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Tod und Teufel, Der Kammersänger, Der Marquis von Keith, Der Verführer, Die Büchse der Pandora, Die Zensur, Erdgeist, Frühlings Erwachen, König Nicolo oder So ist das Leben, Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen, Mit allen Hunden gehetzt, Musik, "Óaha, die Satire der Satire", Rabbi Esra: Zum unbestrittenen Kanon der Weltliteratur gehören diese Meisterwerk eines Ausnahmekünstlers mit anhaltendem und vielfältigem Einfluss auf den lesenden Menschen und die Literaturgeschichte – bis heute. Spannend und unterhaltend, vielschichtig und tiefgründig, informativ und faszinierend sind die E-Books großer Schriftsteller, Philosophen und Autoren der einzigartigen Reihe "Weltliteratur erleben!".
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(Totentanz)
Drei Szenen
(1905)
Αμην λέγω ότι αι πόναι προάγουσιν υμας εις την βασιλείαν του θεου ο Ιησους.
(Math. 21, 31.)
Der Marquis Casti Piani.
Fräulein Elfriede von Malchus.
Herr König.
Lisiska.
Drei Mädchen.
Ein Zimmer mit verhängten Fenstern, in dem einander gegenüber zwei rote Polstersessel stehen. Im rechten sowie im linken Proszenium befindet sich je eine kleine Efeuwand, hinter der sich jemand verbergen kann, ohne gegen die Zuschauer verdeckt zu sein und ohne von der Bühne aus gesehen zu werden. Hinter diesen Efeuwänden stehen zwei rotgepolsterte Hockerl. Mitteltür, Seitentüren.
Elfriede von Malchussitzt in einem der Polstersessel. Man sieht ihr an, daß sie sich unbehaglich fühlt. Sie trägt ein modernes Reformkleid, dazu Hut, Mantel und Handschuhe.
Elfriede: Wie lange will man mich hier noch warten lassen! ( Lange Pause, in der sie unbeweglich sitzen bleibt.) Wie lange will man mich hier noch warten lassen! ( Lange Pause wie vorher.) – Wie lange will man mich hier noch warten lassen! ( Nach einer Pause erhebt sie sich, zieht den Mantel aus und legt ihn über den Polstersessel, nimmt den Hut ab und legt ihn auf den Mantel. Darauf geht sie in sichtlicher innerer Erregung zweimal auf und ab. – Stehen bleibend): – Wie lange will man mich hier noch warten lassen!
Auf ihr letztes Wort tritt der Marquis Casti Piani durch die Mitteltür ein. Er ist ein Mann von hoher Statur, mit kahlem Schädel, hoher Stirn, großen, melancholischen, schwarzen Augen, starker Adlernase und starkem, herabhängendem schwarzen Schnurrbart. Er trägt schwarzen Gehrock, dunkle Phantasieweste, tiefgraue Beinkleider. Lackstiefel und schwarze Krawatte mit Brillantnadel.
Casti Piani( mit Verbeugung): Sie wünschen, gnädige Frau?
Elfriede( erregt): Das habe ich vorhin der – Dame schon so klar wie nur irgendwie menschenmöglich auseinandergesetzt, weshalb ich hier bin.
Casti Piani: Die – Dame hat mir gesagt, weshalb Sie hier sind. Die Dame sagte mir auch, Sie seien Mitglied des »Internationalen Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels«.
Elfriede: Das bin ich allerdings! Ich bin Mitglied des »Internationalen Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels«. Aber wenn ich es auch nicht wäre, hätte ich mir diesen Weg doch um keinen noch so hohen Preis ersparen können. Seit dreiviertel Jahren bin ich auf der Spur dieses unglücklichen Geschöpfes. Überall, wohin ich bis jetzt gekommen bin, hatte man das Mädchen immer kurz zuvor wieder in eine andere Stadt verschleppt. Aber in diesem Hause ist sie! Sie ist jetzt noch hier! Das hat mir die – Dame, die eben hier war, auch ohne Umschweife zugestanden. Die Dame gab mir die Versicherung, sie werde das Mädchen hierher in dieses Zimmer schicken, damit ich hier ungestört unter vier Augen mit ihm sprechen könne. Ich warte hier jetzt nur auf das Mädchen. Ich habe keine Lust und keine Veranlassung dazu, hier noch ein zweites Verhör über mich ergehen zu lassen.
Casti Piani: Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein, sich nicht noch mehr zu erregen. Das Mädchen möchte Ihnen – anständig gekleidet vor Augen treten. Die Dame bat mich, aus Furcht, Sie könnten sich in Ihrer Aufregung zu irgendeiner überflüssigen Gewaltmaßregel hinreißen lassen, Ihnen das zu sagen, und Ihnen über die Beklommenheit, die Ihnen das Warten in diesen Räumlichkeiten verursachen muß, möglichst hinwegzuhelfen.
Elfriede( aufgeregt auf und ab gehend): Ich bitte Sie, sich Ihre liebenswürdige Unterhaltung zu ersparen. Die Atmosphäre, die hier herrscht, hat für mich nichts Neues mehr. Als ich solch ein Haus zum ersten Male betrat, hatte ich mit physischer Übelkeit zu kämpfen. An jenem Tage wurde mir erst klar, welch einen unerschwinglichen Aufwand von Selbstüberwindung ich durch meinen Eintritt in den Verein zur Bekämpfung des Mädchenhandels auf mich genommen hatte. Vorher waren mir unsere Bestrebungen ein eitler Zeitvertreib gewesen, den ich mitmachte, nur um nicht als nutzloses Geschöpf alt und grau zu werden.
Casti Piani: Diese Äußerung erweckt so viel Teilnahme in mir, daß ich mich versucht fühle, Sie um die Ehre zu bitten, sich in Ihrer Eigenschaft als Mitglied des Internationalen Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels mir gegenüber legitimieren zu wollen. Erfahrungsgemäß drängen sich eine Menge Personen zu diesem Beruf, die ganz andere Ziele als die Rettung gefallener Mädchen verfolgen. Wenn es Ihnen um die Erreichung Ihrer hohen Ziele ernst ist, muß Ihnen die strenge Kontrolle, die wir auszuüben genötigt sind, im höchsten Maße willkommen sein.
Elfriede: Ich bin seit nun schon bald drei Jahren Mitglied unseres Vereins. Mein Name ist – Fräulein von Malchus.
Casti Piani: Elfriede von Malchus?
Elfriede: Ja. Elfriede von Malchus. – Woher wissen Sie meinen Vornamen?
Casti Piani: Wir lesen doch die Jahresberichte des Vereins. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie sich auf der vorjährigen Jahresversammlung in Köln auch als Rednerin hervorgetan?
Elfriede: Gott sei's geklagt, habe ich volle zwei Jahre lang immer nur geschrieben und geredet und geredet und geschrieben, ohne in mir den Mut zu einer direkten Bekämpfung des Mädchenhandels zu finden, bis der Mädchenhandel schließlich sein Opfer unter meinem eigenen Dach, in meiner eigenen Familie fand!
Casti Piani: An diesem Unglück waren aber doch, wenn ich recht unterrichtet bin, nur Ihre eigenen Papiere, Bücher und Zeitschriften schuld, die Sie allem Anschein nach vor dem jungen Geschöpf, um dessen Rettung willen Sie augenblicklich hier sind, nicht sorgfältig genug verwahrt hielten?
Elfriede: Darin haben Sie vollkommen recht! Leider Gottes kann ich Ihnen darin nicht widersprechen! Nacht für Nacht, wenn ich mich mit mir selbst und der Welt zufrieden zu einem zehnstündigen, durch keine menschliche Regung gestörten Schlaf unter meine Bettdecken gestreckt hatte, schlich sich das siebzehnjährige Geschöpf, ohne daß ich mir das geringste davon träumen ließ, in mein Arbeitszimmer und tränkte seine liebesdurstige Einbildungskraft aus meinen aufgestapelten Büchern über die Bekämpfung des Mädchenhandels mit den verführerischsten Bildern des Sinnengenusses und der furchtbarsten Laster. Und ich dumme Gans sah es trotz meiner achtundzwanzig Jahre dem Mädchen am nächsten Morgen gar nicht an, daß es übernächtig war! Ich hatte in meinem Leben keine schlaflosen Nächte gekannt! Wenn ich morgens wieder zu meinen Arbeiten kam, fragte ich mich nicht einmal, wodurch denn die haarsträubende Verwirrung unter meinen Papieren entstanden sein könnte!
Casti Piani: Das Mädchen, mein gnädiges Fräulein, war, wenn ich nicht irre, von Ihren Eltern zur Verrichtung der leichteren Hausarbeit in Dienst genommen?
Elfriede: Zu ihrem Verderben! Ja! Mama sowohl wie Papa waren von ihrem bescheidenen, sittsamen Wesen bezaubert. Papa, der doch Ministerialbeamter und Bureaukrat vom reinsten Wasser ist, empfand ihre Anwesenheit in unserem Hause wie einen Lichtblick. Nach ihrem plötzlichen Verschwinden nannten Papa sowohl wie Mama meine Vereinstätigkeit nicht mehr altjüngferliche Überspanntheit, sondern sie nannten sie geradeheraus ein strafwürdiges Verbrechen!
Casti Piani: Das Mädchen ist das uneheliche Kind einer Waschfrau? – Wissen Sie vielleicht, wer ihr Vater war?
Elfriede: Nein, danach hatte ich sie nie gefragt. Aber wer sind Sie denn eigentlich? Woher wissen Sie das alles?
