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Alles, woran die junge Poppy jemals geglaubt hat, hat sich als Lüge herausgestellt. Auch ihre große Liebe. Das Volk, das sie bis vor Kurzem noch als Auserwählte verehrt hat, will nun ihren Tod. Ihr ganzes Leben lang hat Poppy sich auf ihr Amt vorbereitet – wenn sie keine Auserwählte mehr ist, was ist sie dann? Als sich der ebenso attraktive wie dunkle Prinz von Atlantia erhebt, ist Poppy gezwungen zu kämpfen, wenn sie das Königreich retten will. Doch der Prinz verwickelt sie in ein perfides Spiel aus Intrigen und Verrat, und schon bald kann Poppy niemandem mehr trauen – nicht einmal sich selbst ...
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Seitenzahl: 1040
Das Buch
Unsere Blicke trafen sich, und ich konnte nicht mehr wegsehen. Sein Kopf war mir unglaublich nahe, und sein Mund sogar noch näher. Mein Herz begann zu pochen. Wollte ich das? Oder wollte ich es nicht? Ich bewegte mich jedenfalls nicht von ihm weg. Stattdessen schloss ich langsam die Augen …
Die Welt der Auserwählten Poppy liegt in Trümmern: Alles, woran sie ihr Leben lang geglaubt hat – alles, was sie dachte zu sein –, hat sich als Lüge erwiesen. Und dann musste sie auch noch erfahren, dass ihre große Liebe Hawke in Wirklichkeit Casteel Da’Neer ist, der dunkle Prinz von Atlantia – ihr schlimmster Feind! Sie hat ihm ihr Vertrauen, ihre Liebe geschenkt, und Casteel hat es ihr mit Täuschung und Verrat gedankt. Nun besitzt er auch noch die Dreistigkeit, von Heirat zu sprechen. Ob Poppy damit einverstanden ist oder nicht, scheint ihn nicht zu kümmern. Aber wäre eine Ehe mit Casteel nicht auch für Poppy von Vorteil? Denn selbst wenn sie es nicht zugeben mag, ihre Gefühle für den dunklen Prinzen von Atlantia sind nicht erloschen. Nur bei ihm fühlt sie sich lebendig. Frei. Mächtig.
Casteels Untertanen jedoch begegnen Poppy mit Misstrauen und Hass. Auch ihr eigenes Volk, das sich von seiner Auserwählten im Stich gelassen fühlt, hat noch eine Rechnung mit ihr offen. Während Poppy sich von einem Kampf in den nächsten stürzt, erhebt sich eine uralte Macht und droht, die ganze Welt in die Dunkelheit zu reißen …
Die Autorin
Jennifer L. Armentrout ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA. Immer wieder stürmt sie mit ihren Romanen – fantastische, realistische und romantische Geschichten für Erwachsene und Jugendliche – die Bestsellerlisten. Ihre Zeit verbringt sie mit Schreiben, Sport und Zombie-Filmen. In Deutschland hat sie sich mit ihrer Obsidian-Reihe und der Wicked-Saga eine riesige Fangemeinde erobert. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in West Virginia.
JENNIFER L.
ARMENTROUT
FLESH
AND FIRE
LIEBE KENNT KEINE GRENZEN
ROMAN
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Sonja Rebernik-Heidegger
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe A KINGDOM OF FLESH AND FIRE
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Deutsche Erstausgabe 03/2022
Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 2020 by Jennifer L. Armentrout
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,
unter Verwendung des Originalentwurfs von Hang Le
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-27675-1V003
www.heyne.de
Für meine Leserinnen und Leser
1
»WIR KEHREN HEIM, UM ZU HEIRATEN, meine Prinzessin.«
Heiraten?
Ich sollte ihn heiraten?
Mir kamen die Mädchenfantasien von früher in den Sinn, bevor ich erfahren hatte, wer ich war und was von mir erwartet wurde – Tagträume, entstanden aufgrund der Liebe, die meine Eltern füreinander empfunden hatten.
In keiner dieser Fantasien hatte ein Heiratsantrag eine Rolle gespielt, der nicht einmal annähernd ein Heiratsantrag war. Ganz zu schweigen davon, dass er mir an einem Tisch voller Fremder gemacht worden war, von denen mich die Hälfte am liebsten tot gesehen hätte. Und ich hatte ganz sicher nie davon geträumt, einen derart schlimmen – und wahnwitzigen – Nicht-Heiratsantrag von dem Mann zu bekommen, der mich gefangen hielt.
Vielleicht hatte mein Gehirn im Laufe der letzten Wochen einen Schaden davongetragen. Oder ich litt unter stressbedingten Halluzinationen. Immerhin musste ich viele schmerzhafte Verluste ertragen. Ich musste damit klarkommen, dass er mich verraten hatte. Außerdem hatte ich gerade erfahren, dass zur Hälfte atlantianisches Blut in meinen Adern floss. Dabei war mir immer eingetrichtert worden, dass dieses Königreich die Quelle des Bösen und allen Leids in diesem Land war. Stressbedingte Halluzinationen waren also viel glaubhafter als das, was gerade tatsächlich passierte.
Ich starrte auf die breite Hand hinunter, die meine sehr viel kleinere Hand umfasste. Seine Haut war eine Spur dunkler und wirkte wie von der Sonne geküsst. Schwielen zeugten von einem jahrelangen Umgang mit dem Schwert, das er mit eleganter, aber tödlicher Präzision führte.
Er hob meine Hand an seine unanständig wohlgeformten, vollen Lippen, die gleichzeitig sanft und unnachgiebig sein konnten. Lippen, die mir wunderschöne Worte zugeflüstert und sündhafte Versprechen über meine nackte Haut geschickt hatten. Lippen, die den unzähligen Narben gehuldigt hatten, die meinen Körper und mein Gesicht überzogen.
Lippen, die mir blutgetränkte Lügen erzählt hatten.
Genau diese Lippen pressten sich nun auf meinen Handrücken, und noch vor ein paar Wochen oder sogar Tagen wäre mir diese Geste unglaublich zärtlich erschienen. Einfache Dinge wie Händchenhalten oder tugendhafte Küsse waren mir verboten gewesen. Genauso wie begehrt zu werden oder Verlangen zu empfinden. Ich hatte mich vor langer Zeit damit abgefunden, dass ich solche Dinge niemals erleben würde.
Bis er in mein Leben getreten war.
Ich hob den Blick von unseren ineinander verschlungenen Händen, von dem Mund, der sich bereits zu einem Lächeln verzog, das von einem zarten Grübchen auf der rechten Wange begleitet wurde, und von seinen leicht geöffneten Lippen, hinter denen tödlich scharfe Eckzähne zu erahnen waren.
Seine Haare kräuselten sich im Nacken und fielen ihm in die Stirn, und die dicken Strähnen waren so tiefschwarz, dass sie im Sonnenlicht beinahe blau schimmerten. Mit den hohen, kantigen Wangenknochen, der geraden Nase und dem stolzen, gemeißelten Kinn erinnerte er mich an die große, anmutige Höhlenkatze, die ich als Kind in Königin Ileanas Palast gesehen hatte. Wunderschön, aber auf eine Art, die allen wilden, gefährlichen Raubtieren gemein ist. Als sich unsere Blicke trafen und ich in seine auffallenden, kühlen Bernsteinaugen sah, setzte mein Herz kurz aus.
Mir war klar, dass ich Hawke anstarrte …
Eine kalte Faust umfing mein Herz, während ich meine Gedanken zum Schweigen brachte. Das war nicht sein Name. Ich wusste nicht einmal, ob Hawke Flynn reine Erfindung war oder ob der ursprüngliche Besitzer sein Leben hatte lassen müssen, um ihm die Identität zu stehlen. Ich befürchtete Letzteres. Denn Hawke war angeblich mit den besten Empfehlungen aus Carsodonien, der Hauptstadt des Königreiches Solis, nach Masadonien gekommen. Andererseits hatte sich der Kommandant der Wächter Masadoniens inzwischen als Anhänger der Atlantianer – also als dunkler Nachkomme – zu erkennen gegeben, weshalb auch das eine Lüge sein konnte.
Sicher war, dass der Wächter, der geschworen hatte, mich mit seinem Schwert und seinem Leben zu beschützen, nicht real war. Genauso wenig wie der Mann, der gesehen hatte, wer ich war – und nicht nur, was ich war.
Die Jungfräuliche.
Die Auserwählte.
Hawke Flynn war nicht mehr als ein Trugbild meiner Fantasie, genauso wie meine Tagträume als kleines Mädchen.
Real war nur der Mann, der gerade meine Hand hielt: Prinz Casteel Da’Neer. Seine Hoheit. Der dunkle Sohn.
Das Grinsen über unseren verschränkten Händen wurde immer breiter. Das Grübchen auf der rechten Wange war deutlich zu erkennen. Das linke Grübchen erschien selten. Nur ein echtes Lächeln brachte es zum Vorschein.
