Fliederleicht - Johanna Emelie Marquardt - E-Book

Fliederleicht E-Book

Johanna Emelie Marquardt

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Beschreibung

Nach Bewältigung ihrer Essstörung begibt sich Yuna Haverling auf einen Trip Richtung Amsterdam und tritt das erste Mal bewusst über den eigenen Horizont hinaus. Dabei lernt sie Arvid Larsen kennen, den einfühlsamen Typen mit frühlingswiesengrünen Augen. Zwischen den beiden knistert es, und inmitten von bunten Cafés und romantischen Grachten droht Yunas innere Schutzmauer zu fallen. Doch Arvid wird von einem Geheimnis begleitet, das wie eine Gewitterwolke über ihm schwebt. Reicht das Fundament aus, damit Vertrauen in das Leben und in die Liebe gedeihen kann? Oder führt das dunkle Rätsel um Arvid zum vorzeitigen Aus ihrer sommersüßen Romanze?

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Seitenzahl: 328

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Triggerwarnung

Liebe Leserin, lieber Leser, dieses Buch enthält potenziell triggernde Textstellen. Deshalb habe ich eine Triggerwarnung verfasst, die du auf Seite → findest. Bitte beachte, dass der entsprechende Hinweis Spoiler für die gesamte Geschichte beinhaltet!

Nun wünsche ich dir zauberhafte Lesestunden

deine Johanna

Für mich,

weil ich die einzige Person bin, die diesen Traum wahrmachen konnte.

Inhaltsverzeichnis

YUNAS & ARVIDS

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

EPILOG

YUNAS & ARVIDS

Playlist

In Your Eyes – Robin Schulz, Alida Kuss an dich – HE/RO Von jetzt an – Madeline Juno Irgendwie, irgendwo, irgendwann – Nena Running scared – Nikki Jamal, Ell Bauchgefühl – Julia Engelmann Eins sein – Wilhelmine Adventure of a Lifetime – Coldplay So perfekt – Casper, Marteria In deiner kleinen Welt – Philipp Dittberner Better Together – Jeremy Loops Home – Edward Sharpe, The Magnetic Zeros I See the Light – Mandy Moore, Zachary Levi Unstoppable – Sia

PROLOG

Kämpferherzen brechen oft.

Sie stößt die Vase von der Fensterbank, in der meine Mam mir vergangenes Jahr einen Strauß Pfingstrosen als Zeichen unserer andauernden Verbindung geschenkt hatte, bevor sie mit Torben nach London zog.

In dem Augenblick, in dem das cremefarbene Porzellan in hundert Einzelteile zerspringt, werde ich an das erinnert, was auch in mir längst einem Scherbenhaufen gleicht. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um den Schmerz und die Wut zu kontrollieren, bis sie blutet.

»Mit einer Alismeyer macht man nicht einfach aus einer Laune heraus Schluss!« Ihre Stimme ist vor Kälte gefroren, während die Augen mich unbeirrt anfunkeln.

»Sei nicht albern, Olivia. Was sind schon die paar Wochen? Ja, du wirst vorerst niemanden mehr haben, an dem du deine Intrigen und Machtspielchen ausleben kannst, aber das überstehst du ganz bestimmt. Ich bin raus.«

Während meine Worte zwischen uns im Raum hängen, tritt sie mit ihren Keilabsatzschuhen in die Porzellanstücke und lässt mich das ohrenbetäubende Knirschen hören. Falls es je eine Chance gegeben hatte, die Vase wieder zusammenzusetzen, ist nun auch die letzte Hoffnung vollends zerstört.

»Ein paar Wochen … Wenige Tage … Zwei Jahre. Die Zeit spielt keine Rolle!« Wie in Slow Motion nähert sich Olivia zwei Schritte und stemmt einen Arm in die Taille. »Du hast mit mir Schluss gemacht. Hältst du dich etwa für etwas Besseres?«

»Ich bin lediglich der Meinung, dass das mit uns nicht passt. Beim besten Willen nicht …«

»Sei still! Mir soll es recht sein. Ich brauche ohnehin keinen Typen, der so rastlos ist wie du. Im Grunde genommen warst du nur zum Vögeln gut.« Ihr lodernder Blick durchlöchert mich, die Mundwinkel zucken vor Wut.

»Du bist kein Verlust für mich, Arvid. Aber deine Wohnung ist es schon. Solch eine perfekte Bleibe werde ich hier in dieser Stadt nicht mehr so schnell finden, und es ist nicht in meinem Sinne, weiterhin mit Dad unter einem Dach zu leben. Gib mir deine Wohnung, und ich lasse dich in Frieden.«

»Du hast sie nicht mehr alle«, erwidere ich kopfschüttelnd. Abwechselnd wird mir heiß und kalt, ich bin gleichermaßen wütend und sprachlos über die realitätsferne Bubble, in der Olivia lebt. Am liebsten würde ich mich selbst dafür ohrfeigen, diesen Menschen je in mein Leben gelassen zu haben.

»Ich werde mir etwas ausdenken, das meinen Vater zornig werden lässt. Oder du wählst den für uns beide leichteren Weg.«

»Du weißt selbst, dass da nichts ist.«

Kurz schaut Olivia auf ihre Fingernägel herab, nur um mich dann erneut mit hochgezogener Braue und leicht angehobenen Mundwinkeln anzublicken.

»Und?« Sie zuckt mit den Schultern. »Es reicht doch, wenn Daddy es mir abkauft.«

»Olivia. Verhalte dich einmal erwachsen.« Fassungslos kralle ich mich an der Arbeitsplatte fest. »Du kannst nicht wirklich glauben, dass ich auch nur daran denke, für dich aus dieser Wohnung auszuziehen. Sie ist das Letzte, das mir von meiner Familie bleibt.«

»Überlegs dir, du Mistkerl. Du hast Zeit, bis ich meine Sachen hier abhole!«

Sie schnaubt ein letztes Mal verächtlich, ehe sie energischen Schrittes das Zimmer durchquert.

Wenig später fällt die Haustür mit Karacho ins Schloss, das dumpfe Geräusch hallt den gesamten Abend in meinen Ohren nach.

