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Pascal und Angelo haben das Abitur in der Tasche und Träume für die Zukunft im Kopf. Und sie stecken voller Abenteuerlust. Mit ihrem Freund Wolle machen sie sich auf den Weg in die rumänischen Karpaten - auf der Suche nach Freiheit, Unabhängigkeit und sich selbst. Nur in Richtung Osten kann es für die drei Berliner Jungs gehen. Als sie durch Ungarn trampen, im Sommer 89, ist auf einmal die Grenze zum Westen durchlässig. Sie treffen Entscheidungen, die ihr Leben aus den vorgezeichneten Bahnen werfen und ihre Jugend jäh enden lassen. Ihre Wege trennen sich. Während Wolle in Amerika sein Glück versucht und sich Angelos Spur zu verlieren scheint, kehrt Pascal zurück. Das alte Leben gibt es nicht mehr, doch auf das aufregende, ersehnte neue fallen die Schatten der Vergangenheit.
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Seitenzahl: 475
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»Goldener Reiter« (S. 79) Musik und Text: Joachim Witt© Chappell &Co. GmbH &Co. KG
»Am Fenster« (S. 285) Musik: Georgi Gogow / Emil Bogdanov /Fritz Puppel / Klaus Selmke; Text: Hildegard Rauchfuss© Platin Song Fritz Puppel / Lied der Zeit Musikverlag GmbH,Hamburg
ISBN eBook 978-3-359-50057-5ISBN Print 978-3-359-02497-2
© 2016 Eulenspiegel Verlag, BerlinUmschlaggestaltung: Buchgut, Berlinunter Verwendung eines Motivs vonullstein bild – imageBROKER / Henning Hattendorf
Die Bücher des Eulenspiegel Verlags erscheinenin der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
www.eulenspiegel.com
ROBERT GOLD
ROMAN
EULENSPIEGEL VERLAG
Handlungen und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
Über das Buch
Als Angelo und Pascal sich im Sommer 89 zusammen mit dem Abenteurer Wolle auf den Weg nach Rumänien machen, ahnen sie nicht, dass diese Reise das Ende ihrer Jugend markieren wird. Wolle nutzt die Chance, über die jugoslawische Grenze in den Westen abzuhauen, und lässt die zwei unerfahrenen Jungs zurück. Im unwegsamen Făgăraş-Gebirge nimmt ihre Freundschaft ein jähes Ende.
Pascal kehrt allein nach Ostberlin zurück. Seine Heimat befindet sich im Umbruch; alte Wege brechen unvermittelt ab, völlig neue tun sich auf. Nichts scheint mehr vorhersehbar. Die Lebensbahnen von Pascal und seiner Freundin Kati, von Wolle und innerhalb des Freundeskreises geraten in Zickzacklinien. Während der eine seine Ziele verfolgt und erfolgreich wird, eckt der andere an und gerät in dubiose Machenschaften. Doch so unterschiedlich die Entscheidungen der jungen Erwachsenen auch aussehen – über allen schwebt Ungewissheit und Schuld.
Über den Autor
Robert Gold wurde 1970 in Berlin geboren. Nach seinem Abitur im Prenzlauer Berg reiste er durch Ungarn, Rumänien und Bulgarien, machte Musik, absolvierte Armee und Zivildienst. Er arbeitete als Kellner, Texter und Regieassistent in Babelsberg. 1997 schloss er sein Kommunikationsstudium an der HdK Berlin ab und gründete zwei Filmfirmen. Seit 2014 gehört er zum Kreativteam der NDR-Serie »Der Tatortreiniger«. Gold ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Berlin. »Flieg ich durch die Welt« ist sein erster Roman.
Für meine Leute
Sie standen vor dem Theater am Rosa-Luxemburg-Platz und stritten sich zum zweiten Mal innerhalb einer Viertelstunde. Jana hatte sich abgewandt, so, als ob sie sich damit vor dem Explodieren schützen könnte. Das weiche Licht der Abendsonne verfing sich in ein paar einzelnen Haaren. Sie hatten sich aus dem Gummiband gelöst, mit dem sie ihren strengen Pferdeschwanz Dutzende Male am Tag festzurrte. Diese Prozedur hatte Pascal immer gemocht. Manchmal hielt sie den Haargummi zwischen den Zähnen, ein anderes Mal parkte sie ihn elegant und praktisch an ihrem schmalen Handgelenk, während sie ihr Haar zusammenraffte. Er beobachtete sie gern dabei. Die erhobenen, leicht angespannten Oberarme, der weiche Flaum unter ihren Achseln, das klimpernde Armband, das sie sich letztes Jahr in Bratislava gekauft hatte, die erwachsene Konzentration, die bei all dem von ihr ausging.