»Poppy«, sagte er, und mein ganzer Körper zog sich zusammen. Ich war mir nicht sicher, ob die Verwendung meines Spitznamens oder seine tiefe, melodiöse Stimme schuld daran war. »Derart sprachlos habe ich dich noch nie erlebt.«
Das neckende Leuchten in seinen Augen riss mich aus meiner Starre. Ich entzog ihm meine Hand und hasste den Gedanken, dass ich es nicht geschafft hätte, wenn er mich daran hindern hätte wollen.
»Heiraten?«, presste ich hervor.
Seine Augen blitzten herausfordernd auf. »Ja. Heiraten. Du weißt doch, was das bedeutet, oder?«
Ich ballte die Hand zur Faust und erwiderte seinen Blick. »Warum sollte ich das nicht wissen?«
»Nun«, erwiderte er müßig und griff nach seinem Glas. »Du klangst verwirrt. Und als Jungfräuliche hast du immerhin ein sehr … behütetes Leben geführt.«
Mein Nacken unter dem geflochtenen Zopf begann zu glühen und wurde vermutlich so rot wie meine Haare im Sonnenlicht. »Nur weil ich die Jungfräuliche bin und behütet wurde, heißt das nicht, dass ich dumm bin«, fauchte ich und merkte durchaus, wie still es an dem Tisch und im gesamten Speisezimmer geworden war – ein Raum voller dunkler Nachkommen und Atlantianer, die allesamt für den Mann, den ich gerade in Grund und Boden starrte, getötet hätten und gestorben wären.
»Nein.« Casteel warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er an seinem Glas nippte. »Das heißt es nicht.«
»Aber ich bin tatsächlich verwirrt.« Mit einem Mal spürte ich etwas Scharfes in meiner Faust. Offenbar war ich bis jetzt zu geschockt und durcheinander gewesen, um das Messer mit dem Holzgriff und der dicken gezackten Klinge zu bemerken. Es war ein normales Fleischmesser und nicht mit meinem Dolch aus Blutstein und Wolfsknochen zu vergleichen. Seit den Geschehnissen in den Stallungen war er verschwunden, und es traf mich tief, dass ich ihn vielleicht nie wiedersehen würde. Dieser Dolch war nicht nur eine Waffe. Vikter hatte ihn mir zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt, und er war meine einzige Verbindung zu dem Mann, der mehr als ein Leibwächter für mich gewesen war. Er hatte nach dem Tod meines Vaters dessen Rolle eingenommen. Mittlerweile war der Dolch verschwunden, und Vikter war tot.
Getötet von Casteels Anhängern.
Und angesichts dessen, dass ich Casteel den letzten Dolch, den ich in die Hände bekommen hatte, ins Herz getrieben hatte, bezweifelte ich, dass ich ihn bald wiedersehen würde. Das Fleischmesser musste vorerst als Waffe genügen.
»Was verwirrt dich denn?« Er stellte sein Glas ab, und sein Blick wurde wärmer. So wie immer, wenn ihn etwas amüsierte, oder wenn er … bestimmte Gefühle hegte, die ich nicht anerkennen wollte.
Meine Gabe drängte an die Oberfläche und verlangte, dass ich sie benutzte, um seinen Empfindungen nachzuspüren, während ich die Faust öffnete und das Messer mit der flachen Hand abdeckte. Ich konnte die Gabe im Zaum halten, bevor sich eine Verbindung zu ihm aufgebaut hatte. Ich wollte nicht wissen, ob ich ihn amüsierte oder ob er … was auch immer für mich empfand. Seine Gefühle interessierten mich nicht.
»Wie schon gesagt«, fuhr der Prinz fort und ließ seinen langen Finger um den Rand des Glases kreisen. »Atlantianer können den Bund der Ehe nur eingehen, wenn beide Partner auf heimatlicher Erde stehen, Prinzessin.«
Prinzessin.
Der nervende, aber auch irgendwie zärtliche Spitzname, den er sich für mich ausgesucht hatte, hatte gerade eine vollkommen andere Bedeutung bekommen. Wobei sich die Frage stellte: Wie viel hatte er von Anfang an gewusst? Er hatte zugegeben, mich schon an dem Abend im Red Pearl erkannt zu haben, behauptete aber, dass er sich meiner atlantianischen Abstammung erst bewusst geworden war, nachdem er mich gebissen und mein Blut getrunken hatte. Die Male an meinem Hals prickelten, doch ich widerstand dem Drang, sie zu berühren.
Wie viel von diesem Spitznamen war Zufall? Ich wusste nicht, warum, aber es war mir wichtig, dass nicht auch er auf einer Lüge basierte.
»Welcher Teil davon verwirrt dich?«, fragte er und sah mich mit seinen bernsteinfarbenen Augen an, ohne zu blinzeln.
»Dass du tatsächlich glaubst, dass ich dich heiraten werde.«
Auf der anderen Seite des Tisches ertönte ein ersticktes Lachen. Mein Blick huschte zu dem hübschen Gesicht eines Mannes mit hellbrauner Haut und blassblauen Augen. Er war ein Wölfischer, eine Kreatur, die sowohl als Sterblicher als auch als Wolf in Erscheinung treten konnte. Bis vor ein paar Tagen hatte ich gedacht, die Wölfischen wären ausgestorben. Getötet vor vierhundert Jahren im Krieg der zwei Könige. Aber das war ebenfalls eine Lüge. Kieran war nur einer von vielen, durchaus lebendigen Wölfen, von denen mehrere hier am Tisch saßen.
»Ich glaube es nicht«, erwiderte Casteel und senkte die dichten Wimpern. »Ich weiß es.«
Unglaube packte mich. »Vielleicht habe ich mich nicht klar ausgedrückt, aber das werde ich jetzt nachholen: Ich würde dich in einer Million Jahren nicht heiraten. Ist das klar genug?«
»Kristallklar«, erwiderte er. Seine Augen nahmen die Farbe warmen Honigs an, doch da war keine Wut in seinem Blick oder seiner Stimme. Da war etwas vollkommen anderes. Es ließ mich an warme Haut und diese rauen, schwieligen Hände denken, die sich sanft auf meine Wange legten, über meinen Bauch und die Schenkel glitten und noch viel intimere Stellen berührten. Das Grübchen in seiner Wange wurde tiefer. »Aber das werden wir ja noch sehen, nicht wahr?«
Ein heißes Prickeln breitete sich auf meiner Haut aus. »Wir werden überhaupt nichts sehen.«
»Ich kann sehr überzeugend sein.«
»So überzeugend sicher nicht«, entgegnete ich, und er murmelte leise vor sich hin, was meine Wut zum Überkochen brachte. »Hast du den Verstand verloren?«
Ein tiefes, volltönendes Lachen erklang am anderen Ende des Tisches. Ich wusste, dass es nicht von dem blonden Delano kam. Der Wolf sah aus, als hätte er gerade ein Massaker miterlebt und wäre als Nächster an der Reihe. Womöglich hätte mir das Angst bereiten sollen, denn Wölfische gerieten nicht leicht in Panik, vor allem nicht Delano. Er hatte mich verteidigt, als Jericho und die anderen über mich hergefallen waren, obwohl er und der Atlantianer Naill – der neben ihm saß – deutlich in der Unterzahl gewesen waren.
Aber ich hatte keine Angst.
Ich war viel zu wütend, um Angst zu haben.
Der Mann, der gelacht hatte, saß zu Delanos Linken. Er war ein bulliger Riese und hieß Elijah. Ich glaubte nicht, dass er ein Wolf war. Wegen der Augen. Die Wölfischen hatten alle dieselben blassblauen Augen, Elijahs hingegen waren haselnussbraun mit einem leichten goldenen Schimmer. Ich war nicht die Einzige, die ihn anstarrte. Zahlreiche Blicke ruhten auf ihm. Ich nutzte die Gelegenheit und ließ das Fleischmesser unter meine Tunika gleiten.
»Was denn?« Elijah strich sich über den dunklen Bart, während er nacheinander den Blicken der anderen begegnete. »Sie spricht aus, was sich die meisten von uns denken.«
Delano blinzelte und sah dann langsam zu Elijah hoch. Casteel schwieg. Sein schmallippiges Lächeln sprach Bände, während er den Blick von mir löste und den Tisch entlangwandern ließ.
Elijah hielt mit den Fingern am Bart inne und räusperte sich. »Ich dachte, der Plan …«
»Was du denkst, ist irrelevant«, sagte der Prinz und brachte den älteren Mann zum Schweigen.
»Meint er den Plan, mich als Geisel zu benutzen, um deinen Bruder zu befreien?«, fragte ich. »Oder hat der sich in den letzten Stunden wie durch Zauberhand geändert?«
Casteels Kiefermuskeln mahlten, und seine Aufmerksamkeit galt erneut mir. »Du solltest essen.«
In diesem Moment hätte ich beinahe die Beherrschung verloren und das heimlich ergatterte Messer nach ihm geworfen. »Ich habe keinen Hunger.«
Er betrachtete meinen Teller. »Du hast kaum etwas angerührt.«
»Ich habe eben keinen Appetit, Eure Hoheit.«
Er biss die Zähne zusammen und sah mich an. Der goldene Schimmer in seinen Augen wirkte kalt. Ich bekam eine Gänsehaut, und die Luft um uns herum wurde dicker und surrte vor Spannung. Meine Antwort war frei von jeglichem Respekt gewesen. Hatte ich es zu weit getrieben? Falls ja, war es mir egal.