Casti Piani: Hm – das Mädchen hatte in einem Ihrer Vereinsberichte gelesen, daß in den Tageszeitungen gewisse Inserate veröffentlicht würden, durch die die Mädchenhändler junge Mädchen unter den und den bestimmten falschen Vorspiegelungen an sich lockten, um sie dem Liebesmarkt zuzuführen. Das Mädchen suchte daraufhin in der ersten besten Zeitung nach einem derartigen Inserat und schrieb, nachdem sie eins gefunden hatte, einen sehr korrekten Brief, in dem sie sich erbot, in die Stellung, die in dem Inserat fälschlich vorgespiegelt war, einzutreten. Auf diese Weise wurde ich mit ihr bekannt.
Elfriede: Und das wagen Sie mit solchem Zynismus auszusprechen?!
Casti Piani: Das, mein gnädiges Fräulein, wage ich mit solcher Sachlichkeit auszusprechen!
Elfriede( in höchster Erregung, mit geballten Fäusten): Das Ungeheuer, das dieses Mädchen der Schande überantwortet hat, sind also Sie!!
Casti Piani( wehmütig lächelnd): Wenn Sie ahnten, mein gnädiges Fräulein, woraus die Ursachen Ihrer höllischen Aufgeregtheit eigentlich bestehen, dann wären Sie vielleicht gerade klug genug dazu, gegenüber einem solchen Ungeheuer, wie ich es Ihnen zu sein scheine, vollkommen ruhig zu bleiben.
Elfriede( kurz): Das verstehe ich nicht. Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen!
Casti Piani: Sie – sind noch – – Jungfrau?
Elfriede( keuchend): Wer erlaubt Ihnen, eine solche Frage an mich zu richten!
Casti Piani: Wer auf Gottes weiter Welt will mir das verbieten! – Aber lassen wir das. Jedenfalls haben Sie sich nicht verheiratet. Sie sind, wie Sie mir eben selber mitteilten, achtundzwanzig Jahre alt. Diese Tatsachen beweisen Ihnen zur Genüge, daß Sie im Vergleich zu anderen Frauen – um von dem Menschenkinde, zu dessen Rettung Sie hergekommen sind, ganz zu schweigen – nur ein sehr geringes Maß von sinnlichem Empfinden haben.
Elfriede: Darin mögen Sie recht haben.
Casti Piani: Ich sage das natürlich nur unter der Voraussetzung, daß ich Ihnen mit dieser Erörterung nicht lästig falle. Ich bin auch weit davon entfernt, Sie für krankhaft oder unnatürlich veranlagt zu halten. Aber wissen Sie, mein Fräulein, wodurch Sie Ihre, wie Sie zugeben, allerdings sehr schwachen sinnlichen Empfindungen befriedigt haben?
Elfriede: Nun?
Casti Piani: Durch Ihren Eintritt in den Internationalen Verein zur Bekämpfung des Mädchenhandels.
Elfriede( mit verhaltenem Ingrimm): Wer sind Sie, mein Herr?! – Ich komme hierher, um ein unglückliches Geschöpf aus den Krallen des Lasters zu befreien! Ich komme nicht hierher, um Ihre geschmacklosen Vorlesungen anzuhören.
Casti Piani: Das habe ich auch nicht vorausgesetzt. Aber sehen Sie, von diesem Standpunkt aus betrachtet, stehen wir beide einander näher, als Sie es sich in Ihrem kleinbürgerlichen Tugendstolz jemals träumen ließen. Ihnen hat die Natur nur eine äußerst kärgliche Sinnlichkeit verliehen. Mich haben die Stürme des Lebens längst zu einer schauerlichen Einöde gemacht. Aber was für Ihre Sinnlichkeit die Bekämpfung des Mädchenhandels ist, das ist für meine Sinnlichkeit, falls Sie mir etwas der Art noch zugestehen wollen, der Mädchenhandel selbst.
Elfriede( empört): Heucheln Sie doch nicht so schamlos, Sie nichtswürdiger Mensch! Glauben Sie, Sie könnten mich, die ich wie eine gehetzte Hündin von Lasterhöhle zu Lasterhöhle hinter dem Geschöpf her bin, durch Ihren abenteuerlichen Gefühlshokuspokus einschläfern?! Ich bin jetzt nicht Mitglied des Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels! Ich bin als eine unselige Verbrecherin hier, die, ohne etwas zu ahnen, ein blutjunges Leben in Elend und Verzweiflung gebracht hat! Ich lasse mir, solang ich atme, keinen Bissen mehr schmecken, wenn ich das Kind seinem Verderben nicht entreißen kann! Sie wollen mich glauben machen, daß mich unlautere Neugier in dieses Haus treibt! Sie sind ein Lügner! Sie glauben an Ihre eigenen Worte nicht! Sie haben das Mädchen nicht aus unbefriedigter Sinnlichkeit verhandelt, sondern aus Geldgier! Sie haben das Mädchen verhandelt, um ein gutes Geschäft dabei zu machen!
Casti Piani: Ein gutes Geschäft! Selbstverständlich! Aber gute Geschäfte beruhen auf beiderseitigem Vorteil! Andere Geschäfte als gute mache ich überhaupt nicht. Jedes andere Geschäft ist unmoralisch! – Oder glauben Sie vielleicht, der Liebesmarkt sei für das Weib ein schlechtes Geschäft?
Elfriede: Wie meinen Sie das?
Casti Piani: Das meine ich einfach so: – Ich weiß nicht, ob Sie in diesem Augenblick gerade in der Stimmung sind, mir mit einiger Aufmerksamkeit zuzuhören?
Elfriede: Ersparen Sie sich nur um Gottes willen die Einleitung!
Casti Piani: Ich meine das also so: Wenn sich ein Mann in Not befindet, dann bleibt ihm oft keine andere Wahl mehr übrig als zu stehlen oder zu verhungern. Wenn sich dagegen ein Weib in Not befindet, dann bleibt ihm außer dieser Wahl noch die Möglichkeit, seine Liebesgunst zu verkaufen. Dieser Ausweg bleibt dem Weibe nur deshalb noch übrig, weil das Weib bei der Gewährung seiner Liebesgunst nichts zu empfinden braucht. Seit Erschaffung der Welt hat das Weib von diesem Vorzug Gebrauch gemacht. Von allem übrigen zu schweigen, ist der Mann von Natur aus dem Weibe schon aus dem einen Grunde himmelweit überlegen, weil das Weib unter Schmerzen Kinder gebiert . . .
Elfriede: Das ist ja gerade der himmelschreiende Widerspruch! Das sage ich ja immer! Kinder zur Welt bringen ist Qual und Sorge; Kinder in die Welt setzen gilt als Zeitvertreib. Und trotzdem hat die gütige Schöpfung, die auch sonst vielfach an Verrücktheit leidet, den Schmerz und die Sorgen dem schwächeren Geschlecht aufgebürdet!
Casti Piani: Darin, mein Fräulein, sind wir vollkommen einer Ansicht! – Und nun wollen Sie Ihren unglücklichen Schwestern den geringen Vorzug, den ihnen die – verrückte Schöpfung vor dem Manne gewährt hat, den Vorzug, in äußerster Not ihre Liebesgunst verkaufen zu können, rauben, indem Sie diesen Verkauf als eine unauslöschliche Schande hinstellen?! Sie sind mir eine schöne Frauenrechtlerin!
Elfriede( fast unter Tränen): Als ein unaussprechliches Unglück, als ein ewiger Fluch lastet die Möglichkeit, sich verkaufen zu können, auf unserem bedrückten Geschlecht!
Casti Piani: Unsere Schuld ist es aber – das weiß Gott im Himmel! – nicht, daß der Liebesmarkt als ein ewiger Fluch auf dem weiblichen Geschlecht lastet! Wir Händler haben gar kein idealeres Ziel, als daß sich der Liebesmarkt so offenkundig, so unbehelligt abspielt, wie jeder andere ehrliche Markt! Wir Händler haben gar kein idealeres Ziel, als daß die Preise auf dem Liebesmarkt so hoch wie nur irgend möglich sind! Schleudern Sie Ihre Vorwürfe, wenn Sie die Bedrückung Ihres unglücklichen Geschlechts bekämpfen wollen, der bürgerlichen Gesellschaft ins Gesicht! bekämpfen Sie, wenn Sie die Naturrechte Ihrer Schwestern verteidigen wollen, zuerst den Internationalen Verein zur Bekämpfung des Mädchenhandels!
Elfriede( aufbrausend): Ich lasse mir hier von Ihnen nicht länger blauen Dunst vormachen! Ich bin fest überzeugt, daß Sie im Ernste gar nicht daran denken, dem Mädchen die Freiheit zu geben! Während ich albernes Geschöpf mir hier soziale Vorträge von Ihnen halten lasse, wird die Unglückliche womöglich in eine Droschke gepackt, nach dem Bahnhof gebracht und irgendwohin transportiert, wo sie vor den Mitgliedern des Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels Zeit ihres Lebens sicher ist! – Nun gut, ich weiß, was ich zu tun habe! ( Sie nimmt Hut und Mantel.)
Casti Piani(lächelnd): Wenn Sie ahnten, mein Fräulein, wie Ihr Wutausbruch Ihre hausbackene Erscheinung verschönert, dann hätten Sie es nicht so eilig, sich zu entfernen.
Elfriede: Lassen Sie mich hinaus! Es ist die höchste Zeit!
Casti Piani: Wohin gedachten Sie denn jetzt zu gehen?
Elfriede: Das wissen Sie geradesogut wie ich, wohin ich jetzt gehe!
Casti Piani( packt Elfriede bei der Gurgel, drückt ihr die Kehle zu und nötigt sie in einen der Polstersessel): Sie bleiben hier! Ich habe noch ein Wort mit Ihnen zu sprechen! Versuchen Sie doch bitte, zu schreien! Hier ist man an alles nur irgendwie mögliche menschliche Geschrei gewöhnt! Schreien Sie bitte, so laut Sie schreien können! ( Sie freilassend): Nimmt mich wunder, ob ich Sie nicht noch zu Verstand bringe, bevor Sie aus diesem Hause direkt aus die Polizei laufen!