Sie wandte sich ihm wieder zu, die Zigarette noch immer zwischen den Lippen. Das verdammte Feuerzeug funktionierte nicht. Doch das war nicht der eigentliche Auslöser für ihren Streit. Das große Ganze stimmte nicht mehr bei ihnen, und Pascals Gedanken kreisten fast nur noch um die Reise. Und um Kati.
So konnte es nicht weitergehen.
Er bemerkte, dass Jana den Bernsteinring, den sie von seiner Mutter zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, nicht trug. Plötzlich wusste er, dass auch sie bereit war, ihre Jugendliebe hinter sich zu lassen. Einer von ihnen musste nur den ersten Schritt tun, dann würde alles Weitere von selbst passieren. Weder er noch Jana würden kämpfen. Das war die traurige Wahrheit hinter den kleinen, alltäglichen Gemeinheiten der letzten Zeit. Und obwohl der Sommer in all seiner Herrlichkeit die Stadt seit Tagen heftig umarmte, war es ihnen nicht gelungen, sich wenigstens daran gemeinsam aufzurichten. Nicht einmal das.
»Hör mal, Michi«, fauchte Jana und sprach seinen Spitznamen, den er seit Ewigkeiten mit sich herumtrug, betont kindisch aus. »Vielleicht macht man das so in deinen neuen Dissidentenkreisen, aber solange du mit mir zusammen bist, benimmst du dich gefälligst wie ein richtiger Mann, klar?«
»Ey, komm mal wieder runter. Das war ein Versehen, Jana! Manchmal kommt’s mir so vor, als ob du nur auf so was wartest. Als ob du Lust hast auf diese albernen Streitereien.«
Pascal war klar gewesen, dass Jana wie immer pünktlich am Treffpunkt sein würde. Er hätte auf den Kneipenbesuch am Bahnhof Pankow verzichten sollen. Aber was sollte er tun gegen diesen furchtbaren Kater? Wohin nur mit den Gedanken, die ihn seit Wochen quälten und seit der gestrigen Nacht umso stärker in ihm brodelten? Er hatte versucht, den Kopfschmerz mit einer Molle und einem Korn zu bekämpfen und war verspätet am Treffpunkt Ecke Fehrbelliner erschienen. Und jetzt, vor der Volksbühne, hatte er sich selbst zuerst eine Kenton Blau angesteckt. Das hatte Jana endgültig zur Weißglut gebracht. Denn darum ging es bei ihr immer: Wie verhält man sich zueinander, wer tanzt zuerst mit wem, über wessen Witze lacht man am lautesten, und warum überhaupt ein Kompliment für eine Frau, die einem anderen gehört? Und vor allem Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und »gelebte Liebe«, das war es, was Jana verlangte.
Pascal wusste damit nichts mehr anzufangen. Er verspürte eine diffuse Ohnmacht seiner Freundin gegenüber und Panik davor, die Oberhand über seine Gefühle zu verlieren. Er würde Jana noch heute die Wahrheit sagen müssen. Zumindest eine der beiden Wahrheiten.
Gestern, zur großen Abiturfeier im Kultursaal des VEB Elektrokohle, war Jana nicht mitgekommen, obwohl er sie immer wieder darum gebeten hatte. Starrsinnig hatte sie darauf bestanden, sich auf die Fahrt nach Braunschweig konzentrieren zu müssen. Es sei schließlich die Party seiner Klasse, und es würden sich sowieso alle nur betrinken. Pascals Rede und die Musikeinlage mit Angelo würde sie verpassen, ja, aber sie könne sich später das Manuskript durchlesen, und irgendjemand würde doch bestimmt ein Tonband mitlaufen lassen.
Auf dem Ball merkte Pascal schnell, wie wenig ihn Janas Wegbleiben störte. Seine Mutter, die ein tief dekolletiertes Kleid trug, begleitete ihn. Sie wurden an einem Tisch mit den Familien Rieger und Rzezacz platziert. Mit Jens Rieger, der Akne hatte, seinen Oberkörper mit Hanteln formte und Berufssoldat werden wollte, verband ihn wenig. Pascal hatte den Eindruck, dass Jens mit seiner Mutter flirtete. Mehrmals erwähnte er deshalb, dass sein Vater der Abschlussfeier nur ferngeblieben war, weil er schon vor längerer Zeit bei einer Radio-Gesprächsrunde zugesagt hatte. Riegers Eltern, beide im Ministerium des Innern beim Passwesen tätig, saßen den ganzen Abend über schweigend und mit verkniffenen Gesichtern da und hielten sich an den Händen. Zu später Stunde sprangen sie bei einem Rock’n’Roll-Medley plötzlich auf, wirbelten irrwitzig professionell über die Tanzfläche und fielen danach am Tisch wieder in die alte Pose zurück.