1

Yuna

Mein ehemaliger Therapeut hat mir mal gesagt, dass die Wirkung von Oxytocin nach nur wenigen Sekunden einsetzt.

Während ich die drei vertrauten Treppenstufen erklimme und ein Duft von thailändischer Reispfanne unter der mahagonifarbenen Türschwelle hervorkriecht, bestätigt sich seine Aussage. Das Gefühl von Geborgenheit bricht in einer Welle über mich herein, spült die Ängste und Sorgen des zurückliegenden Tages einfach davon.

Es ist Juli. Die Zeit der spätblühenden, robusten Fliederarten, an die ich jedes Mal aufs Neue mein Herz verliere. Und obwohl bereits den ganzen Tag Sommerregen die Erde bedeckt, beeile ich mich nicht, in die Wohnung zu gelangen. Viel mehr genieße ich das prasselnde Geräusch und die Vereinigung von kühlen Tropfen und warmer Haut.

Ein beseeltes Lächeln bahnt sich an, als sich ein Schmetterling im Blumenbeet zu meiner Linken niederlässt. Ob er sich der grenzenlosen Freiheit bewusst ist, die ihm zuteilwird?

Ich knie mich hin, um das märchenhafte Bild noch näher zu inspizieren, nehme dabei bloß entfernt wahr, dass mir das Wasser in die hellen Sneakers rinnt.

Ich liebe dieses Beet.

Luca hat es in meinen dunkelsten Stunden als Sinnbild für inneren Wachstum mit mir angelegt. So oft fragte ich ihn damals, wie lange die Essstörung noch bleiben würde, und niemals konnte er mir eine Antwort darauf geben. Doch es kam der Tag, an dem er mit einem Sack Blumenerde in der Tür gestanden hatte.

»Wenn im Folgejahr die Pfingstrosen blühen, wird es dir längst besser gehen«, sagte er, entfachte damit einen glühenden Hoffnungsschimmer in meinem Herzen und behielt recht: Während hier draußen mit der Zeit eine bunte, zauberhafte Kulisse gedieh und erstrahlte, veränderte sich auch etwas in meinem Gefühl.

Das Beet entwickelte sich zu einem beliebten Zuhause von Bienen und Faltern, und ich fand den eigenen Platz mehr und mehr in mir selbst.

Das krankhafte Verhältnis zum Essen und zu meinem Körper hatte sich irgendwann in mein Leben geschlichen wie das trojanische Pferd, und als es mir bewusst wurde, blieb keine Nische mehr, es wieder rauszuschmeißen. Im Rückblick kann ich nicht sagen, was der Auslöser für den Hass gegen meine eigene Person war und in welchem konkreten Moment ich mich das erste Mal gegen mich selbst stellte.

Exakt diese Unwissenheit war es, die mich zahlreiche Nerven kostete, denn die Menschen wollten Antworten: Wieso bist du krank? Wieso isst du nicht einfach?

Es hätte nur noch die Aussage gefehlt, dass man nicht begreifen könne, warum ich mich nach fast jeder Mahlzeit übergab.

Die Zeit brachte mir zwar viele Antworten, doch einige Dinge verriet sie nie.

Heute weiß ich, dass es nicht darauf ankommt, die Menschen zum Verstehen zu bringen.

Die meisten werden es nicht verstehen.

Und denen, die wirklich verstehen möchten, gelingt es in einer absoluten Selbstverständlichkeit. Das Ganze ist eine Sache der Perspektive, weshalb ich für mich entschieden habe, mir meine eigene geschützte Welt zu kreieren und sie niemals mehr zu verlassen.

»Hey, Süße, möchtest du nicht reinkommen?« Während Luca mir über den Rücken streichelt, wärmt mich seine Hand und langsam sickert das Bewusstsein durch, dass ich inzwischen klitschnass bin.

»Hey.« Ich stehe auf und lasse mich in seine Arme fallen, die er trotz meiner triefenden Erscheinung weit geöffnet hält. Sanft zieht er mich über die Schwelle und lässt die Tür hinter uns ins Schloss fallen. Als Luca dann liebevoll in meine dicken, rotbraunen Locken greift und mich noch ein Stückchen fester an sich heranzieht, kann ich aufatmen.

Ich schließe die Lider, nehme seinen Duft wahr – ein Mix aus Waschpulver und angedünsteten Zwiebeln –, genieße, wie alle Anspannung von meinen Schultern fällt. Hier, im Schutze seiner Arme, bin ich zu Hause.

Luca weiß auch ohne Erklärung, wie anstrengend jeder Bürotag für mich ist, an dem ich von nervenzehrenden Menschen umgeben bin und mich sozial auf dem allerhöchsten Stresslevel befinde.

Wir kennen uns gut. So gut, dass standardmäßige Floskeln und Small Talk längst echter Empathie füreinander gewichen sind.

Für die Dauer mehrerer Atemzüge mache ich keinerlei Anstalten, mich von ihm zu lösen, koste unsere Berührung aus und spüre, wie sich meine Energie reserven wieder auffüllen.

Aus der Küche zischt und brodelt es. Der köstliche Duft berauscht meine Sinne, bis Neugierde und Hunger unsere Umarmung spalten.

»Lust auf Thailändisch?«, fragt Luca, was mich kräftig nicken lässt.

Bevor ich ins Bad verschwinde, um die Klamotten loszuwerden, die inzwischen klebrig und kalt auf meiner Haut haften, hole ich die fuchsiafarbene Stofftasche mit neongelber Aufschrift hervor und registriere, wie er mich dabei beobachtet.

»Smoothies aus Rosies Lädchen!«, ruft er aus und schnappt mir kurz darauf den Beutel aus der Hand. »Yuna, du bist die Beste!«

So sehr, wie Luca Smoothies von Rosie liebt, liebe ich seinen Blick, das Aufflackern in seinen kastanienbraunen Augen, wenn er sich über etwas freut.

»Zwei Vegan Choc Sisters für uns und ein Lava Tropical für Josh, wie immer.« Ich streife meine Sneakers ab und stelle sie akribisch genau auf die Schuhmatte – Strukturen und Symmetrie verleihen mir ein beruhigendes Gefühl der Kontrolle.

Als ich durch den Flur eile und bereits den Griff der Badezimmertür umfasse, klingelt es.