Elfriede( keuchend, tonlos): – Es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich eine derartige Vergewaltigung erfahre!
Casti Piani: Sie haben in Ihrem Leben so unendlich viel Unnützes zur sittlichen Hebung der Freudenmädchen getan! Tun Sie doch endlich einmal etwas Nützliches zur sittlichen Hebung der Freude! Dann brauchen Ihnen die armen Geschöpfe nicht mehr leid zu tun! Weil der Freudenmarkt als der gemeinste, schandbarste aller Berufe gebrandmarkt ist, geben sich die Mädchen und Frauen der guten Gesellschaft einem Manne lieber umsonst hin, als daß sie sich ihre Gunst bezahlen lassen! Dadurch entwürdigen diese Mädchen und Frauen ihr eigenes Geschlecht in der gleichen Weise, wie ein Schneider sein Gewerbe entwürdigt, der seinen Kunden die Kleider umsonst liefert!
Elfriede( noch wie betäubt): Ich begreife von alledem kein Sterbenswort. – Ich bin mit meinem sechsten Jahr in die Schule gekommen und bin bis zu meinem fünfzehnten Jahre in der Schule geblieben. Später habe ich noch einmal drei Jahre auf der Schulbank gesessen, um mein Lehrerinnenexamen zu machen. Solange ich jung war, verkehrten in meinem Elternhause Herren aus den besten Gesellschaftskreisen. Ich erhielt einen Heiratsantrag von einem Manne, der ein Rittergut von zwanzig Quadratmeilen geerbt hatte, und der mir, wenn ich es von ihm verlangt hätte, bis ans Ende der Welt gefolgt wäre. Aber ich fühlte, daß ich ihn nicht lieben konnte. Vielleicht war es nicht richtig von mir. Vielleicht fehlte mir nur das kleine bißchen Leidenschaftlichkeit, das zum Heiraten unter allen Umständen nötig ist.
Casti Piani: Sind Sie jetzt endlich zahm?
Elfriede: Erklären Sie mir jetzt nur noch eines: Wenn das Mädchen nun bei diesem Leben, das sie hier führt, ein Kind zur Welt bringt, wer sorgt dann für das Kind?
Casti Piani: Sorgen doch Sie dafür! Oder haben Sie als Frauenrechtlerin vielleicht etwas Wichtigeres in dieser Welt zu tun? Solange ein Weib unter Gottes Sonne noch fürchten muß, Mutter zu werden, bleibt die ganze Frauenemanzipation leeres Geschwätz! Mutterwerden ist für das Weib eine Naturnotwendigkeit wie Atem und Schlaf. Dieses angeborene Recht hat die bürgerliche Gesellschaft dem Weibe in barbarischer Weise verkürzt. Ein uneheliches Kind ist schon eine beinahe ebenso große Schmach wie der Liebesmarkt! Dirne hin, Dirne her! Der Name Dirne bleibt der Mutter eines unehelichen Kindes so wenig erspart wie einem Mädchen in diesem Hause! Wenn mir etwas an Ihrer Frauenbewegung von jeher zum Ekel war, dann war es die Sittlichkeit, die Sie Ihren Zöglingen auf den Lebensweg einimpfen! Glauben Sie denn, der Liebesmarkt wäre je in der Weltgeschichte als Schande verschrien worden, wenn der Mann auf diesem Markte mit dem Weibe konkurrieren könnte?! Brotneid! Nichts als Brotneid! Dem Weibe gewährte die Natur den Vorzug, mit seiner Liebe handeln zu können, deshalb möchte die bürgerliche Gesellschaft, die vom Manne regiert wird, diesen Handel immer und immer wieder gern als das schmachvollste aller Verbrechen hinstellen!
Elfriede( steht auf und entledigt sich ihres Mantels, den sie über den Stuhl legt; auf und ab gehend): Ich bin in diesem Augenblicke, offen gesagt, ganz außerstande, Ihre Behauptungen daraufhin zu untersuchen, ob sie richtig oder unrichtig sind. – Aber wie in aller Welt ist es denn möglich, daß ein Mann von Ihrer Bildung, von Ihren sozialen Anschauungen, von Ihrer geistigen Überlegenheit sein Leben unter den würdelosesten Elementen der menschlichen Gesellschaft verbringt! – Gott weiß, vielleicht hat mich nur Ihre viehische Brutalität dazu gezwungen, Ihre Auseinandersetzungen ernst zu nehmen! Aber ich fühle ganz deutlich, daß Sie mir auf lange Zeit hin allerhand zu denken gegeben haben, worauf ich selber in meinem Leben nie gekommen wäre. Seit Jahren höre ich Winter für Winter zwölf bis zwanzig Vorträge von allen weiblichen und männlichen Autoritäten über Frauenbewegung. Ich kann mich nicht erinnern, je ein Wort gehört zu haben, das so wie Ihre Behauptungen der Sache auf den Grund ging!
Casti Piani( skandierend): Seien wir uns im Leben immer sonnenklar darüber, mein gnädiges Fräulein, daß wir auf einem Dachfirst nachtwandeln und daß uns jede unvorhergesehene Erleuchtung das Genick brechen kann.
Elfriede( ihn anstarrend): Wie meinen Sie das wieder? – Sie denken sich etwas Ungeheuerliches dabei?!
Casti Piani( sehr ruhig): Ich sage das nur in bezug auf Ihre Ansichten, bei denen Sie sich bis jetzt so unbedingt sicher fühlten, daß Sie Urteile wie »anständig« und »würdelos« freigebig austeilten, als wären Sie ganz allein von Gott dazu beauftragt, über Ihre Mitmenschen zu Gericht zu sitzen.
Elfriede( ihn anstarrend): Sie sind ein großer Mensch! – Sie sind ein edler Mensch!
Casti Piani: Ihre Worte treffen die Todeswunde, die ich mit auf die Welt gebracht habe und an der ich voraussichtlich einmal sterben werde. ( Er wirft sich in einen Sessel.) – – Ich bin – – – Moralist!
Elfriede: Und darüber wollen Sie sich bei Ihrem Schicksal beklagen?! Darüber, daß Ihnen die Macht verliehen wurde, andere Menschen glücklich zu machen?! ( Sich ihm nach kurzem inneren Kampf zu Füßen werfend): Heiraten Sie mich doch um Gottes Barmherzigkeit willen! Ich habe mir, bevor ich Sie sah, die Möglichkeit niemals denken können, daß ich mich einem Manne hingebe! Ich bin noch vollkommen unerfahren; das kann ich Ihnen mit den heiligsten Eiden schwören. Ich habe bis zu dieser Stunde nicht geahnt, was das Wort Liebe bedeutet. Bei Ihnen hier fühle ich es zum erstenmal! Die Liebe hebt den Menschen über sein unseliges Selbst empor. Ich bin ein alltägliches Durchschnittsweib, aber meine Liebe zu Ihnen macht mich so frei und kühn, daß es nichts Unmögliches für mich gibt! Schreiten Sie in Gottes Namen von Verbrechen zu Verbrechen; ich gehe Ihnen voran! Gehen Sie ins Zuchthaus; ich gehe Ihnen voran! Gehen Sie aus dem Zuchthaus auf das Schafott; ich gehe Ihnen voran! Lassen Sie sich – ich beschwöre Sie! – die günstige Gelegenheit nicht entgehen! Heiraten Sie mich! Heiraten Sie mich! Heiraten Sie mich! – so ist uns beiden armseligen Menschenkindern geholfen!
Casti Piani( streichelt ihr, ohne sie anzusehen, den Kopf): Ob Sie braves Tier mich lieben oder ob Sie mich nicht lieben, das ist mir vollkommen gleichgültig. – Sie können ja allerdings nicht wissen, wieviel tausendmal ich schon die gleichen Gefühlsausbrüche über mich habe ergehen lassen müssen! Ich unterschätze die Liebe gewiß nichts Leider aber muß die Liebe auch all den unzähligen Weibern als Rechtfertigung herhalten, die nur ihre Sinnlichkeit befriedigen, ohne den geringsten Entgelt dafür zu fordern, und die uns durch ihre würdelose Preisgabe nur den Markt verderben.
Elfriede: Heiraten Sie mich! Es ist für Sie immer noch Zeit, ein neues Leben zu beginnen! Die Ehe macht einen geordneten Menschen aus Ihnen. Sie können sozialistischer Zeitungsredakteur, Sie können Reichstagsabgeordneter werden! Heiraten Sie mich, dann erfahren doch auch Sie einmal in Ihrem Leben, welch übermenschlicher Opfer ein Weib in seiner grenzenlosen Liebe fähig ist!