Meine Finger schlossen sich um den Griff des Messers. Ich war nicht mehr die Jungfräuliche und damit auch keinerlei Regeln unterworfen, die mir jegliches Mitspracherecht an meinem Leben nahmen. Ich würde mich nicht länger kontrollieren lassen. Ich konnte und würde mich noch stärker zur Wehr setzen.
»Die Frage war durchaus berechtigt«, meinte jemand am anderen Ende des Tisches. Es war ein Mann mit kurzen dunklen Haaren. Er wirkte in etwa so alt wie Kieran, der – wie auch Casteel – in den frühen Zwanzigern zu sein schien. Allerdings war Casteel mehr als zweihundert Jahre alt. Was bedeutete, dass auch der Mann wesentlich älter sein konnte. »Ist der Plan, sie zu benutzen, um Prinz Malik zu befreien, hinfällig?«, fragte er.
Casteel sagte nichts, sondern sah mich nur weiterhin an. Doch die vollkommene Ruhe, die er ausstrahlte, war eine wirksamere Warnung, als Worte es jemals hätten sein können.
»Ich will deine Entscheidung nicht infrage stellen«, erklärte der Mann. »Ich will sie nur verstehen.«
»Was verstehst du denn nicht, Landell?« Casteel lehnte sich zurück und legte die Hände auf die Armlehnen seines Stuhls. Er wirkte so entspannt, dass sich die Härchen auf meinem Körper aufrichteten.
Nach einem Moment angespannten Schweigens antwortete Landell: »Wir sind dir von Atlantia aus hierher gefolgt. Wir haben in dieser archaischen Kloake gelebt, die sich Königreich nennt, und einem falschen Königspaar Loyalität vorgegaukelt. Weil wir uns – so wie du – nichts sehnlicher wünschen, als deinen Bruder zu befreien. Den rechtmäßigen Erben Atlantias.«
Casteel bedeutete Landell mit einem Nicken fortzufahren.
»Wir haben viele gute Leute bei dem Versuch verloren, die Tempel von Carsodonien zu infiltrieren«, sagte er, und ich versteifte mich bei dem Gedanken an die gigantischen, tiefschwarzen Steingebäude.
Wenn Casteels Behauptungen stimmten, war der Zweck der Tempel ebenfalls ein vollkommen anderer, als mir vermittelt worden war. Die drittgeborenen Söhne und Töchter meiner Landsleute wurden den Priestern während des Rituals nicht übergeben, um den Göttern zu dienen. Stattdessen dienten sie den Aufgestiegenen – den Vampyren – als Nahrung, wie Vieh. Mir waren mein Leben lang viele schreckliche Lügen erzählt worden, aber diese war möglicherweise die grauenhafteste. Aber so abstoßend der Gedanke auch war, befürchtete ich, dass Casteel in diesem Fall die Wahrheit sagte. Ich konnte es nicht abstreiten. Die Aufgestiegenen hatten uns erzählt, dass der Kuss eines Atlantianers vergiftet war und unschuldige Sterbliche in verfluchte Kreaturen verwandelte, die nur noch verwesende Hüllen ihres früheren Ichs waren. In grausame, blutrünstige Ungeheuer, die als Hungernde durchs Land zogen. Aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Der Kuss eines Atlantianers war nicht vergiftet, und ihr Biss war es auch nicht. Ich selbst war der Beweis dafür. Casteel und ich hatten uns geküsst. Er hatte mir sein Blut gegeben, als ich tödlich verwundet war. Und er hatte mich gebissen.
Aber ich hatte mich nicht verwandelt.
Genauso wenig wie vor all den Jahren, nachdem ich von den Hungernden angegriffen worden war.
Außerdem hatte ich schon Bedenken gegenüber den Aufgestiegenen, bevor Casteel in mein Leben getreten war. Er hatte sie nur bestätigt. Aber entsprachen wirklich alle seine Behauptungen der Wahrheit? Das konnte ich unmöglich wissen. Meine Finger schmerzten, so fest umklammerte ich das Messer.
»Wir haben keine Hinweise darauf gefunden, wo unser Prinz gefangen gehalten wird, und zu viele werden nie wieder zu ihren Familien zurückkehren«, fuhr Landell fort. Seine Stimme wurde mit jedem Wort ruhiger und troff vor Wut, die ich auch ohne meine Gabe spürte. »Aber jetzt haben wir etwas. Endlich haben wir etwas, das wir einsetzen können, um mehr über den Verbleib deines Bruders zu erfahren. Vielleicht können wir ihn sogar befreien und verhindern, dass er gezwungen wird, immer neue Vampyre zu erschaffen, und dabei durch dieselbe Hölle gehen muss, die du selbst nur allzu gut kennst. Und stattdessen kehren wir heim?«
Ich wusste von dieser Hölle.
Ich hatte die unzähligen Narben an Casteels Körper gesehen. Das Brandzeichen in Form des königlichen Wappens auf seinem Oberschenkel, knapp unter der Hüfte.
Doch Casteel schwieg immer noch. Niemand sagte ein Wort, keiner bewegte sich. Weder die Leute am Tisch noch jene an der Feuerstelle im hinteren Teil des Speisezimmers.
Landell war noch nicht fertig. »Die Männer, die draußen in der großen Halle an den Wänden hängen, haben ihr Schicksal verdient. Nicht nur, weil sie deine Befehle missachtet haben, sondern auch, weil sie uns unsere Geisel genommen hätten, wenn sie bei der Ermordung der Jungfräulichen Erfolg gehabt hätten. Sie haben die Sicherheit des rechtmäßigen Erbens aufs Spiel gesetzt, um Rache zu üben. Deshalb ist es ihnen meiner Meinung nach recht geschehen, auch wenn einige zu meinen Freunden zählten – und zu den Freunden vieler anderer an diesem Tisch.«
Ich werde sie umbringen.
Das hatte Casteel mir versprochen, als er meine Wunden gesehen hatte. Und er hatte sein Versprechen gehalten. Bis auf eine Ausnahme. Casteel hatte die Männer, von denen Landell gesprochen hatte, an die Wand genagelt. Sie waren mittlerweile tot. Alle außer Jericho. Der Anführer erlitt einen langsamen, qualvollen Tod, um alle daran zu erinnern, dass mir kein Haar gekrümmt werden durfte.
»Du könntest sie benutzen«, zischte Landell wütend. »Sie ist der Liebling der Königin. Die Auserwählte. Wenn sie deinen Bruder jemals gehen lassen, dann nur im Tausch gegen sie. Aber stattdessen willst du nach Hause, um sie zu heiraten?« Er deutete mit dem Kinn auf mich. »Ausgerechnet sie?«
Die Abscheu in seiner Stimme versetzte mir einen Stich, aber ich hatte wesentlich abwertendere Dinge von Herzog Teerman zu hören bekommen, sodass ich nicht die geringste Reaktion zeigte.
Kieran fuhr zu Landell herum. »Wenn du auch nur einen Funken Verstand besitzt, hörst du jetzt auf zu reden. Sofort.«
»Nein, lass ihn«, widersprach Casteel. »Er hat ein Recht, seine Meinung kundzutun. Genau wie Elijah. Aber es scheint, als hätte Landell mehr zu sagen als Elijah, und ich würde es gern hören.«
Elijah spitzte die Lippen und stieß einen leisen Pfiff aus, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und legte einen Arm über Delanos Lehne. »Hey, manchmal rede oder lache ich, obwohl ich die Klappe halten sollte. Aber was auch immer du vorhast oder willst, ich stehe hinter dir, Casteel.«
»Ehrlich?« Landell fuhr zu Elijah herum, und im nächsten Moment war er aufgesprungen. »Du findest es in Ordnung, dass wir Prinz Malik im Stich lassen? Dass Casteel sie mit nach Hause nimmt, in unser Land, um sie zu heiraten und sie zur Prinzessin zu machen? Eine Ehre, die unsere Leute vereinen und nicht entzweien sollte.«
Casteel bewegte sich kaum merklich und ließ die Hände von den Armlehnen gleiten.
»Wie ich gerade sagte: Ich werde Casteel zur Seite stehen.« Elijah sah Landell in die Augen. »Immer, und ganz egal, wozu er sich entscheidet. Und wenn er sich für sie entscheidet, dann tun wir das alle.«
Das ganze Gespräch war lächerlich. Und sinnlos. Es war mir egal, warum die Leute in Atlantia vereint werden mussten, denn Casteel und ich würden nicht heiraten. Allerdings bekam ich keine Gelegenheit, die anderen darüber aufzuklären.
»Ich werde mich nicht für sie entscheiden. Niemals«, schwor Landell, und die Haut in seinem Gesicht wurde dünner und dunkler, während sein Blick zwischen den anderen Männern hin und her sprang. Er war ebenfalls ein Wölfischer.
Ich justierte den Griff um das Messer und spannte die Muskeln.
