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Ein Mann steht Tag für Tag vor den Toren eines mysteriösen Schlosses, klopft, bittet, argumentiert - doch jeder Versuch, Einlass zu erhalten, verstrickt ihn tiefer in ein Labyrinth aus Bürokratie und Absurdität. K., ein neu ernannter Landvermesser, findet sich in einem verschneiten Dorf wieder, das im Schatten eines unerreichbaren Schlosses liegt. Das Schloss regiert als unsichtbare Macht über das Dorf - und während K. seinen Platz in der Gemeinschaft sucht, warten die Beamten dort oben schweigend hinter verschlossenen Türen. In diesem unvollendeten Meisterwerk von Franz Kafka wird die Suche nach einer behördlichen Bestätigung der eigenen Existenz zur Odyssee. Das Ringen mit der gesichtslosen Schlossverwaltung spiegelt den Kampf des Individuums gegen ein übermächtiges System. Gemeinsam mit Kafkas anderen Erzählungen entfaltet der Roman eine Welt, in der das Absurde zur Normalität wird und die Normalität sich als absurd entpuppt. Die präzise Sprache erschafft eine Atmosphäre, die noch lange nachwirkt.
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Seitenzahl: 554
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Franz Kafka
Das Schloss
Mit ausführlichem Vorwort
Copyright © 2024 Novelaris Verlag
ISBN: 978-3-68931-071-4
Vorwort
1. Die Entstehung eines unvollendeten Meisterwerks
2. Eine Welt der undurchschaubaren Bürokratie
3. Der Fremde im Dorf
4. Die Frauen als Vermittlerinnen zur Macht
5. Ein revolutionärer literarischer Stil
DAS SCHLOSS
Das erste Kapitel
Das zweite Kapitel
Das dritte Kapitel
Das vierte Kapitel
Das fünfte Kapitel
Das sechste Kapitel
Das siebente Kapitel
Das achte Kapitel
Das neunte Kapitel
Das zehnte Kapitel
Das elfte Kapitel
Das zwölfte Kapitel
Das dreizehnte Kapitel
Das vierzehnte Kapitel
Das fünfzehnte Kapitel
Das sechzehnte Kapitel
Das siebzehnte Kapitel
Das achtzehnte Kapitel
Das neunzehnte Kapitel
Das zwanzigste Kapitel
Cover
Table of Contents
Text
An einem Januartag des Jahres 1922 beginnt Franz Kafka die Arbeit an seinem letzten großen Roman “Das Schloss”. Er ist zu dieser Zeit bereits schwer von Tuberkulose gezeichnet und lebt mit seiner Lebensgefährtin Dora Diamant in Berlin – weit entfernt von seinem Prager Elternhaus, dessen bedrückende Atmosphäre ihn sein Leben lang belastet hatte. Diese Flucht aus der Heimat spiegelt sich im Roman wider: Die Geschichte spielt in einem namenlosen Dorf, das im Schatten eines geheimnisvollen Schlosses liegt.
Die Entstehung des Romans ist von einem bemerkenswerten Gegensatz geprägt: Während Kafkas Körper zusehends schwächer wird, erlebt er eine Phase außergewöhnlicher kreativer Energie. In Briefen an seinen Freund Max Brod berichtet er von “fieberhaften Nächten”, in denen er am Manuskript arbeitet. Seine körperliche Schwäche steht im scharfen Kontrast zur geistigen Klarheit, mit der er die verschlungenen Wege seiner Hauptfigur durch das Labyrinth der Macht entwirft.
Der Roman bleibt unvollendet – Kafka bricht die Arbeit im August 1922 ab und stirbt im Juni 1924. Doch was auf den ersten Blick als Mangel erscheinen könnte, erweist sich als tiefsinnige Entsprechung zum Inhalt: Wie der Protagonist K. nie sein Ziel erreicht, findet auch der Text keinen Abschluss. Der Roman endet mitten im Satz während eines Gesprächs zwischen K. und der Wirtin – ein literarisches Abbild der Unabschließbarkeit menschlichen Strebens.