Casti Piani( ihr das Haar streichelnd, ohne sie anzusehen): Ihre übermenschlichen Opfer würden mir im besten Falle die Eingeweide umkehren. Zeit meines Lebens liebte ich Tigerinnen. Bei Hündinnen war ich immer ein Stück Holz. Mein Trost ist nur der, daß die Ehe, die Sie so begeistert preisen und für die die Hündinnen gezüchtet werden, eine Kultureinrichtung ist. Kultureinrichtungen entstehen, um überwunden zu werden. Die Menschheit wird die Ehe so gut überwinden, wie sie die Sklaverei überwunden hat. Der freie Liebesmarkt, auf dem die Tigerin ihre Triumphe feiert, gründet sich auf ein urewiges Naturgesetz der unabänderlichen Schöpfung. Und wie stolz steht das Weib in der Welt, sobald es das Recht erkämpft hat, sich, ohne gebrandmarkt zu werden, zum höchsten Preis, den der Mann ihm bietet, verkaufen zu können! Uneheliche Kinder sind bei der Mutter dann besser versorgt als die ehelichen beim Vater. Stolz und Ehrgeiz des Weibes sind dann nicht mehr der Mann, der ihm seine Stellung anweist, sondern die Welt, in der es sich den höchsten Platz erkämpft, den sein Wert ihm ermöglicht. Welch herrlichen, lebensfrischen Klang dann das Wort Freudenmädchen erhält! In der Geschichte des Paradieses steht, daß der Himmel dem Weib die Macht der Verführung verlieh. Das Weib verführt, wen es will. Das Weib verführt, wann es will. Es wartet nicht auf Liebe. Diese höllische Gefahr für unsere heilige Kultur bekämpft die bürgerliche Gesellschaft damit, daß sie das Weib in künstlicher Geistesumnachtung erzieht. Das heranwachsende Weib darf nicht wissen, was ein Weib zu sein bedeutet. Alle Staatsverfassungen könnten darüber den Hals brechen! Kein Henkerskniff ist der bürgerlichen Gesellschaft zu ihrer Verteidigung zu gemein! Mit jedem Kulturfortschritt dehnt sich der Liebesmarkt aus. Je klüger die Welt wird, um so größer der Liebesmarkt. Und diese Millionen von Freudenmädchen weist unsere gefeierte Kultur im Namen der Sittlichkeit auf den Hungertod hin oder raubt ihnen im Namen der Sittlichkeit Ehre und Lebensberechtigung, stößt sie im Namen der Sittlichkeit ins Tierreich hinab! Wie manches Jahrhundert lang soll noch himmelschreiende Unsittlichkeit die Welt mit dem Henkerbeile der Sittlichkeit verwüsten!
Elfriede( tonlos wimmernd): Heiraten Sie mich! Sie stehen außerhalb der Welt! Ich trage meine Hand heute zum erstenmal einem Manne an.
Casti Piani( ihr das Haar streichelnd, ohne sie anzusehen). Brotkorbkultur! Brotkorbkultur! – Was wüßte die Welt von der ganzen Sittlichkeit, wenn der Mann die Liebe kommandieren könnte, wie er die Politik kommandiert!
Elfriede: Ich erhoffe von unserer Ehe gar kein höheres Glück, als zeit meines Lebens so vor Ihnen auf den Knien liegend, Ihren Worten lauschen zu dürfen!
Casti Piani( ohne sie anzusehen): Haben Sie sich denn je gefragt, was die Ehe ist?
Elfriede: Ich hatte bis zu dieser Stunde keine Ursache, danach zu fragen. ( Sich erhebend): Sagen Sie es mir! Ich werde alles tun, um Ihren Anforderungen gerecht zu werden.
Casti Piani( zieht sie auf seine Knie): Kommen Sie, mein Kind. Ich werde es Ihnen erklären. ( Da sich Elfriede einen Augenblick ziert): Halten Sie bitte still!
Elfriede: Ich habe nie auf dem Knie eines Mannes gesessen.
Casti Piani: Geben Sie mir einen Kuß!
Elfriede( küßt ihn).
Casti Piani: Danke. ( Sie zurückdrängend): Sie möchten wissen, was die Ehe ist? – Sagen Sie mir, wer stärker ist: ein Mensch, der einen Hund hat, oder ein Mensch, der keinen Hund hat?
Elfriede: Der Mensch, der einen Hund hat, ist stärker.
Casti Piani: Und nun sagen Sie mir noch, wer stärker ist: ein Mensch, der einen Hund hat, oder ein Mensch, der zwei Hunde hat?
Elfriede: Ich glaube, daß der Mensch, der einen Hund hat, stärker ist, denn zwei Hunde müssen eigentlich notwendig schon eifersüchtig aufeinander werden.
Casti Piani: Das wäre das wenigste. Aber zwei Hunden muß er zu fressen geben, sonst laufen sie davon, während der eine Hund für sich selber sorgt und seinen Herrn, wenn's not tut, auch noch bei Raubanfällen verteidigt.
Elfriede: Und mit diesem abscheulichen Gleichnis wollen Sie das selbstlose untrennbare Zusammenhalten von Mann und Weib erklären?! Du barmherziger Gott, was müssen Sie für Erfahrungen gemacht haben!
Casti Piani: Der Mann mit einer Frau ist wirtschaftlich stärker, als wenn er keine hat. Er ist aber auch wirtschaftlich stärker, als wenn er für zwei oder mehr Frauen sorgen muß. Das ist der Grundstein der Ehe. Das Weib wäre nie im Traum auf diese geistreiche Erfindung verfallen!
Elfriede: Sie armer bedauernswürdiger Mensch! Haben Sie denn je ein väterliches Haus gekannt? Haben Sie eine Mutter gehabt, die Sie pflegte, wenn Sie krank waren, die Ihnen während Ihrer Genesung Märchen vorlas, der Sie sich anvertrauen konnten, wenn Ihnen irgend etwas das Herz bedrückte, und die Ihnen immer, immer, immer geholfen hat, auch wenn Sie längst glaubten, daß es auf Gottes Welt gar keine Hilfe mehr für Sie gäbe?
Casti Piani: Was ich als Kind erlebt habe, das erlebt kein menschliches Geschöpf, ohne daß seine Tatkraft bis zum Grabe gebrochen ist. Können Sie sich in einen jungen Menschen hineindenken, der mit sechzehn Jahren noch geprügelt wird, weil ihm der Logarithmus von Pi nicht in den Kopf will?! Und der mich prügelte, war mein Vater! Und ich prügelte wieder! Ich habe meinen Vater totgeprügelt! Er starb, nachdem ich ihn zum erstenmal geprügelt hatte. – Aber das sind Kleinigkeiten. Sie sehen, unter welchen Kreaturen ich hier lebe. Ich habe unter diesen Kreaturen nie die Beschimpfungen mehr gehört, die während meiner ganzen Kindheit meiner Mutter zuteil wurden und um die sie sich täglich mit neuen Unwürdigkeiten bewarb. Aber das sind Kleinigkeiten. Die Ohrfeigen, Faustschläge und Fußtritte, in denen Vater, Mutter und ein Dutzend Lehrer zur Entwürdigung meines wehrlosen Körpers wetteiferten, waren Kleinigkeiten im Vergleich mit den Ohrfeigen, Faustschlägen und Fußtritten, in denen die Schicksale dieses Lebens miteinander wetteiferten, um meine wehrlose Seele zu entwürdigen.
Elfriede( küßt ihn): Wenn du ahnen könntest, wie innig ich dich um dieser furchtbaren Erlebnisse willen liebe!
Casti Piani: Das menschliche Leben ist zehnfacher Tod vor dem Tode! Nicht nur für mich. Für Sie! Für alles, was Atem holt! Für den einfachen Menschen besteht das Leben aus Schmerzen, Leiden und Qualen, die sein Körper erduldet. Und ringt sich der Mensch zu höherem Sein empor, in der Hoffnung, den Qualen des Körpers zu entrinnen, dann besteht das Leben für ihn aus Schmerzen, Leiden und Qualen, die seine Seele erduldet, und gegen die die Qualen des Körpers Wohltaten waren. Wie grauenvoll dieses Leben ist, das zeigt sich schon darin, daß sich die Menschen ein Wesen ausdenken mußten, das aus nichts als Güte, aus nichts als Liebe, aus nichts als Wohltat besteht, und daß die ganze Menschheit, nur um das Leben ertragen zu können, täglich, stündlich zu diesem Wesen beten muß!
Elfriede( ihn liebkosend): Wenn du mich heiratest, dann haben körperliche Qualen und Seelenqualen ein Ende! Du brauchst dich mit all diesen entsetzlichen Fragen nicht mehr zu beschäftigen. Meine Mama hat ein Privatvermögen von sechzigtausend Mark, von dem trotz ihrer fünfundzwanzigjährigen, glücklichen Ehe Papa sich bis heute noch gar nichts träumen läßt. Lockt dich die Aussicht nicht, daß du, wenn du mich heiratest, plötzlich sechzigtausend Mark bar zur Verfügung hast?
Casti Piani( sie zurückdrängend, nervös): Sie verstehen sich nicht auf Liebkosungen, mein Fräulein! Sie benehmen sich wie der Esel, der den Schoßhund spielen will. Ihre Hände tun mir weh! Das kommt nicht etwa daher, daß sie nichts gelernt haben. Das kommt, weil sie dem geknechteten Liebesleben der bürgerlichen Gesellschaft entstammen! Sie haben keine Rasse im Leib. Es fehlt das nötige Zartgefühl! Das Zartgefühl und das Schamgefühl! Es fehlt Ihnen das Gefühl für die Wirkung Ihrer Liebkosungen; ein Gefühl, das jedes Rassegeschöpf schon als kleines Kind mit auf die Welt bringt!
Elfriede( empört aufspringend): Und das wagen Sie mir in diesem Hause zu sagen?!
Casti Piani( hat sich gleichfalls erhoben): Das wage ich Ihnen in diesem Hause zu sagen!
Elfriede: In diesem Hause?! Daß es mir an dem nötigen Zartgefühl, an dem nötigen Schamgefühl fehlt?!
Casti Piani: Daß es Ihnen an dem nötigen Zartgefühl und Schamgefühl fehlt! In diesem verrufenen Hause sage ich Ihnen das! – Überzeugen Sie sich doch einmal davon, mit welch feinem Takt diese Geschöpfe ihrem verrufenen Handwerk obliegen! Das letzte Mädchen in diesem Haus kennt die menschliche Seele genauer als der berühmteste Psychologieprofessor an der berühmtesten Universität. Sie, mein Fräulein, würden hier allerdings die gleichen Enttäuschungen erfahren, die Ihnen Ihre Vergangenheit bereitet hat. Die Frau, die für den Liebesmarkt geschaffen ist, erkenne ich auf den ersten Blick daran, daß ihre freien, regelmäßigen Gesichtszüge unschuldige Glückseligkeit und glückselige Unschuld ausstrahlen. ( Elfriede musternd): In Ihren Gesichtszügen, mein verehrtes Fräulein, ist weder irgend etwas von Glückseligkeit noch irgend etwas von Unschuld zu lesen.