»Das muss er schon sein«, sagt Luca und beeilt sich erneut zu öffnen.

Josh kommt zum Vorschein, aber weil die beiden nur Augen füreinander haben, bemerkt er meine Anwesenheit nicht.

»Hey, mein Schatz.« Er lässt ein Stückchen Papier in der Tasche von Rosie verschwinden. »Ich habe etwas Interessantes für Yuna mitgebracht, was du dir gleich unbedingt anschauen musst.« Zärtlich umfasst Josh Lucas Gesicht und küsst ihn innig zur Be grüßung.

Die Luft in der Wohnung ist plötzlich elektrisch aufgeladen. Wie immer, wenn die beiden aufeinandertreffen und ich bilde mir ein, das Knistern beinahe hören zu können.

2

Arvid

Ich bete innerlich, dass Oscar nicht an seiner Peperonipizza erstickt, während er auch nach geschlagenen fünf Minuten nicht aus dem Lachen kommt. Einige Gäste des Restaurants starren inzwischen genervt zu uns rüber, doch das stört ihn wie immer keineswegs. Ich kenne niemanden, der herzlicher lacht als Oscar.

Keuchend greift er nach einer Serviette, um damit die Tränen aufzufangen, die bereits aus seinen Augen treten und ich klopfe ihm unterstützend zwischen die Schulterblätter.

»Warum tust du mir das an?«, fragt er in ironischem Tonfall und atmet schwer. Seine gequälte Miene sieht aus, als wäre er barfuß auf einen Legostein getreten und in dieser Sekunde kann ich ebenfalls nicht mehr innehalten.

So sitzen wir da. Auf den ausgeblichenen Sitzpolstern unseres Stammlokals. Eine Momentaufnahme. Ein Polaroid. Und während die leise Musik im Hintergrund vom Wirrwarr aus verschiedenen Gesprächsfetzen immer wieder übertönt wird, genießen wir den Abend, als gäbe es keinen besseren Ort. Als gäbe es außerhalb dieses Gebäudes keine Hürden und keinen Druck. Für diesen Augenblick vergessen wir, welches beschissene Geheimnis Oscar ununterbrochen mit im Gepäck hat. Als würde es nicht mit hereingekommen sein, sondern draußen auf uns warten.

Ich muss dermaßen lachen, dass auch mir die Tränen in die Augen schießen und sogar die unterschwellige Schwere in der Magengegend, die seit Tagen konsequent dort festsitzt, für den Moment weichen muss.

Fast kommt es mir vor, als wäre ich nicht längst schon ein Teil von Oscars Unterfangen. Teil eines Geheimnisses, das nie gelüftet werden darf, mich jedoch innerlich zerfrisst.

Und ich wünsche mir, bald wieder ohne die Bedrohung leben zu können, die aktuell wie eine pechschwarze Gewitterwolke über mir schwebt.

Nicht zum ersten Mal kommt es mir erstaunlich paradox vor, dass ausgerechnet Oscar uns in diese Lage gebracht hat. Diese dunkle Seite steht in einem extremen Kontrast zu seinem fröhlichen Charakter, sodass es mir in Situationen wie diesen schwerfällt, beides mit seiner Person zu verknüpfen. Würde ein Fremder ihm über den Weg laufen, würde er Oscar niemals ansehen, womit er einen Großteil seiner Zeit verbringt. Und auch wenn uns das Thema mehr als präsent ist, vermeiden wir es, mehr darüber zu sprechen als nötig.

»Eure Trennung ist bereits zwei Wochen her und du sagst mir ernsthaft, dass sie immer noch drauf besteht, deine Wohnung zu übernehmen, weil sie es satthat, mit ihrem Vater unter einem Dach zu leben? Kein Scherz jetzt?« Oscar ringt nach Luft.

»Kein Scherz!«, versichere ich.

»Arvid, ich habe absolut keine Ahnung, wo du solche Frauen immer aufgabelst«, sagt Oscar kopfschüttelnd und hebt sein Weinglas an, »aber ich finde, darauf können wir heute mal anstoßen!«

Ein Satz auf meine Kosten, der mich mehr trifft, als ich es für erforderlich gehalten hätte. Etwas unentschlossen hebe ich dennoch mein Glas.

An Oscars Worten ist etwas Wahres dran. Etwas, das meine Nerven ohnehin schon pausenlos zermartert, die Gedanken einnimmt und übermannt. Als läge ein Fluch auf allen Beziehungen, die ich je eingegangen bin. Solch ein Fluch, dem Loyalität ein Fremdwort ist und der sich stattdessen in seinem Hang für das Toxische, fast Zerstörerische suhlt.

Jede meiner Ex-Freundinnen hatte überaus skurrile Vorstellungen vom Leben oder von der Trennung. Da war zum Beispiel Loreley. Ich hatte sie am Servicepoint der Unibibliothek kennengelernt, wir lasen die gleichen Bücher und leerten gemeinsam unzählige Kaffeekannen.

Rückblickend würde ich sagen, wir führten eine solide Beziehung. Zumindest einige Tage lang. Urplötzlich saß Loreley dann auf gepackten Koffern, fest überzeugt, schleunigst mit mir nach Sri Lanka auszuwandern, um dort ein Grundstück zu kaufen und massenweise Kinder in die Welt zu setzen. Das war der Punkt, an dem ich erkannte, dass solide nicht für einen derartigen Sprung ausreichen würde und so fand unsere Zeit ein abruptes Ende.

Obwohl die Messlatte hoch angesetzt war, gelang es Olivia, Loreley zu übertrumpfen. Wer die Wohnung des anderen verlangt – als Entschuldigung dafür, dass dieser die Trennung will –, der ist sich für nichts zu schade.

Beherzt nehme ich einige Schlucke Wein und steigere mich lieber nicht in den Gedanken hinein, dass meine Beziehungsgeschichten hervorragende Trauerspiele im Kostüm von Komödien abgeben.

»Ich wünsche dir echt, dass es nächstes Mal besser läuft.« Oscars Züge spiegeln jetzt eine gewisse Ernsthaftigkeit, das verhallte Lachen verursacht einen lästigen Nachgeschmack.