Auch wenn die Gespräche mit den Eltern von Michaela Rzezacz, genannt Mirze, offener verliefen und Pascals Mutter immer beschwipster wurde, fiel es ihm schwer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Seine Rede geriet ihm fahrig, und die beiden Musiknummern, die er zusammen mit seinem Freund Angelo aufführte, spulte er ab wie ein Pflichtprogramm. Der Jubel der Abiturienten und ihrer Gäste erreichte ihn kaum. Selbst Mirzes Kompliment und ihre feste Umarmung, für die er vor ein paar Jahren einiges gegeben hätte, liefen ins Leere. Er war viel zu abgelenkt. Immer wieder versuchte er, Kati im Gewimmel zu beobachten, ihre Spur nicht zu verlieren, vielleicht einen Blick zu erhaschen, mit ihr zu tanzen. Was er tat, war verboten und falsch, dachte er. Pascal betete die Freundin seines besten Freundes an. Das war nach seinen Wertvorstellungen unmoralisch und schuftig. Aber es fühlte sich so verdammt gut an. Am schlimmsten daran war, dass er den Eindruck hatte, Kati wusste nicht nur um seine Gedanken und Gefühle, sondern schien auch bereit, sich darauf einzulassen.
Als die Party im Morgengrauen ihr Ende fand und sich der betrunkene Rest ihrer Klasse langsam zerstreute, stiegen Kati, Pascal und Angelo in die leere Straßenbahn und fuhren in Richtung Alexanderplatz. Auf einem Doppelsitz schmiegten sie sich eng aneinander, während die hinter ihnen aufgehende Sonne die Neubauten Lichtenbergs beschien. Durch die geöffneten Fenster der Bahn drang der Verwesungsgestank vom Zentralviehhof, die Glasfassade des SEZ funkelte, das bronzene Lenin-Denkmal ragte in den Himmel und in der Ferne wurde der spitze Zeigefinger des Fernsehturms, fast wie in Zeitlupe, in ein helles Postkartenlicht getaucht.
Vielleicht fühlten sie alle drei in diesem Moment, dass der anbrechende Sommer ihr Leben verändern würde.
Gerade als Pascal bemerkte, dass Angelo an Katis Schulter eingenickt war, ungefähr an der Stelle, wo die Straßenbahn von der Wilhelm-Pieck-Straße quietschend in die Alte Schönhauser abbog, drehte sich Kati zu Pascal und gab ihm einen völlig unvorhergesehenen, weichen Kuss auf die Lippen. Wie benommen stieg er aus und ging bis nach Pankow weiter zu Fuß. Mit jedem Schritt durch das erwachende Rumpeln, Knattern und Zischen auf der unaufhörlich ansteigenden Straße war dieser Kuss wie ein wundersamer Fremdkörper durch seine Blutbahn gewandert und schließlich unwiderruflich in seinem Herzen steckengeblieben.
Pascal erwachte gegen Mittag und erinnerte sich sofort an den Kuss. Erst viele Augenblicke später dachte er an seine strebsame Freundin, mit der er einen derart zärtlichen Moment seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt hatte. Ihre Küsse waren stumpf geworden, ihre Liebkosungen hatten etwas Ritualisiertes bekommen. Die wenigen Bekundungen von Zuneigung, die sie sich gestatteten, verloren sich zwischen Schweigen, Aushalten und Abgrenzen. Sie schliefen noch miteinander, ab und an, ohne viel Gefühl. Das letzte Mal in Tornow beim Frühlingsfest seiner Eltern, auf dem neu gekachelten Klo des alten Bauernhauses. Jana wollte ihn dabei nicht ansehen und blieb unter seinen Stößen stumm. Mit spitzen Fingern stützte sie sich an der kalten Fliesenwand ab. Als er kam, drückte er ihr seinen Mund in den Rücken, damit ihn Onkel Philippe, der sich vor der Tür lärmend bemerkbar machte, nicht hörte. Warum sich Jana überhaupt darauf eingelassen hatte, war ihm nicht klar. Aber die Welt war ohnehin schwer zu erklären in diesen Wochen. Sie wischten sich mit dem weinroten, an Girlanden erinnernden groben Klopapier ab, drückten zur Ablenkung die Klospülung und gingen kurze Zeit später wieder hinaus, vorbei am grinsenden Onkel Philippe.