Elfriede(zögernd): Glauben Sie denn nicht, Herr Baron, daß ich bei meinem eisernen Fleiß, bei meiner Energie, bei meiner unüberwindlichen Begeisterung für alles Schöne das Zartgefühl und den feinen Takt, von dem Sie sprechen, noch lernen könnte?
Casti Piani: Nein, nein, mein Fräulein! Bitte nein! Schlagen Sie sich diese Gedanken nur gleich aus dem Kopf!
Elfriede: Ich bin von der sittlichen Bedeutung alles dessen, was Sie sagen, so tief überzeugt, daß mir das größte Opfer, durch das ich meine kleinbürgerliche Hilflosigkeit überwinden könnte, nicht zu groß wäre!
Casti Piani: Nein, nein, dafür bin ich nicht zu haben! Das würde grauenvoll! Das Leben ist grauenvoll genug! Nein, mein Fräulein! Lassen Sie Ihre fürchterliche Hand von dem einzigen göttlichen Lichtstrahl, der die schauerliche Nacht unseres martervollen Erdendaseins durchdringt! Wofür lebe ich denn! Wofür betätige ich mich in unserer Zivilisation! Nein, nein! Die einzige reine Himmelsblume in dem von Schweiß und Blut besudelten Dornendickicht des Lebens soll nicht von plumpen Fußtritten zerstampft werden! Glauben Sie mir bitte, daß ich mir schon vor einem halben Jahrhundert eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte, wenn nicht über dem zum Himmel emporgellenden Jammergeheul aus Geburtswehen, Daseinsschmerzen und Todesqualen dieser eine klare Stern leuchtete!
Elfriede: Die äußerste geistige Anstrengung ermöglicht mir nicht, den Sinn Ihrer Worte zu erraten! Was ist der Lichtstrahl, der die Nacht unseres Daseins durchdringt? Was ist die einzige reine Himmelsblume, die nicht zu Schmutz zerstampft werden soll?
Casti Piani( Elfriede bei der Hand nehmend, geheimnisvoll flüsternd): Das ist der Sinnengenuß, mein gnädiges Fräulein! Der sonnige, lachende Sinnengenuß! Der Sinnengenuß ist der Lichtstrahl, die Himmelsblume, weil er das einzige ungetrübte Glück, die einzige reine, lautere Freude ist, die das Erdendasein uns bietet. Glauben Sie mir, daß mich seit einem halben Jahrhundert nichts mehr in dieser Welt zurückhält, als die selbstlose Anbetung dieses einzigen aus voller Kehle auflachenden Glückes, das im Sinnengenuß den Menschen für alle Qualen des Daseins entschädigt!
Elfriede: Ich glaube, da kommt jemand.
Casti Piani: Das wird Lisiska sein!
Elfriede: Lisiska? – Wer ist denn Lisiska?
Casti Piani: Das ist das Mädchen, das bei Ihnen zu Hause die Bücher über die internationale Bekämpfung des Mädchenhandels studiert hat! Jetzt können Sie sich gleich davon überzeugen, ob ich den Mund zu voll genommen habe! Wir sind hier gottlob für solche Gelegenheiten eingerichtet. ( Er führt sie ins rechte Proszenium.) Nehmen Sie nur hinter dieser Efeuwand Platz! Von hier aus können auch Sie einmal das lautere, ungetrübte Glück zweier Kreaturen beobachten, die der Sinnengenuß zusammenführt!
Elfriedenimmt auf dem Hockerl hinter der Efeuwand im rechten Proszenium Platz.Casti Pianigeht zur Mitteltür, wirft einen Blick hinaus und setzt sich darauf hinter der Efeuwand im linken Proszenium nieder. –Herr KönigundLisiskatreten durch die Mitte ein. Herr König, fünfundzwanzig Jahre alt, in hellem Sportanzug mit Kniehosen. Lisiska in einfachem, bis zur Mitte der Wade reichenden, weißen Gewand, schwarzen Strümpfen, schwarzen Lackschuhen, eine weiße Schleife im offenen schwarzen Haar.
Herr König: Ich komme nicht, die Zeit mir zu vertreiben Als Wollüstling in deiner Reize Bann, Und will dir dankbar und gewogen bleiben, Wenn bald ernüchtert ich von hinnen kann.
Lisiska: Reden Sie nicht so freundlich zu mir. Hier sind Sie Herr und befehlen hier. Färben Sie nur getrost mir das bleiche Blutleere Antlitz durch Backenstreiche. Für eine Dirne, wie ich es bin, Ist das noch unerhörter Gewinn. Hilfloses Klagen, Schluchzen und Wimmern Braucht Sie noch nicht im geringsten zu kümmern. Solcher Beschimpfung Wonnen sind schal. Häufen Sie mitleidlos Qual auf Qual! Wenn Ihre Faust mein Gesicht zerschlüge, Wär's meiner Sehnsucht noch kein Genüge.
Herr König: Ich bin auf solche Worte nicht gefaßt . . . Ist das ein heitrer Willkomm für den Gast? – Du sprichst, als büßtest du im Fegefeuer Schon hier die Strafen für genoßne Lust.
Lisiska: Im Gegenteil! Die Lust, das Ungeheuer, Tobt ewig ungezähmt in dieser Brust! Meinen Sie, ich Teufelsbraten Wäre je in dies Haus geraten, Wenn von des Herzens gräßlichem Klopfen Freude mich könnte befrein? Freude zerstiebt, ein Tropfen Auf heißem Stein! Und die Wollust, ungestillt, Ein hungerndes Jammerbild Stürzt sich, daß sie den Tod finde, In alle Abgründe! – – Sind Sie nicht grausam, verehrter Herr? Ich müßt' es beklagen. Was kümmert Sie hier mein Geplärr, Wenn Sie mich schlagen!
Herr König: Ist wirklich dir der dunkle Trieb zu eigen, Aus tiefster Tiefe noch hinabzusteigen, Dann könnt' ich weinen, daß ich aus dem Flor Verliebter Mädchen, grade dich erkor. Aus deinen Augen traf in meine Sinne Ein Strahl unschuldiger Glückseligkeit . . .
Lisiska: Wollen Sie, daß uns die Zeit Ungenossen verrinne?! Unten sitzt über unsern Statuten Mutter Adele, die Uhr in der Hand; Zählt und berechnet unverwandt Meines Glückes Minuten.
Herr König: Du bist der höchsten Lust nachgrade satt Und hoffst auf Müdigkeit aus Schmerz und Tränen, Bis tiefe Ruh' dich überwältigt hat, Die Tag und Nacht umsonst dein heißes Sehnen!
Lisiska: Schlaf ich, dann bitt' ich, mit einem kecken Kräftigen Rippenstoß mich zu wecken.
Herr König: Der Ton war falsch! Das Glas hat einen Sprung, Wie sollte das ein Mensch begreifen! Auf Glück, ja auf dein Leben magst du pfeifen! Doch auf den Schlaf? – Nein, das war Lästerung!
Lisiska: Ich bin nicht Ihr Eigentum, Sie sind nicht mein Hüter, Sparen sie nicht ängstlich drum Meine Lebensgüter! Suchen Sie durch Menschlichkeit Nicht mein Herz zu trösten! Wer mich mitleidlos zerbläut, Den acht ich am größten. Sie fragen, Ob ich noch Erröten kann? So schlagen Sie mich doch, Dann ist's getan!
Herr König: Mir rieseln Schauer über Brust und Rücken. Laß mich hinaus! Ich hoffte, halb im Rausch Der Liebe süße Frucht vom Baum zu pflücken. Du bietest Dornen mir dafür zum Tausch. Wie war's nur möglich, daß du junges Wild Vom Blumenpfad dich im Gestrüpp verfangen?!
Lisiska: Lassen Sie mein Verlangen Nicht ungestillt! Wenden Sie sich nicht herzlos ab! Vor mir hab ich mein Grab Und hoffe nur noch, aus dieser Welt Möglichst viel mit hinabzunehmen. Glauben Sie, solche Begierden kämen, Weil dies Haus uns gefangen hält? Nein! Nur der Sinne folternde Gier Bannt uns hier! Aber auch diese Berechnung war Ohne Vernunft gemacht. Nacht für Nacht Seh ich es blendend sonnenklar, Daß selbst in diesem Hause kein Frieden Den Sinnen beschieden.
Elfriede( in ihrem Versteck, für sich, mit dem Ausdruck des Erstaunens): Allmächtiger Himmel! Das ist genau das entgegengesetzte Gegenteil von dem, was ich mir volle zehn Jahre lang darüber gedacht habe!
Casti Piani( in seinem Versteck, für sich, mit dem Ausdruck des Entsetzens): Teufel! Teufel! Teufel! Das ist genau das entgegengesetzte Gegenteil von dem, was ich mir fünfzig Jahre lang über den Sinnengenuß gedacht habe!
Lisiska: Gehen Sie nicht von mir! Hören Sie mich an! Ich war ein schuldloses Kind und begann Mein Leben so ernst, voll Eifer und Pflicht! Sorglos zu lächeln gelang mir nicht. Von meinen Lehrern, selbst von den Geschwistern, Hört' ich oft ehrfurchtsvoll über mich flüstern Und meine Eltern meinten beide: Du wirst noch einmal unsers Alters Freude! Plötzlich beim Hahnenschrei War das vorbei! Und die einmal erweckte Lust Wuchs über alle Schranken, Über all meine Gedanken, Über all mein treues Gefühl in der Brust, Daß ich nur staunte, wie mir geschah, Was mich so herrisch betörte, Daß ich den Blitz mir zur Seite nicht sah Und kein Donnern vom Himmel mehr hörte. Da glaubt' ich, da hofft' ich, es sei uns das Leben Zu nimmer versiegender Freude gegeben!