Er lässt sich von derartigen Problemen nicht zerrütten, geht dem Beziehungsstress bewusst aus dem Weg. Seit Jahren betont Oscar immer wieder, ein glücklicher Single zu sein.

»Schon gut.« Ich leere mein Glas.

Und es ist wirklich auf eine Art gut. Sobald Olivia sich endlich bequemt, ihre Sachen bei mir abzuholen, gehört sie ein für alle Mal der Vergangenheit an. Zu lange hing sie an mir wie ein emotionsloser Energieräuber.

»Oscar, bevor ich es vergesse, hätte ich da noch ein Anliegen.« Stolz über diesen ausgezeichneten Themenwechsel krame ich in meiner Jackentasche. Er beobachtet das Prozedere wortlos und zieht seine Brauen nach oben.

»Könntest du Bonnie zwei Wochen zu dir nehmen?«, ungeniert drücke ich ihm schließlich die zerknitterte Broschüre in die Hand und noch bevor er es sich anschaut, überkommt ihn ein hektisches Nicken.

»Soll das dein Ernst sein?« Seine Augen funkeln entschlossen und sein Körper spannt sich an, als wäre er kurz davor, Luftsprünge zu machen. »Natürlich nehme ich Bonnie!«

Oscar und meine Hündin sind ein Herz und eine Seele. Er liebt generell alle Hunde, was es umso verwunderlicher macht, dass er sich selbst unter keinen Umständen einen vierbeinigen Gefährten zulegen möchte. Mein Psychologie-Studentenherz erinnert das immer wieder an eine Form der Bindungsangst, weshalb ich das Thema schon länger unter die Lupe nehme.

Oscar streicht den Flyer glatt.

»Eine Reise für Schreibinteressierte«, wispert er, ohne den Blick zu heben. »Respekt, Kumpel! Du bist aber auch immer auf Trab!«

3

Yuna

Es kommt selten vor, dass Luca zu einem Thema keine konkrete Meinung hat. Umso mehr beunruhigt es mich, dass seine Blicke jetzt unsicher von Josh zu mir und wieder zurück schweifen und er währenddessen mit dem Bein zappelt, als würde er am liebsten die Flucht ergreifen.

Obwohl Luca und ich uns normalerweise perfekt ergänzen – einem fällt immer ein geeigneter Satz ein –, bin ich ebenfalls außer Gefecht und sitze mit heruntergeklappter Kinnlade auf meinem Platz am Esstisch.

Josh hebt schützend die Arme, blanke Verunsicherung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er hat eindeutig eine andere Reaktion von uns erwartet und anscheinend nicht geahnt, was für eine Gefühlslawine er mit seinem Vorschlag lostreten würde.

Für einen Augenblick ist es derart still, dass sogar das dezente Klacken von Joshs Armbanduhr hörbar ist. Während er die Dinge gern spontan und tatkräftig angeht, ohne lange über Details und Auswirkungen davon nachzudenken, sind Luca und ich Kopfmenschen. Manchmal ergeben sich Situationen, in denen wir alle drei in einem Durcheinander aus Fragezeichen und Emotionen verhaspelt sind.

Dieser Moment ist dafür ein Musterbeispiel.

»Ähm«, räuspert sich Luca zaghaft und schafft es endlich, das Kichererbsen-Curry an Jasminreis herunterzuschlucken, welches in den letzten Sekunden unbeachtet in seinem Mund verweilte.

Ich hoffe, dass er Josh jetzt verdeutlicht, wie durchtrieben und absurd seine Äußerung war, und starre ihn erwartungsvoll an. Luca hüstelt angestrengt.

»Warum eigentlich nicht, Yuna?«

Klirrend fällt mir die Gabel aus der Hand und mein Inneres wird schlagartig zum Schauplatz eines tobenden Sturmes.

»Das kannst du doch nicht ernst meinen …«

Luca und ich lassen uns nicht aus den Augen, die Stimmung ist gedrückt und ohne hinsehen zu müssen, nehme ich wahr, dass Josh schwermütig seinen tätowierten Oberarm reibt.

»Leute, bitte springt euch nicht an die Gurgel«, kommt es gepresst über seine Lippen.

Das ist die Sekunde, in der ich mich völlig ermattet und kraftlos tiefer in den Stuhl sinken lasse. Unzählige Gedanken durchströmen in Windeseile meine Nerven bahnen, veranstalten ein riesiges Chaos und sind dabei einfach nicht fassbar. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich mich mehr wütend oder erschrocken fühle, doch der Cocktail aus beidem lässt Übelkeit in mir aufsteigen. Als wäre die Lage nicht von Natur aus schon dramatisch genug, müssen sich meine Emotionen, wie immer, umgehend auf die Physiologie auswirken.

Kann ich nicht ein einziges Mal gefasst bleiben? Es ist doch glasklar: Natürlich kommt es gar nicht infrage, dass ich an einer unsinnigen Reise nach Amsterdam teilnehme. Fertig, aus.

Das wäre es, was ich hätte sagen sollen, um das Thema endgültig im Keim zu ersticken. Stattdessen zupfe ich unruhig am Saum der Tischdecke, ringe um den eigenen Verstand.

»Wieso haltet ihr eine solch hirnrissige Idee für gut?« Der Tonfall ist scharf, und noch während der Satz aus mir heraussprudelt, hoffe ich, Josh damit nicht allzu sehr zu verletzen.

Das typische, unerträgliche Wirrwarr meiner Gefühle hat die Oberhand. Unverfroren nutzt es jede Gelegenheit, die Ordnung in mir zu überrumpeln und sie zunichtezumachen, weshalb ich Unbekanntes lieber meide. Mich in sicheren Gefilden besser aufgehoben sehe.

Betreten schaut Luca seinen Partner an, als wolle er sagen, Josh müsse die Suppe selbst auslöffeln, die er uns da eingebrockt hat. In der Luft liegt eine Energie, die mir die Kehle zuschnürt.

»Yuna, ich wollte dir damit nichts Böses«, sagt Josh und hebt entschuldigend die Schultern. »Ich habe den Werbeflyer vorhin zwischen all dem anderen Krams entdeckt und musste einfach an dich denken, weil du doch so gern schreibst.«

Sein Versuch, sich zu erklären und die aufgeheizte Stimmung abzukühlen, beschert mir unverzüglich einen Anflug von schlechtem Gewissen – zweifelsohne hat er es gut gemeint, aber es fühlt sich eben nicht so an.