Max Brod, Kafkas engster Vertrauter und späterer Nachlassverwalter, berichtet von einem geplanten Ende: Der Protagonist sollte auf dem Totenbett endlich die ersehnte Genehmigung zum Aufenthalt im Dorf erhalten – eine Erlaubnis, die durch seinen Tod bedeutungslos würde. Diese bittere Ironie fasst die Grundstimmung des gesamten Romans zusammen.
“Das Schloss” entwickelt Themen weiter, die Kafka bereits in seinem früheren Roman “Der Process” behandelt hatte. Während dort der Protagonist Josef K. von einer unsichtbaren Macht angeklagt wird, versucht K. im “Schloss” aktiv, Zugang zu dieser Macht zu erlangen. Die Perspektive verschiebt sich von der eines hilflosen Opfers zu der eines Menschen, der vergeblich um Anerkennung kämpft.
Die handschriftlichen Manuskriptseiten zeigen Kafkas akribische Arbeitsweise: Selbst in Phasen größter körperlicher Schwäche feilt er unermüdlich an Formulierungen und Satzkonstruktionen. Er streicht überdeutliche Symbole und allegorische Passagen und entwickelt stattdessen einen nüchternen, protokollartigen Stil, der das Geschehen umso verstörender erscheinen lässt.
In seinen letzten Lebensjahren setzt sich Kafka intensiv mit dem Judentum und jüdischer Mystik auseinander. Diese spirituelle Suche hinterlässt Spuren im Roman: Die unerreichbare Schlossbehörde erinnert an die jüdische Vorstellung eines verborgenen Gottes. Dennoch vermeidet der Text jede eindeutig religiöse Deutung – er bleibt rätselhaft mehrdeutig wie das Schloss selbst.
Im Zentrum des Romans steht das titelgebende Schloss – ein Gebäude, das dem Protagonisten K. bei seiner Ankunft zunächst “leer” erscheint, aber eine rätselhafte Macht über das Dorf ausübt. Je länger K. sich im Dorf aufhält, desto undurchsichtiger wird das Wesen des Schlosses, das zwischen konkretem Verwaltungssitz und überirdischer Macht zu schweben scheint.
Die vom Schloss ausgehende Bürokratie durchdringt das gesamte Dorfleben auf absurde Weise. Die Schlossbeamten, allen voran der mysteriöse Klamm, werden wie Gottheiten verehrt, obwohl niemand ihre tatsächliche Existenz bestätigen kann. Die Dorfbewohner haben ein kompliziertes System von Verhaltensregeln entwickelt, um mit den oft widersprüchlichen Anordnungen aus dem Schloss umzugehen. Die Bürokratie schafft ihre eigene Realität, in der selbst das Absurdeste normal erscheint.
Jeder Versuch K.s, direkten Kontakt zum Schloss aufzunehmen, führt in ein Labyrinth von Zuständigkeiten, Weiterleitungen und Verzögerungen. Selbst der Botendienst zwischen K. und dem Schloss, verkörpert durch die Figur des Barnabas, funktioniert nicht verlässlich – niemand weiß, ob die überbrachten Nachrichten überhaupt offiziellen Charakter haben.
Ein besonders perfides Merkmal dieser bürokratischen Struktur ist ihre scheinbare Transparenz: Die Dorfbewohner sind überzeugt, dass alle Vorgänge im Schloss nach strengen Regeln ablaufen. Doch diese Regeln bleiben für Außenstehende wie K. völlig unergründlich. Diese Mischung aus scheinbarer Ordnung und tatsächlicher Willkür erzeugt eine beklemmende Atmosphäre der Ohnmacht.
Die absurde Logik der Dorfgemeinschaft zeigt sich in ihrer bedingungslosen Akzeptanz der Schlossautorität. Die Bewohner haben die bürokratischen Strukturen so sehr verinnerlicht, dass sie jede noch so widersinnige Anordnung als notwendig interpretieren. Je undurchsichtiger die Entscheidungen des Schlosses erscheinen, desto mehr bemühen sie sich, ihnen einen tieferen Sinn zuzuschreiben.