Herr König: Fandst du die stolze Hoffnung nicht erfüllt? – Zwar red' ich wie ein Blinder dir von Farben . . .
Lisiska: Nein, es war nur der höllische Trieb, Aus dem an Freude nichts übrig blieb.
Herr König: So viele Mädchen schon durch Liebe starben, Blieb allen denn die Sehnsucht ungestillt? Wie käm es dann, daß Weiber sich in Mengen Von Tausenden auf deinen Pfaden drängen?
Lisiska: Wollen Sie sich der Striemen An meinem Körper nicht rühmen? Wozu ward er so weich, Wozu ward er so zart geschaffen! Sprachlose Blicke begaffen Die Spuren dann Streich um Streich. – Um die Begierden neu zu entflammen, Erzähl' ich prahlend, von wem sie stammen.
Herr König: Schweig, sag' ich dir! Nur noch ein Wort davon, Dann bin ich schon zum längsten hier gewesen! – In deinen blassen Zügen steht zu lesen, Wie sturmgeschwind die Jugend dir entflohn. Und als du deine Unschuld nun verloren, Ließ er im Elend dich, der sie dir nahm?
Lisiska: Nein. – Aber ein andrer kam, Fand Lust und Gram; Denn ich hab' all den jungen Toren Immer ewige Treue geschworen. Immer hofft ich, meine Qual Müßte doch bei dem andern entschwinden. Es war nur Bitternis jedes Mal, War keine Ruhe für mich zu finden, Denn es war stets nur der höllische Trieb, Aus dem an Freude nichts übrig blieb.
Herr König: So kamst du schließlich denn in dieses Haus Und führst ein Dasein hier in Saus und Braus! Musik erschallt, der Sekt trieft von den Tischen, Gelächter dröhnt, so oft der Morgen graut. Der lange Arbeitstag kennt nur den Laut Von heißen Zungen, die in Liebe zischen. – Welch ein gemeiner Bettler ich doch bin Vor dir, du stolze Freudenkönigin! Ich kam mit dem, was mein ist, um von dir Der Freude schlichten Austausch zu erkaufen. Ich könnte mir vor Zorn die Haare raufen! Du lebst nur scheußlicher Genußsucht hier! Der Wüstling ist dein Freund, der keine Grenzen Der Menschlichkeit für seine Kurzweil kennt. Beeil' dich, ihm die Glieder zu bekränzen! Mich trägt und labt ein reinres Element. Erfrischung sucht ich und hab' kein Verlangen, Im tiefsten Erdenschmutz mich zu verfangen.
Lisiska( flehentlich): O bleiben Sie! – Wenn Sie mich jetzt verlassen, Ist wieder Nacht um mich! Gehn Sie nicht fort! Von Ihren Lippen trifft schon jedes Wort Wie Peitschenhieb und stachelt mein Begehren, Sie möchten mich mit solcher Inbrunst hassen, Daß statt der Lippen es die Fäuste wären, Von denen Hieb auf Hieb den Körper schmerzt. Hab' ich Sie einmal geherzt, Dann gehn Sie, woher Sie kamen, Schreiben sich meinen Namen Lächelnd in Ihr Notizbuch . . . Und mir – mir bleibt der gräßliche Fluch, Daß es nur wieder der höllische Trieb, Aus dem an Freude nichts übrig blieb!
Herr König( sehr ernst): Jetzt trau ich meinen Sinnen nicht! Mir scheint, Du bist in mich verliebt? – O welch ein Grauen! – Wie manche Schmerzensnacht hab' ich, von Frauen Grausam zurückgewiesen, laut durchweint! Nun stammelt Liebe mir in diesem Leben Zum erstenmal die Dirne? – Pflegst du hier Nicht wahllos dich dem Fremdling hinzugeben? Und was dich trösten soll, willst du von mir? Mir deckst du eifrig deine Seele bloß, Daß mich ihr düstrer Reiz umsponnen hält! – Wär' ich so nah zur Seite dir gestellt, Dann packt Entsetzen mich vor meinem Los!
Lisiska: Trauen Sie bei Gott meiner Liebe nicht! Liebe zu heucheln ist hier meine Pflicht. Denken Sie nur einmal, was das heißt, Wenn jemand plötzlich die Tür aufreißt: Jetzt gilt es, die Liebe zusammenzuraffen; Es ist ein Mann da, Gott hat ihn geschaffen. – Wünschen Sie, daß ich dies heillose Spiel Mit Ihnen spiele? Daß ich bei Ihrem höchsten Gefühl Nur Ekel fühle?! Aber wenn Sie mit Ihrer tüchtigen Bauernfaust meine Glieder züchtigen, Das kann uns, wenn Sie Lust daran finden, Bis mich der Tod Ihnen raubt, verbinden.
Herr König: Der Unschuld weißes Kleid trägst du. Dir hat Selbst dieses Haus die Seele nicht geschändet. Von deiner Reinheit ist mein Aug' geblendet, An deinem Bild sieht sich mein Herz nicht satt. Im Selbstmord schwelgend ohne Unterlaß, Kämpfst du mit nie erforschten Seelenschmerzen, Den Tod im Antlitz und den heißen Haß Auf alles eitle Erdenglück im Herzen! ( Er kniet vor ihr.) Laß deinen Freund mich, deinen Bruder sein. Ob deinen Körper du mir gibst, das liegt Tief unter uns. So hast du mich erhoben! Darf ich den schlanken Knien hier geloben: Nur wie die Seele sich zur Seele fügt, Bist du mein eigen! So nur bin ich dein! Aus Höllenqualen stiegst du himmelan Und ahnst nicht mehr, wo die Begierden fluten. In deinen Himmelshöhn mußt du verbluten. Durch mich sei das den Menschen kundgetan. In keuscher Dichtung soll durch mich die Welt Verkaufter Liebe Leid ermessen lernen. Ich schwör' es bei des Himmels ew'gen Sternen, Dem klarsten Licht, das unsere Nacht erhellt! Gib mir ein Pfand, gesteh mir offen ein: Bist du aus Liebe jemals froh geworden?
Lisiska( ihn emporhebend): Wenn Sie jetzt gleich mich ermorden, Könnt' meine Rede nicht anders sein. Immer nur war es der höllische Trieb, Aus dem an Freude nichts übrig blieb . . . So ist's in diesem Haus nun einmal: Alle begegnen sich hier, Denen die Liebe unendliche Qual Und niegestillte Begier. Was da noch sonst an Besuchern kommen, Das wird von uns doch nicht ernst genommen. Menschen wie Sie sind selten, Weil sie nichts gelten Wie wir, Die man dem unvernünftigen Tier Vergleicht. – Aber hab' ich denn nun erreicht, Daß Sie dem wilden Begehren Trost gewähren?
Herr König: So wirre Pfade deine Hand mich leitet, Noch blinkt ein Stern herab, der uns begleitet.
Lisiska( umarmt und küßt ihn): Dann komm, mein Schatz! Jetzt bist du endlich mürbe. Mir ist als höchste Wollust längst ein Land Urew'ger niegestörter Ruh bekannt. – Ach, daß ich unter deinen Fäusten stürbe!
( Beide nach rechts ab.)
Casti Piani( aus seinem Versteck hervorstürzend, vergeistert): Was war das?!
Elfriede( stürzt aus ihrem Versteck hervor, leidenschaftlich): Was war das?! Was habe ich nichtswürdige Schmarotzerin mir in meinem vertrockneten Hirn unter Sinnengenuß vorgestellt?! – Selbstaufopferung, glühendes Märtyrertum ist das Leben in diesem Hause. Ich, in verlogener Aufgeblasenheit, in meinem fadenscheinigen Tugendstolz hielt dieses Haus für die Brutstätte der Verworfenheit!
Casti Piani: Ich bin zerschmettert!!
Elfriede: Meine ganze Jugend, so überreich an Liebesdurst, an Liebesmacht sie mir der gütige Himmel geschenkt hatte, ich habe sie freventlich durch den grauen seelenerstickenden Straßenschmutz geschleift! Die Heiligkeit sinnlicher Leidenschaft galt mir feigen Memme als niedrigste Gemeinheit!
Casti Piani( vergeistert): Das war die tageshelle Erleuchtung, die unversehens dem, der auf dem Dachfirst nachtwandelt, das Genick bricht!
Elfriede( leidenschaftlich): Das war die tageshelle Erleuchtung!
Casti Piani: Was tu' ich noch auf der Welt, wenn auch der Sinnengenuß nichts als höllische Menschenschlächterei, wenn auch der Sinnengenuß nichts als satanische Menschenschlächterei ist, wie das ganze übrige Erdendasein! So also nimmt sich der einzige göttliche Lichtstrahl aus, der die schauerliche Nacht unseres martervollen Lebens durchdringt! Hätte ich mir doch vor einem halben Jahrhundert eine Kugel durch den Kopf gejagt! Dann wäre mir dieser jämmerliche Bankrott meines hochstaplerisch zusammengestohlenen Seelenreichtums erspart geblieben!
Elfriede: Was Sie noch auf dieser Welt zu tun haben? Das kann ich Ihnen sagen! Sie sind Mädchenhändler! Sie rühmen sich, es zu sein! Jedenfalls haben Sie die besten Verbindungen mit allen bedeutenden Plätzen, die für den Mädchenhandel in Betracht kommen. Verkaufen Sie mich! Ich beschwöre Sie, verkaufen Sie mich an solch ein Haus! Sie können ein ganz einträgliches Geschäft mit mir machen! Ich habe noch nie geliebt, das setzt meinen Wert jedenfalls nicht herab! Dafür, daß ich Ihnen keine Schande mache, daß Sie bei Ihren Abnehmern Ehre mit mir einlegen, verbürge ich mich Ihnen mit jedem Schwur, den Sie von mir verlangen!
