Forbidden Truth - Vor uns das Licht - Katharina Mittmann - E-Book

Forbidden Truth - Vor uns das Licht E-Book

Katharina Mittmann

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Beschreibung

Kims Leben ist aus den Fugen geraten, denn seit zwei Jahren wird ihr Alltag von Panikattacken bestimmt.Nur mit ihrem Hund Peanut und bei ihrer Arbeit für eine Tierschutzorganisation fühlt sie sich sicher.Doch dann lernt sie in einem Internetforum für Hundemenschen Finn kennen. Mit ihm kann Kim sie selbst sein, muss sich nicht verstecken und fühlt sich endlich wieder frei.Alles könnte perfekt sein – würde Finn ihr nicht seine wahre Identität verschweigen. Denn Finn ist ein gefeierter Basketballstar mit schwerwiegenden Problemen und einem zweifelhaften Ruf. Und bald muss Kim sich fragen, wer der Mann ist, in den sie sich verliebt hat.

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Forbidden Truth

KATHARINA MITTMANN

Copyright © 2024 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-509-0

Alle Rechte vorbehalten

Triggerwarnung

Liebe Lesende,

in diesem Buch werden Themen behandelt, die triggern können.

Bei Bedarf findet ihr eine ausführliche Liste auf der letzten Seite.

Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen!

Inhalt

1. Kim

2. Finn

3. Kim

4. Finn

5. Kim

6. Finn

7. Kim

8. Kim

9. Finn

10. Kim

11. Finn

12. Kim

13. Kim

14. Finn

15. Kim

16. Finn

17. Kim

18. Finn

19. Kim

20. Finn

21. Kim

22. Finn

23. Kim

24. Finn

25. Finn

26. Finn

27. Kim

28. Finn

29. Kim

30. Finn

31. Kim

32. Finn

33. Kim

34. Finn

35. Kim

Epilog

Nachwort

Danksagung

Triggerwarnung

Drachenpost

Für Jonas

KAPITEL1

Kim

Mein Herz pochte zu schnell gegen meine Rippen, und ich starrte auf die Wohnungstür, als würde dahinter das Tor zur Hölle liegen. Ich konnte das. Ich würde das schaffen. Es war keine große Sache, die eigenen vier Wände zu verlassen, wahrscheinlich würde es sogar Spaß machen, und ich würde einen schönen Abend haben.

Das Handy vibrierte in meiner Hand, und ich sah aufs Display. Drew hatte in den Gruppenchat geschrieben, den wir in unserem ersten Semester am College ins Leben gerufen hatten.

Drew: Bin in Wicker Park gelandet und auf dem Weg ins Shamrock. Freu mich schon.

Das Shamrock war ein Irish Pub, in dem sich unsere Truppe öfter traf, seitdem wir unseren Abschluss letztes Jahr gemacht hatten und das Universitätsviertel von Chicago, in dem wir zuvor alle gelebt hatten, nicht mehr zentral genug war. Obwohl ich sogar in Wicker Park wohnte und das Shamrock mit dem Bus nicht mal zehn Minuten entfernt lag, fühlte ich mich, als müsste ich zu einer Weltreise aufbrechen. Zu einer gefährlichen Weltreise. Alles in mir zog sich zusammen. Ich war erst zweimal dort gewesen, und beide Male hatten nicht gut geendet. Seitdem vermied ich es noch mehr als schon in den letzten zwei Studienjahren, mit meinen Freundinnen und Freunden auszugehen.

Doch heute war es anders. Heute würde ich einen neuen Versuch wagen und mir hoffentlich einen Teil meines

alten Lebens zurückerobern.

Drew schickte noch eine Nachricht, sie bestand nur aus Smileys, die versaut den Mund verzogen. Offenbar war er heute Abend auf ein bisschen Spaß aus.

Brianna: Muss noch kurz was abarbeiten, aber ich beeil mich.

Julie: Bin schon fast da. Versuche uns einen Tisch zu ergattern.

Typisch Julie. Immer überpünktlich. Wir waren schon zusammen auf die Highschool gegangen und beide in Chicago geblieben fürs Studium. Und sie war auch die Einzige aus der Gruppe, die ich noch regelmäßig sah.

Tyson: Ich wünsch euch viel Spaß! Lasst es krachen!

Drew: Es bricht mir immer noch das Herz, dass du mich verlassen hast.

Tyson: Du wirst drüber wegkommen.

Er drapierte die Nachricht mit einem Smiley, das die Zunge herausstreckte, und ich musste beinahe lachen. Tyson war nach dem Studium zurück nach Portland gezogen, was eine Tagesreise von Chicago entfernt war. Er und Drew waren gleich zu Anfang des Studiums die besten Freunde geworden und die nächsten vier Jahre untrennbar gewesen.

Kurz überlegte ich zu schreiben, dass ich auf dem Weg war, ließ es dann aber. Nur für den Fall, dass ich es gar nicht bis ins Shamrock schaffte. Um Zeit zu schinden, betrachtete ich mich in dem Spiegel, der auf dem Flur stand. Ich hatte meine Lieblingsjeans angezogen, die mit den Rissen an den Knien und die nur drei Viertel der Waden bedeckte. Der Frühling eroberte langsam die Stadt, und es war endlich nicht mehr zu kalt mit blanken Knöcheln. Dazu trug ich eine lockere türkisfarbene Bluse im Batiklook und unzählige geflochtene Armbänder, die ich nie abnahm.

Ich sah noch blasser aus als sonst, fast schon kalkweiß. Mit zittrigen Fingern zupfte ich meinen rotblonden Longbob ein wenig zurecht, auch wenn es nicht viel brachte. Meine Schwester Lindsay musste dieses Ding, das ich eine Frisur nannte, dringend wieder in Form bringen.

Ein leises Winseln neben mir durchbrach meine Gedanken, und ich wandte mich Peanut zu. Der Hund stand neben der weißen Kommode und musterte mich aus neugierigen Augen, eines seiner Ohren hing herab, obwohl er beide spitzte. Zaghaft wedelte er mit dem Schwanz und stupste mit der Schnauze gegen meinen Oberschenkel.

Ich ging vor ihm in die Knie und vergrub die Hand in seinem Fell. Er war ein Mischling, den ich aus dem Tierheim hatte. Aufgrund seines grau-weißen Fells mit den großen schwarzen Flecken darin und den hellbraunen Abzeichen an Schnauze, Brust und Pfoten vermutete ich, dass einer seiner Elternteile ein Australian Shepherd war. Ich verließ die Wohnung so gut wie nie ohne ihn, er war mein Sicherheitsnetz, mein Anker in der Realität. Ohne ihn wäre es viel schwieriger für mich, zur Arbeit zu gehen oder mich überhaupt außerhalb meiner sicheren Wohnung zu bewegen. Peanut begleitete mich so gut wie immer. Nur heute … heute konnte er nicht mit. Mein Magen verknotete sich, und ich musste gegen das enge Gefühl in meiner Kehle schlucken.

»In einer Bar wärst du nicht besonders glücklich, oder?« Ich kraulte ihn hinter dem Ohr, und er brummte leise und schleckte über die Innenseite meines Handgelenks.

»Ich bin bald wieder da.« Vielleicht sogar früher als später. Aber wenn ich es nicht ausprobierte, nicht darum kämpfte, würde ich mein Leben nie zurückbekommen. Ich stand wieder auf und zog meine Jacke über. Einen Moment fixierte ich die Tür, mein Herzschlag beschleunigte sich noch mehr. Dann atmete ich tief durch und verließ die Wohnung.

Es dämmerte bereits und die Laternen tauchten die Straßen in gelbes Licht. Die Luft war frisch, roch aber nach Frühling. Autos drängten sich im Feierabendverkehr, und ein Fahrer hupte. Auf dem Gehweg tummelten sich Menschen, die in die Restaurants oder Geschäfte eilten. Wicker Park war ein alternatives Künstlerviertel, das ich an sich sehr mochte. Nur gerade hatte ich für das Treiben auf den Straßen nichts übrig. Ich konzentrierte mich darauf, den Menschen auszuweichen, möglichst unsichtbar und unauffällig zu sein, während die Anspannung in mir immer weiterwuchs. Ohne Peanut fühlte ich mich schutzlos. Dabei war er so gutmütig, dass er vermutlich nicht mal dann beißen könnte, wenn sein Leben davon abhinge.

Als ich an der Haltestelle ankam, fuhr mir der Bus gerade vor der Nase weg. Mist. Es war immer besser, wenn ich lange Wartezeiten vermeiden konnte. Dann kam ich nicht dazu, mir zu viele Gedanken zu machen, konnte nicht innehalten, sondern den Schwung nutzen. Doch jetzt war ich zum Stillstand verdammt. Nervosität sirrte unter meiner Haut, und ich ballte die Hände zu Fäusten, die sich viel zu leer anfühlten ohne Peanuts Leine. Mit einem Schlag wurde mir die Nähe der anderen Wartenden noch bewusster, und ich konnte sie kaum ausblenden. Wenn sie alle in den nächsten Bus steigen würden … Er würde voll sein, ich eingesperrt darin, ohne eine Möglichkeit zu entkommen, der Situation ausgeliefert, vollkommen machtlos … Meine Kehle schnürte sich zu, ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, als würde meine Lunge sich einfach nicht ausdehnen. Eine Hitzewelle rauschte über mich hinweg, und mir brach der kalte Schweiß aus.