Sie setzten sich zu ein paar Gästen, die auf zusammengewürfelten Holzstühlen in einem Kreis vor den Brombeersträuchern Platz genommen hatten. Die Erwachsenen diskutierten lautstark über die am nächsten Tag stattfindende Kommunalwahl. Ihnen zu Füßen, auf dem leicht vermoosten Gras, lag Feulner, der alte Studienfreund seines Vaters, und blies Pfeifenrauch in die Frühlingsluft. Pascal war erstaunt, wie elegant Jana, die ihm eben noch im heimlichen Akt ihr nacktes Hinterteil entgegengestreckt hatte, nun schon wieder die Vorzüge ihres Landes gegenüber dem absterbenden Kapitalismus pries, während er versuchte, einen verspätet austretenden, dicken Tropfen in seiner Unterhose plattzudrücken.
Er hatte keine Lust auf dieses Gespräch. Außerdem war er abgelenkt vom scheppernden Radio im Nachbargarten, wo der Mann der Großschriftstellerin, mit der sich seine Mutter über sonntägliche Ruhezeiten verkracht hatte, die Bundesligaschlusskonferenz hörte. Bayern war gerade in der 79. Minute gegen Waldhof Mannheim in Führung gegangen, Verfolger Köln lag 2 :1 vorn durch Tore von Littbarski und Povlsen, und in Hannover hatten die Stuttgarter Kickers ein 2 : 3 in ein 4 : 3 umdrehen können. Das war immerhin spannend, was man von der Wahl nicht unbedingt behaupten konnte. Jeder wusste, dass das Ganze eine Farce war. Die Frage war nur, ob man hinging oder nicht.
Pascal hingen diese ewig gleichen Diskussionsrunden zum Halse heraus. Sie drehten sich immer um dasselbe: Alle wussten, dass sich etwas ändern musste, aber außer den Leuten, die Pascal, Angelo und Kati über Wolle kennengelernt hatten, brachte kaum einer den Mumm auf, diese Meinung auch nach außen zu tragen. Hier im Garten, in einer geschützten Nische hinter Sträuchern und Zäunen, waren sie zwar auch alle für Perestroika und versprachen sich so einiges von dem neuen Dresdner Bezirkssekretär. Doch die meisten von denen, die hier große Reden schwangen, würden bei der Wahl doch wieder mitmachen. Die Gründe konnte Pascal sogar nachvollziehen. Auch er hatte keine Lust, mit einem Vertreter der staatlichen Organe über seinen begehrten Studienplatz oder Ähnliches zu diskutieren.
Und doch kannte jeder irgendjemanden, der einen Ausreiseantrag gestellt hatte.
Wenn Pascal in den letzten Tagen über seine eigenen Reisepläne sprach, fiel ihm auf, dass sich das Interesse für die Berge Rumäniens oder die Klöster des bulgarischen Rilagebirges in Grenzen hielt. Das Zauberwort hieß »Ungarn«, und Pascal wusste selbstverständlich, was es damit auf sich hatte. Doch nichts von den Vermutungen der anderen, von ihren schnippischen Bemerkungen – »Aha, ›Trampen durch Ungarn‹. Allit klärchen, Popärchen!«, wie ihm der Platzwart zugerufen und sich mit dem Zeigefinger vieldeutig den Hautsack unter dem rechten Auge hinuntergezogen hatte – oder den auf Abschied gepolten Blicken hatte auch nur irgendetwas mit dem zu tun, was in seinem Kopf vor sich ging. Seine Reise hatte einen ganz simplen Grund: Er wollte endlich die große, weite Welt sehen. Zumindest die, die in seinem Kosmos möglich war. Die Wochen nach dem Abitur, von dessen erfolgreichem Abschluss er, Jana und seine Familie immer ausgegangen waren, boten sich genau für eine solche Unternehmung an. Und natürlich würde er danach nach Berlin zurückkommen. Im Herbst sollte er zur NVA eingezogen werden. Eigentlich wollte er in der Zeit zwischen Schule und Armee noch etwas Geld verdienen, als Kellner vielleicht oder in der Produktion. Aber dann war Wolle plötzlich aufgetaucht.
»Ey, Jungs, habt ihr nicht Lust, mit mir zusammen in Richtung Karpaten zu trampen, anstatt in den Sommermonaten malochen zu gehen?«, hatte er ihn und Angelo gefragt. »Ich hab das schon mal gemacht und kenn da ein paar Leute. Los, ihr Langweiler, traut euch mal was!«
Von allein wäre Pascal nie auf eine solche Idee gekommen. Für ihn war schon der einwöchige Urlaub in Prerow im letzten Sommer eine echte Herausforderung gewesen. Es hatte viel geregnet, das geliehene Zelt war undicht, die Cola zu warm und der Kaffee zu kalt. Und Jana machte ihn total verrückt mit ihrem militanten FKK-Gehabe und ihrer Bewunderung für die anderen Typen, die offenbar alle in der Lage waren, ein leckeres Gulasch vor dem Zelt zuzubereiten.
»Einfach so, aus der Hüfte! Mit Geschick, Physik und Spucke«, sagte sie mit strahlenden Augen und machte Pascal damit überdeutlich auf sein Unvermögen aufmerksam, zu improvisieren und aus Nichts etwas zu machen. Jana liebte es, ihn als verwöhnten jungen Mann hinzustellen. Dabei hatte er immer das Gefühl, dass sie in Wirklichkeit auf ihn und seinen hugenottischen, eher bürgerlichen Hintergrund neidisch war und seine Familienleidenschaften Tennis und klassische Musik ein wenig elitär fand. Das Anwesen seiner Eltern im standesgemäßen Pankow titulierte sie schnippisch als »Villa Michaud«. Aber zu jener Zeit hatte sie auch noch ständig Lust, ihn zu berühren und von ihm berührt zu werden, was in dem wackligen Zelt am Darßer Ostseestrand zu heftigen Liebesszenen geführt hatte.
Angelo, mit dem Pascal seit Jahren die meiste Zeit verbrachte, erwies sich auch nicht gerade als Abenteurer, zelebrierte lieber seine langen Spaziergänge am Wasser. Pascal empfand sein obligatorisches Suchen nach Hühnergöttern und Bernsteinkrümeln und das stumme Bewundern der Möwen an den Buhnen als angestrengt. Jana hatte Angelo in Prerow einmal begleitet. Natürlich waren sie beide nackt gewesen.
Für lange Strecken und sportliche Höchstleistungen war Angelo einfach nicht gemacht. Pascal schon. Ging es aber um das Entzünden eines Feuers unter freiem Himmel, würde er zu den bewährten Flammat-Würfeln greifen, die er auch zu Hause zum Anheizen des alten Eisenkessels im Keller benutzte. Ein wenig Stroh und ein einziges Streichholz, dessen Flamme man extra lang auf die Fingerkuppen zubrennen ließ, nur um andere zu beeindrucken, das war so ganz und gar nicht Pascals Sache.
Die beiden Freunde waren sich bei Wolles Frage sofort einig, dass eine derartige Chance mit einem perfekten Reiseleiter, wie Wolle es zu sein schien, so schnell nicht wiederkommen würde. Also schlugen sie ohne zu zögern ein und lebten seit Wochen in der Vorfreude auf die gemeinsame Zeit.
Pascal hatte Jana in der zehnten Klasse beim berlinweiten BZA-Lauf in der Wuhlheide kennengelernt. Eine drahtige Sprinterin, die mit ihrer Staffel von der Heinrich-Hertz-EOS deutlich mehr Ehrgeiz an den Tag legte als seine spätpubertierende Einheit von der Schliemann. Hochkonzentrierte Naturwissenschaftler gegen vergeistigte Bohemiens, bebrillte Streber aus dem Friedrichshain gegen die Lässigen aus dem Prenzlauer Berg – das war das Spiel, in dem er und seine Leute sich mächtig gefielen an diesem Nachmittag im Mai. Doch die Schlussläuferin der anderen, die ihren Vorsprung gegen ihn, dem Sport und das Sprinten so leicht fielen, zäh und mit kaum hörbarem Keuchen verteidigte, gefiel ihm. Ihre Verbissenheit hatte etwas Erotisches.
»War schau, gegen euch zu gewinnen. Ihr verdammten Angeber!«, hatte sie ihm noch auf der Zielgeraden zugerufen.
»Ich hab dich schon mal im Jojo gesehen«, sagte er nur.
»Kann nicht sein. Da bin ich fast nie«, erwiderte sie lächelnd. Pascal verknallte sich auf der Stelle in dieses brave, hübsche Mädchen, das zum Tanzen offenbar höchstens in die Klubgaststätte in ihrer Nähe ging.
Die Wochen danach verbrachten Jana und er, sooft es ging, auf ihrem Bett, die Köpfe an den harten Holzkasten gelehnt, der zur Aufbewahrung des Bettzeugs diente, und streichelten gegenseitig ihre nackten Körper. Von seinem Kumpel Tobi hatte Pascal eine Kassette mit einem Pornomärchen überspielt bekommen, das sie sich anhörten und dabei den Grad ihrer jeweiligen Erregung beobachteten. Manchmal, wenn sie danach nebeneinander lagen und dem Fagottgedüdel lauschten, das den ganzen Nachmittag lang über das Hoffenster zu ihnen drang, versuchte Pascal, sich ein Leben mit Jana vorzustellen. Einmal, als ihre Tage ausblieben, musste er sich ganz ernsthaft mit diesem Gedanken beschäftigen. Doch auch in den unbeschwerten Momenten fiel ihm immer wieder auf, wie unterschiedlich sie waren. Jana hatte schon recht – ihm war immer alles zugeflogen: die guten Zensuren, die Spartakiademedaillen, die Freunde, die Mädchen. Seine Hobbys kosteten ihn selten größere Anstrengung, während sie eine richtige Kämpferin war.
Er war ein Sonntagskind. »An einem schönen, sonnigen Herbstsonntag hat Mutti dich auf die Welt gebracht«, so oder leicht abgewandelt schrieb es sein Vater ihm an jedem 30. September in seiner Professorenklaue auf die Geburtstagskarte. Oft war eine Grafik von Feulner auf der Vorderseite, manchmal mit etwas zu freizügigen Motiven, wie Pascal fand. Aber er mochte seinen Rufonkel, diesen kauzigen Freigeist, und noch mehr bewunderte er seine Eltern für ihren großen Freundeskreis und die Feten, die sie ständig zu Hause oder in den anderen Wohnungen feierten.
Weil Pascals Vater – und auch das wurde immer wieder stolz kolportiert – seinen Erstgeborenen eine Minute vor Mitternacht an der Scheibe in der Geburtsstation der Charité präsentiert bekommen hatte, sei Pascal ein Nachtmensch. Nachdem er den jahrelangen privaten Klavierunterricht wegen aufkommender Unlust hatte beenden dürfen, bekam er zur Jugendweihe über Kontakte seiner Mutter eine halbakustische Gibson aus dem Westen geschenkt, auf der er seither Songs komponierte. Manchmal wunderte sich Pascal darüber, wie viele Texte ihm zu den ganz großen Themen einfielen, obwohl ihn doch kaum Zweifel und Nöte plagten. Er war groß gewachsen, hatte volles Haar und freundlich blickende blaugrüne Augen, und es gab kaum etwas, das er an seinem Leben ändern wollte. Pascal schämte sich nicht dafür, aber er gefiel sich mehr und mehr in der Rolle des an der Welt leidenden Songschreibers. Und dennoch, »Alles wird gut«, das war sein unausgesprochenes Credo. Ernsthafte Gedanken um die Zukunft machte er sich nicht.
Manchmal beneidete Pascal seine Freundin um die Klarheit ihrer Pläne. Jana wollte Informatik studieren, Dinge erforschen und erfinden und »die DDR im weltweiten Wettbewerb um Fortschritt voranbringen«. In ihrer Besessenheit übernahm sie selbst die Floskeln der Propaganda. Seit an ihrer Schule das Arbeiten am Computer zum Alltag gehörte, war sie überzeugt davon, dass diese Technologie die Zukunft sei. In dieser Beziehung war er mit seiner Mathe-Vier auf dem Zeugnis schon immer Lichtjahre von Jana entfernt gewesen. Sie wollte sich etwas beweisen. Und ihren Eltern, die beide als Ärzte im Krankenhaus Buch arbeiteten. Niemand zweifelte daran, dass Jana es einmal ganz weit bringen würde.
Im Sommer nach der elften Klasse war sie mit einer Schulmannschaft zur Mathematikolympiade geschickt worden, nach Bratislava in der Tschechoslowakei. Jana kam mit einer beachtenswerten Silbermedaille zurück. In diesem Jahr würde sie erneut fahren dürfen, wieder im Sommer. Doch diesmal ging es nach Braunschweig, in die Bundesrepublik. Nicht der Fakt, dass sie zum ersten Mal den Westen sehen würde, beschäftigte sie seit Wochen, sondern der Umstand, dass das belgische Wunderkind, das ihr vor einem Jahr den Sieg gestohlen hatte, sich einen Virus eingefangen hatte und möglicherweise in Braunschweig nicht dabei sein konnte. Was ihre Chancen auf den Sieg deutlich erhöhte.