Casti Piani( halb im Wahnsinn): Was rettet mich vor dem Genickbruch? Welches Mittel hilft mir über die eisigen Todesschauer hinweg?!
Elfriede: Ich helfe Ihnen darüber hinweg! Ich! Verkaufen Sie mich! Dann sind Sie gerettet!
Casti Piani: Wer sind Sie denn?!
Elfriede: Ich will im Sinnengenuß meinen Tod finden! Ich will mich auf dem Blutaltar sinnlicher Liebe schlachten lassen!
Casti Piani: Sie – Sie soll ich verkaufen?!
Elfriede: Ich will den Märtyrertod sterben, den dieses Mädchen, das eben hier war, stirbt! Habe ich denn nicht die gleichen Menschenrechte wie andere?!
Casti Piani: Behüte mich der Himmel davor!! ( Mit steigendem Ausdruck): Das – das – das ist das höllische Hohngelächter, das über meinem Todessturz erschallt!
Elfriede( sinkt ihm zu Füßen): Verkaufen Sie mich! Verkaufen Sie mich!
Casti Piani: Die grauenvollsten Zeiten meines Lebens steigen vor mir auf! Einmal schon habe ich ein Geschöpf, das von der Natur nicht dazu geschaffen war, auf dem Liebesmarkte verschachert! Für dieses Verbrechen gegen die Natur habe ich sechs volle Jahre hinter schwedischen Gardinen zugebracht! Natürlich war es auch eines jener charakterlosen Geschöpfe, denen die großen Füße im Gesicht geschrieben stehen!
Elfriede( seine Knie umklammernd): Bei meinem Herzschlag beschwöre ich Sie, verkaufen Sie mich! Sie hatten recht! Meine Betätigung zur Bekämpfung des Mädchenhandels war unbefriedigte Sinnlichkeit! Aber meine Sinnlichkeit ist nicht schwach! Fordern Sie Beweise! Soll ich Sie wie wahnsinnig küssen?!
Casti Piani( in höchster Verzweiflung): Und dieses ohrzerreißende Jammergeheul zu meinen Füßen?! Was ist das?! Dieses gellende Zetergeschrei aus Geburtswehen, Daseinsschmerzen und Todesqualen ertrag' ich nicht länger! Ich halte dieses irdische Wehgekreisch nicht mehr aus!
Elfriede( die Hände ringend): Ihnen selbst, wenn Sie wollen, bringe ich meine Unschuld zum Opfer! Ihnen selbst, wenn Sie wollen, schenke ich meine erste Liebesnacht!
Casti Piani( aufschreiend): Das hatte gefehlt!
( Es kracht ein Schuß. Elfriede stößt einen markerschütternden Schrei aus. Casti Piani wankt, in der Rechten den rauchenden Revolver, die Linke krampfhaft auf die Brust gepreßt, zu einem der Polstersessel, in dem er zusammenbricht.)
Casti Piani: – Ver–zeihen Sie – Baroneß – ich – ich habe mir – weh getan – das – das war nicht – nicht galant von mir –
Elfriede( ist aufgesprungen und beugt sich über ihn): Sie werden sich doch um Gottes Barmherzigkeit willen nicht getroffen haben?!
Casti Piani: – schrei–schreien Sie mir die – die Ohren nicht – nicht voll – seien Sie – lieb – lieb – lieb – wenn – wenn Sie können –
Elfriede( entsetzt zurückweichend, beide Hände in ihren Haaren, auf Casti Piani starrend, mit einem Aufschrei): Nein! Nein! Nein! Ich kann bei diesem Anblick nicht lieb sein! Ich kann nicht lieb sein!
Auf den Schuß hin sind drei schlanke junge Mädchen, ebenso wie Lisiska gekleidet, eine nach der andern neugierig aus den drei Türen des Zimmers getreten. Sie haben sich zögernd Casti Piani genähert und suchen ihm, stumme Gebärden untereinander austauschend, mit äußerster Zurückhaltung den Todeskampf zu erleichtern.
Casti Piani( die Mädchen erblickend): – und das – und das – Ra – Rachegeister? – Rachegeister?? – – Nein, nein! – das – das ist – ist Maruschka! – Ich sehe dich genau. – Das ist – Euphemia! – das Theophila. – – Ma–Ma–Maruschka! Küsse mich, Maruschka!
( Das schlankste der drei Mädchen beugt sich über Casti Piani und küßt ihn auf den Mund.)
Casti Piani( angstvoll): – Nein, nein, nein! Das war nichts! – Küsse – küsse mich anders!
( Das Mädchen küßt ihn wieder.)
Casti Piani: – So! – So, so, so! – Ich – ich habe euch – betrogen – ( sich an Maruschka langsam aufrichtend): – euch alle – betrogen! – Der Sinnengenuß – Menschenquälerei – Menschenschinderei – – – – endlich – endlich – Erlösung! ( Er steht, steif emporgereckt, wie vom Starrkrampf erfaßt, die Augen weit aufreißend): Wir – wir müssen – den – den hohen Herrn – doch wohl stehend – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – empfangen . . .
( Er bricht tot zusammen.)
Elfriede( in Tränen aufgelöst zu den drei Mädchen): Nun? – Hat denn keine von euch Mädchen den Mut dazu? Ihr ward diesem Manne doch mehr, als ich ihm sein durfte!
( Die drei Mädchen weichen kopfschüttelnd, mit eisigen Mienen, scheu und angstvoll zurück.)
Elfriede( schluchzend, zur Leiche Casti Pianis gewandt): Dann verzeih' mir, der Elenden! Du hast mich im Leben aus tiefster Seele verabscheut! Verzeih' mir, daß ich mich dir noch nahe! ( Sie küßt ihn inbrünstig auf den Mund. In einen Strom von Tränen ausbrechend): Diese letzte Enttäuschung hast du dir doch wohl in deinem furchtbarsten Weltschmerz nicht träumen lassen, daß dir eine Jungfrau die Augen zudrückt! – ( Darauf drückt sie ihm die Augen zu und sinkt jammervoll weinend zu seinen Füßen.)
Drei Szenen
Motto: Je länger die Striche, desto größer die Schauspielkunst!
Dem Meister deutscher BühnenkunstDr. Carl Heinegewidmet
Gerardo,k. k, Kammersänger
Frau Helene Marowa
Professor Dühring
Miss Isabel Coeurne
Müller,Hotelwirt
Ein Hoteldiener
Ein Liftjunge
Eine Klavierlehrerin
»Der Kammersänger« ist weder eine Hanswurstiade noch ein Konversationsstück, sondern der Zusammenstoß zwischen einer brutalen Intelligenz und verschiedenen blinden Leidenschaften. Wenn er so gespielt wird, ergibt sich weder die Notwendigkeit, die Hälfte des Textes wegzustreichen, noch diejenige, den Schluß in alberner Weise umzuändern. Ich möchte auch die Gelegenheit wahrnehmen, um mich gegen die Behauptung zu verwahren, daß jene Änderung des Schlusses von mir herrührte. Eines Tages erhielt ich aus Berlin folgendes Telegramm:
»Bitten um Erlaubnis, Schluß von Kammersänger abändern zu dürfen, da sonst genötigt, Stück vom Spielplan abzusetzen.«
Da ich gerade wegen einer Lungenentzündung zu Bett lag und mir die Aufführungen des Stückes deshalb ziemlich wichtig waren, telegraphierte ich zurück: »Mit allem einverstanden.« Ich selber aber habe den abgeänderten Schluß weder gesehen noch gelesen. Ich kenne ihn nur vom Hörensagen. Dagegen habe ich manche andere Aufführung vom »Kammersänger« gesehen, in der ich mich allerdings ganz verblüfft fragte, aus welchem Beweggrund ich denn eigentlich eine so kraft- und saftlose Posse geschrieben haben könnte. Die Brutalität meines Kammersängers war in Albernheit, seine Intelligenz war in das entgegengesetzte Gegenteil, in eine übernatürliche Dummheit verkehrt. Und jeder Gedanke, um dessentwillen ich das Stück zu Papier gebracht hatte, war mit unerbittlicher schauspielerischer Routine weggestrichen, so daß Helene Marowa zweifellos mehr verdreht als verliebt erschien, wenn sie sich eines solchen Laffen wegen das Leben nahm.
Ich möchte nun diese Gelegenheit auch noch dazu wahrnehmen, um gegen jeden, auch den geringsten Strich in diesem Stücke ausdrücklich zu protestieren, auch auf die Gefahr hin, daß der »Kammersänger« daraufhin für alle Zeiten von der deutschen Bühne verschwindet.
Sollte sich aber trotz dieses Protestes noch ein Darsteller für meinen Gerardo interessieren, dann will ich ihm hier verraten, was zu dessen Verkörperung nötig ist: Tempo, Leidenschaftlichkeit und Intelligenz, drei Eigenschaften, die noch keinem Berufsschauspieler zur Schande gereicht haben.
München, im Juli 1909
Frank Wedekind
Salonähnliches Zimmer im Hotel. Mitteltür, Seitentüren. Links vorn ein Fenster mit schweren, geschlossenen Gardinen. Rechts ein Flügel. Hinter dem Flügel ein japanischer Paravent, der den Kamin deckt. Große, offene Koffer stehen umher, riesige Lorbeerkränze liegen über die Fauteuils gelehnt. Eine Unmenge Blumenbuketts stehen im Zimmer verteilt. Ein Stoß Buketts liegt aufeinandergeschichtet auf dem Flügel.