Die Eigenschaft, dass ich den Menschen aus Vorsicht und zumeist ganz automatisiert unterstelle, sie würden es nicht gut mit mir meinen, hat sich über die Jahre eng mit meinem Selbst verwoben. Längst verleiht sie mir das Gefühl von Kontrolle und Sicherheit – vergleichbar mit einer Mauer, die mich vor unnötigen Verletzungen schützt.

Ich atme tief ein und wieder aus.

»Nur damit ich es richtig verstehe, Josh. Du dachtest dir, dass ich zwei Wochen eine Reise mitmache, mit wildfremden anderen Teilnehmenden …«

Weil mir plötzlich schwindelig ist, muss ich eine kurze Pause einlegen, um weitersprechen zu können. Das Blut rauscht nur so in meinen Ohren und instinktiv umfasse ich die Sitzfläche des Stuhls, um Halt zu gewinnen.

»Ich könnte in der Zeit weder meinen Job ausüben, noch meinen Blog am Laufen halten. Ganz allgemein gesagt: Mein Alltag wäre total über Bord geworfen!« Ein weiterer angestrengter Atemzug. »Aber dennoch hast du diese Idee für gut befunden? Geeignet für mich?«

Ich studiere Joshs Miene und glaube, ihm das letzte bisschen Mut genommen zu haben. Gerade ist er versucht, etwas zu erwidern, als Luca ihm zuvorkommt.

»Jetzt, wo du es sagst: Es klingt doch aufregend, oder? Du könntest dir Urlaub nehmen, von dem du ohnehin noch genug hast und hättest Abstand von deinen miesen Kolleginnen. Und selbst wenn du nicht so regelmäßig online an deinem Blog arbeiten könntest, würdest du die Zeit ja clever für dich ausschöpfen, oder sehe ich das falsch?« Luca legt Josh die Hand auf den Oberschenkel, woraufhin sich dessen Züge ein wenig entspannen. »Josh hat recht. Das Schreiben ist dir eine Herzensangelegenheit und sein Vorschlag verdient es, zumindest ausgesprochen zu werden. Es ist mit den allerbesten Absichten, Süße, und die Entscheidung fällt immerhin keine andere Person als du selbst.«

Ich fühle mich von Luca hintergangen und verstanden zugleich. Er findet immer die passenden Worte und weiß genau, was meine vorherrschenden Bedenken sind, ohne dass ich sie konkretisieren muss. Ihm ist klar, wie wichtig es mir ist, meine Zeit sinnvoll zu nutzen und hinterher merken zu können, dass sich eine Sache gelohnt hat. Ich bin kein Fan von ergebnislosen Urlauben oder von Fernsehabenden, bei denen man sich tatenlos berieseln lässt. Solche Dinge lassen meinen Kopf matschig werden und bringen darüber hinaus nichts als Unzufriedenheit.

»Klingt ja erst mal plausibel«, grummle ich zerknirscht. »Aber was ist mit den anderen Aspekten? Die Menschen da? Die fremden Orte? … Das Essen?«

Beim letzten Begriff tauschen Luca und Josh verstohlene Blicke aus und nicken schließlich verständnisvoll. Das Thema Essen ist das Argument schlechthin, was vergangenen Jahren geschuldet ist, die von meiner Essstörung bestimmt wurden.

Ich bin unendlich dankbar, dass der Abschnitt, in dem ich mich nach Mahlzeiten absichtlich übergeben habe, mich kritisierend im Spiegel scannte, depressive Verstimmungen verspürte, aus Frust heulte und den Kühlschrank dabei halb zerstörte, endlich vorbei ist. Mein stabiler Zustand und ein gesundes Verhältnis zum eigenen Körper sind derart wertvoll für mich, dass ich das Schicksal unter keinen Umständen herausfordern sollte.

Wer eine gefühlte Ewigkeit in grauem Schnee und Eis lebt, behütet den kleinsten wärmenden Sonnenstrahl, der hereinscheint, wie einen Schatz. Und ich bin wahrlich nicht so unbedarft, die Sonne, die endlich wieder für mich leuchtet, aufs Spiel zu setzen.

Erst recht nicht für einen Ausflug in ein fremdes Land, der möglicherweise im Fiasko endet.

Ich werfe einen überprüfenden Blick in die Runde. Als weitere Kommentare ausbleiben und Josh sich beklommen etwas Reis nachfüllt, stelle ich erleichtert fest, dass die beiden das genauso sehen. Das Thema der Reise wird nicht mehr weitergeführt. Wir alle drei schweigen den restlichen Abend darüber.

In dieser Nacht fordern die eigenen Gedanken mein Wachbleiben ein, obwohl ich ausreichend Schlaf nötig hätte. Bis endlich das Wochenende ansteht, dauert es noch zwei Tage. Zwei Tage mit meinen anstrengenden Kolleginnen, mit dem täglich wiederkehrenden Frust.

Im Zimmer gegenüber ist schon seit Stunden Ruhe eingekehrt, Luca und Josh träumen vermutlich seelenruhig.

Obwohl ich in der Dunkelheit sowieso nichts erkenne, klebt mein Blick an der Decke. Unzählige Begriffe, Szenen und Worte kreisen seit dem Abendessen pausenlos in meinem Kopf, sind lauter als alle Pauken und Trompeten dieser Welt zusammen. Da gibt es plötzlich so viele ungeordnete Gefühle und Emotionen, die einen Durchblick unmöglich machen. Ich ärgere mich, dass mir dieser Amsterdam Trip den Schlaf raubt.

Die Minuten vergehen. Mein Herz klopft in ungesunder Geschwindigkeit.

Als schließlich der hundertsiebenundsechzigste Versuch einzuschlafen misslingt, kapituliere ich und werfe die Blümchenbettdecke zurück.

Mucksmäuschenstill, auf leisen Sohlen, tapse ich in die Küche. Es ist nicht nötig, lange nach dem zu suchen, was mich den letzten Nerv kostet. Auf dem Esstisch, dort, wo Josh vorhin noch saß, entdecke ich das gefürchtete Blatt.