»Das wisst ihr alle ganz genau. Die Wölfischen werden sie niemals akzeptieren. Egal, ob sie atlantianisches Blut in sich trägt oder nicht. Und auch die Atlantianer werden sie nicht mit offenen Armen empfangen. Sie ist eine Außenstehende und wurde von Leuten großgezogen, die uns in ein Gebiet zurückgedrängt haben, das viel zu schnell zu klein und unbrauchbar wird.« Er starrte Casteel an. »Sie respektiert dich nicht einmal, und wir sollen glauben, dass sie das Band mit dir schmieden will?«
Das Band schmieden? Ich warf einen Blick auf Kieran und Casteel. Ein Wölfischer und ein Atlantianer einer bestimmten Klasse konnten eine tiefere Verbindung miteinander eingehen, das wusste ich, und nachdem Casteel ein Prinz war, traf das zweifellos auf ihn zu. Kieran schien Casteel von allen am nächsten zu stehen, aber von einem tiefergehenden Band wusste ich nichts.
Allerdings war auch das irrelevant, weil wir nicht heiraten würden.
»Warum sollen wir glauben, dass sie würdig genug ist, um unsere Prinzessin zu werden, wenn sie dich vor deinen Leuten rundheraus ablehnt, während sie den Gestank der Aufgestiegenen verströmt?«, wollte Landell wissen. Ich zog die Nase kraus. Ich stank doch nicht nach … nach den Aufgestiegenen, oder? »Wenn sie sich weigert, dich auszuerwählen?«
»Von Bedeutung ist lediglich, dass ich sie auserwähle«, erwiderte Casteel, und mein dämliches Herz machte einen Satz. »Das ist alles, was zählt.«
Die Lippen des Wolfes kräuselten sich, und meine Augen wurden groß, als ich sah, wie seine Eckzähne länger wurden. »Wenn du das tust, wird unser Königreich untergehen«, knurrte er. »Ich werde mich dieser Schlampe mit Narbengesicht nicht ergeben.«
Ich zuckte zusammen.
Es war, als hätte er mir ins Gesicht geschlagen. Ich hob die Hand und berührte die unebene Haut auf meiner Wange, ehe mir bewusst wurde, was ich tat.
Landell senkte die Hand zur Hüfte. »Ich töte sie lieber, als beiseitezutreten und das zuzulassen.«
Nur ein Sekundenbruchteil lag zwischen Landells Worten und dem Lufthauch, der sanft durch meine Haare strich.
Im nächsten Augenblick war Casteels Stuhl leer.
Ein Schrei erklang, und etwas Schweres fiel auf einen Teller. Ein Stuhl kippte und Landell … Landell stand nicht mehr am Tisch. Sein Teller war nicht mehr leer. Ein schmaler Wurfdolch lag darauf. Ich folgte mit geweiteten Augen dem Schatten, den ich als Casteel erkannte. Er drückte Landell an die Wand, den Unterarm auf die Kehle des Wolfes gepresst.
Gute Götter, wie schnell und geräuschlos er sich bewegte …
»Du solltest wissen, dass es mich nicht im Geringsten berührt, dass du meine Entscheidungen infrage stellst. Und auch die Art, wie du gerade mit mir gesprochen hast, ist mir egal. Ich bin nicht so unsicher, dass mich die Meinung eines Untergebenen aus der Ruhe bringt.« Casteels Gesicht war nur Zentimeter von den aufgerissenen Augen des Wolfes entfernt. »Wäre das alles gewesen, hätte ich darüber hinweggesehen. Hättest du nach den ersten abwertenden Worten aufgehört, hätte ich dich mit deinem überbordenden Selbstbewusstsein ziehen lassen. Aber dann hast du sie beleidigt. Sie ist deinetwegen zusammengezuckt, und du hast sie bedroht. Das werde ich nicht zulassen.«
»Ich …« Was auch immer Landell sagen wollte, endete in einem Gurgeln, als Casteels rechter Arm nach vorne schoss.
»Und ich werde es dir nicht verzeihen.« Casteel riss den Arm zurück und warf etwas zu Boden. Es kam mit einem fleischigen Klatschen auf.
Ich öffnete langsam den Mund, als mir klar wurde, worum es sich bei dem roten Klumpen handelte. O Götter. Ein Herz. Es war tatsächlich ein Herz.
Casteel ließ den Wolf los und trat zurück. Landells Kopf fiel zur Seite, und er rutschte an der Wand nach unten. Casteel wandte sich zum Tisch um. Seine rechte Hand war blutverschmiert. »Möchte noch jemand seine Meinung loswerden?«
2
VERNEINENDES GEMURMEL HALLTE durch das Speisezimmer, aber keiner der Männer schien auch nur im Geringsten irritiert. Einige lachten sogar leise, und ich … ich starrte auf das Blut, das über Casteels Finger rann und zu Boden tropfte.
Casteel lehnte sich nach vorne und griff nach Landells Serviette. Dann schlenderte er zu seinem Stuhl zurück und wischte sich dabei die Hände sauber.
Ich sah zu, wie er sich setzte, und mein Herz pochte, als er mich unter seinen dichten Wimpern hervor ansah.
»Du findest das vermutlich übertrieben«, meinte er und ließ die zerknüllte, blutverschmierte Serviette auf seinen Teller fallen. »Aber das war es nicht. Jeder, der auf diese Art über dich oder zu dir spricht, hat sein Leben verwirkt.«
Ich starrte ihn an.
Er lehnte sich zurück. »Wenigstens habe ich ihm einen schnellen, würdevollen Tod beschert.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.
Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Ich dachte immer nur: O Götter, er hat dem Wolf mit der bloßen Hand das Herz aus der Brust gerissen.
Die Männer, die neben der Tür Aufstellung bezogen hatten, hoben Landell gerade hoch, als jemand am Tisch fragte: »Also, wann ist die Hochzeit?«
Gelächter erklang, und Casteels Lippen umspielte ein sanftes Lächeln, als er sich zu mir beugte. »Du bist von jeder Seite aus betrachtet schön. Es gibt keinen Zentimeter an dir, der weniger atemberaubend ist als der Rest.« Er hob die Wimpern, und die Intensität seines Blickes raubte mir den Atem. »Das war schon die Wahrheit, als ich es dir zum ersten Mal gesagt habe, genauso wie es heute die Wahrheit ist und morgen sein wird.«
Ich zog die Luft ein und hätte beinahe erneut nach meinem Gesicht gegriffen, doch ich hielt mich rechtzeitig davon ab. Irgendwie hatte ich mich nicht nur daran gewöhnt, mich ohne Schleier zu zeigen, sondern darüber auch meine Narben vergessen, selbst wenn ich das nie für möglich gehalten hätte. Ich schämte mich nicht für sie – schon seit Jahren nicht mehr. Sie waren ein Beweis für meine Stärke und eine Erinnerung an den grauenvollen Angriff, den ich überlebt hatte. Doch als Casteel mich zum ersten Mal ohne Schleier gesehen hatte, hatte ich Angst gehabt, dass er dem zustimmen würde, was Herzog Teerman immer gesagt hatte. Und was sich zweifellos die meisten dachten, die mich ohne Schleier sahen.
Nämlich, dass die Hälfte meines Gesichts ein Meisterwerk und die andere Hälfte eine Tragödie war.
Doch als Hawkes – Casteels – Blick auf die gezackte, blassrosa Narbe gefallen war, die unter dem Haaransatz begann und von dort über die Schläfe bis zu meiner Nase reichte, und er auch die zweite, etwas kürzere Narbe gesehen hatte, über meine Stirn und durch die linke Augenbraue, hatte er nur gemeint, dass beide Hälften als Gesamtheit wunderschön seien.
Und ich hatte ihm geglaubt. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mich schön gefühlt. Etwas, das mir bis dahin verboten gewesen war.
Und bei den Göttern, ich glaubte ihm immer noch.
»Seine Worte waren mehr als eine Beleidigung. Es war eine Drohung, die ich nicht tolerieren werde«, fuhr Casteel fort. Dann lehnte er sich zurück und griff mit derselben Hand nach dem Glas, die noch vor wenigen Minuten einem Mann das Herz aus der Brust gerissen hatte.
Mein Blick fiel auf den Dolch auf Landells Teller. Das, was der Wolf damit vorgehabt hatte, sollte mich im Grunde nicht schockieren. Mir war durchaus klar, dass viele am Tisch mich am liebsten in Stücke gehackt hätten. Ich wusste, dass ich hier nicht sicher war, aber andererseits hatten alle die Männer an den Wänden der großen Halle gesehen. Sie wussten, was passierte, wenn sie sich Casteel widersetzten.
Offenbar unterschätzte ich immer noch den Hass dieser Leute auf alles, was sie an die Aufgestiegenen erinnerte. Und dazu gehörte ich nun mal, auch wenn ich ihnen nichts getan hatte, außer mich gegen sie zu verteidigen.
Die Gespräche wurden wieder aufgenommen. Leise und auch lauter. Gelächter erklang. Es war, als wäre nichts geschehen, und das erschütterte mich.
Kieran räusperte sich. »Willst du zurück auf dein Zimmer, Penellaphe?«
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich einen Moment lang brauchte, um zu antworten. »Du meinst, in meine Zelle?«
»Es ist um einiges komfortabler und nicht annähernd so zugig wie eine Zelle«, erwiderte er.