Rechts und links vom Zuschauer aus.
Ein Hoteldiener, dann ein Liftjunge
Der Bediente kommt mit einem Arm voll Kleider aus dem Nebenzimmer und packt sie in einen der großen Koffer. Da es klopft, sich aufrichtend: Na? – –Herein!
Ein Liftjunge: Es ist ein Frauenzimmer unten, ob der Herr Kammersänger zu Hause sei.
Der Bediente: Ist nicht zu Hause.
Der Liftjunge ab.
Der Bediente geht ins Nebenzimmer und kommt mit einem Arm voll Kleider zurück. Da es klopft, die Kleider weglegend und zur Tür gehend: Na, wer ist denn das wieder? Öffnet die Tür und nimmt drei oder vier große Buketts entgegen, kommt damit nach vorn und legt sie vorsichtig auf den Flügel; macht sich wieder daran, den Koffer zu packen; es klopft, er geht zur Tür und öffnet, nimmt eine Handvoll Briefe in allen Farben in Empfang, kommt damit nach vorn und mustert die Adressen. »Mister Gerardo,« – »Herrn Kammersänger.« – »Monsieur Gerardo.« – »Gerardo Esqu.« – »Hochwohlgeboren Herrn,« Das ist das Kammermädchen! – »Herrn k. k. Kammersänger.« – Legt die Briefe in eine Schale und packt weiter.
Gerardo, der Hoteldiener, später der Liftjunge
Gerardo: Sie haben noch nicht fertig gepackt? – Wie lange brauchen Sie denn zum Packen?
Der Bediente: Gleich bin ich fertig, Herr Kammersänger.
Gerardo: Aber rasch. Ich habe noch zu tun. Lassen Sie sehen. In einen der Koffer langend. Du barmherziger Himmel! Wissen Sie nicht, wie man eine Hose zusammenlegt? Das Kleidungsstück herausnehmend. Nennen Sie das Packen? – Sehen Sie, da können Sie noch was lernen von mir. Sie müßten das doch besser wissen als ich. So nimmt man eine Hose. Dann hakt man hier oben zu. Dann nimmt man diese beiden Knöpfe. Sehen Sie diese Knöpfe hier, auf die kommt es an; dann – – zieht man die Hose straff. So! So! – Und dann legt man sie in – zwei – – Teile – zusammen. Sehen Sie, so! So behält die Hose ihre Fasson, und wenn sie hundert Jahre alt wird!
Der Bediente sehr ehrfurchtsvoll, mit niedergeschlagenen Augen: Herr Kammersänger sind ja vielleicht einmal Schneider gewesen.
Gerardo: Was?! – Das gerade nicht – Dummkopf!! Ihm die Hose gebend. Da, packen Sie ein, aber etwas rasch.
Der Bediente über den Koffer gebeugt: Es sind auch noch Briefe angekommen für Herrn Kammersänger.
Gerardo nach rechts gehend: Ja, ich habe sie schon gesehen.
Der Bediente: Und Blumen!
Gerardo: Ja, ja. – – Er nimmt die Briefe aus der Schale und wirft sich vor dem Flügel in einen Fauteuil. – Machen Sie jetzt nur um Gottes willen, daß Sie fertig werden!
Der Bediente ins Nebenzimmer ab.
Gerardo öffnet die Briete, durchfliegt sie mit strahlendem Lächeln, zerknittert sie und wirft sie unter den Sessel. In einem der Briefe liest er laut: »... Ihnen, meinem Gotte gehören! Für mein ganzes Leben mich unendlich glücklich machen, wie wenig Sie das kostet! Bedenken Sie...« Dann für sich: Allmächtiger Himmel! Ich soll morgen abend in Brüssel den Tristan singen und weiß nicht eine Note mehr! – Nicht eine Note! – Nach der Uhr sehend. Halb vier. – Noch dreiviertel Stunden. – Da klopft es: Herrrrrein!
Der Liftjunge einen Korb Champagner hereinschleppend: Ich soll das dem Herrn Kammersänger...
Gerardo: Was? – Wer ist unten?
Der Liftjunge: Ich solle das dem Herrn Kammersänger aufs Zimmer stellen.
Gerardo sich erhebend: Was hast du denn? Ihm den Korb abnehmend Danke.
Der Liftjunge ab.
Gerardo den Korb nach vorn schleppend: Du barmherziger Gott, was soll ich damit anfangen! Liest die beigelegte Karte und ruft: Georg!
Der Bediente den Arm voll Kleider, aus dem Nebenzimmer: Es ist das letzte, Herr Kammersänger. Verteilt es in die verschiedenen Koffer und schließt sie.
Gerardo: Gut. – Ich bin für niemanden hier!
Der Bediente: Weiß ich, Herr Kammersänger.
Gerardo: Für niemanden!
Der Bediente: Herr Kammersänger können ruhig sein. Ihm die Kofferschlüssel gebend: Die Schlüssel, Herr Kammersänger.
Gerardo die Schlüssel einsteckend: Für niemanden!
Der Bediente: Die Koffer werden sofort heruntergetragen. Will gehen.
Gerardo: Warten Sie ...
Der Bediente kommt zurück: Herr Kammersänger...
Gerardo gibt ihm ein Trinkgeld: Für niemanden!!
Der Bediente: Danke gehorsamst. Ab.
Gerardo allein, nach der Uhr sehend: Ein halbe Stunde. Sucht den Klavierauszug des »Tristan« unter den Blumen auf dem Piano hervor und singt auf und ab gehend mit halber Stimme:
»Isolde! Geliebte! Bist du mein? Hab' ich dich wieder? Darf ich dich fassen?«
Räuspert sich, greift zwei Terzen auf dem Flügel und beginnt von neuem:
»Isolde! Geliebte! Bist du mein? Hab' ich dich wieder? ...«
Räuspert sich. Das ist eine infernalische Luft hier! – Singt:
»Isolde! – Geliebte!«
Mir liegt etwas wie Blei auf den Nerven! – Luft! Luft! Geht nach links und sucht an den Gardinen die Zugschnur. Wo ist denn das? – Auf der anderen Seite. – Hier! Zieht rasch die Gardinen auf und wendet, da er Miß Coeurne vor sich sieht, in einer Art gelinder Verzweiflung den Kopf zurück. – Allgütige Vorsehung!
Miß Coeurne, Getardo
Miss Coeurne sechzehn Jahr, in halblangem Kleid, offenem, blondem Haar, einen Strauß roter Rosen in der Hand, spricht mit englischem Akzent, Gerardo klar in die Augen sehend: Ich bitte, schicken Sie mich nicht fort.
Gerardo: Was soll ich denn anders mit Ihnen tun? Ich habe Sie, weiß der Himmel, nicht gebeten, hierherzukommen. Sie sind ungerecht, mein Fräulein, wenn Sie mir das übelnehmen wollen, aber morgen abend muß ich singen! Ich gestehe Ihnen offen, ich glaubte diese halbe Stunde für mich zu haben. Ich habe eben noch extra den Auftrag erteilt, niemanden, wer es auch sein möge, zu mir hereinzulassen.
Miss Coeurne vortretend: Schicken Sie mich nicht fort. Ich habe Sie gestern als Tannhäuser gehört, und ich bringe Ihnen nur diese Rosen.
Gerardo: Und? – – Na? – – Und?
Miss Coeurne: Mich!– –Ich weiß nicht, sag' ich es recht.
Gerardo faßt die Lehne eines Sessels, nach kurzem Kampfe, den Kopf schüttelnd: Wer sind Sie?
Miss Coeurne: Miß Coeurne.
Gerardo: So – ja.
Miss Coeurne: Ich bin noch sehr dumm.
Gerardo: Das weiß ich. Aber kommen Sie, mein Fräulein, sich in einen Fauteuil setzend und sie zwischen seine Knie ziehend sprechen wir ein ernstes Wort, wie Sie es in Ihrem kurzen Leben noch nicht gehört haben und – wie es Ihnen sehr not zu tun scheint. – Ich habe deswegen, weil ich Künstler bin – verstehen Sie mich bitte recht; Sie sind – wie alt sind Sie?
Miss Coeurne: Zweiundzwanzig.
Gerardo: Sie sind sechzehn, höchstens siebzehn. Sie machen sich einige Jahre älter, um begehrenswerter für mich zu erscheinen. – Nun? – Sie sind noch sehr dumm. Und ich habe in meiner Eigenschaft als Künstler doch wahrhaftig nicht die Pflicht, Ihnen, mein Fräulein, über Ihre Dummheit hinwegzuhelfen! Nehmen Sie mir das nicht übel. – Nun? Warum starren Sie jetzt vor sich hin?
Miss Coeurne: Ich habe gesagt, daß ich noch sehr dumm bin, weil man das hier in Deutschland bei einem jungen Mädchen hochschätzt
Gerardo: Ich bin nicht Deutscher, mein Kind, aber trotzdem...
Miss Coeurne: Nun? – – Ich bin gar nicht so dumm.
Gerardo. Ich bin auch schließlich kein Kindermädchen! – Der Ausdruck ist falsch, ich fühle es, denn – Sie sind allerdings kein Kind mehr?
Miss Coeurne: Nein! – Gott sei Dank! – Jetzt nicht!
Gerardo: Aber sehen Sie, mein wertes Fräulein - Sie haben Lawn-Tennis-Partien, Sie haben Skating-Klubs, Sie können radfahren, Sie können mit Ihren Freundinnen Bergpartien machen, Sie können schwimmen, reiten, tanzen. Sie haben jedenfalls alles, was sich ein junges Mädchen wünschen kann. Warum, mein Fräulein, kommen Sie denn dann zu mir?!«
Miss Coeurne: »Weil mir das alles abscheulich ist und weil ich es furchtbar langweilig finde.«
Gerardo: