeln schritt sie auf die beiden zu und zog sich ein Paar pinke Lederhandschuhe über. »Hallo, kann ich dir behilflich sein?«
»Sie ist von der Schule«, murmelte Stanley.
Die Frau strahlte. »Ah, hat Mrs Appleby dich geschickt, um uns den Weg zu zeigen? Wie aufmerksam.«
Ember gab ein lautloses Stöhnen von sich. Das klang nicht gerade vielversprechend. »Nein, sie hat mich nicht geschickt. Ich habe … ähm …« Sie überlegte, was sie sagen könnte. »Ich habe Ihre Segel bewundert. Rot und orange, schön bunt … Haben Sie sie zur Feier der Flammenjagd getakelt?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Die Frau wandte den Blick nach oben. »Vielen Dank. Das ist so viel schöner als das übliche, langweilige Weiß, oder?« Sie sah zu den leuchtend bunten Ständen entlang der Promenade. »Sie passen wohl ganz gut zur restlichen Dekoration, das stimmt. Aber wir sind keine Flammenstürmer. Wir sind mit unserer letzten Fracht aus Drabhampton im Norden hierhergesegelt. Jetzt wollen wir uns niederlassen.«
»Niederlassen?« Eine Flut der Enttäuschung erstickte Embers Hoffnung. »Oh … ich dachte, mit einem Bootsnamen wie Seeabenteuer würden Sie …« Ihre Stimme brach.
»Den Namen hat Stanley ausgesucht.« Die Frau legte ihm den Arm um die Schultern.
Seine Augen leuchteten. »Wirst du denn jagen?«
Ember schüttelte den Kopf. »Das würde ich nur zu gerne.«
Wieder verdunkelte sich Stanleys Blick.
Nachdenklich legte die Frau den Kopf schief, dann streckte sie Ember über die Gangway die Hand entgegen. »Ich bin Kapitänin Agatha Hansen.« Sie zeigte auf Stanley. »Und das ist meine Nummer eins, mein Erster Offizier und Sohn, Stanley.«
Er nickte widerwillig.
Ember machte einen Schritt auf die Gangway und erwiderte Kapitänin Agathas freundlichen Handschlag. »Ember«, sagte sie. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Was für ein schöner Name: Ember, wie glühende Asche. Und zum Fest passt er auch sehr gut.«
Ember sah auf ihre Stiefel runter und dachte an Pa. Er hatte immer gewitzelt, er habe ihren Namen zu Ehren der Flammenvögel ausgesucht.
»Ich habe eine Idee«, fuhr Kapitänin Agatha fort. »Von hier haben wir einen guten Blick auf den Rastplatz der Flammenvögel. Du kannst sehr gerne bleiben, um ihre Ankunft mit uns anzuschauen. Danach können wir gemeinsam zu Abend essen. Und deine Familie kann natürlich auch gerne dazukommen.« Sie blickte in Richtung Kaimauer, als könnten Embers Angehörige dort jederzeit auftauchen.
Wieder kribbelte Embers Nase. Niemand fragte mehr nach ihren Eltern, weil alle Bescheid wussten. Ma war gestorben, als Ember noch ein Baby war, bevor Pa und sie nach Leuchtfeuerstedt gezogen waren, und Pa … war jetzt woanders. »Meine Familie ist nicht hier, Kapitänin Hansen. Ich lebe im Internat.«
»Nenn mich Aggie.« Ember spürte Aggies sanften Händedruck, der sie an Deck zog. »Dann bleibst du auf jeden Fall zum Abendessen. Ich gebe Mrs Appleby gleich Bescheid, wenn ich sie treffe.« Sie ließ Embers Hand los und drehte sich zu Stanley. »Und was dich angeht, du Schlingel, meinetwegen musst du nicht mit mir zur Schule gehen, um dich anzumelden, wenn du dafür hierbleibst und Ember Gesellschaft leistest.«
Stanley sah zur Seite. »Danke, Ma.«
Wenn die beiden aber keine Flammenstürmer waren, wollte Ember ihre Zeit nicht auf deren Boot verbringen. Sie kannte viele Orte, an denen man einen besseren Blick auf die Flammenvögel hatte. Gerade wollte sie das sagen, da schlug die Hafenglocke vier Mal. Aggie wandte den Blick zur untergehenden Sonne. »Meine Güte, ich sollte mich beeilen. Ich will nicht zu spät kommen. Mrs Appleby hat mir extra geschrieben, wie sehr sie Pünktlichkeit zu schätzen weiß.« Sie raffte ihren langen Rock und trat auf die Gangway.