Eine Frau stellte sich neben mich und lächelte kurz. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, zumindest nach außen so zu tun, als wäre nichts, damit sie und auch sonst niemand auf die Idee kam, dass es mir ganz und gar nicht gut ging und mich am Ende darauf ansprach. Meine Handflächen kribbelten, und meine Sicht verschwamm. Ich hatte keine Zeit, mich zu beruhigen, meine Atmung zu kontrollieren, wie ich es so oft geübt hatte. Der nächste Bus näherte sich. Seine Scheinwerfer blendeten mich, doch ich konnte nicht wegsehen, ich konnte mich überhaupt nicht bewegen. Mein Herz raste inzwischen so sehr, dass es sich beinahe überschlug, Übelkeit ballte sich in meinem Magen und schickte Stromstöße durch meine Wirbelsäule.

Als der Bus vor mir hielt, war ich kurz davor, mich zu übergeben. Menschen drängten an mir vorbei in den sowieso schon übervollen Innenraum, streiften dabei meine Arme und meinen Rücken. Ich konnte mich nicht rühren, sah nur noch die Falle vor mir, der ich nicht entkommen könnte, sobald sie einmal zuschnappte. Bis nur noch ich an der Haltestelle stand und der Busfahrer mich ansah.

»Wollen Sie auch mit?«

Ja, dachte ich und schüttelte dennoch vollkommen automatisch den Kopf, etwas, das mein Körper einfach machte, ein Reflex, den ich nicht beherrschen konnte.

Die Türen schlossen sich, der Bus fuhr los und ließ mich zurück. Sofort nahm die Übelkeit ab, und mir wurde vor Erleichterung ein wenig schwindelig. Mit zittrigen Fingern strich ich mir über die Stirn.

Ich hatte versagt. Wieder einmal hatte die Angst gesiegt. Meine Augen fingen an zu brennen, und ein Kloß machte sich in meinem Hals breit. Ich würde es nicht ins Shamrock schaffen, es war ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn ich noch nicht mal den Bus betreten konnte, würde ich es auf keinen Fall in einem Pub aushalten, ohne durchzudrehen. Wut und Enttäuschung wallten in mir auf und wühlten sich heiß durch meine Brust. Wieso war ich so? Wieso hatte ich Angst vor den alltäglichsten Situationen? Und wieso bekam ich es einfach nicht in den Griff? Andere schafften es doch auch. Konnte ich nicht einfach damit aufhören, so unfassbar feige zu sein?

Meine Sicht verschwamm, und ich musste die aufsteigenden Tränen wegblinzeln. Kein Shamrock für mich, keine Freunde, keine soziale Interaktion. Dafür ein weiterer Abend in Einsamkeit, zusammen mit meinem Hund und einer Tiefkühlpizza. Aber ich hatte keine andere Wahl. Was passierte, wenn ich versuchte, gegen die Angst zu kämpfen, war gerade klar geworden – die Angst siegte. Immer.

Als ich endlich den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür steckte, zitterten meine Finger immer noch so sehr, dass ich zwei Anläufe brauchte. Ich betrat den Flur und atmete erleichtert aus. Geschafft, ich war in Sicherheit. Peanut kam aus dem Wohnzimmer gehechtet, um mich schwanzwedelnd zu begrüßen. Ich sank vor ihm auf die Knie und vergrub mein Gesicht in dem Fell an seinem Rücken, während ich seine Flanken streichelte und er mit der Schnauze gegen meinen Bauch stupste. Die Anspannung floss langsam aus mir heraus und ließ nichts als Erschöpfung zurück. Immerhin musste ich mich die restlichen zwei Werktage der Woche nicht damit herumschlagen, da ich im Homeoffice arbeiten würde. Ich würde nur rausmüssen, um mit Peanut in den nahe gelegenen Hundepark zu gehen. Das war okay, dort waren wir täglich und ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt.

Überhaupt gab es Tage, da hatte ich meine Angst gut im Griff und fuhr mit dem Bus, ging einkaufen und brachte meinen Alltag einigermaßen über die Bühne. Und dann gab es Tage wie heute, an denen ich es nicht mal in den Bus schaffte.

Seufzend machte ich mich auf den Weg in die Küche, Peanut hüpfte schwanzwedelnd um meine Beine herum und winselte freudig.

»Du hattest doch schon Abendessen«, sagte ich. Er setzte sich hin und beobachtete mit gespitzten Ohren, wie ich eine Tiefkühlpizza aus dem Gefrierfach zog. Eigentlich hatte ich im Shamrock Nachos mit Käse essen wollen, aber das fiel ja nun aus.

Nachdem ich die Pizza in den Ofen geschoben hatte, griff ich nach dem Handy. Ich musste den anderen absagen. Wenigstens das war ich ihnen schuldig.

Meine Kehle zog sich zusammen, während ich tippte.

Hey, Leute, tut mir leid, mir ist was dazwischengekommen. Viel Spaß euch!

Sobald ich die Nachricht abgeschickt hatte, schaltete ich den Chat stumm und rief meine Schwester Lindsay an.

Mit einem Menschen zu reden, der keine Ahnung von meinem täglichen Kampf mit der Angst hatte, half mir meist, mich besser zu fühlen.

Nach vier Freizeichen nahm Lindsay ab. »Hey, Lieblingsschwester.« Sie klang fröhlich und unbeschwert, als gäbe es nichts auf dieser Welt, um das man sich sorgen müsste. »Was gibt’s?«

»Nichts Besonderes«, erwiderte ich, während ich ins Schlafzimmer ging. »Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht.«

»Das ist aber lieb von dir. Mir geht’s gut. Shawn hat mir eine Rückenmassage versprochen, also wird der Tag vermutlich noch besser.«

»Das klingt super.« Ich rang mir ein Lächeln ab, obwohl sie es nicht sehen konnte, und fischte meine Lieblingsjogginghose aus dem weißen Schrank mit der Spiegeltür. »Eine Massage hätte ich auch gern.«

»Dann solltest du dir jemanden suchen, der dich massiert.« Ich hörte das Grinsen in ihrer Stimme, und mein Magen verkrampfte sich bei der Vorstellung, jemanden zu suchen. Nicht weil ich es nicht wollte, sondern weil ich es für sehr schwierig hielt. Mit Angststörung auszugehen war schon beinahe unmöglich. Dabei auf andere nicht wie ein Freak zu wirken, war etwas, was für mich in diesem Leben nicht mehr vorgesehen war.

»Wir müssen meine Haare mal wieder schneiden«, wechselte ich das Thema und schlüpfte dabei in die Jogginghose. »Also genau genommen musst du sie schneiden, ich seh ziemlich zerzaust aus.«

Das Tolle an dem schrägen Longbob war, dass ich kaum etwas dafür tun musste. Haare waschen, kämmen, fertig. Der Nachteil war, dass die Frisur uncool aussah, sobald meine Haare so lang waren, dass sie auf meinen Schultern aufsetzten.

»Klar, wann auch immer du willst«, erwiderte Lindsay. »Entweder du kommst zu mir in den Laden oder einfach mal zu mir nach Hause.«

»Unter der Woche hab ich gerade viel zu tun. Aber ich könnte irgendwann abends bei dir vorbeischauen, was meinst du?«

»Klingt super, ist eh entspannter. Wir können was zu essen bestellen. Sollen wir dir auch die Haare färben? Strähnchen oder so? Passend zum Frühling?«

Ich wickelte mir eine rotblonde Haarsträhne um den Finger und betrachtete sie. »Ich weiß nicht …«

»Nur ein paar Highlights«, antwortete Lindsay, als Peanut den Kopf durch die Schlafzimmertür steckte. »Es würde ganz natürlich aussehen, als hättest du gerade eine Woche am Strand in der Sonne gelegen.«

Ich schürzte die Lippen und streichelte Peanut. »Das klingt schon gut … Würdest du dafür wieder tierversuchsfreie Farben besorgen?«

»Klar, was anderes hab ich gar nicht mehr im Laden.«

»Okay, dann machen wir das.«

Wir unterhielten uns noch eine Weile, vor allem darüber, wie es mit Lindsays Friseursalon lief und ob unser jüngerer Bruder Max nun eine Freundin hatte oder nicht; er benahm sich in letzter Zeit sehr geheimniskrämerisch. Je länger das Gespräch dauerte, desto mehr entspannte ich mich. Und als ich auflegte, fühlte ich mich beinahe wieder wie immer.

Ich holte die Pizza aus der Küche und kuschelte mich mit einer Decke auf die Couch. Die beigefarbene Eckcouch, auf der gerade so Peanut und ich Platz hatten, hatte Lindsay mir vermacht, als sie vor einem halben Jahr mit ihrem Freund Shawn zusammengezogen war. Und die Decke hatte mir Mom zum Einzug in diese Wohnung geschenkt. Sie war hellblau, und darauf war ein Baum, dessen Äste und Blätter die Form zweier Lungenflügel bildeten.

Peanut hüpfte zu mir aufs Sofa, quetschte sich zwischen mich und die Lehne und rollte sich seufzend zusammen. Nicht ohne dabei das Pizzastück in meiner Hand anzustarren, als wäre er kurz vorm Verhungern. Zum Glück war ich inzwischen immun gegen seinen bittenden Blick.

Ich zögerte, das Handy auf dem Couchtisch aus hellem Holz abzulegen. Die anderen hatten bestimmt bereits geschrieben, und auch wenn ich ihre Nachrichten nicht lesen wollte, konnte ich sie nicht ignorieren. Mit einem mulmigen Gefühl öffnete ich den Chat.

Drew: Wieso? Was machst du denn?

Julie: Ist was passiert?

Brianna: Ja, ist alles okay, Kim?

Mein schlechtes Gewissen schwoll an. Sie machten sich aufrichtig Sorgen, und ich konnte ihnen noch nicht mal erklären, was los war, ihnen keinen für sie nachvollziehbaren Grund liefern, wieso ich nicht kommen konnte.

Muss noch arbeiten, tut mir echt leid. Das nächste Mal komm ich mit!

Drew: Na klar …

Er glaubte mir nicht. Natürlich nicht. Wie auch? Am College hatte ich immer öfter Hausarbeiten oder anstehende Prüfungen vorgeschoben, weshalb ich nicht ausgehen konnte. Nur war es da noch gegangen, da wir alle am Campus gelebt und uns trotzdem gesehen hatten. Auf dem Campus hatte ich mich einigermaßen angstfrei bewegen können, da ich so an diese Umgebung gewohnt gewesen war. Doch seit meinem Abschluss war es schlimmer geworden.

Brianna: Ist schon okay, ich freu mich, wenn du das nächste Mal dabei bist. :)

Ich ließ die Hand mit dem Smartphone darin auf meinen Bauch sinken. Meine Augen brannten, und ich schluckte gegen den aufsteigenden Kloß in meiner Kehle. Warum konnte ich nicht sein wie früher, als ich dauernd etwas mit meinen Freunden unternommen hatte? Dabei gab es nicht mal einen wirklichen Grund, der mich davon abhielt. Nur die Dämonen in meinem Kopf, die mein Leben regierten.

Das Handy vibrierte, und Julies Name leuchtete auf dem Display auf. Sie hatte mir eine Privatnachricht geschickt.

Julie: Hey, Zuckerpuppe, alles in Ordnung bei dir? Wie war dein Tag?

Ich liebte Julie dafür, dass sie sich solche Mühe gab, den Kontakt mit mir aufrechtzuerhalten. Selbst jetzt, da ich sie versetzt hatte, fragte sie, wie es mir ging. Sie war auch die Einzige, mit der ich mich noch regelmäßig traf. Meist bei mir, manchmal auch bei ihr in der Wohnung. Mit den anderen schrieb ich nur noch innerhalb des Gruppenchats, nur manchmal schickte Drew mir irgendein Bild, das er witzig fand.

Ich antwortete Julie.

Es geht mir gut. Nur viel Arbeit, das konnte ich nicht vorhersehen. Wie ist die Lage bei dir?

Julie: Bei mir ist alles gut … Bist du dir sicher, dass du nicht doch kommen möchtest? Ich könnte dich abholen und würde dich wieder heimbringen, sobald du gehen willst.

Sie hatte mich durchschaut. Mist, das verstärkte mein schlechtes Gewissen noch.

Danke für das Angebot, aber ich muss echt arbeiten. Ein paar dringende Sachen für Animal Nation erledigen, von denen ich dachte, die wären schon abgehakt.

Animal Nation war die Tierschutzorganisation, für die ich, seitdem ich sechzehn gewesen war, ehrenamtlich arbeitete. Doch heute hielt sie, wie so oft, als Ausrede her. Weil ich mich selbst meiner besten Freundin gegenüber schämte, die Wahrheit zuzugeben.

Julie: Na gut. Sehen wir uns die Woche noch?

Wir verabredeten uns für ein ausgedehntes Frühstück am Wochenende, dann verabschiedete sich Julie. Und ich war mit Peanut, meiner halb gegessenen Pizza und meinen Gedanken allein. Ich hasste es.

Immer Zeit mit mir allein zu verbringen war ätzend. Früher war ich gern unter Menschen gewesen und vermisste es. Gleichzeitig war es eine furchtbare Herausforderung, meine sichere Wohnung zu verlassen. Und dann auch noch ohne Peanut. An Tagen wie heute kam es mir unvorstellbar vor, jemals wieder ein angstfreies Leben zu führen. Als wäre das nur davor möglich gewesen, in einer Parallelwelt, zu der ich keinen Zutritt mehr hatte. Als hätte ich den Schlüssel zu meinem alten Leben verloren.

Um mich von meinen düsteren Gedanken abzulenken, zog ich den Laptop vom Couchtisch zu mir und schaltete ihn ein. Würde ich eben wirklich ein bisschen arbeiten, das würde auch mein schlechtes Gewissen Drew, Brianna und Julie gegenüber beruhigen.

Als Erstes ging ich auf Twitter, beantwortete ein paar Replys, die Animal Nation zu unserem letzten Tweet erhalten hatte, und bedankte mich für die vielen Retweets. Schon seit Jahren betreute ich die Social-Media-Kanäle von Animal Nation, vornehmlich Twitter und Instagram, und wir wuchsen ständig. Vor allem Instagram kam mir manchmal vor wie ein Vollzeitjob. Aber es machte mir Spaß, und es war ja auch nicht so, als hätte ich in meiner Freizeit etwas anderes zu tun.

Nachdem ich mit Twitter durch war, loggte ich mich bei Dog Nation ein, einem Forum für Hundehalter und insbesondere Straßenhunde. Dieses Forum gehörte zu Animal Nation, ebenso wie Cat und Wild Life Nation, und ich war eine der Moderatorinnen dort. Meistens gab es nicht viel zu tun, nur hin und wieder einen Beitrag in die richtige Kategorie verschieben oder Fragen beantworten. Dieses Forum war, abgesehen von ein paar technischen Problemen, die ab und an auftraten, oder dem einen oder anderen Troll, ein Selbstläufer.

Ich scrollte mich durch die aktuellen Beiträge, und der Thread eines neuen Nutzers, Scully98, fiel mir besonders ins Auge.

Der Titel lautete Hilfe bei der Hundeerziehung, und der Text las sich wirklich nach einem Hilfeschrei.

Scully98

Hey, Leute,

ich hoffe, dass ihr mir helfen könnt. Ich habe seit zehn Wochen eine inzwischen neun Monate alte Hündin und noch nicht besonders viel Erfahrung mit Hunden. Eigentlich gar keine. Nun habe ich ein paar Probleme mit ihrer Erziehung. Sie bleibt nur schlecht allein, jault und bellt viel dabei, zieht dauernd an der Leine, und wenn ich sie frei laufen lasse und zu mir rufe, kommt sie nicht immer. Wenn Fußgänger oder andere Hunde da sind, hört sie gar nicht. Das ist natürlich problematisch, vor allem, wenn Menschen Angst vor Hunden haben oder der andere Hund an der Leine ist, weil er selbst nicht so umgänglich ist.

So ist sie wirklich lieb. Sehr verspielt und zu jedem freundlich. Nur macht sie leider, was sie will …

Habt ihr Tipps für mich?

Würde mich freuen. Vielen Dank!

Die meisten Antworten waren hilfreich und beinhalteten gute Ratschläge und ein paar Rückfragen. Nur als ich den Namen Dogsmom las, seufzte ich. Sie schoss oft übers Ziel hinaus und gehörte zu den anstrengenden Userinnen des Forums.

Dogsmom

Ich liebe ja Leute, die sich einen Hund zulegen, obwohl sie keine Ahnung haben, und sich vorher nicht mal informieren. All die Antworten, die du hier bekommen hast, hättest du auch selbst herausfinden können, wenn du vorher mal ein Buch zum Thema gelesen oder eine Hundetrainerin aufgesucht hättest. Aber schon klar, einen süßen Welpen sehen, ihn unbedingt haben wollen, sich aber keine Gedanken über die Verantwortung machen, die man damit übernimmt. Genau deswegen landen so viele Hunde im Tierheim – weil sie nicht nur niedlich anzusehen sind, sondern auch Arbeit bedeuten, und zu viele Menschen nicht vorher darüber nachdenken.

Während ich den Text gelesen hatte, waren meine Augenbrauen nach oben gewandert, und nun starrte ich den Bildschirm an. Diese Aussage war selbst für Dogsmom unverschämt. Und das fanden auch die anderen Userinnen und User.

Finja4ever

@Dogsmom: Hey, komm mal wieder runter. Wo steht denn, dass er oder sie die Hündin ins Tierheim geben will? Lass deinen Menschenhass woanders aus.

Paddyslife

@Dogsmom: Lesen kannst du auch nicht, oder? Er hat keinen Welpen, die Hündin ist schon neun Monate alt.

Dogsmom

@Paddyslife: Das ist totale Haarspalterei! Auch mit neun Monaten sind Hunde noch niedlich genug, dass Leute sie nur deswegen haben wollen.

@Finja4ever: Das muss da auch nicht stehen, damit ich weiß, dass es darauf hinausläuft. Wäre es anders, wären unsere Tierheime nicht so überfüllt!

Finja4ever

@Dogsmom: Du kannst doch nicht von den paar Negativbeispielen auf alle anderen Menschen schließen! Dann dürfte ja nie jemand, der noch keinen Hund hatte, beschließen, sich einen zuzulegen. Und wie überfüllt wären die Tierheime dann???

Scully98

Ich wollte hier nicht so eine Diskussion lostreten, sorry dafür. Und ich habe natürlich auch schon Bücher zur Hundeerziehung gelesen und mich mit Scully bei einer Hundeschule angemeldet. Mir ist bewusst, dass ein Hund viel Verantwortung ist, und ich habe nicht vor, sie wieder herzugeben. Ich wollte einfach nur ein paar Erfahrungen erfragen, das ist alles.

Danke für eure Hilfe, ich werde eure Tipps ausprobieren.

Das klang nicht, als würde Scully98 so schnell wieder in das Forum kommen. Konnte ich verstehen, so wie die Diskussion ausgeartet war, das war kein gelungener Start. Zeit, die Streithähne in ihre Schranken zu weisen und ein bisschen Schadensbegrenzung zu betreiben.

FreakyPeanut *mod

@Dogsmom: Schalt mal einen Gang zurück. Hier ist jede*r willkommen, auch Leute, die bisher keine Hunde hatten, und deine Anschuldigungen sind fehl am Platz. Dieses Forum gilt dem Austausch und der Vernetzung von Hundebegeisterten und solchen, die es werden wollen. Respektiere das bitte und überdenke zukünftig deinen Tonfall. Ansonsten sind wir Mods gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen.

@all: Auch für euch gilt: Seid freundlich zueinander. Dieses Forum ist ein Ort, der Gleichgesinnten ein Zuhause bieten soll. Wir sind doch alle hier, weil wir Hunde lieben. Vergesst das nie! <3

@Scully98: Herzlich willkommen, schön, dass du hier bist. Ich finde es sehr toll, dass du einem Hund ein Zuhause gibst. :)

Falls du Fragen oder ein anderes Anliegen hast, kannst du dich jederzeit bei mir oder den anderen Moderator*innen melden.

Ich postete den Beitrag und hoffte, dass Dogsmom jetzt nicht auch noch mit mir diskutieren würde. Vorsichtshalber ließ ich den Thread offen, um ihn im Auge zu behalten, und schickte eine Nachricht in die Mod-Gruppe, dass Dogsmom wieder unangenehm aufgefallen war.

Dann öffnete ich das Grafikprogramm, um ein Bild für Instagram zu bearbeiten. Das Foto zeigte einen weißen Hasen, dessen Auge gerötet und so geschwollen war, dass er es kaum öffnen konnte. Ich packte eine Sprechblase über den Hasen, in der stand: Und das alles nur, damit du gut aussiehst. In dem Post würde es um Tierversuche für Kosmetikprodukte gehen, ich würde ihn morgen online stellen.

Das leise Pling des Browsers erregte meine Aufmerksamkeit und kündigte eine Privatnachricht auf Dog Nation an. Scully98 hatte mir geschrieben.

Scully98: Hey, danke für dein Eingreifen. War echt nicht meine Absicht, so eine Diskussion loszutreten …

Danke auf jeden Fall.

Liebe Grüße

Finn

Routiniert antwortete ich ihm.

Kein Thema, das ist ja mein Job. :)

Und du hast nichts falsch gemacht, also alles gut. Ich hoffe, der Vorfall hat dich nicht zu sehr verschreckt und du konntest trotzdem ein paar Ratschläge für dich mitnehmen?

LG

Kim

Ich kam nicht dazu, den Schriftzug des Bildes zu bearbeiten, da kam schon die Antwort.

Scully98: Ja, auf jeden Fall. Vor allem ist es erleichternd zu wissen, dass andere am Anfang auch solche Probleme mit ihren Hunden hatten. Klar hab ich drüber gelesen und so, aber es ist schon was anderes, es bei anderen auch mitzukriegen.

Das verstand ich. Nur zu gut.

Das geht doch vielen so. Soll ich dir mal erzählen, was mein Hund am Anfang alles gemacht hat? Sämtliche Stuhlbeine angeknabbert, und meine Schuhe waren seine liebsten Spielknochen. Außerdem hat er sich immer so weit weg von mir wie nur möglich aufgehalten, und Fremde waren grundsätzlich gruselig. Und heute liegt er neben mir und liebt Menschen. Man merkt ihm kaum noch an, dass er früher schlechte Erfahrungen gemacht hat.

Scully98: Echt? Erzähl mir mehr! Alles, was mich davor rettet, mich wie ein inkompetenter Pfosten zu fühlen. :D

Ich schmunzelte.

So schlimm?

Scully98: Ich kann nicht mal allein duschen, ohne dass Scully das ganze Haus zusammenjault … Also ja!

Oh … Ich versuche gerade sehr, nicht zu lachen. Sorry. :)

Natürlich war das für Finn eine verzwickte Situation, das konnte ich nachvollziehen, aber die Vorstellung war trotzdem lustig.

Scully98: … ich bin tief verzweifelt, okay? Vielleicht werde ich nie wieder duschen! :D

Ich konnte nicht anders, als zu lachen. Finn war witzig und unterhaltsam, und es fiel mir leicht, mit ihm herumzuplänkeln. In Schriftform hatte ich sowieso wenig Probleme damit, offen zu sein und Kontakt zu Menschen aufzubauen. Es war ja traurigerweise auch die einzige Kommunikationsform, die mir meine Angst nicht weggenommen hatte, und der einzige Weg, wie ich überhaupt neue Leute kennenlernen konnte. Leute, die mich nicht kannten und deshalb keine Ahnung von meinen Problemen hatten.

Zum Schutz der Allgemeinheit müssen wir das verhindern.

Scully98: Heißt das, du erzählst mir mehr davon, wie du deinen Hund erzogen hast? Wobei ich mit Scully ja offenbar das umgekehrte Problem habe – sie klebt quasi an mir dran … Vielleicht muss ich dann genau das Gegenteil von dem machen, was du mit ihm gemacht hast?

Lachend schüttelte ich den Kopf, während meine Finger über die Tastatur flogen.

Ich glaube nicht, dass das so funktioniert, aber ich lasse dich trotzdem an meinem Erfahrungsreichtum teilhaben. ;)

Und das tat ich. Den Rest des Abends erzählte ich Finn, wie ich Peanut dazu gebracht hatte, von einem total ängstlichen Hund, der seinen ersten Lebensabschnitt allein in einem Zwinger verbracht und sich kaum hatte anfassen lassen, zu einer vertrauensseligen Schmusebacke zu werden. Im Gegenzug berichtete Finn von Scully. Er nannte sie ein »Notpünktchen«, weil sie ein Dalmatinermix und als Welpe zusammen mit ihren Geschwistern von einer Tierschutzorganisation aus Argentinien gerettet worden war. Bevor sie zu Finn kam, war sie in einer Auffangstation und bei zwei unterschiedlichen Pflegefamilien gewesen, was erklärte, wieso sie nun so sehr auf Finn fixiert war. Sie war in ihrem kurzen Leben bei zu vielen verschiedenen Menschen gewesen, dass sie nun Angst hatte, wieder woanders hinzukommen. Finn sah das auch so, wusste nur nicht, wie er ihr beibringen sollte, dass er nicht verschwinden würde, nur weil er ohne sie ins Bad ging oder allein die Wohnung verließ.

Wir schrieben, bis mir beinahe die Augen zufielen, und ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so schnell mit einem Menschen warm geworden war.

KAPITEL2

Finn

Ich betrachtete den Basketball in meiner Hand, sah, wie sich meine dunkelbraunen Finger über den roten Gummi spannten, und wartete darauf, dass ich etwas fühlte. Irgendetwas. Ich spürte die raue Oberfläche unter meinen Fingerkuppen, die Rundung schmiegte sich an meine Handfläche. Nichts anderes war mir so vertraut, der Basketball war mein längster und engster Freund. Und doch löste er nichts in mir aus, alle Gefühle in mir schwiegen.

Seufzend schloss ich die Augen und lauschte in die Stille in mir, ob da nicht doch irgendetwas war, etwas, das so tief verborgen lag, dass ich länger danach suchen musste. Nichts. Ich nahm den Boden unter meinen Füßen wahr, spürte mein Herz, das ruhig und gleichmäßig gegen meine Rippen pochte, hörte ein entferntes Knacken, das in der leeren Sporthalle mit den ausgestorbenen Zuschauertribünen unnatürlich laut war. Das war’s. Nur körperliche Empfindungen, Sinneseindrücke. Aber keine Antwort auf die Frage, die der Basketball in meiner Hand stellte, meine Seele warf nicht mal ein fahles Echo zurück.

Ich schlug die Lider auf und ließ den Ball fallen. Er hopste über den glänzenden Boden mit den unzähligen Striemen, die Sportschuhe darauf hinterlassen hatten. Tatz, Tatz, Tatz. Dieses Geräusch begleitete mich schon mein ganzes Leben, und es hatte eine Zeit gegeben, da waren mein Herz und der Basketball im selben Takt gesprungen.

»Hey, Bennett«, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. »Was machst du da? Das Training ist vorbei.«

Ich eiste den Blick von dem Basketball los und wandte mich dem Coach zu, der mit in der Trainingsjacke vergrabenen Händen auf mich zukam. Mit seinen zwei Meter zehn war Mitchell Baker gute fünfzehn Zentimeter größer als ich. Zu seiner Zeit war er ein begnadeter Power Forward gewesen, nun trainierte er seit zwei Jahren die Chicago Storms, und so wie es aussah, schafften wir es diese Saison sogar in die Play-offs. Ihm war es zu verdanken, dass ich letztes Jahr von Boston in meine Heimatstadt Chicago wechseln konnte.

Er blieb vor mir stehen und zog die Augenbrauen nach oben. Offensichtlich wartete er auf eine Antwort. Eine Antwort, die ich ihm nicht geben wollte. Was sollte ich sagen? »Ich versuche herauszufinden, warum meine Seele nicht mehr mit dem Basketball spricht?« Keine gute Idee.

»Ich häng nur rum«, sagte ich ausweichend und rieb mir den Nacken. »War ja lange nicht mehr hier.«

Fast sieben Monate, um genau zu sein. Heute hatte ich mir das erste Mal das Training von der Bank aus angesehen.

»Verstehe.« Mitchell nickte andächtig, der Blick seiner dunklen Augen nagelte mich fest. »Und wie geht’s dir?«

»Gut«, antwortete ich hastig. »Ich darf langsam anfangen, wieder zu trainieren, kann meinen Alltag ganz normal bewältigen«

»Das weiß ich, ich hab mit deinen Ärzten gesprochen. Aber davon rede ich nicht.«

Verdammt, dieses Gespräch schlug eine Richtung ein, die mir gar nicht gefiel. Dennoch fragte ich möglichst gelassen: »Sondern?«

Mitchell blinzelte nicht mal. »Du hast uns allen einen ganz schönen Schreck eingejagt, also muss es für dich noch heftiger gewesen sein.«

Automatisch rieb ich mir übers Brustbein, hinter dem mein Herz immer noch gleichmäßig schlug. Eine Weile hatte es das nicht getan. »Na ja … Es ist ja jetzt vorbei. Ich muss nur wieder fit werden.«

»Mach langsam. Es spielt keine Rolle, ob du vier Wochen früher oder später auf dem Spielfeld stehst. Nach den Play-offs ist ja sowieso erst mal Sommerpause. Also kein falscher Ehrgeiz, okay?« Ich nickte, und er klopfte mir auf die Schulter. »Gut. Schön, dass du wieder da bist.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ die Halle.

Ich sah mich noch einmal um, betrachtete die leeren Zuschauertribünen, die Anzeigetafeln, die Fahnen der Chicago Storms, die die Wände zierten, die Werbung für Sportartikelhersteller an den Banden … Das alles war so lange mein Leben gewesen, tagein, tagaus, ich hatte es nie hinterfragt. Bis ich von einem Moment auf den anderen daraus herausgerissen worden war. Und sich nun alles fremd anfühlte, als hätte nichts davon etwas mit mir zu tun. Aber vielleicht war das normal? Nachdem ich Wochen das Bett gehütet und mich monatelang geschont hatte? Nachdem Basketball einfach so aus meinem Leben gestrichen worden war, zusammen mit jeder anderen sportlichen Aktivität? Immerhin hatte Basketball einen großen Teil dazu beigetragen, wenn es nicht sogar schuld daran war, dass ich plötzlich nicht mal mehr hatte Treppen steigen dürfen.

Wahrscheinlich war es so. Wahrscheinlich war es ganz normal, dass ich die Verbindung dazu verloren hatte, und ich musste mich erst wieder daran gewöhnen. Und dann wäre alles, wie es immer gewesen war.

Auf dem Weg nach draußen kam ich an den Umkleidekabinen vorbei und lief prompt in Marc rein. Er spielte als Power Forward und war im selben Jahr wie ich gedraftet worden – er direkt von den Storms, ich von den Boston Bears. Dank ihm hatten die Storms, für die die letzten Jahre nicht so glorreich verlaufen waren, einen rasanten Aufstieg hingelegt. Ich verstand mich gut mit Marc, er war einer der wenigen, mit denen ich auch die letzten Monate in Kontakt geblieben war.

Er grinste mich breit an, in seinen blonden Haaren hingen noch Wassertropfen vom Duschen und perlten auf seine nackten weißen Schultern.

»Hast du nichts zum Anziehen?«, fragte ich belustigt, doch er ignorierte es.

»Hey, Mann.« Er boxte mir freundschaftlich gegen den Oberarm. »So cool, dass du wieder da bist.«

Ich erwiderte sein Grinsen, auch wenn es sich ein wenig schwächlich anfühlte. »Ich saß ja nur auf der Bank.«

»Na und?« Marc winkte ab. »Ein Schritt nach dem nächsten. Vielleicht nimmst du bald sogar einen Basketball in die Hand.«

»Das hab ich gerade schon.« Und es war einfach nur seltsam.

Marc riss gespielt entsetzt die Augen auf. »Echt? Ganz heimlich?«

»Erwischt.«

Seine Mimik wurde ernst. »So wie du dich auch heimlich kurz vorm Training in die Halle geschlichen hast?«

Schuldbewusst verzog ich das Gesicht. »Sorry, ich wollte kein großes Ding draus machen.« Auf eine große Wiedersehensfeier mit lauter Fragen, wie es mir ging und wann ich wieder spielen würde, hatte ich keine Lust gehabt. Deswegen war ich nach dem Training auch so lange auf der Bank sitzen geblieben, bis das Team die Halle verlassen hatte.

»Du hättest trotzdem Bescheid sagen können«, sagte Marc.

»Damit du es schon vorher dem ganzen Team erzählst?« Ich schnaubte belustigt. »Auf keinen Fall.«

»Du tust so, als wäre ich eine Tratschtante.«

»Du bist eine Tratschtante.«

Er verdrehte die Augen. »Nur wenn es gute Neuigkeiten sind.«

»Ob es gute Neuigkeiten sind, muss sich erst noch rausstellen.«

»Das wird schon, Mann«, sagte Marc und tätschelte mir aufmunternd den Arm. »Wirst sehen. Du hast dich ordentlich auskuriert, und jetzt fängst du langsam wieder an. Und schwups, nächste Saison stehst du auf dem Feld und machst sie alle fertig.«

»Hoffentlich«, sagte ich und meinte damit nicht meinen Körper. Oder die Wahrscheinlichkeit, dass ich mit vierundzwanzig Jahren durchaus in der Lage war, auch nach einem Jahr Pause wieder die NBA aufzumischen. Ich hoffte, dass der Basketball wieder ein Teil von mir wurde und sich dieses fremdartige Gefühl abstellte.

Als ich bei meinen Eltern klingelte, ertönte lautes Bellen, und ich lächelte. Spätestens jetzt wusste die ganze Nachbarschaft, dass Scully da war. Sobald Mom die Tür öffnete, drängte Scully an ihr vorbei und sprang winselnd an mir hoch. Dabei wedelte sie so hektisch mit dem Schwanz, dass ihr ganzer Körper wackelte.

»Hallo, meine Schöne«, sagte ich und bückte mich zu ihr, um sie zu begrüßen. »Hast du mich vermisst? Ich hab dich auch vermisst.«

Sie bellte leise und schleckte über die Innenseite meines Unterarms, während ich ihre Flanken streichelte. Man sah ihr deutlich an, dass sie ein Dalmatiner-Mix war. Sie hatte die Statur eines Dalmatiners, ich ging davon aus, dass sie auch die Größe erreichen würde. Ihr Rücken und die Oberseite ihres Kopfs waren komplett schwarz, der Rest ihres Fells war weiß mit den typischen schwarzen Flecken.

»Man könnte meinen, ihr hättet euch Wochen nicht gesehen.« Mom stand im Türrahmen und band ihre Afrolocken zusammen. Sie beobachtete uns lächelnd, und dabei bildeten sich Fältchen um die braunen Augen, die sie mir vererbt hatte. »Und du hättest sie in unwürdigen Zuständen zurückgelassen.«

»Gib zu, dass du sie gequält hast«, neckte ich sie und richtete mich auf.

»Genau so war es. Ich bin als die Schlächterin der Williams Street bekannt, das weißt du doch.«

»Ein Wunder, dass ich meine Kindheit überlebt habe.« Ich grinste und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke fürs Aufpassen.«

»Hab ich gern gemacht und tue ich jederzeit wieder, wenn es dir hilft.« Sie sah über ihre Schulter in die Wohnung. »Kommst du noch mit rein?«

Hastig schüttelte ich den Kopf. »So viel Zeit hab ich nicht, ich muss noch was mit Matt besprechen.«

Mein Sportagent Matt hatte mir eine Mail geschrieben, dass ich ihn anrufen sollte, sobald ich aus dem Training raus war. Denn es war seine Idee gewesen, dass ich wieder daran teilnahm. Oder eher es beobachtete. Er meinte, das sei nicht nur wichtig, damit ich zumindest geistig nicht einrostete, sondern auch, um meinen Platz in der Starting Five zu verteidigen. Ich sollte klarmachen, dass ich vorhatte zurückzukommen. Ich fand das ein wenig mies, schließlich machte Dean, der meine Position als Point Guard derzeit spielte, einen fantastischen Job. Es wäre arrogant, von ihm zu verlangen, das Feld zu räumen, sobald ich wieder fit war.

Mom nickte verständnisvoll. »Das geht natürlich vor. Wie war es denn für dich, das erste Mal wieder im Training zu sein?«

Nichtssagend. »Ich hab ja nicht trainiert, ich saß nur auf der Bank.« Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern.

»Aber du warst da. Das ist der erste Schritt. Bald spielst du wieder, du wirst sehen.«

In ihrem Blick lag überschwänglicher Stolz, so war es immer schon gewesen, und die absolute Überzeugung, dass ich es zurück auf den Basketballplatz schaffen würde. Bei dem Gedanken, sie vielleicht enttäuschen zu müssen, breitete sich ein enges Gefühl in meiner Brust aus.

»Bestimmt, Mom«, sagte ich schlicht.

Sie musterte mich eingehend. »Ist alles in Ordnung, Schatz? Bedrückt dich irgendetwas?«

Ich schüttelte den Kopf. »Es ist alles gut.«

Was sollte ich sonst sagen? Dass meine große Sorge nicht war, dass mein Körper mich im Stich ließ, sondern dass ich die Verbindung zum Basketball verloren hatte? Nein, auf keinen Fall.

An der kleinen Falte, die sich zwischen Moms Augenbrauen bildete, erkannte ich, dass sie mir nicht glaubte. »Es war dein erster Tag wieder in der Halle, es ist in Ordnung, dass dich das nachdenklich stimmt, ob alles wieder gut wird.« Sie trat auf mich zu und nahm mich in den Arm so gut es ging, obwohl sie zwei Köpfe kleiner war als ich. Ihr Afro kitzelte meine Nase. »Alles wird gut, Baby, ich glaube ganz fest daran.«

Hoffentlich hatte sie recht.

Scully zerrte an der Leine, als ich den Altbau im viktorianischen Stil verließ, in dem die großzügige Vierzimmerwohnung meiner Eltern lag. Ich hatte sie ihnen von meinem ersten NBA-Gehalt gekauft – oder eher: Ich hatte sie ihnen aufgenötigt. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich ihnen lieber ein Haus geschenkt, aber das hatten sie nicht gewollt. Um ehrlich zu sein, hätten sie auch diese Wohnung niemals angenommen, wäre der Mietvertrag ihrer alten nicht ausgelaufen und hätten sie sonst nicht auf der Straße gesessen. Trotzdem hatte ich sie noch überzeugen müssen, dass ich sowieso dringend eine Investition tätigen musste – und nichts eignete sich dafür so gut wie eine Immobilie. Erst als ich gemeint hatte, dass ich die Wohnung ansonsten vermieten würde, hatten sie nachgegeben.

Mom war Schneiderin und Dad Elektriker, und sie hatten ihr ganzes Leben hart gearbeitet, um uns einen guten Lebensstandard zu ermöglichen. Mir hatte es nie an etwas gefehlt, sie hatten mich in allem unterstützt und hätten sogar einen Studienkredit für mich aufgenommen, hätte ich kein Stipendium bekommen. Doch das Leben in Bronzeville, dem Stadtteil, in dem ich aufgewachsen war und in dem meine Eltern nach wie vor lebten, war teurer geworden, und so hatten sie sich immer mehr einschränken müssen. Und das hatte ich einfach nicht mit ansehen können. Schon gar nicht, wenn ich für eine Saison in der NBA mehr Geld bekam als andere Menschen in ihrem ganzen Leben.

Sobald ich Scully in den Kofferraum meines BMW X5 verbannt und das Handy mit der Freisprechanlage gekoppelt hatte, rief ich Matt an. Während die Freizeichen ertönten, fuhr ich aus der Parklücke und fädelte mich in den Verkehr ein.

»Hey, Finn«, nahm Matt das Gespräch entgegen. »Cool, dass du zurückrufst. Wie war das Training?«

»Uninteressant, ich saß ja nur rum.«

»Das ist nicht mehr lange so«, sagte er. »Kurz zu was anderem: Ich hab ein Superangebot auf dem Tisch liegen, es geht um …«

Die nächste halbe Stunde erzählte Matt mir davon, dass ein großes Modelabel mich als Fotomodell für seine neue Unterwäschelinie verpflichten wollte. Die Idee überzeugte mich nicht auf Anhieb, aber Matt zählte mir die Vorteile auf, redete davon, wie wichtig es sei, mich weiter als Marke zu etablieren, auch abseits des Basketballs. Und es wäre ja auch nicht das erste Mal. Anfangs hatte ich nur für Sportartikelhersteller gemodelt, später auch für ein Parfum, ein Deo und zuletzt für eine Sonnenbrillenmarke. Ich hatte mich geehrt gefühlt und es als gutes zweites Standbein gesehen, wie Matt immer wieder betonte. Aber das eigene Gesicht mit einer schicken Sonnenbrille in der Werbung zu sehen war etwas ganz anderes, als als Unterwäschemodell zu posieren … Andererseits wäre es endlich wieder Arbeit – Arbeit, die körperlich nicht anstrengend war. Ich sagte Matt zu, mir das Angebot anzusehen und mich mit den zuständigen Leuten des Labels über ihre Vorstellungen zu unterhalten und ob diese sich mit meinen vereinen ließen.

Wir beendeten das Gespräch, als ich mein Auto gerade in dem Carport neben meinem Haus parkte. Die Vögel zwitscherten, und ich atmete die milde Frühlingsluft ein, als ich mit Scully in den Garten ging. Dort ließ ich sie von der Leine, woraufhin sie sofort anfing, um mich herumzutoben. Und dabei hatte ich ihr noch nicht mal einen Ball geschmissen …

Der Garten war nicht besonders groß, aber ausreichend, um Scully auszupowern und mit ihr zu spielen. Als Kind hatte ich immer davon geträumt, in einem Stadthaus mit Garten zu leben, und wie so viele meiner anderen Träume war auch dieser in Erfüllung gegangen. Doch manche Träume sahen nur aus der Ferne toll aus, wie etwas, das man unbedingt erreichen wollte. Wenn man dann endlich an diesem Punkt angelangt war, verloren Träume ihren Glanz. Und manchmal wurden sie zum Albtraum.

Der Garten hatte sich nicht als solcher entpuppt. Er war von einer Backsteinmauer umgeben, die so zugewachsen war, dass ich sie im Sommer nur erkannte, weil ich wusste, dass sie da war. In der Ecke war ein kleiner Pavillon mit einem Tisch und vier Stühlen, um die Ständer des Pavillons rankten sich Kletterrosen nach oben, die momentan fast nur aus Ästen bestanden. Doch hier und da blitzten bereits die ersten grünen Knospen hervor, der Frühling ließ nicht mehr allzu lange auf sich warten.

Scully warf mir einen Ball vor die Füße und bellte mich auffordernd an. Als ich mich danach bückte, schnappte sie ihn weg und sprang davon. Nur um sich zwei Meter weiter umzudrehen, den Brustkorb auf den Boden zu drücken und mich schwanzwedelnd anzusehen. Ich machte einen großen Schritt auf sie zu, tat so, als würde ich sie jagen, und das genügte, damit sie wieder aufsprang und durch den Garten raste.

Als ich mir sicher war, dass sie alle überschüssige Energie losgeworden war, gingen wir durch die Hintertür ins Haus. Die Tür knarzte ein wenig und führte direkt in die Küche. Die Maklerin hatte damals gesagt, dass das natürlich ein Nachteil sei, den Garten nicht vom Wohnzimmer aus betreten zu können, und dass es keine Terrasse gab, aber mich störte das nicht. Im Gegenteil, ich mochte es genau so, wie es war. Ich hatte auch die alten Eichendielen nur abschleifen und neu ölen lassen, ebenso wie ich die weißen hölzernen Einbauschränke und die hellbraune Arbeitsplatte in der Küche gelassen hatte. Ich mochte einfach den Charme dieses alten viktorianischen Stadthauses und wollte es so unverändert wie möglich belassen.

»So, meine Hübsche«, sagte ich zu Scully, die daraufhin zu mir aufsah und erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelte. »Kommen wir zu der heutigen Erziehungseinheit.«

Es konnte keine Dauerlösung sein, dass ich Scully jedes Mal zu meinen Eltern bringen musste oder sie sich die Seele aus dem Leib jaulte, sobald ich sie allein ließ. Also würde ich die Tipps, die ich in Büchern gelesen und in dem Internetforum bekommen hatte, nach und nach ausprobieren. Und ich würde mit Kims Ratschlägen anfangen.

Ich ging ins Wohnzimmer und schickte Scully dort in ihr Körbchen, was erst nach mehreren Versuchen gelang, aber immerhin. Dann setzte ich mich auf die Couch und wartete. Darauf, dass die Spieleinheit ihre Wirkung zeigte und sie sich entspannte. Denn es hatte wenig Sinn, mit ihr zu üben, wenn sie überdreht war.

Während ich abwartete, zog ich mein Handy aus der Hosentasche und klickte mich durch meine Nachrichten. Marc fragte, ob ich ab jetzt immer ins Training kommen würde. Wohl eher nicht, aber zumindest öfter, antwortete ich ihm.

Mein bester Freund Dylan hatte mir geschrieben. Er wohnte in Milwaukee, etwa eine Stunde von Chicago entfernt, und spielte seit seinem Draft für die Milwaukee Bats. Wir waren zusammen aufgewachsen, hatten dieselbe Highschool besucht und das große Glück gehabt, beide ein Stipendium für Colleges in Boston zu bekommen. Er für Harvard, ich für das Boston College, aber das hatte keine Rolle gespielt. Wir waren in derselben Stadt gewesen, das hatte schon an ein Wunder gegrenzt.

Dylan: Wie lief’s heute?

Ich verzog das Gesicht.

Nicht du auch noch.

Dylan: Fragen das heute alle?

Ja. Echt. Alle. Dabei ist es wirklich nicht aufregend, auf einer Bank zu sitzen.

Dylan: Hast recht. Ist sogar scheißlangweilig.

Eben.

Dylan: Im Ernst, ich hasse es, auf der Bank zu sitzen. Allein wie so eine Bank schon aussieht, die pure Provokation. So was Unästhetisches sollte verboten werden. Und dann müssen wir uns da auch noch draufsetzen! Mit unseren Ärschen!

Ich lachte.

Lass uns eine Petition einreichen. Gegen Bänke in Basketballhallen.

Dylan: Ich verfasse gleich einen Instagram-Post. Werde dafür unsere Küchenbank fotografieren. Oder doch lieber die von der Veranda?

Woher soll ich das wissen??

Dylan: Pff. Ich werde Ayleen fragen, wenn sie heimkommt. Sie hat mehr Ahnung als ich.

Endlich siehst du es ein.

Dylan: Sie hat einfach von allem mehr Ahnung als ich.

Ich werde einen Screenshot machen und ihr dieses Geständnis schicken.

Dylan: … das ist nicht witzig, Mann! Du kannst ihr doch nicht eine Waffe gegen mich in die Hand drücken!

Ich schickte ihm nur ein Smiley, das eine Sonnenbrille trug.

Dylan: Ich glaube, wir haben ein Problem. Unsere Bromance ist kaputt.

Gehst du jetzt weinen?

Dylan: Erst später, wenn Ayleen da ist. Dann tröstet sie mich vielleicht.

Bestimmt.

Ich zögerte einen Moment, schrieb dann aber noch eine Nachricht.

Danke, Mann.

Dylan: Kein Ding.

Er verstand es, ohne dass ich es erklären musste. Ich war ihm dankbar dafür, dass er nicht weiter auf dem Thema Basketball herumgeritten war, obwohl es ihn sicherlich brennend interessierte. Seitdem ich Dylan kannte, war es sein großer Traum gewesen, eines Tages in der NBA zu spielen. Es gab nur eines, was ihm wichtiger war als Basketball – seine Freundin Ayleen. Sie hatten sich in unserem vorletzten Jahr an der Highschool kennengelernt und waren seitdem unzertrennlich. Sie war sogar mit ihm nach Boston gegangen und hatte dort an der Northwestern University studiert. Auch ihre zwei Auslandssemester in London hatte die Beziehung ausgehalten. Und es war vollkommen klar gewesen, egal welches Team ihn gedraftet hätte, sie wäre mit ihm gezogen.

Mein Handy vibrierte erneut.

Dylan: Später zocken?

Bin dabei. Weiß nur noch nicht genau wann. Muss mit Scully allein bleiben üben. Keine Ahnung, wie lang es dauert.

Dylan: Die neue Frau in deinem Leben macht dich fertig. :D

Nicht mal annähernd.

Scully brauchte viel Aufmerksamkeit, ja, aber sie war auch das ehrlichste Wesen, das ich kannte. Für sie war ich einfach nur Finn, sie presste mich nicht in unendlich viele vorgefertigte Schablonen. Denn es gab für alles Schablonen. Eine Schablone für den Basketballstar. Eine Schablone für den coolen Teamkameraden. Eine für den Womanizer. Eine für den perfekten Sohn. Eine für den besten Freund. Sie alle zeichneten Erwartungen, versinnbildlichten Vorstellungen, wie ein Mensch gewisse Rollen zu erfüllen hatte. Egal ob sie etwas mit der Realität zu tun hatten oder nicht.

Scullys einzige Erwartung an mich war, dass ich sie fütterte, mit ihr Gassi ging und mit ihr spielte. Und das musste ich noch nicht mal besonders gut machen, es reichte, wenn ich nett zu ihr war. Für Scully war ich einfach nur Finn. Jemand, der nicht an seinen Erfolgen gemessen wurde oder daran, was die Presse über ihn schrieb. Scully maß mich an meinem Charakter, alles andere war ihr egal.

Ich lugte über mein Handy zu ihr, sie hatte sich zusammengerollt, den Kopf auf die Pfoten gelegt, und schlief selig. Gut. Nun war der Moment gekommen. Ich stand auf und verließ den Raum, ohne sie zu beachten. Ich hatte gerade mal die Treppe erreicht, als sie aufsprang und mir folgte. Sie klebte förmlich an meinen Fersen, während ich die Stufen nach oben stieg. Die ganze Zeit über ignorierte ich sie. Auch als ich ins Bad ging und sie aussperrte. Sobald ich die Tür geschlossen hatte, fing Scully davor an zu jaulen. Ihre verzweifelten Laute bohrten sich in mein Herz, jeder einzelne wie ein Nadelstich.

Keine Ahnung, wie ich das aushalten sollte. Aber ich musste. Bis sie aufhörte oder zumindest eine kleine Pause machte. Seufzend setzte ich mich auf den dunkelgrauen Fliesenboden und lehnte mich rücklings an die Badewanne, die frei im Raum stand. Wenigstens hielt mich die Fußbodenheizung warm.

Um mich von Scullys herzzerreißendem Gejaule abzulenken, zog ich das Handy erneut hervor. Doch dieses Mal textete ich nicht Dylan, sondern öffnete die Dog Nation-App und klickte direkt auf den Posteingang. In diesem Forum gab es nur einen Menschen, mit dem ich schrieb. Kim.

Der grüne Punkt zeigte mir, dass sie online war, also schickte ich ihr eine Nachricht.

Ich sitze in meinem Badezimmer auf dem Boden und Scully heult vor der Tür … Wie lange muss ich das noch mal aushalten?

Ich kannte die Antwort, doch ich genoss es, mich mit Kim über Hunde zu unterhalten. Sie war witzig, echt nett und wir waren auf einer Wellenlänge – das war der Grund, weshalb ich immer wieder mit ihr schrieb, obwohl ich mich am Anfang wirklich nur für ihre Hilfe hatte bedanken wollen.

FreakyPeanut: Bis sie kurz aufhört. Sie darf nicht jaulen, wenn du wieder rausgehst. Lass sie nicht rein ins Bad, wenn du die Tür aufmachst, aber lob sie. Sie soll verstehen, dass du zurückkommst, wenn sie still ist, und dass sie damit alles richtig macht.

Ich hab befürchtet, dass du mir dieselbe Antwort gibst wie das letzte Mal …

FreakyPeanut: Ich weiß, es ist ätzend. Aber sie wird es nie lernen, wenn du es nicht durchziehst. Dann erzieht sie dich und nicht du sie.

Ich komm mir trotzdem vor wie ein Hundeschänder.

Jedes Mal, wenn Scully jaulte, zog sich alles in mir zusammen. Ich wollte, dass es ihr gut ging, nicht dass sie litt.

FreakyPeanut: Du bist kein Hundeschänder.

Erzähl das mal Scully.

FreakyPeanut: Du lässt sie ja nicht stundenlang allein, sondern bist trotzdem da und passt auf sie auf. Sie muss einfach lernen, dass es nichts Besonderes ist, wenn du gehst, und dass du immer zurückkommst.

Kim hatte recht. Das wusste ich. Nicht nur, weil jedes Buch dasselbe sagte, sondern auch, weil es logisch war. Trotzdem hasste ich es, das durchziehen zu müssen. Ich seufzte und versuchte auszublenden, wie Scully an der Tür kratzte.

Da ich ja jetzt noch eine Weile hier im Badezimmer eingesperrt sein werde … Was treibst du so?

FreakyPeanut: Ist das eine zweideutige Frage?

Einen Moment starrte ich auf den Bildschirm.

Ich hab dich doch nicht gefragt, was du anhast oder welche Unterwäsche du trägst …

Ich wusste, dass es Männer gab, die das im Internet machten. Ayleen erzählte immer wieder von den skurrilen Nachrichten, die sie auf Instagram und Twitter geschickt bekam. Von Sexanfragen bis hin zu Dickpics war alles dabei. Und ich fühlte mich nach ihren Erzählungen jedes Mal verstört. Noch verstörter, als wenn ich in meinen eigenen Posteingang bei Instagram sah, in dem auch regelmäßig Nacktbilder von Frauen mit eindeutigen Angeboten dazu landeten.

FreakyPeanut: Dann hätte ich dich auch aus dem Forum entfernen müssen.

Mein Glück, dass ich tatsächlich nur wissen wollte, was du machst. :P

FreakyPeanut: Schade. Ich habe gerade schon heiße Unterwäschemodelle gegoogelt, um sie dir detailliert beschreiben zu können.

… das ist ein Witz, oder?

FreakyPeanut: Haha, ja. :D

Und was ist, wenn ich gefragt hätte, was für Unterwäschemodelle du gefunden hast?

FreakyPeanut: Hättest du denn gefragt?

Ich zögerte einen Augenblick. Natürlich hätte ich eine schlagfertige Antwort schreiben können, freche Sprüche hatte ich mir antrainiert, sie gehörten gewissermaßen zum Job. Aber wenn ich ehrlich war, wollte ich das nicht. Kim hatte keine Ahnung, wer ich war, und das machte es viel leichter, ich selbst zu sein.

Nein, hätte ich nicht. Nenn mich verklemmt, aber wir kennen uns überhaupt nicht. Und solche Gespräche gehören meiner Meinung nach in eine feste Beziehung oder meinetwegen noch in eine Affäre, aber sie sollten nicht zwischen Fremden im Internet stattfinden.

FreakyPeanut: Vielleicht habe ich gerade mein Herz an dich verloren.

Ich lachte.

Äh, danke? :D

FreakyPeanut: Lass mich raten, du bist vergeben.

An Scully? Ja. Ansonsten nein. Und du?

FreakyPeanut: Um fair zu sein, muss ich dir das jetzt beantworten, oder?

Ja. Nachdem du mir schon nicht erzählst, was du machst. :P

FreakyPeanut: Single. Und ich stelle gerade noch einen Auftrag für die Arbeit fertig.

Als was arbeitest du denn?

FreakyPeanut: Ich arbeite als Übersetzerin.

Ach, das ist ja cool.

FreakyPeanut: Es klingt viel cooler, als es ist. Ich übersetze hauptsächlich Beipackzettel für Medikamente. Und womit verdienst du deine Brötchen?

Meine Finger erstarrten über dem Display, Unbehagen kroch meine Wirbelsäule nach oben. Ich hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte.

Ich spiele als Point Guard bei den Chicago Storms, googel einfach Finley Bennett, und dann erfährst du alles über mich – vermutlich auch Dinge, die nicht stimmen und die ich selbst noch nicht über mich wusste.

Nein, auf keinen Fall.

Grob gesagt, arbeite ich in der Vermögensverwaltung.

Das war nicht wirklich gelogen, die letzten Monate hatte ich nichts anderes getan, außer gesund zu werden und mein eigenes Vermögen zu verwalten.

FreakyPeanut: Klingt spannend.

Ist es nicht.

FreakyPeanut: Okay, wenn du es selbst sagst, gebe ich zu: Es klingt total langweilig.

Wahrscheinlich ist dein Job spannender. Immerhin lesen sich manche Beipackzettel wie Horrorstorys.

FreakyPeanut: Du meinst die Liste der Nebenwirkungen? Ja. Wenn du davor noch keine Neurosen hattest, kriegst du sie davon.

Ich grinste.

Sprichst du aus Erfahrung?

Dieses Mal dauerte es länger, bis sie antwortete, obwohl der Chat mir anzeigte, dass sie die Nachricht gelesen hatte. Scullys Jaulen hatte sich zu einem kläglichen Winseln entwickelt, und ich überlegte schon, ob ich zu ihr rausgehen sollte, als Kim zurückschrieb.

FreakyPeanut: Über die Phase der Albträume bin ich schon hinweg, vermutlich bin ich bald unbesiegbar.

Ich fing gerade an, in das Chatfenster zu tippen, als Scully verstummte. Hastig sprang ich auf, meine Beine waren eingeschlafen und kribbelten, als sie wieder durchblutet wurden.

Während ich zur Tür schlich, um Scully nicht gleich wieder zum Bellen zu animieren, textete ich Kim.

Muss gehen. Sie ist endlich ruhig.

FreakyPeanut: Alles klar. Dann los, knuddel sie. :)

Mach ich. :)

KAPITEL3

Kim

Du hast echt was verpasst, Drew hat gesungen«, sagte Julie, kaum dass ich ihr die Tür geöffnet hatte, und umarmte mich. Peanut bellte und sprang schwanzwedelnd um uns herum.

»Drew hat was?«, hakte ich entgeistert nach, doch Julie war schon auf die Knie gegangen und begrüßte Peanut.

»Hallo, du Fellball.« Sie küsste ihn auf den Kopf, und er winselte freudig. Nachdem sie ihn ausgiebig geknuddelt hatte, richtete sie sich wieder auf. »Wo waren wir gerade?«

Ich grinste. »Dabei, dass Drew gesungen hat. Und dass deine neue Frisur toll ist.«

»Was? Nein, darüber haben wir nicht geredet.«

»Dann tun wir es jetzt«, sagte ich, ging um sie herum und betrachtete ihren neuen Look. Julie trug beinahe immer Braids, aber ständig in verschiedenen Variationen. Dieses Mal waren ihre beinahe schwarzen Haare in der Mitte gescheitelt und die Zöpfe direkt an ihrer Kopfhaut entlang nach unten geflochten. In den Längen waren silber-blaue Strähnen mit hineingewebt, was wirklich toll aussah. Vor allem in Kombination mit den silbernen Creolen, die an ihren Ohren baumelten und einen schönen Kontrast zu ihrer hellbraunen Haut bildeten.

»Atemberaubend«, sagte ich, und Julie grinste breit.

»Danke. So was in der Art haben Drew und Brianna auch gesagt.«

»Wir haben eben alle einen guten Geschmack.«

Ich führte sie auf meinen winzigen Balkon, auf dem ich bereits den kleinen Tisch gedeckt hatte. Es war zu einer Art Ritual geworden, dass wir am Wochenende zusammen frühstückten, wann immer wir es einrichten konnten. Früher hatten wir uns dafür öfter in Cafés oder im Sommer im Park oder am Lake Michigan getroffen. Bis es für mich immer unentspannter und irgendwann ein Ding der Unmöglichkeit geworden war. Nun trafen wir uns nur noch bei Julie oder mir. Meistens bei mir.

»Das ist fast wie Urlaub«, sagte Julie, lehnte sich an das metallene Balkongeländer und reckte ihr Gesicht genüsslich der Frühjahrssonne entgegen. Wir mussten beide noch einen dicken Pulli tragen, aber immerhin konnten wir draußen sitzen. In den kahlen Ästen des Baums, der im Hinterhof des Mehrfamilienhauses stand, hüpften Vögel umher und zwitscherten fröhlich. Peanut beobachtete sie durch das Balkongeländer und knurrte leise. Doch die Vögel störte das nicht, sie wussten ganz genau, dass er ihnen nichts anhaben konnte.

»Was muss ich tun, damit es sich wie Urlaub anfühlt?«, fragte ich und ließ mich in einen der Korbstühle sinken. »Eine Hängematte anbringen?«

Anfangs hatte ich überlegt, eine aufzuhängen, hatte den Gedanken aber schnell wieder verworfen; dann hätte nichts anderes mehr Platz gehabt. Und ich liebte meinen kleinen Kräutergarten, den ich im Sommer in Töpfen heranzog, zu sehr, als dass ich darauf verzichten wollte.

»Ja, eine Hängematte wäre gut. Oder zwanzig Grad mehr.« Seufzend schlug Julie die Augen auf und setzte sich ebenfalls. »Ein Cocktail würde es vielleicht auch tun.«

Ich lachte leise. »Um elf Uhr morgens?«

Sie blinzelte mich ungerührt an. »Es ist Samstag. Wenn nicht heute, wann denn dann?«

»Du hast recht. Was hättest du gern?«

»Sex on the Beach.« Ihre braunen Augen funkelten vielsagend, und ich grinste.

»Ich fürchte, dafür bin ich die falsche Adresse. Ich kann dir nur Jacky Cola anbieten.«

Sie prustete und verzog das Gesicht. »Okay, ich verzichte. Und den Sex hol ich mir auch woanders.«

»Beruhigend. Ich hab schon überlegt, ob wir es mit oder ohne Sexspielzeug machen.«

»Kim!« Julie lachte und verpasste mir einen Klaps gegen den Oberarm, woraufhin Peanut leise bellte.

»Toll, jetzt hast du meinen Hund verstört.«

»Die Frage ist, wer hier wen verstört«, sagte Julie und wandte sich dem Tisch zu, auf dem frische Croissants, Bagels und Obstsalat standen.

»Mir kannst du nichts vormachen.« Ich griff nach einem Croissant. »Ich weiß genau, wie du bist.«

»Traurig, aber wahr.« Julie schnappte sich einen Bagel und bestrich ihn mit Frischkäse.

»Kommen wir zurück zu dem singenden Drew. Bitte sag mir, dass du ein Video davon gemacht hast.«

»Leider nicht. Aber Brianna. Sie soll es in die Gruppe schicken, damit wir alle was zu lachen haben.«

»Bin voll dafür.«

»Er hat Quit playing games with my heart von den Backstreet Boys geschmettert. Voller Inbrunst. Du hättest es echt sehen sollen, es war urkomisch.« Bei der Erinnerung daran lachte sie, während ein flaues Gefühl in meinen Magen kroch. Natürlich meinte Julie es nicht böse, aber solche Momente erinnerten mich daran, dass ich nicht einfach mit meinen Freundinnen und Freunden ins Shamrock