Jana war wie elektrisiert. Sie malte sich ihre Zukunft in schillernden Farben aus, deren Höhepunkt ein Meisterstudium an der Lomonossow-Universität in Moskau war. Braunschweig interessierte sie nicht, sie träumte eher vom Kosmodrom in Baikonur.
»Jana, hast du mal darüber nachgedacht, nach der Olympiade im Westen zu bleiben?«, hatte er sie vor ein paar Tagen gefragt.
»Was ist das denn für eine bescheuerte Frage, Michi?«, wies sie ihn empört zurück. »Erstens war Vati letztens wieder mal zu einem Kongress in Madrid und sagt, dass da auch nicht alles Gold ist, was glänzt, und zweitens … ach, Quatsch, zweitens. Ich kann doch Mutti und Vati und Omi und Opi nicht alleinlassen. Wie stellst du dir das denn vor?«
Dass sie ihn bei der Aufzählung nicht erwähnt hatte, war ihm erst später aufgefallen.
Endlich war es Pascal gelungen, Jana Feuer zu geben. Schweigend standen sie vor dem riesigen, grauen Theater und betrachteten die Aushänge zur heutigen Aufführung. »›Hundeherz‹«, sagte Jana nach einigen Minuten angespannter Stille abschätzig. »Noch nie gehört.«
»Soll ganz gut sein, jedenfalls ist Angelo heute schon zum zweiten Mal drin.«
»Mit Frisösenkati?«
»Nee, mit seiner Mutter«, entgegnete Pascal und ließ die Arme sinken. »Und tu mir bitte den Gefallen und hetz nicht so gegen die rum. Kati ist echt in Ordnung.«
»Echt in Ordnung«, äffte Jana ihn nach. »Michi, Mann! Das ist eine Sachsentrulla, mit der Angelo sein Talent verschwendet. Eine Dorfschönheit. Seht ihr das denn alle nicht? Die kann doch gar nichts außer schön sein.«
»Geht’s denn immer nur darum, was man kann, was man ist oder wird?«, versuchte Pascal sie zu provozieren.
»Mir schon«, fauchte sie zurück. »Ich hab einfach keinen Bock darauf, einen ganzen Abend zuzuschauen, wie der alle um die nackten Beine herumscharwenzeln. Aber vielleicht bist du ja auch beeindruckt davon, dass sie irgendwelchen Friedhofsgärtnern und Dichterheinis aus dem Prenzlauer Berg die Zauselhaare schneidet oder in Bauernhäusern heimlich alte Lederlappen zu Undergroundmode zusammennäht.« Jana hätte die Worte nicht verächtlicher aussprechen können.
Die Vorstellung war offenbar beendet. Die ersten Gäste verließen die Volksbühne und schlenderten diskutierend an ihnen vorbei.
Pascal fasste sich ein Herz: »Bevor die jetzt gleich rauskommen und du es von Angelo oder seiner Mutter erfährst – ich werde nicht da sein, wenn du aus Braunschweig zurückkommst. Tut mir leid, aber wir werden schon ein bisschen früher losfahren als geplant. Und deshalb bin ich am Zwanzigsten schon weg.«
Jana brauchte nur einen kurzen Moment, um ihre Fassung zurückzugewinnen. »Es tut dir leid?«, sagte sie, während sie von immer mehr Theaterbesuchern umspült wurden. »Bist du wahnsinnig geworden? Dann wären wir mehr als sechs Wochen getrennt. Es war immer klar, dass eure Tour nur klappt, wenn wir beide nach Braunschweig mindestens eine Woche zum Feiern haben. Ihr habt doch feste Zugfahrkarten, was ist denn damit? Ihr könnt doch gar nicht einfach alles so ändern.«
Pascal holte kurz Luft und antwortete kleinlaut: »Wolle hat’s aber irgendwie hinbekommen, ohne mich zu fragen. Sein Chef hat ihm klargemacht, dass er Ende August wieder hier zu sein hat, weil dann wegen der Vierzigjahrfeier die volle Vorbereitungskiste im Operncafé ansteht.« Er hoffte, seiner Freundin damit den Wind aus den Segeln zu nehmen, denn sie freute sich schon auf die Feierlichkeiten, die vielen Konzerte und die Stimmung zum Republikgeburtstag. Ihre Eltern waren zum Festakt im Palast der Republik eingeladen und bemühten sich, ihr ebenfalls eine Karte zu besorgen.
Doch Jana nahm jetzt erst richtig Fahrt auf. »Vorbereitungskiste? Klargemacht? Irgendwie hinbekommen?«, fragte sie. »Du redest so einen Stuss wie deine bekloppten Freunde. Weißt du was?«, zornig tippte sie ihm auf die Brust, »dann verbring doch mit denen mal schön alleine den Abend. Ich hab sowieso Besseres zu tun, als mich mit den ganzen Miesmachern und Möchtegernkünstlern zu umgeben.«
Janas aufgebrachte Worte im Ohr, sah Pascal aus den Augenwinkeln, dass sich Kati durch die Menschenmenge zu ihnen beiden durchschlängelte. Mitten im theatralischen Abgang seiner Freundin stand Kati nun lächelnd neben ihnen.
»Na, ihr zwei Hübschen. Wie lange wartet ihr schon auf Mutti und Sohn?«, fragte sie zur Begrüßung.
»Viel zu lange, finde ich«, zischte Jana in Pascals Richtung. »Aber vielleicht müssen sie das Gesehene auch erst sacken lassen oder haben ein paar interessante Leute im Foyer getroffen, mit denen sie das Stück besprechen müssen.« Angriffslustig schaute sie Kati an. »Du weißt ja, wie das ist mit diesen Intellektuellen, stimmt’s Kati?«
Pascal spürte bei diesen Worten plötzlich nichts als Abscheu gegen seine Freundin. Wut stieg in ihm auf und Verzweiflung, die Situation nicht mehr im Griff zu haben. Dass irgendetwas mit der Reise noch schiefgehen könnte, dass der Kuss von heute Morgen herauskäme, dass das Gefühlsgewitter, das sich in seinem Hirn zusammenbraute, doch noch entladen würde. Er tat etwas, das er noch nie gemacht hatte: Er stieß Jana die gekrümmten Knöchel seiner linken Faust in den Rücken. Es war kein richtiger Schlag, eher eine hilflose Übersprungshandlung, trotzdem ließ er Jana zusammenzucken. Sie unterdrückte ihre Tränen. Ob Kati die versteckte Bewegung bemerkt hatte, wusste er nicht. Grußlos und schnellen Schrittes verließ Jana den Platz in Richtung Mollstraße.
Das Stück hatte Mechthild beeindruckt, Angelo sah es ihr an. Schon als sie sich in der Pause anstellten, um einen Saft und eine Selters zu ergattern, waren ihm ihre feuchten Augen und ihre zittrige Stimme aufgefallen. Seine Mutter war ohnehin sehr aufgewühlt in den letzten Tagen, und das war auch verständlich. Sie würden sich lange Zeit nicht sehen, wenn er mit den Jungs die große Tour machte.
Seit er denken konnte, versuchte Angelo, ihr ein guter Sohn zu sein. Eigentlich eher schmächtig, klein und zurückhaltend, musste er schon früh den starken Mann spielen. Wenn er ihr mit seinen dunklen Augen, seinen pechschwarzen Haaren und seinem Haselnussteint gegenüberstand und sie umarmte, fasste Mechthild wieder Mut und richtete sich an ihm auf. Er wusste um seine Rolle, sie war mit ihm mitgewachsen wie ein in Baumrinde geritzter Schwur.
Im Theater spürte er erneut, wie fest das Band zwischen ihnen war, das er nun zerschneiden musste. Sie hatten nur sich, seit beide Großeltern Mitte der siebziger Jahre bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen waren. Angelos Vater war nie Bestandteil seines Lebens gewesen. Nur dass es ihn gab, wusste er, und dass er auf der anderen Seite der Mauer wohnte.
Angelo und seine Mutter standen mit ihren Pausengetränken bei der Garderobe und sahen sich die Schaukastenbilder anderer Inszenierungen an, als ihm Mechthild ihren Entschluss mitteilte: »Mein Herz, ich werde noch einmal auf Kur gehen, wenn du weg bist«, sagte sie. »Ich kann diese Einsamkeit im Moment nicht ertragen. Die Leute, die Stimmung, das ganze Land – das liegt mir schwer auf der Seele.« Zärtlich und etwas zu lange strich sie ihm dabei über den Kopf. Er ließ es zu. »Mach dir keine Sorgen«, fuhr sie fort, »so ist es besser für mich.« Ihre Stimme hatte nichts Vorwurfsvolles, eher etwas Weises, in sich Ruhendes.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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