Kurz hielt sie inne, sah, wie sich Ember und Stanley misstrauisch beäugten. »Ich bringe uns zum Nachtisch etwas von diesem Karamell mit, das so herrlich duftet, ja? Und nach dem Abendessen können wir uns darüber unterhalten, wie es sich in einer Stadt mit einem friedlichen Rest Magie lebt. Sicher hast du viel zu erzählen, Ember.«
Stanley vergrub die Hände in den Hosentaschen.
Kopfschüttelnd eilte Aggie davon.
»Du kannst gern hierbleiben«, sagte er. »Aber ich will nicht wirklich hören, wie toll es ist, hier zu leben.«
»Wie du meinst.« Ember drehte sich um und beobachtete, wie die rote Sonnenscheibe im Meer versank. Sie war genervt, schon wieder hatte sie sich grundlos Hoffnung gemacht. Mrs Appleby hatte sie nicht nachsitzen lassen, weil sie einen Termin mit Aggie hatte, und Aggie ging nicht auf Flammenjagd, weil Stanley hier zur Schule gehen sollte.
Dann fiel ihr plötzlich etwas ein. »Was hast du eigentlich damit gemeint, als du gesagt hast, dass du nicht bleibst?«
Stanley wurde rot.
Bevor er antworten konnte, rief jemand lautstark: »Die Flammenvögel sind da!«
Embers Herz machte einen Sprung und sie drehte sich blitzschnell nach Osten. Jubelrufe stiegen auf, als eine Reihe leuchtender, feuerroter Flecken am saphirblauen Himmel auftauchten. Die Reihe wurde immer länger und länger. Noch mehr leuchtende Tupfen reihten sich ein und glühten in der Dämmerung wie ein Fluss aus goldenem Licht. Sehnsüchtig nahm Ember ihr Fernglas und genoss es, die Flammenvögel von Nahem zu sehen. Sie wäre so, so gerne mitgeflogen. Während sie über die verschneiten Berge in Richtung Halbinsel glitten, loderten ihre majestätischen Flügel flimmernd auf.
Ember griff nach dem Anhänger an ihrem Herzen. Sie wollte nichts lieber, als diesen Augenblick mit Pa zu teilen. Nacheinander schwebten die Vögel hinab auf ihren steinigen Rastplatz. Ihr versammeltes Leuchten wurde immer heller, bis es den finsteren Himmel in schimmerndes Licht tauchte.
Mit einem tiefen Seufzen ließ Ember das Fernglas sinken. Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie Stanley die letzte Laterne ausblies, ehe er auf die Gangway sprang. »Wohin gehst du?«
Er blieb nicht stehen. »Ich bleibe nicht, das habe ich dir schon gesagt. Ich hole mir jetzt eine magische Feder und wünsche mir was.«
»Du willst was?« Ember stolperte ihm hinterher. »Das kannst du doch nicht machen!«
»Denkst du. Aber das ist die einzige Möglichkeit, damit Ma mich nicht zur Schule schickt.«
»Nein, ich meine das ernst. Das kannst du wirklich nicht machen.« Sie rannte über die Gangway. »Die Magiereste werden nicht zulassen, dass du die Flammenvögel verärgerst und einfach davonkommst.«
Ohne anzuhalten, drehte sich Stanley zu ihr und zwinkerte. »Wer hat denn was von verärgern gesagt?«
»Mach das nicht. Bitte.«
Stanley flitzte durch die Menschenmenge auf der Promenade.
Ember rannte ihm hinterher. Wenn er die Flammenvögel aufscheuchte, würden sie vielleicht wegfliegen und nie wieder zurückkehren. Es war schlimm genug gewesen, Pa zu verlieren. Sie konnte nicht auch noch die Vögel verlieren.
Ember ließ die funkelnden Laternenlichter der Stadt hinter sich und raste den Küstenpfad hinauf. Im Mondschein vor sich sah sie Stanley, der rannte so schnell er nur konnte. Er hatte den Blick fest auf das schimmernde Licht der Flammenvögel gerichtet und merkte deshalb nicht, dass er den langen Weg zur Spitze der Halbinsel nahm.
Ember bog hingegen ab und kraxelte einen kaum erkennbaren Pfad an einem Steilhang entlang, den sie kannte wie ihre Westentasche. Nach einer zehnminütigen Klettereinlage hatte sie das Ende der Halbinsel erreicht. Sie verschnaufte und beobachtete die Handvoll umherschlendernder Familien, dick eingepackt in Mützen und Mäntel. Alle hatte den Blick nach oben gerichtet, das wirbelnde Federlicht ließ ihre Gesichter erstrahlen. Von dem Zaun, der das flackernde Glühen in den Steinklippen umgab, hielten sie sich fern. Das »ZUTRITTVERBOTEN«-Schild am Zaun erinnerte die Bewohner und Bewohnerinnen von Leuchtfeuerstedt an diese Vorschrift, die alle außer Stanley nur zu gut kannten. Die Flammenvögel sollten während ihrer Rast auf gar keinen Fall gestört werden.
Die Flammenjagd brachte viele Touristen in die Stadt, und das durfte niemand aufs Spiel setzen, nicht einmal für einen Wunsch. Erst wenn die Flammenvögel wieder aufgebrochen waren, und nur dann, würde die Bürgermeisterin das Versteck nach Schwanzfedern absuchen.
Fasziniert von den schimmernden Lichtern, näherte sich Ember dem Rastplatz. In ihrer Vorstellung ruhten sich die Vögel in der Schlucht vor ihr aus, die Köpfe unter die flammenden Flügel gesteckt, die magischen Schwanzfedern ausgebreitet wie Fächer.
Erinnerungen an Pa umschlossen sie wie eine warme Umarmung. Hier oben hatte er oft von Ma erzählt. Ember liebte diese Geschichten, auch wenn sie sich nicht an ihre Mutter erinnern konnte. Nach ihrem Tod hatte Pa sich immer wieder gewünscht, sie möge zurückkehren. Doch nach einer Weile hatte er diese Wünsche aufgegeben und beschlossen, so mit seinem Leben zufrieden zu sein, wie es nun einmal war.
Im gleißenden Licht ging Ember zu einer breiten Treppe, die in die Felsen geschlagen worden war. Um sich warm zu halten, während sie auf Stanley wartete, zog sie ihren Schal enger, verschränkte die Arme und lief auf und ab.
Das flackernde Federlicht ließ sie an ihre liebste Erinnerung mit Pa denken. Sie war noch klein gewesen. Als seine tiefe Stimme in ihrem Gedächtnis erklang, schloss sie die Arme noch fester um sich. »Was würdest du dir wünschen, wenn du eine magische Feder findest?«
Ihre Augen hatten gestrahlt. »Mit ihnen zu fliegen«, war ihre geflüsterte Antwort gewesen.
Er hatte sich geschüttelt. »Da oben würde dir ziemlich kalt werden.«
»Ihre flammenden Federn würden mich wärmen.« Sie riss den Blick von den feurigen Flügeln los und sah zu Pa auf. »Was würdest du dir wünschen?«
»Nichts«, sagte er bloß und umarmte sie. »Meinen Herzenswunsch habe ich schon.« Mit Schwung setzte er sie auf seine Schultern, während die Flammenvögel zum Meer abdrehten.
»Was machst du denn da?« Kichernd hopste sie auf und ab, während er die steinige Halbinsel hinabrannte.
»Schau hoch«, sagte er.
Ember rang nach Luft. Die Flammenvögel flogen direkt über ihnen, segelten unter den Sternen wie eine Feuerdecke. Sie hob die Arme, als wären es ihre Flügel.
»Du fliegst, mein Schatz!«
Die Erinnerung verschwand und Embers Nase kribbelte.
Da sah sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Ein Junge trat aus der Dunkelheit, vornübergebeugt und schwer atmend. Er hielt an und sah auf. »Oh, du bist’s«, sagte Stanley. »Wie bist du so schnell hierhergekommen?«
Ember stemmte die Hände in die Hüfte. »Wenn du mal zwölf Jahre hier gelebt hast, kennst du alle Abkürzungen. Geh nach Hause. Wenn nicht, wird die Magie ihren Teil tun.«