Da liegt er. Der Flyer über das Reiseangebot für Inspirations suchende.

Zwei Drittel meines Körpers geheißen mir, das Ding in tausend Stücke zu reißen und hinzubringen, wo es nun einmal sein sollte – in den Papiermüll.

Der offensichtlich stärkere Anteil lässt mich jedoch nach der Broschüre greifen und sie unter meinem Shirt verstecken, als könne mich jemand ertappen.

Aber wobei eigentlich?

Die Angst, Luca oder Josh würden aufwachen und mir auf die Schliche kommen, kriecht bedrohlich meinen Rücken hinauf, treibt mich an, schnell wieder ins Schlafzimmer zu gelangen.

Mit den Fingerspitzen, ganz vorsichtig, als hätte ich es mit einem hochgiftigen Gegenstand zu tun, ziehe ich den Zettel hervor und muss kräftig schlucken.

Ich möchte nicht ansatzweise angetan von Joshs Vorschlag sein, nicht einmal leicht interessiert daran. Einzusehen, dass meine Neugierde dem klaren Kopf dabei in die Quere kommt, regt mich tierisch auf. Alles in mir sträubt sich regelrecht.

Grimmig, als wäre es nicht mein freier Wille, klappe ich das Schreiben auf. Das recycelte Papier, aus dem es besteht, besänftigt mich ein wenig und lässt mich noch etwas gespannter werden.

Du bist auf der Suche nach einer Quelle für deine Inspiration? Das Schreiben ist möglicherweise ein bedeutsames Werkzeug für dich? Du hast Lust zu texten? Würdest einen Ausflug mit neuen Menschen spannend finden? Oder gar alles zusammen?

Dann haben wir hier das perfekte Angebot für dich!

Unsere Idee: Zwei Wochen Abstand vom Alltag – rein ins bunte Amsterdam! Dort, wo Tulpen, interessante Menschen, Grachten und mehr die Stadt durchziehen, können die Wurzeln für spannende Einfälle und der gewisse Anschubs deiner Fantasie liegen. Manchmal genügt es, eingefahrene Strukturen für einen Augenblick hinter sich zu lassen und in eine andere Welt einzutauchen.

Wenn du dich angesprochen fühlst, melde dich bei uns und schnapp dir einen von sechs Plätzen.

Wir freuen uns sehr – Ansgar und Cleo.

Ich lese den Text insgesamt viermal und starre eine halbe Ewigkeit auf das Foto darunter, das mit höchster Wahrscheinlichkeit Ansgar und Cleo abbildet. Sie stehen Arm in Arm vor einem kunterbunt lackierten VW-Bus. Zwar habe ich keine genaue Ahnung, aus welchem Jahr das Auto stammt, aber sonderlich neu sieht es nicht mehr aus. Nicht neu, doch originell.

Gefällt mir originell? Und finde ich das Foto sympathisch?

Die Personen darauf grinsen relativ stark. Vielleicht etwas zu übertrieben für meinen Geschmack. Ebenso übertrieben wie dieses gesamte Konzept, das sie vorstellen. Einen ganzen Hauch zu übertrieben für mein strukturiertes, kontrolliertes, organisiertes Yuna-Leben!

Verwirrt lege ich die Broschüre auf den Nachttisch, sehr nah ans Kopfkissen, und endlich gelingt es mir einzuschlafen.

4

Arvid

Das schwarze, edle Kleid, das sich die Nacht inzwischen übergeworfen hat, fasziniert mich immer wieder. Es ist, als würde dieser dunkle Mantel den turbulenten Tag beruhigen und herunterfahren.

Unter jedem meiner Schritte gibt der Waldboden ein Stückchen nach, Äste knacksen und der laue Sommerwind lässt die Gräser rascheln.

Instinktiv stecke ich eine Hand in die Tasche meiner Holzfällerjacke, die andere umfasst Bonnies Leine. Es war eine gute Entscheidung, mich noch einmal aus dem Bett zu schälen und eine Nachtwanderung anzugehen. Besser das, anstatt gefangen im eigenen Kopf zu sein und sich dabei ständig zu wälzen wie ein Pfannkuchen.

In meinen Gedanken rotiert pausenlos ausgerechnet das Thema, weswegen Oscar und ich uns noch vor wenigen Stunden nicht mehr einkriegen konnten. Das Unbekümmerte ist längst verflogen und hat Platz geschaffen für Selbstzweifel und Reue. Ich komme nicht mit mir ins Reine. Frage mich immer wieder nach den Gründen, die jemals für die Beziehung mit Olivia gesprochen haben.

Unsere Zeit als Paar war keineswegs lang, aber dafür auf unangenehmste Weise einprägsam. Und weil sie mir fortwährend Nachrichten sendet, sich weigert, ihre Klamotten bei mir abzuholen, kann ich nicht einmal einen endgültigen Schlussstrich unter dieses Kapitel ziehen.

Oscars Vorschlag, ihre Sachen einfach im nächsten Lagerfeuer zu verheizen, gewinnt mit jedem Tag an Attraktivität. Vielleicht würde dieser Plan längst in die Tat umgesetzt sein, hätte sich Olivias Dad nicht ausgerechnet den unpassenden Job eines Cops geangelt.

Ich bin mir sicher, wäre mein Leben ein Buch, hätte die gesamte Leserschaft spätestens aufgegeben, darin zu schmökern, als Olivia auf die Bildfläche trat. Der Augenblick, an dem sie vor mir an der Kasse stand, Hähnchen keule und Geschnetzeltes aus der Tiefkühlung aufs Band legte, hatte damals alle Alarmglocken zum Klirren gebracht. Doch anstatt mit meiner veganen, tierfreundlichen Kost das Weite zu suchen, schlitterte ich geradewegs in eine Beziehung.

Es hatte nichts Romantisches an sich. Unsere Lebensstile sind so unterschiedlich, dass Konflikte vorprogrammiert waren, und meistens fühlte ich mich nach einem Treffen zehnmal übler als zuvor.

Offensichtlich kriege ich es absolut nicht auf die Reihe, eine Partnerin für eine gesunde Beziehung zu finden.

Während der Abwärtsstrudel meiner Gedanken an Fahrt gewinnt, bin ich dankbar, wenigstens frische Luft zu atmen, um klarzukommen. Solche nächtlichen Grübeleien tun mir echt nicht gut.

Bei der Vorstellung, Olivia würde sich langfristig verhalten, als wären wir drei Jahre, statt drei Wochen zusammen gewesen, kriecht mir eine unbehagliche Gänsehaut über Arme und Beine.

Vor meinem inneren Auge spielt sich ein grauenhafter Film ab, während Bonnie ihr hündisches Business – schnuppern, rennen, entdecken – unterbricht und um meine Beine herumstreicht. Es sieht danach aus, dass sie mir Trost spenden will. Der erneute Beweis dafür, wie feinfühlig Tiere sind und welche Treue für sie, ganz im Gegensatz zu vielen Menschen, selbstverständlich ist.

»Feines Mädchen!«, sage ich und tätschle sie. Sofort wirft sie sich auf den Boden, dreht sich auf den Rücken und streckt alle Viere vom Körper weg, um die optimalen Kraulvoraussetzungen zu schaffen.

Ihre Tricks amüsieren mich jedes Mal aufs Neue. Manchmal vermute ich, dass wir Menschen in einem Irrglauben leben. Ist es nicht denkbar, dass unsere Haustiere auf eine Art die Überhand besitzen? Sie haben Psychospiele meiner Erfahrung nach absolut großartig drauf und stehen den Zweibeinern in diesen Belangen häufig in nichts nach.

Total ergeben streichle ich nun ausgiebig ihr mit Gräsern und Erdstückchen verziertes Fell, glaube eine Art Genugtuung in Bonnies treuen Augen zu erkennen.

»Ja, ja, Bonnie. Ich durchschaue dich langsam!« Ein kaum merkliches Lächeln legt sich auf meine Lippen, bevor wir unseren Weg fortsetzen.

5

Yuna

Endlich habe ich die zwei langen Treppen des Bürogebäudes hinter mir gelassen, um draußen übermütig das Fahrradschloss zu öffnen. Den halben Tag schwirrt bloß ein einziges Ziel in meinem Kopf: Luca abfangen und mir von der Seele reden, welches Chaos Joshs Flyer verursacht.

Anders als befürchtet, fühle ich mich trotz der kurzen Nacht energiegeladen – etwas, das Luca mir vermutlich bereits am Frühstückstisch anmerkte. Mir ist aufgefallen, dass er mich häufiger intensiv gemustert hat, als wollte er etwas herausfinden. Nachfragen sind jedoch ausgeblieben.

Luca und ich kennen uns so gut wie Yin und Yang, wie Pech und Schwefel, wie ein Herz und eine Seele. Das gibt mir Sicherheit und ist einer der Gründe, aus denen ich unsere Freundschaft so schätze. Momente, in welchen es mir schlecht geht, müssen nicht ausgesprochen werden, damit Luca versteht. Und sobald ich fröhlich bin, ist er allein deshalb ebenfalls fröhlich.

Jemals eine vergleichbar erfüllende Beziehung zu einer anderen Person aufbauen zu können, erscheint mir maximal unrealistisch, aber so, wie es nun mal ist, bin ich ohnehin zufrieden.

Auch wenn die Kolleginnen es gern anders sehen würden. Laut ihnen wird es allerhöchste Zeit, dass ich einen Partner finde, manchmal stellen sie die Frage, ob mein Alltag ewig so weiterlaufen soll. Ich hasse das. Und noch mehr hasse ich Menschen, die sich ein Urteil über den Lifestyle anderer bilden, ohne nachzudenken und zu reflektieren. So etwas gehört sich nicht, doch leider werde ich regelmäßig mit Vorfällen dieser Art konfrontiert. Meist kommen solche Anspielungen ausschließlich von Menschen, die das klischeehaft perfekte Leben führen. So mit – ich habe meinen Partner bereits in der Sandkiste kennengelernt und inzwischen haben wir fünf Kinder und ein riesiges Haus mit weißem Zaun. Geschichten also, von denen all die Menschen auf der Arbeit berichten können.

Wer nicht schon zig Jahre verheiratet ist, oder mindestens verlobt, kann sich nur mit der Vorweisung eines positiven Schwangerschaftstests aus dem Schlamassel ziehen, in das ich aufgrund meines Beziehungsstatus täglich hineingezogen werde.

Mir mangelt es an nichts. Und wieso sollte ich zwanghaft nach etwas streben, das ich nicht vermisse?

Wenn ich dann höre, wie sie hinter ihren Schreibtischen über die jeweiligen Partner herziehen, eifersüchtig sind und sich darüber beklagen, keine Freiräume zu haben, frage ich mich nicht selten, wer hier tatsächlich ein Problem mit der Lebensführung hat.

Mein Gedankenkarussell rast, während ich immer kräftiger in die Pedalen trete. Der Wille, noch viel mehr Abstand zur Arbeit zu gewinnen, und der drängende Impuls, mit Luca zu sprechen, lassen die Landschaft vor mir verschwimmen.

Ungehemmt verwuschelt der Fahrtwind mein Haar, vernebelt mir die Sinne.

Luca und Josh sehen sich heute Abend das Eishockeyheimspiel an und weil ich ganz sicher bin, dass Luca die Praxis daher pünktlich abschließt, droht mir mein Herz vor Eile aus der Brust zu springen. Ich spute mich wirklich, um ihn im Feierabend zu erwischen, dabei ist mir gar nicht richtig klar, wie er mir helfen kann.

Nur noch zwei Linkskurven, dann würde ich in der Ferne schon das himmelblaue Schild der Physiotherapie erkennen.

Der Gedankenfunke, wie unvorsichtig ich mit dem Rad über die abschüssige Straße sause, dringt gerade noch so in mein Bewusstsein, als es geschieht. Eine Inlinerfahrerin stoppt panisch, gerät dabei ins Schwanken und kreuzt mir den Weg. Ich bremse hart, bevor ich absolut unelegant halb über den Lenker fliege und auf dem Asphalt lande. Mein rosa Fahrrad kommt eine Sekunde später auf, das Gestänge knallt mir mitten auf den Fuß. Ein stechender Schmerz jagt mir automatisch die Gänsehaut über den Rücken, aber in diesem Augenblick bin ich nur froh, dass die Inlinerfahrerin auf den Beinen ist.

Sie scheint unverletzt, zumindest ballt sie nun die Hände zu Fäusten und stemmt sie sich in die Taille.

»Sag mal, geht es noch?«, keift sie. Ihr Gesicht läuft vor Wut rot an. »Bist du etwa so breit, dass du die ganze Straße einnehmen musst?«

Mehr braucht sie nicht zu sagen.

Es kostet bloß diesen einen Satz, lediglich zwölf Wörter, und meine Welt dreht sich in schwindelerregendem Tempo. Ich will aussteigen, auf Pause drücken. Die Frage der Unbekannten trifft mich wie ein Schlag und hinterlässt genau dort eine schmerzende Spur, wo das Avocado-Sandwich aus meiner Mittagspause liegt – im Magen.

Unmöglich kann ich verhindern, dass sich mit einem Augenbrennen Tränen ankündigen, doch wenigstens ist meine Selbstbeherrschung bereit, sich mit ihnen zu duellieren.

Wie versteinert beobachte ich das eigene Blut, das mittlerweile auf den Boden tropft und einen Hauch von Eisen in der Luft verteilt. Ich wünschte, der körperliche Schmerz wäre der einzige, doch mich beschäftigt etwas anderes.

Es ist die Frage, ob das Avocado-Sandwich heute Mittag zu viel des Guten war. Gab es da überhaupt ein ausreichendes Hungergefühl, bevor ich es unbedingt essen musste? Trotz größter Anstrengung will mir eine Antwort nicht mehr in den Sinn kommen.

Unter dem hinuntergeschluckten Kummer wird die Luft zum Atmen abgeschnürt, meine Kehle brennt und kein Wort verlässt die Lippen – nicht einmal, als mein Gegenüber verärgert schnaubt. Sie schüttelt den Kopf, wobei ihre blonden Haare nur so im Wind fliegen.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, wendet sie sich ab und fährt davon. Anstatt zu bedauern, dass sie mir nicht aufgeholfen hat, bewundere ich gedankenverloren ihre perfekten Beine.

»So eine Schnepfe!«, schimpft Luca zum hundertsten Mal, als wir endlich unsere Wohnungstür erreichen, vor der Josh inzwischen wartet.

Luca hatte mich von der Straße aufgesammelt, und ich kann froh sein, dass mein Unfall auf seinem Arbeitsweg geschehen ist. Von seiner ansonsten eher gelassenen und ausgeglichenen Art ist im Augenblick nichts zu spüren. Er fährt regelrecht aus der Haut. Genau so habe ich mir schon als Kind immer große Brüder vorgestellt, von denen ich damals liebend gern einen gehabt hätte.

Während wir näherkommen, reißt Josh die Augen auf. Im nächsten Moment greift er in seine Weste und holt eine Packung Taschentücher hervor, von denen ich mir wortlos eines auf mein blutendes Knie drücke.

»So eine Hohlfrucht hat Yuna als zu breit beleidigt. Zu breit!« Luca kann sich kaum mehr beruhigen und stellt sein Fahrrad unsanft neben dem Blumenbeet ab. Anschließend schnappt er sich meins.

So bizarr die Sache auch ist, ich finde es herzerwärmend, dass er wieder einmal das herauskristallisiert hat, was mich am meisten beschäftigt. Zwar beantwortet dies nicht die Frage, weshalb mein Knie verletzt ist – was Josh, dem Gesichtsausdruck nach, brennend interessieren würde –, doch der eigentliche Kernpunkt kommt zum Vorschein.

Das, was weiterhin einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Was meine Gedanken trübt.

Anstatt weiter zu hinterfragen, hilft Josh mir die zwei Stufen zur Haustür hinauf. Ein rascher Blick aufs Handy verrät, dass den beiden kaum Zeit vor dem Eishockeyspiel bleibt.

Es ist meine Schuld, dass Luca und ich unsere Räder auf dem Rückweg geschoben haben. Hätte ich keinen Patzer verursacht, wäre der Zeitplan nicht zu Asche und Staub zerfallen.

»Jungs, ihr müsst jetzt los! Tausend Dank für eure Hilfe, aber nun schnell, schnell!« Auffordernd klatsche ich in die Hände, woraufhin ein Brennen meinen Körper durchfährt.

Ich frage mich, wann ich das letzte Mal Schürfwunden wie diese hatte, als Luca eine zwiegespaltene und unglückliche Miene in meine Richtung macht. Josh bemerkt sein Unbehagen.

»Du musst nicht mit, Liebling. Es ist okay, wenn du hier bei Yuna bleibst«, haucht er ihm zu und tastet sanft nach seinen Fingern.

»Auf keinen Fall!« Schockiert fuchtele ich mit den Armen. »Das kommt absolut nicht in die Tüte! Mir geht es gut, ich bin zu Hause und ihr macht euch jetzt gefälligst auf den Weg!« Die Bestimmtheit in meinem Tonfall scheinen beide Männer nicht erwartet zu haben, prüfend mustern sie mich.

»Ich sags ein letztes Mal: Los jetzt!«

Luca antwortet mit einem schwachen Nicken, gleichzeitig sprintet Josh in die Küche, um die Karten fürs Spiel vom Regal zu holen.

»Geht es wirklich?«, flüstert Luca. »Ich meine, vom Kopf her. Kommst du ohne Ablenkung klar?«

Gerührt muss ich lächeln.

»Sie hat mich ziemlich erwischt und es gab diesen einen Moment, in dem ich mir selbst wieder unterstellt habe, unnötig viel gegessen zu haben. Es war schrecklich. Aber Luca …« Ich strecke den Arm aus, um ihm über die Schulter zu streicheln. »Das ist jetzt vorbei. So leicht bringt mich nicht mehr alles vom Kurs ab.«

Seine Gesichtszüge glätten sich, als er seine Hand auf meine legt und sie einmal sanft drückt. Dann beeilt er sich, ins Schlafzimmer zu gelangen, um sich rasch umzuziehen und frisch zu machen.

Fünfzehn Minuten vor Spielbeginn verlassen Luca und Josh die Wohnung. Ich bete, dass sie es rechtzeitig schaffen.

6

Arvid