»Eine Zelle ist eine Zelle, egal, wie komfortabel sie ist.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir beide dieses Gespräch vorhin schon hatten«, mischte Casteel sich ein.
Ich sah ihn an. »Und ich bin mir ziemlich sicher, dass mir das egal ist.«
»Genauso, wie ich mir sicher bin, dass wir am Ende zu dem Schluss kamen, dass du noch nie wirklich frei warst, Prinzessin«, fügte Casteel hinzu, und die Wahrheit in diesen Worten traf mich genauso hart wie beim ersten Mal. »Ich glaube, du würdest echte Freiheit gar nicht erkennen, falls sie dir jemals angeboten werden sollte.«
»Ich weiß genug, um mir klar darüber zu sein, dass Freiheit nichts mit dem zu tun hat, was du mir anbietest«, versetzte ich, und die Wut kehrte schlagartig zurück. Ich hieß die Hitze willkommen, die meine viel zu kalte Haut wärmte.
Ein kaum merkliches Lächeln umspielte Casteels Lippen, aber es hatte nichts Verkniffenes, Kalkulierendes an sich. Meine Wut wich Verwirrung. Wollte er mich ködern?
Mehr als aufgewühlt wandte ich mich an den Wolf. »Ich würde gern in meine komfortablere, nicht zugige Zelle zurückkehren, aber ich nehme an, es ist mir allein nicht gestattet, oder?«
Kierans Mundwinkel zuckten, aber er riss sich eilig zusammen. Er hatte genug Verstand, um nicht zu grinsen oder zu lachen. »Die Annahme ist korrekt.«
Ich schob meinen Stuhl zurück, ohne auf die Erlaubnis ihrer Hoheit zu warten. Die Stuhlbeine schrammten geräuschvoll über den Steinboden. Ich seufzte innerlich. Meine Bewegungen waren nicht so würdevoll, wie ich es gern gehabt hätte, trotzdem hielt ich den Kopf hoch erhoben, während ich mich vom Tisch abwandte.
Einer der Männer neben der Tür, die vorhin Landells Leiche entsorgt hatten, schritt durch das Speisezimmer und direkt auf den Prinzen zu. Er beugte sich nach unten und flüsterte Casteel etwas ins Ohr, während Kieran sich erhob. Ich machte einen Schritt vom Tisch weg, ohne auf Kieran zu warten oder dem Blut an der Wand Beachtung zu schenken.
Im nächsten Augenblick stand Casteel neben mir und legte mir die Hand auf den Arm. Überrascht schnappte ich nach Luft und wollte ihm meinen Arm entziehen.
»Nicht«, flüsterte Casteel und hielt ihn fest. Etwas in seinem Tonfall ließ mich innehalten. Ich sah ihn an. »Wir bekommen Gesellschaft. Du kannst dich später gegen mich auflehnen. Vermutlich gefällt es mir sogar. Aber tu es nicht vor ihm.«
Unsere Blicke trafen sich, und mein Magen zog sich zusammen. Wieder versetzte mich sein Tonfall in Unbehagen. Wer würde gleich durch die Tür treten? Sein Vater? Der König?
Casteel trat einen Schritt zur Seite, sodass sein Körper meinen teilweise verdeckte, als mehrere Männer erschienen. Mein Blick fiel auf einen Mann mit sandbraunen Haaren und breiten Schultern, der in der Mitte ging. Ich wusste instinktiv, dass Casteel von ihm gesprochen hatte.
Die dichten Haare des Mannes reichten ihm bis zu dem kantigen, harten Kinn, und er wirkte um einiges älter als Casteel. Wenn er sterblich gewesen wäre – was ich bezweifelte –, hätte ich ihn etwa in der Mitte seines Lebens geschätzt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser Mann Casteels Vater war. Es gab keinerlei Ähnlichkeit, was aber nicht viel bedeuten musste.
Er kam mit großen Schritten auf uns zu. Sein schwerer, mit schmelzendem Schnee bedeckter Mantel teilte sich, und darunter kam eine schwarze Tunika mit zwei goldenen Linien zu Vorschein, die sich über seiner Brust kreuzten. Er kam näher, und ich schaffte es irgendwie, nicht nach Luft zu schnappen. Es waren nicht die blassblauen Augen, die alle Wölfischen gemein hatten, sondern die tiefe Furche, die über seine Stirn verlief, als hätte jemand versucht, ihm den Kopf zu spalten. Gerade mich durften derartige Narben nicht überraschen. Beschämt wandte ich den Blick ab. Die Verletzung selbst wirkte nicht abstoßend. Der Mann war auf wilde Art attraktiv und erinnerte mich an einen Löwen. Es war lediglich ein Schock, jemanden – vermutlich einen Wölfischen – mit einer derartigen Narbe zu sehen. Ich merkte am Rande, dass Kieran hinter mich getreten war.
»Was in aller Götter Namen ist hier los?«, wollte der Mann wissen.
Mir stockte der Atem, und mein Blick sprang zu ihm. Seine Stimme … sie klang unglaublich vertraut.
»Oder will ich es gar nicht wissen?«, fuhr er fort und hob die Augenbrauen, als er das Blut an der Wand sah. Die Männer, die mit ihm gekommen waren, nahmen am Tisch Platz. Alle bis auf einen. Er war kleiner als Casteel und stämmiger. Er hatte rotbraune Locken und dieselben golden leuchtenden Augen, blieb dicht bei dem Mann mit der schwarzen Tunika und starrte mich an.
»Ich habe nur ein wenig umdekoriert«, erwiderte Casteel, und der Wolf lachte leise, während sich die beiden Männer per Handschlag begrüßten.
Mein Herz blieb erneut stehen. Dieses Lachen … es war kratzig und rau, als wäre seine Kehle nicht an das Gefühl gewöhnt. Genau wie bei Vikter. Meine Kehle zog sich zusammen. Deshalb waren mir seine Stimme und sein Lachen so vertraut.
»Ich hätte dich nicht so rasch hier erwartet, Alastir«, meinte Casteel.
»Wir haben uns beeilt, um dem Sturm zuvorzukommen, der in diese Richtung zieht.« Alastirs Blick glitt an Casteel vorbei zu mir. Ein neugieriger Ausdruck huschte über sein Gesicht, der aber die aufgestaute Wut und die kalte Abscheu in seinem Blick nicht kaschieren konnte. »Das ist sie also.«
»Ja, das ist sie.«
Als Alastir den Blick senkte, verkrampften sich sämtliche Muskeln in meinem Körper. Er neigte den Kopf, und ich brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass er auf meinen Hals starrte …
Dieser verdammte Biss!
Mein Zopf war mir von der Schulter gerutscht und hatte den Blick darauf frei gegeben.
Alastir presste die Lippen aufeinander und wandte sich wieder an Casteel. »Offenbar ist seit unserer letzten Unterhaltung einiges passiert.«
»Es hat sich vieles verändert«, bestätigte Casteel. »Einschließlich meiner Beziehung zu Penellaphe.«
»Penellaphe?«, wiederholte Alastir überrascht und hob eine Augenbraue. »Benannt nach der Göttin der Weisheit, der Loyalität und Pflicht?«
Nachdem ich nicht einfach dastehen und ihn nicht beachten konnte, nickte ich.
Ein leises Lächeln erschien. »Ein passender Name für die Jungfräuliche.«
»Nur, solange du sie nicht näher kennengelernt hast«, erwiderte Casteel, und ich presste die Lippen aufeinander, um nicht mit einer Antwort herauszuplatzen.
»In diesem Fall kann ich es kaum erwarten, genau das zu tun.« Alastirs Lächeln wurde verkniffener.
»Leider musst du dich noch ein wenig gedulden.« Casteel sah zu mir zurück, und unsere Blicke trafen sich für einen kurzen Augenblick. Er war jedoch lang genug, um mir im Klaren darüber zu sein, dass ich das, was er als Nächstes sagte, nicht infrage stellen sollte.
»Penellaphe wollte sich gerade zurückziehen.«
Kieran trat näher und legte mir eine Hand auf den unteren Rücken. Ich widerstand dem Drang, mich zu widersetzen, denn mir war klar, dass Casteel mich nicht in der Nähe dieses Mannes wissen wollte. Und dafür gab es vermutlich einen guten Grund.
Ich ging auf die Tür zu und spürte, wie mir die Blicke der Männer folgten. Ich hatte den halben Weg hinter mir, als ich Alastir fragen hörte: »Ist es klug, die Jungfräuliche einfach so umherstreifen zu lassen?«
Ich hielt inne …
»Geh weiter«, zischte Kieran. Der Griff des gestohlenen Messers drückte sich in meine Handfläche.
Kieran hielt mit mir Schritt, während wir an den Wachen vorbeitraten, die wieder Aufstellung zu beiden Seiten der großen Holztüren genommen hatten. Ich ging weiter und ermahnte mich, nicht nach oben zu sehen. Trotzdem hob ich den Blick, als wir an dem gepfählten Körper von Mr. Tulis vorbeikamen.
Meine Brust zog sich zusammen. Er und seine Frau waren vor den Herzog und die Herzogin von Teerman getreten und hatten um Gnade für ihren drittgeborenen und einzig verbliebenem Sohn gebeten, der im Zuge des Rituals den Göttern übergeben werden sollte. Ich hatte ihren unendlichen Schmerz und die Verzweiflung gespürt, und selbst ohne meine Gabe hätte mich beides tief getroffen. Ich hatte vorgehabt, ihren Fall mit der Königin zu besprechen. Und wenn das nichts geholfen hätte, hätte ich nach einer anderen Lösung gesucht.
Doch am Ende war der gesamten Familie – Mr. Tulis, seiner Frau und ihrem kleinen Jungen – die Flucht gelungen, und sie konnten ein neues Leben beginnen. Trotzdem hatte er mir die Wunde beigebracht, die mich getötet hätte, wenn Casteel nicht gewesen wäre.
Ich starrte in sein fahles Gesicht und auf das getrocknete Blut auf seiner Brust und hätte am liebsten »Warum?« gebrüllt. Was hatte ihn dazu getrieben? Er hatte alles weggeworfen für einen kurzen Moment der Rache. Obwohl ich ihm und seiner Familie nie etwas getan hatte. Aber am Ende spielte das alles keine Rolle. Am Ende musste sein Sohn ohne Vater aufwachsen.
Aber zumindest war er am Leben. Hätte man ihn während des Rituals den Göttern übergeben, hätte ihn vermutlich ein schlimmeres Schicksal als der Tod erwartet. Ich hatte keine Ahnung, wie lange die drittgeborenen Söhne und Töchter in den Tempeln überlebten. Wurden sie … wurden sie sofort als Nahrungsquelle missbraucht, sogar schon als Säuglinge? Als Kleinkinder? Die drittgeborenen Söhne und Töchter wurden einmal im Jahr übergeben, während die zweitgeborenen Söhne und Töchter zwischen dreizehn und achtzehn Jahren an den Hof kamen. Sie durften leben – zumindest die meisten. Immer wieder starben Hofdamen und Hofherren an einer Blutkrankheit, die ausschließlich nachts ausbrach. Casteel hatte erzählt, dass die Vampyre Schwierigkeiten hatten, ihr Verlangen nach Blut in Zaum zu halten, und mittlerweile bezweifelte ich, dass tatsächlich eine Krankheit die Hofdamen und Hofherren dahinraffte. Viel eher war es so wie bei Malessa Axton, die mit Bisswunden am Hals und gebrochenem Genick gefunden worden war. Ich konnte es zwar nie beweisen, aber ich wusste, dass Lord Mazeen, ein Aufgestiegener, sie getötet und ihre Leiche in einem Zimmer zurückgelassen hatte, wo alle sie sehen konnten.
Zumindest wird Lord Mazeen niemandem mehr Leid zufügen, dachte ich mit grausamer Genugtuung. Ich konnte mich noch gut an das Entsetzen in seinem Blick erinnern, als ich ihm die Hand abgehackt hatte. Ich hätte nie gedacht, dass ich – außer im Fall der Hungernden – einmal Freude beim Töten empfinden würde, aber Lord Mazeen hatte mich eines Besseren belehrt.
Allerdings hielt die Freude nur kurz, denn sofort machten sich wieder Gedanken an die Kinder in mir breit. Wie konnte jemand – egal, ob sterblich oder nicht – so kleinen Wesen etwas antun? Und sie taten es seit Hunderten von Jahren.
Mir fiel auf, dass ich innegehalten hatte, und ich setzte mich wieder in Bewegung. Mein Herz war so schwer, dass ich mir nicht einmal die Mühe machte, zu Jericho nach oben zu sehen. Ein klägliches Wimmern verriet mir, dass er noch am Leben war.
Meiner Meinung nach hatte jeder einen würdevollen Tod verdient, selbst Jericho, trotzdem verspürte ich keinen Funken Mitleid.
Und Landell? Tat mir sein Schicksal leid? Nicht wirklich. Aber was sagte das über mich aus?
Nachdem ich nicht weiter darüber nachdenken wollte, fragte ich: »Wer war der Mann?«
»Alastir Davenwell. Der Berater des Königs und der Königin. Ein enger Freund der Familie und fast wie ein Onkel für Casteel und Malik«, antwortete Kieran, und ich zuckte zusammen, als er Casteels Bruder erwähnte.
»Will Casteel mich deshalb nicht in seiner Nähe wissen? Weil Alastir seine Eltern berät? Oder weil er auch vorhat, mich in Stücke zu hacken?«
»Alastir neigt nicht zur Gewalt, trotz seiner Narben. Aber auch wenn er sich seiner Stellung gegenüber dem Prinzen bewusst ist, ist er dem König und der Königin treu ergeben. Und es gibt Dinge, die Casteel lieber vor seinen Eltern geheim halten möchte.«
»Wie zum Beispiel die lächerliche Idee mit der Hochzeit.«
»So in etwa.« Kieran wechselte das Thema, als wir um die Ecke und in den Gemeinschaftsbereich traten, wo es nicht mehr nach Tod stank. »Hast du Mitleid mit dem Sterblichen? Mit dem Mann, dem Cas bei der Flucht vor den Aufgestiegenen geholfen hat?«
Cas.
Bei den Göttern, was für ein harmloser Spitzname für einen derart gefährlichen Mann!
Wir betraten das schmale Treppenhaus, und mir fiel auf, dass Kieran ohne Kurzschwert und Bogen vor mir herging. Angesichts dessen, was er war, war er allerdings alles andere als hilflos. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, einen Fluchtversuch zu wagen. Ich hätte es keinen Meter weit geschafft. Wölfe waren unglaublich schnell.
Kieran blieb ohne Vorwarnung stehen und fuhr so schnell herum, dass ich zurückwich und mit dem Rücken an die Wand krachte. Er trat einen Schritt vorwärts, neigte den Kopf und beugte sich zu mir. Als er tief einatmete, versteifte ich mich.
Wollte er …?
Er senkte den Kopf noch weiter, und seine Nase berührte meine Schläfe. Er zog erneut die Luft ein.
»Was machst du da?« Ich trat zur Seite, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen. »Beschnüffelst du mich etwa?«
Er richtete sich auf, seine Augen wurden schmal. »Du … riechst anders.«
Ich hob die Augenbrauen. »Tatsächlich? Keine Ahnung, was ich darauf erwidern soll.«
Er schien mich nicht zu hören. Im nächsten Augenblick hellte sich sein Gesicht auf. »Du riechst nach …«
»Wenn du jetzt wieder damit kommst, dass ich nach Casteel rieche, knall ich dir eine«, schwor ich. »So fest ich kann.«
»Du riechst tatsächlich nach ihm, aber das meine ich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Du riechst nach Tod.«
»Aha. Danke. Das ist aber nicht meine Schuld.«
»Du verstehst das nicht.« Kieran betrachtete mich noch einen Moment, dann wandte er sich ab und stieg weiter die Treppe hoch.
Nein, ich verstand nicht, und im Grunde wollte ich es auch gar nicht verstehen.
Ich schnupperte am Ärmel meiner Tunika. Er roch nach … gebratenem Fleisch.
»Du hast vorhin gesagt, dass du kein Mitleid mit den toten Männern hast«, meinte Kieran, während ich ihm folgte.
»Daran hat sich nichts geändert. Sie wollten mich umbringen.« Wir traten auf den Laubengang. Feuchte, kühle Luft umfing uns. »Aber ich habe trotzdem Mitleid mit Mr. Tulis.«
»Das solltest du nicht.«
»Habe ich aber.« Ich zog zitternd die Schultern hoch, als ein heftiger Windstoß mich traf. »Er hat eine zweite Chance bekommen, aber er hat sie fortgeworfen. Es tut mir leid, dass er diese Entscheidung getroffen hat, und ich habe Mitleid mit seiner Frau und seinem Sohn. Genauso wie mit den Familien der anderen Männer, die an dieser Wand hängen.«
Kieran ging nun neben mir und schirmte mich gegen den Wind ab. »Dein Mitgefühl mit den Familien ist nachvollziehbar.«
Ich blieb überrascht stehen, sagte aber nichts.
»Was?«
»Nichts«, murmelte ich.
Er lachte leise. »Du dachtest, ich wäre nicht zu Mitgefühl fähig.«
Ich warf einen Blick in den Burghof unter uns. Die dünne Schneeschicht leuchtete im Mondlicht. Dahinter sah ich nichts als das Dunkel des Waldes. Es war seltsam, dass hier keine Mauer die Sicht verstellte. Selbst kleine Dörfer waren von Wänden aus Kalkstein und Eisen aus den Elysium-Bergen umgeben, und auch die verschlafene Stadt Neuanfurt hatte eine, obwohl wenn sie um einiges kleiner war als die Mauern, die ich aus Masadonien und Carsodonien kannte.
»Ich habe keine Ahnung, wozu du fähig bist«, gestand ich und ließ die Hand über das kühle Holz des Geländers gleiten. Der Wind hatte weiter aufgefrischt und wehte mir die Haarsträhnen ums Gesicht, die aus meinem Zopf geschlüpft waren. »Ich weiß kaum etwas über die Wölfischen.«
»Meine tierische Seite löscht die sterbliche Seite nicht aus«, erwiderte er. »Ich habe sehr wohl Gefühle.«
Unsere Blicke trafen sich. »So habe ich das nicht gemeint. Es ist nur …« Ich verstummte. Wie hatte ich es denn dann gemeint? »Na gut, vielleicht habe ich es doch so gemeint. Tut mir leid.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Es ist ja nicht so, dass du schon viele Wölfische kennengelernt hast.«
»Ja, aber das ist keine Entschuldigung.« Ich umfasste das Geländer fester. »Es gibt viele Leute aus allen Teilen der Welt, denen ich noch nie begegnet bin und über die ich nichts weiß. Das ist aber noch lange kein Grund, Mutmaßungen anzustellen.«
»Das ist wahr«, erwiderte er, und ich wand mich innerlich. Wie oft hatte ich Mutmaßungen über die Atlantianer angestellt? Und über die dunklen Nachkommen? Verzerrte Wahrnehmungen wurden gelehrt und erlernt. Es war vielleicht nicht meine Schuld, aber deshalb war es noch lange nicht akzeptabel.
Andererseits hatten die Leute am Tisch nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als Casteel Landell getötet hatte. Was sagte das über sie aus? »Sind solche Dinge wie heute Abend bei euch üblich?«
»Was meinst du? Den Heiratsantrag oder die Operation am offenen Herzen?«
Ich warf Kieran einen bösen Blick zu. »Landell.«
Er musterte mich einen Augenblick, dann richtete er den Blick in den Burghof und ließ ihn anschließend zu den Bäumen wandern. »Nein, eigentlich nicht. Auch wenn du es im Moment nicht sehen kannst – oder willst –, Cas ist kein Tyrann. Ehrlich gesagt, kommt es selten vor, dass ihn jemand infrage stellt. Nicht weil das, was er tut oder nicht tut, immer vernünftig ist, sondern weil er es nicht scheut, sich die Hände schmutzig zu machen, um seine Autorität zu unterstreichen, seine Wünsche umzusetzen oder diejenigen zu beschützen, die ihm etwas bedeuten.«
Ich war einigermaßen erleichtert, dass Casteel nicht regelmäßig Leuten das Herz aus der Brust riss. Das war gut … glaubte ich zumindest. Obwohl ich mir die Hoffnung nicht erlaubte, dass ich zu denen gehörte, die ihm etwas bedeuteten. Vielmehr brauchte er mich.
»Es ging vorhin nicht darum, dass Landell Cas infrage gestellt hat.« Kieran wandte sich zu mir um. »Es ging nicht darum, dass Landell nicht verstehen wollte, warum sich der Prinz für dich entschieden hat. Und auch nicht darum, dass er ihn herausgefordert hat. Atlantianer und Wölfische würden alles tun, um ihre Heimat zu beschützen, und Landell hielt dich offensichtlich für eine Bedrohung«, erklärte Kieran, und ich fragte mich, was ich mit Landells Sorge zu tun hatte, dass ihr Land zu schnell zu klein und unbrauchbar werden würde. »Cas hat das Richtige getan. Hätte er nicht eingegriffen, hätte Landell den Dolch geworfen. Und es wird andere geben, die dasselbe wollen.«
Angst stieg in mir hoch. »Dann war Landell also eine weitere Warnung? Wie viele wird es noch geben?«
»So viele wie nötig.«
»Und das bringt dich nicht zum Nachdenken? Einige der Männer waren doch deine Freunde, oder?«
»Leuten, die so dämlich sind, dich vor Cas zu beleidigen oder dir zu drohen, stehe ich im Allgemeinen nicht sehr nahe.«
Ich hätte beinahe aufgelacht, obwohl es alles andere als witzig war. »Ihr scheint in einem Moment voller Emotionen und im nächsten vollkommen apathisch.«
»Hast du denn noch nicht versucht, meine Gefühle zu ergründen?«, fragte Kieran und überraschte mich damit erneut.
Ich starrte ihn durchdringend an. Dann fiel mir ein, dass Kieran dabei gewesen war, als ich meine Gabe eingesetzt hatte, um die Schmerzen eines sterbenden Wächters zu lindern. Trotzdem war es seltsam, mit jemandem über etwas zu reden, das ich so lange verheimlichen musste.
»Cas hat erzählt, dass du anfangs lediglich Schmerzen spüren und lindern konntest, sich die Gabe aber mit der Zeit verändert hat.«
Ich nickte. »Ja, es hat erst vor Kurzem angefangen. Ich weiß nicht, warum. Ich habe die Herzogin danach gefragt, weil ich dachte, dass die erste Jungfräuliche vielleicht dasselbe konnte.« Mein Körper verkrampfte sich. Die Herzogin hatte mir erzählt, dass die erste Jungfräuliche anfangs ebenfalls Schmerz spüren konnte, doch je näher sie ihrem Aufstieg kam, desto mehr Gefühle konnte sie entschlüsseln. Genau wie ich. Ehrlich gesagt, wusste man nicht viel über meine Vorgängerin. Ihr Name war genauso unbekannt wie die genaue Zeit, zu der sie gelebt hatte. Die Herzogin hatte lediglich angedeutet, dass der dunkle Sohn die erste Jungfräuliche getötet hatte.
Casteel.
Ich erzitterte, und es lag nicht am Wind. »Ich habe nicht versucht, deine Gefühle zu lesen. Ich vermeide es, so gut es geht, weil es sich wie ein Eindringen anfühlt.«
»Es mag ein Eingriff sein«, stimmte er mir zu. »Aber es gibt dir bei bestimmten Begegnungen auch die Oberhand.«
Ja, das tat es.
»Glaubst du, er hat den anderen davon erzählt?«, fragte ich.
»Cas? Nein. Je weniger sie über dich wissen, desto besser«, antwortete er, und ich hob die Augenbrauen. »Ich weiß von keinem noch lebenden Atlantianer, der spürt, was andere fühlen.«
»Was soll das bedeuten?«
»Ich bin mir noch nicht sicher.« Er ging weiter. »Kommst du? Oder willst du hier rumstehen, bis du zu Eis gefroren bist?«
Seufzend löste ich mich vom Geländer und trat neben ihn vor die Tür.
Er zog einen Schlüssel aus der Tasche »Deine Gabe wird vor allem in Umgang mit Cas hilfreich sein.«
»Ich habe nicht die Absicht, Umgang mit ihm zu haben.«
Ein leises Lächeln umspielte Kierans Lippen, während er mir die Tür aufhielt. Ich trat ins Zimmer, das dank des offenen Kamins angenehm warm war. »Aber er hat definitiv vor, Umgang mit dir zu haben.«
Ich behielt das Fleischmesser sicher unter meiner Tunika versteckt, als ich mich zu ihm umdrehte. »Du meinst, der hat definitiv vor, mich zu benutzen.«
Er neigte den Kopf. »Das habe ich nicht gesagt, Penellaphe.«
»Warum nicht? Glaubst du wirklich, er hat seinen Bruder aufgegeben? Ich nicht. Er sagte doch selbst, dass ich der Liebling der Königin bin«, fauchte ich. »Diese Ehe gehört zu seinem Plan, seinen Bruder zu befreien. Wobei ich keine Ahnung habe, warum er das bei Tisch nicht einfach zugegeben hat.«
»Ich glaube nicht, dass einer von euch beiden die Wahrheit kennt.«
»Was soll denn das heißen?«
Kieran musterte mich und schwieg so lange, dass sich mein Unbehagen verdreifachte. »Er hat dir doch die Wahrheit über die Aufgestiegenen erzählt, oder?«
Ich war mir zwar nicht sicher, was das mit seiner letzten Bemerkung zu tun hatte, antwortete aber dennoch: »Die Aufgestiegenen sind … Vampyre, und alles, was ich gelernt habe – und woran das Volk von Solis glaubt –, ist eine Lüge. Die Götter haben König Jalara und Königin Ileana niemals den Segen erteilt. Die Götter sind nicht einmal …«
»Nein, die Götter sind real. Sie sind unsere Götter, und sie haben sich schlafen gelegt«, stellte er richtig. »Du weißt also, dass die Aufgestiegenen keinen Segen empfangen haben. Sie sind genauso verflucht wie diejenigen, die von einem Hungernden gebissen werden. Nur dass sie nicht verwesen. Du weißt das, aber verstehst du es auch?«
Seine Worte waren wie ein Schlag in die Magengrube. »Mein Bruder …« Ich zwang mich, still zu sein. Ian tat hier nichts zur Sache. »Ich verstehe.«
»Und glaubst du, was Cas dir über die Aufgestiegenen erzählt hat?«
Ich sah ins Feuer und antwortete nicht. Auf der einen Seite hatte ich Beweise für das gesehen, was Casteel erzählt hatte – eingebrannt in seine Haut. Die Aufgestiegenen hatten Casteel gefangen gehalten, bevor sie sich seinen Bruder schnappten. Sie hatten ihn gefoltert und gezwungen, schreckliche Dinge zu tun, wie ich aus den wenigen Brocken herausgehört hatte, die er mit mir teilen wollte. Das Gefühl, das mich beim Gedanken daran überkam, war zu stark und abstoßend, um es als Ekel zu bezeichnen. Und der Schmerz in meinem Herzen wurde noch stärker, wenn ich mir in Erinnerung rief, dass Casteels Bruder bei dem Versuch gefangen genommen worden war, ihn zu befreien.
Ich mochte unheimlich wütend auf Casteel sein.
Ich mochte ihn sogar hassen.
Aber das bedeutete nicht, dass mich der Schmerz, den Casteel erleiden musste und den sein Bruder gerade in diesem Moment erlebte, nicht zum Schreien brachte.
Bedeutete das, dass alle Aufgestiegenen böse waren? Auch mein Bruder? Ich glaubte an das, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte. Aber Casteel … ich konnte gerade einmal der Hälfte dessen vertrauen, was aus seinem Mund kam, und es war auch nicht so, dass alle Atlantianer unschuldig waren.
»Wenn du ihm glaubst, warum willst du dann unbedingt zurück?«, fragte Kieran, und mein Blick huschte zu ihm. »Denn darauf läuft es hinaus, wenn du Cas nicht willst.«
»Dass ich ihn nicht heiraten will, hat nichts mit den Aufgestiegenen zu tun, sondern ausschließlich mit ihm«, entgegnete ich. »Er hat mich in jeder Hinsicht belogen.«
»Er hat dich nicht in jeder Hinsicht belogen.«
»Woher willst du das wissen?«, fuhr ich ihn an. »Oder weißt du was, antworte erst gar nicht. Es spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass er mich den Leuten ausliefern will, die ihm selbst und unzähligen anderen schreckliche Dinge angetan haben. Er will mich Leuten übergeben, die mich vermutlich als Blutkonserve missbrauchen werden, bis ich irgendwann sterbe. Und falls sich seine Pläne geändert haben – was ich bezweifle –, dann nur, weil er gemerkt hat, dass ich zur Hälfte Atlantianerin bin. Und das soll besser sein? Also, warum sollte ich ihn heiraten?«
»Warum sollte er eine Frau heiraten, die er ausliefern will?«, fragte Kieran.
»Ganz genau!« Ich presste die Lippen aufeinander und starrte in die dunkle Nacht hinaus. »Ich weiß nicht einmal, warum wir dieses Gespräch führen.«
Er schwieg einen Moment. »Du forderst ihn heraus, als hättest du keinerlei Angst. Sogar nach allem, was du bereits gesehen hast?«
»Sollte ich Angst haben?«, fragte ich, und ein unglaublich dämlicher Teil von mir wollte die Antwort erst gar nicht wissen. Ich hatte Hawke meine Geheimnisse anvertraut. Meine Sehnsüchte, meinen Körper, mein Herz, mein … Leben. Ich hatte ihm alles anvertraut, aber nichts an ihm war real gewesen. Nicht einmal sein Name.
Er hatte mich ins Taumeln gebracht, und ich war ihm verfallen – und jetzt hatte ich Angst, dass ich trotz seines Verrats immer weiter fallen würde.
Das war es, wovor ich wirklich Angst hatte.
»Er hat Dinge getan, die einige unverzeihlich finden. Dinge, die dir Albträume bescheren würden, die noch lange nach dem Aufwachen nachwirken. Er mag den Namen der dunkle Sohn hassen, aber er hat ihn sich redlich verdient.« Kierans blassblaue Augen fingen meinen Blick auf, und ein Schauer überlief mich. »Aber er ist der Einzige in allen Königreichen, den du – und nur du – niemals fürchten musst.«
3
KIERANS WORTE HÄTTEN MICH BERUHIGEN sollen, aber sie hatten genau das Gegenteil bewirkt.
Ich wanderte vor dem schmalen Fenster auf und ab, das zu klein war, um hinauszuklettern, und ließ die Tür nicht aus den Augen. Er hatte sie von außen versperrt.
Wie bei einer Zelle.
Ich ballte die Fäuste und kam erneut am Fenster vorbei. Meine Wut vermischte sich mit dem allgemeinen, ständig in mir schwelenden Unbehagen. Schuld daran war nicht Kierans Andeutung, dass Casteel den Namen dunkler Sohn verdient hatte. Nachdem er Phillips, den Wächter, der mit uns von Masadonien hierher geritten war, kaltblütig getötet hatte, war mir ohnehin klar gewesen, wie er zu dem Namen gekommen war. Der Mord an Landell war nur ein weiterer Beweis dafür, dass er ohne Zögern töten konnte – und würde –, aber …
Abrupt hielt ich inne. Ich konnte ebenfalls töten, ohne groß darüber nachzudenken. Hatte ich das nicht bei Lord Mazeen bewiesen? Und auch als Jericho und die anderen über mich herfielen, war ich dazu bereit gewesen. Ich senkte den Blick auf meine Hände. Auch sie hatten Blut vergossen, und ich konnte nicht behaupten, dass es mir dabei immer nur ums Überleben gegangen war. Lord Mazeen hatte sein Ende verdient. Der Aufgestiegene hatte dieselbe perverse Freude empfunden wie der Herzog, wenn dieser mir eine seiner Lektionen erteilt hatte, aber in dem Moment, als ich auf ihn losgegangen war, hatte er keine Gefahr dargestellt. Er hatte meinen Leibwächter und Freund Vikter Sekunden nach dessen letztem Atemzug beleidigt, und ich verspürte keinen Funken Reue bei dem Gedanken daran, was danach passiert war. Selbst wenn er kein Vampyr gewesen wäre – ein Ungeheuer war er auf jeden Fall. Vielleicht war ich deshalb nicht schockiert über das, was Casteel vorhin im Speisesaal getan hatte.
Was vermutlich bedeutete, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte.
Bevor Kieran die Tür von außen versperrt hatte, hatte er behauptet, Casteel wäre der Einzige, den ich niemals fürchten musste. Und genau das machte mich so wütend, denn damit lag er vollkommen falsch.
Ich betrachtete das Bett, und mein Magen drehte sich um, als hätte ich am Rand der Mauer in Masadonien gestanden und nach unten geblickt. Ich sah uns ineinander verschlungen, unsere Körper verschmolzen. Als ich die Bisswunde an meinem Hals berührte, durchfuhr mich ein schmerzhaftes Pochen. Ich erschauderte und suchte nach einem Anzeichen von Ekel oder Furcht. Aber da war nichts.
Er hatte mich gebissen.
Und der Biss war schmerzhaft gewesen. Aber nur zu Beginn und lediglich für ein paar Sekunden. Danach hatte es sich angefühlt, als ob … es hatte sich angefühlt, als würde ich in flüssiger Lava versinken. Ich hatte noch nie ein derart intensives Gefühl erlebt. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass so etwas überhaupt möglich war.
Doch es waren nicht die Nachwirkungen des Bisses gewesen, die zu den Ereignissen im Wald geführt hatten, während um uns herum Schnee fiel. Unsere Körper hatten sich wegen der Anziehungskraft zwischen uns verbunden. Sie hatten sich verbunden, weil meine Gefühle für ihn stärker waren als die Realität dessen, was und wer er war. Aus diesem Grund wollte ich verstehen, wie er an diesen Punkt in seinem Leben gekommen war und warum er das alles tat. Darum vergaß ich so gern alles andere, wenn ich in seinen Armen lag. Wenn ich seine Lippen auf meiner Haut spürte und den Frieden und die Verbundenheit erlebte, selbst wenn wir uns nur unterhielten.
Aber ich war nicht sicher bei ihm.
Auch wenn Casteel nie die Hand gegen mich erhoben hatte, konnte ich nicht vergessen, wer er war und was er ausgelöst hatte. Vikter mochte nicht durch Casteels Schwert den Tod gefunden haben, aber es waren die Klingen derjenigen gewesen, die ihm folgten. Und was war mit Loren und Dafina, den beiden Hofdamen, die während des Angriffs auf das Auswahlritual gestorben waren? Sie hatten sich darauf gefreut, zu Aufgestiegenen zu werden, aber ich bezweifelte, dass sie die Wahrheit gekannt hatten. Sie hatten diese Art Tod nicht verdient – ermordet von dunklen Nachkommen, die nicht einmal ihre Namen gekannt hatten. Auch ihr Tod war nicht durch Casteels Schwert erfolgt, aber der Angriff geschah in seinem Namen. Wie konnte ich ihm diese Dinge jemals vergeben?
Genauso schmerzhaft war, dass er genau wusste, wie sehr ich mich nach Freiheit sehnte. Nach der Möglichkeit, selbst zu entscheiden. Selbst wenn es nur darum ging, wo ich mich aufhielt oder mit wem ich sprach. Oder darum, mit wem ich meinen Körper teilte. Er wusste, wie viel mir diese Freiheit bedeutete, und trotzdem nahm er sie mir. Mein Herz brannte vor Schmerz, als hätte mir jemand einen Dolch in die Brust gerammt.
Aus all diesen Gründen konnte ich nicht glauben, dass ich ihm etwas bedeutete.