Besonders deutlich wird die Absurdität in den endlosen Diskussionen über Zuständigkeiten und Verfahrensfragen. Die Menschen verstricken sich in minutiöse Erörterungen über die richtige Auslegung von Verordnungen, während die eigentlichen Anliegen in Vergessenheit geraten. Diese Verselbstständigung des Verwaltungsapparats führt zu einer grotesken Umkehrung: Nicht mehr die Verwaltung dient den Menschen, sondern die Menschen ordnen ihr gesamtes Leben den vermeintlichen Anforderungen der Verwaltung unter.
Die ungewisse Gültigkeit von Dokumenten und Entscheidungen ist ein weiteres Merkmal dieser albtraumhaften Bürokratie. K.s Berufung zum Landvermesser wird gleichzeitig bestätigt und angezweifelt, ohne dass dieser Widerspruch je aufgelöst würde. Die Akten, auf die sich alle berufen, bleiben unsichtbar – ihre Existenz wird zur Glaubensfrage. Jeder Vorgang scheint sich in einer Art bürokratischer Endlosschleife zu verlieren, wobei die Hoffnung auf eine endgültige Entscheidung stets am Leben gehalten wird.
K. kommt als Fremder ins Dorf und behauptet, vom Schloss als Landvermesser berufen worden zu sein – ohne dies eindeutig belegen zu können. Seine ungeklärte Identität wird zum Kernproblem des Romans. Wie Josef K. in “Der Process” wird auch dieser Protagonist nur mit einem Buchstaben bezeichnet, was seine Rolle als Außenseiter zusätzlich unterstreicht.
Die Wahl des Berufs ist dabei kein Zufall: Ein Landvermesser sollte eigentlich Grenzen abstecken, Gebiete vermessen und damit Ordnung in die räumlichen Verhältnisse bringen. Doch genau dies wird K. verwehrt – seine Dienste werden vom Schloss nicht in Anspruch genommen, obwohl seine Berufung nie eindeutig widerrufen wird. Diese Paradoxie spiegelt die Unmöglichkeit wider, in der Welt des Romans feste Orientierungspunkte zu finden.
K.s Bemühungen, einen Platz in der Dorfgemeinschaft zu finden, sind von einem ständigen Wechsel zwischen Anpassung und Widerstand geprägt. Einerseits versucht er, die ungeschriebenen Regeln des Dorfes zu verstehen und Kontakte zu knüpfen. Andererseits bewahrt er sich eine kritische Distanz und weigert sich, die absurde Logik des Systems vollständig zu akzeptieren. Dieser innere Konflikt macht ihn zu einer tragischen Figur: Er kann weder ausbrechen noch sich vollständig einfügen.
Die weiblichen Figuren in “Das Schloss” sind weit mehr als Nebenfiguren – sie bilden Brücken zwischen der greifbaren Welt des Dorfes und der ungreifbaren Sphäre des Schlosses. Frieda, zunächst Geliebte des mächtigen Schlossbeamten Klamm und später K.s Gefährtin, verkörpert diese Mittlerrolle am deutlichsten. Als Ausschankgehilfin im Herrenhof steht sie in einer privilegierten Beziehung zur Schlosswelt, die sie für die Verbindung mit K. aufgibt.
Die Wirtinnen der Dorfgasthäuser, besonders die Brückenhofwirtin, sind weitere Schlüsselfiguren. Als ehemalige Geliebte Klamms hat die Brückenhofwirtin tiefe Einblicke in die Mechanismen der Macht gewonnen. In ihren Gesprächen mit K. werden die verschlungenen Beziehungen zwischen Schloss und Dorf besonders deutlich.
Die Beziehungen zwischen Schlossbeamten und Dorffrauen folgen einem komplizierten Protokoll. Die Frauen gewinnen durch diese Verbindungen nicht nur gesellschaftliches Ansehen, sondern auch besonderes Wissen über die Funktionsweise der Macht. Doch selbst die intimste Nähe zu den Beamten garantiert keinen wirklichen Einblick in das System – die letzte Wahrheit bleibt verborgen.
“Das Schloss” markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des modernen Romans. Der Text entwickelt eine einzigartige Erzählweise, die bis heute nichts von ihrer verstörenden Wirkung verloren hat. Obwohl der Roman in der dritten Person erzählt wird, folgt er fast ausschließlich K.s Wahrnehmung. Diese Perspektive wird jedoch immer wieder subtil gebrochen: Momente größter Nähe zu K.s Erleben wechseln unvermittelt mit distanzierten Betrachtungen.
Die Sprache des Romans ist nur scheinbar einfach. Die Sätze sind oft lang und verschachtelt, folgen aber einer präzisen Logik. Diese Spannung zwischen komplexer Struktur und scheinbarer Klarheit erzeugt einen besonderen Effekt: Die Sprache suggeriert Genauigkeit und Sachlichkeit, unterläuft diese aber gleichzeitig durch die Absurdität des Beschriebenen.
Kafkas Technik, das Unwirkliche mit den Mitteln größter Sachlichkeit zu beschreiben, hat die moderne Literatur nachhaltig geprägt. Seine Art, Realität und Phantastik unmerklich ineinander übergehen zu lassen, wurde zum Vorbild für viele nachfolgende Schriftsteller. Der Roman verweigert bewusst eindeutige zeitliche und räumliche Zuordnungen, was zu seiner traumartigen Atmosphäre wesentlich beiträgt.
Das offene Ende des Romans ist nicht einfach ein Abbruch, sondern spiegelt die Grundsituation des Werks: Wie K. nie zum Schloss vordringt, findet auch der Text keinen Abschluss. Diese bewusste Unvollendung wurde zum Modell für eine moderne Literatur, die keine endgültigen Antworten mehr geben kann und will.
In der Gesamtschau erweist sich “Das Schloss” als zeitloses Meisterwerk, das die Erfahrung der Moderne in all ihrer Widersprüchlichkeit einfängt. Die verstörende Wirkung des Romans resultiert gerade aus der Präzision, mit der diese Erfahrung in literarische Form gebracht wird. Bis heute hat der Roman nichts von seiner beklemmenden Aktualität verloren – vielleicht weil die von Kafka beschriebenen Strukturen der Macht in verwandelter Form fortbestehen.
Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloss an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.
Dann ging er, ein Nachtlager suchen; im Wirtshaus war man noch wach, der Wirt hatte zwar kein Zimmer zu vermieten, aber er wollte, von dem späten Gast äußerst überrascht und verwirrt, K. in der Wirtsstube auf einem Strohsack schlafen lassen. K. war damit einverstanden. Einige Bauern waren noch beim Bier, aber er wollte sich mit niemandem unterhalten, holte selbst den Strohsack vom Dachboden und legte sich in der Nähe des Ofens hin. Warm war es, die Bauern waren still, ein wenig prüfte er sie noch mit den müden Augen, dann schlief er ein.
Aber kurze Zeit darauf wurde er schon geweckt. Ein junger Mann, städtisch angezogen, mit schauspielerhaftem Gesicht, die Augen schmal, die Augenbrauen stark, stand mit dem Wirt neben ihm. Die Bauern waren auch noch da, einige hatten ihre Sessel herumgedreht, um besser zu sehen und zu hören. Der junge Mensch entschuldigte sich sehr höflich, K. geweckt zu haben, stellte sich als Sohn des Schlosskastellans vor und sagte dann: »Dieses Dorf ist Besitz des Schlosses, wer hier wohnt oder übernachtet, wohnt oder übernachtet gewissermaßen im Schloss. Niemand darf das ohne gräfliche Erlaubnis. Sie aber haben eine solche Erlaubnis nicht oder haben sie wenigstens nicht vorgezeigt.«
K. hatte sich halb aufgerichtet, hatte die Haare zurechtgestrichen, blickte die Leute von unten her an und sagte: »In welches Dorf habe ich mich verirrt? Ist denn hier ein Schloss?«
»Allerdings«, sagte der junge Mann langsam, während hier und dort einer den Kopf über K. schüttelte, »das Schloss des Herrn Grafen Westwest.«
»Und man muß die Erlaubnis zum Übernachten haben?« fragte K., als wolle er sich davon überzeugen, ob er die früheren Mitteilungen nicht vielleicht geträumt hätte.
»Die Erlaubnis muß man haben«, war die Antwort, und es lag darin ein großer Spott für K., als der junge Mann mit ausgestrecktem Arm den Wirt und die Gäste fragte: »Oder muß man etwa die Erlaubnis nicht haben?«
»Dann werde ich mir also die Erlaubnis holen müssen«, sagte K. gähnend und schob die Decke von sich, als wolle er aufstehen.
»Ja von wem denn?« fragte der junge Mann.
»Vom Herrn Grafen«, sagte K., »es wird nichts anderes übrigbleiben.«
»Jetzt um Mitternacht die Erlaubnis vom Herrn Grafen holen?« rief der junge Mann und trat einen Schritt zurück.
»Ist das nicht möglich?« fragte K. gleichmütig. »Warum haben Sie mich also geweckt?«
Nun geriet aber der junge Mann außer sich. »Landstreichermanieren!« rief er. »Ich verlange Respekt vor der gräflichen Behörde! Ich habe Sie deshalb geweckt, um Ihnen mitzuteilen, daß Sie sofort das gräfliche Gebiet verlassen müssen.«
»Genug der Komödie«, sagte K. auffallend leise, legte sich nieder und zog die Decke über sich. »Sie gehen, junger Mann, ein wenig zu weit, und ich werde morgen noch auf Ihr Benehmen zurückkommen. Der Wirt und die Herren dort sind Zeugen, soweit ich überhaupt Zeugen brauche. Sonst aber lassen Sie es sich gesagt sein, daß ich der Landvermesser bin, den der Graf hat kommen lassen. Meine Gehilfen mit den Apparaten kommen morgen im Wagen nach. Ich wollte mir den Marsch durch den Schnee nicht entgehen lassen, bin aber leider einigemal vom Weg abgeirrt und deshalb erst so spät angekommen. Daß es jetzt zu spät war, im Schloss mich zu melden, wußte ich schon aus eigenem, noch vor Ihrer Belehrung. Deshalb habe ich mich auch mit diesem Nachtlager hier begnügt, das zu stören Sie die – gelinde gesagt – Unhöflichkeit hatten. Damit sind meine Erklärungen beendet. Gute Nacht, meine Herren.« Und K. drehte sich zum Ofen hin.
»Landvermesser?« hörte er noch hinter seinem Rücken zögernd fragen, dann war allgemeine Stille. Aber der junge Mann faßte sich bald und sagte zum Wirt in einem Ton, der genug gedämpft war, um als Rücksichtnahme auf K.s Schlaf zu gelten, und laut genug, um ihm verständlich zu sein: »Ich werde telefonisch anfragen.« Wie, auch ein Telefon war in diesem Dorfwirtshaus? Man war vorzüglich eingerichtet. Im einzelnen überraschte es K., im ganzen hatte er es freilich erwartet. Es zeigte sich, daß das Telefon fast über seinem Kopf angebracht war, in seiner Verschlafenheit hatte er es übersehen. Wenn nun der junge Mann telefonieren mußte, dann konnte er beim besten Willen K.s Schlaf nicht schonen, es handelte sich nur darum, ob K. ihn telefonieren lassen sollte, er beSchloss, es zuzulassen. Dann hatte es aber freilich auch keinen Sinn, den Schlafenden zu spielen, und er kehrte deshalb in die Rückenlage zurück. Er sah die Bauern scheu zusammenrücken und sich besprechen, die Ankunft eines Landvermessers war nichts Geringes. Die Tür der Küche hatte sich geöffnet, türfüllend stand dort die mächtige Gestalt der Wirtin, auf den Fußspitzen näherte sich ihr der Wirt, um ihr zu berichten. Und nun begann das Telefongespräch. Der Kastellan schlief, aber ein Unterkastellan, einer der Unterkastellane, ein Herr Fritz, war da. Der junge Mann, der sich als Schwarzer vorstellte, erzählte, wie er K. gefunden, einen Mann in den Dreißigern, recht zerlumpt, auf einem Strohsack ruhig schlafend, mit einem winzigen Rucksack als Kopfkissen, einen Knotenstock in Reichweite. Nun sei er ihm natürlich verdächtig gewesen, und da der Wirt offenbar seine Pflicht vernachlässigt hatte, sei es seine, Schwarzers, Pflicht gewesen, der Sache auf den Grund zu gehen. Das Gewecktwerden, das Verhör, die pflichtgemäße Androhung der Verweisung aus der Grafschaft habe K. sehr ungnädig aufgenommen, wie es sich schließlich gezeigt habe, vielleicht mit Recht, denn er behaupte, ein vom Herrn Grafen bestellter Landvermesser zu sein. Natürlich sei es zumindest formale Pflicht, die Behauptung nachzuprüfen, und Schwarzer bitte deshalb Herrn Fritz, sich in der Zentralkanzlei zu erkundigen, ob ein Landvermesser dieser Art wirklich erwartet werde, und die Antwort gleich zu telefonieren.
Dann war es still, Fritz erkundigte sich drüben, und hier wartete man auf die Antwort. K. blieb wie bisher, drehte sich nicht einmal um, schien gar nicht neugierig, sah vor sich hin. Die Erzählung Schwarzers in ihrer Mischung von Bosheit und Vorsicht gab ihm eine Vorstellung von der gewissermaßen diplomatischen Bildung, über die im Schloss selbst kleine Leute wie Schwarzer leicht verfügten. Und auch an Fleiß ließen sie es dort nicht fehlen; die Zentralkanzlei hatte Nachtdienst. Und gab offenbar sehr schnell Antwort, denn schon klingelte Fritz. Dieser Bericht schien allerdings sehr kurz, denn sofort warf Schwarzer wütend den Hörer hin. »Ich habe es ja gesagt!« schrie er. »Keine Spur von Landvermesser, ein gemeiner, lügnerischer Landstreicher, wahrscheinlich aber Ärgeres.« Einen Augenblick dachte K., alle, Schwarzer, Bauern, Wirt und Wirtin, würden sich auf ihn stürzen. Um wenigstens dem ersten Ansturm auszuweichen, verkroch er sich ganz unter die Decke. Da läutete das Telefon nochmals, und, wie es K. schien, besonders stark. Er steckte langsam den Kopf wieder hervor. Obwohl es unwahrscheinlich war, daß es wieder K. betraf, stockten alle, und Schwarzer kehrte zum Apparat zurück. Er hörte dort eine längere Erklärung ab und sagte dann leise: »Ein Irrtum also? Das ist mir recht unangenehm. Der Bürochef selbst hat telefoniert? Sonderbar, sonderbar. Wie soll ich es dem Herrn Landvermesser erklären?«
K. horchte auf. Das Schloss hatte ihn also zum Landvermesser ernannt. Das war einerseits ungünstig für ihn, denn es zeigte, daß man im Schloss alles Nötige über ihn wußte, die Kräfteverhältnisse abgewogen hatte und den Kampf lächelnd aufnahm. Es war aber andererseits auch günstig, denn es bewies, seiner Meinung nach, daß man ihn unterschätzte und daß er mehr Freiheit haben würde, als er hätte von vornherein hoffen dürfen. Und wenn man glaubte, durch diese geistig gewiß überlegene Anerkennung seiner Landvermesserschaft ihn dauernd in Schrecken halten zu können, so täuschte man sich; es überschauerte ihn leicht, das war aber alles.
Dem sich schüchtern nähernden Schwarzer winkte K. ab; ins Zimmer des Wirtes zu übersiedeln, wozu man ihn drängte, weigerte er sich, nahm nur vom Wirt einen Schlaftrunk an, von der Wirtin ein Waschbecken mit Seife und Handtuch und mußte gar nicht erst verlangen, daß der Saal geleert wurde, denn alles drängte mit abgewendeten Gesichtern hinaus, um nicht etwa morgen von ihm erkannt zu werden. Die Lampe wurde ausgelöscht, und er hatte endlich Ruhe. Er schlief tief, kaum ein-, zweimal von vorüberhuschenden Ratten flüchtig gestört, bis zum Morgen.
Nach dem Frühstück, das, wie überhaupt K.s ganze Verpflegung, nach Angabe des Wirts vom Schloss bezahlt werden sollte, wollte er gleich ins Dorf gehen. Aber da der Wirt, mit dem er bisher in Erinnerung an sein gestriges Benehmen nur das Notwendigste gesprochen hatte, mit stummer Bitte sich immerfort um ihn herumdrehte, erbarmte er sich seiner und ließ ihn für ein Weilchen bei sich niedersetzen.
»Ich kenne den Grafen noch nicht«, sagte K., »er soll gute Arbeit gut bezahlen, ist das wahr? Wenn man, wie ich, so weit von Frau und Kind reist, dann will man auch etwas heimbringen.«
»In dieser Hinsicht muß sich der Herr keine Sorge machen, über schlechte Bezahlung hört man keine Klage.« – »Nun«, sagte K., »ich gehöre ja nicht zu den Schüchternen und kann auch einem Grafen meine Meinung sagen, aber in Frieden mit den Herren fertig zu werden ist natürlich weit besser.«
Der Wirt saß K. gegenüber am Rand der Fensterbank, bequemer wagte er sich nicht zu setzen, und sah K. die ganze Zeit über mit großen, braunen, ängstlichen Augen an. Zuerst hatte er sich an K. herangedrängt, und nun schien es, als wolle er am liebsten weglaufen. Fürchtete er, über den Grafen ausgefragt zu werden? Fürchtete er die Unzuverlässigkeit des »Herrn«, für den er K. hielt? K. mußte ihn ablenken. Er blickte auf die Uhr und sagte: »Nun werden bald meine Gehilfen kommen, wirst du sie hier unterbringen können?«
»Gewiß, Herr«, sagte er, »werden sie aber nicht mit dir im Schlosse wohnen?«
Verzichtete er so leicht und gern auf die Gäste und auf K. besonders, den er unbedingt ins Schloss verwies?
»Das ist noch nicht sicher«, sagte K., »erst muß ich erfahren, was für eine Arbeit man für mich hat. Sollte ich zum Beispiel hier unten arbeiten, dann wird es auch vernünftiger sein, hier unten zu wohnen. Auch fürchte ich, daß mir das Leben oben im Schlosse nicht zusagen würde. Ich will immer frei sein.«
»Du kennst das Schloss nicht«, sagte der Wirt leise.
»Freilich«, sagte K., »man soll nicht verfrüht urteilen. Vorläufig weiß ich ja vom Schloss nichts weiter, als daß man es dort versteht, sich den richtigen Landvermesser auszusuchen. Vielleicht gibt es dort noch andere Vorzüge.« Und er stand auf, um den unruhig seine Lippen beißenden Wirt von sich zu befreien. Leicht war das Vertrauen dieses Mannes nicht zu gewinnen.
Im Fortgehen fiel K. an der Wand ein dunkles Porträt in einem dunklen Rahmen auf. Schon von seinem Lager aus hatte er es bemerkt, hatte aber in der Entfernung die Einzelheiten nicht unterschieden und geglaubt, das eigentliche Bild sei aus dem Rahmen fortgenommen und nur ein schwarzer Rückendeckel sei zu sehen. Aber es war doch ein Bild, wie sich jetzt zeigte, das Brustbild eines etwa fünfzigjährigen Mannes. Den Kopf hielt er so tief auf die Brust gesenkt, daß man kaum etwas von den Augen sah, entscheidend für die Senkung schien die hohe, lastende Stirn und die starke, hinabgekrümmte Nase. Der Vollbart, infolge der Kopfhaltung am Kinn eingedrückt, stand weiter unten ab. Die linke Hand lag gespreizt in den vollen Haaren, konnte aber den Kopf nicht mehr heben. »Wer ist das?« fragte K. »Der Graf?« K. stand vor dem Bild und blickte sich gar nicht nach dem Wirt um. »Nein«, sagte der Wirt, »der Kastellan.« – »Einen schönen Kastellan haben sie im Schloss, das ist wahr«, sagte K., »schade, daß er einen so mißratenen Sohn hat.« – »Nein«, sagte der Wirt, zog K. ein wenig zu sich herunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Schwarzer hat gestern übertrieben, sein Vater ist nur ein Unterkastellan und sogar einer der letzten.« In diesem Augenblick kam der Wirt K. wie ein Kind vor. »Der Lump!« sagte K. lachend, aber der Wirt lachte nicht mit, sondern sagte: »Auch sein Vater ist mächtig.« – »Geh!« sagte K. »Du hältst jeden für mächtig. Mich etwa auch?« – »Dich«, sagte er schüchtern, aber ernsthaft, »halte ich nicht für mächtig.« – »Du verstehst also doch recht gut zu beobachten«, sagte K., »mächtig bin ich nämlich, im Vertrauen gesagt, wirklich nicht. Und habe infolgedessen vor den Mächtigen wahrscheinlich nicht weniger Respekt als du, nur bin ich nicht so aufrichtig wie du und will es nicht immer eingestehen.« Und K. klopfte dem Wirt, um ihn zu trösten und sich geneigter zu machen, leicht auf die Wange. Nun lächelte er doch ein wenig. Er war wirklich ein Junge mit seinem weichen, fast bartlosen Gesicht. Wie war er zu seiner breiten, ältlichen Frau gekommen, die man nebenan hinter einem Guckfenster, weit die Ellenbogen vom Leib, in der Küche hantieren sah? K. wollte aber jetzt nicht mehr weiter in ihn dringen, das endlich bewirkte Lächeln nicht verjagen. Er gab ihm also nur noch einen Wink, ihm die Tür zu öffnen, und trat in den schönen Wintermorgen hinaus.
Nun sah er oben das Schloss deutlich umrissen in der klaren Luft und noch verdeutlicht durch den alle Formen nachbildenden, in dünner Schicht überall liegenden Schnee. Übrigens schien oben auf dem Berg viel weniger Schnee zu sein als hier im Dorf, wo sich K. nicht weniger mühsam vorwärts brachte als gestern auf der Landstraße. Hier reichte der Schnee bis zu den Fenstern der Hütten und lastete gleich wieder auf dem niedrigen Dach, aber oben auf dem Berg ragte alles frei und leicht empor, wenigstens schien es so von hier aus.
Im ganzen entsprach das Schloss, wie es sich hier von der Ferne zeigte, K.s Erwartungen. Es war weder eine alte Ritterburg noch ein neuer Prunkbau, sondern eine ausgedehnte Anlage, die aus wenigen zweistöckigen, aber aus vielen eng aneinander stehenden niedrigen Bauten bestand; hätte man nicht gewußt, daß es ein Schloss sei, hätte man es für ein Städtchen halten können. Nur einen Turm sah K., ob er zu einem Wohngebäude oder einer Kirche gehörte, war nicht zu erkennen. Schwärme von Krähen umkreisten ihn.
Die Augen auf das Schloss gerichtet, ging K. weiter, nichts sonst kümmerte ihn. Aber im Näherkommen enttäuschte ihn das Schloss, es war doch nur ein recht elendes Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen, ausgezeichnet nur dadurch, daß vielleicht alles aus Stein gebaut war; aber der Anstrich war längst abgefallen, und der Stein schien abzubröckeln. Flüchtig erinnerte sich K. an sein Heimatstädtchen; es stand diesem angeblichen Schlosse kaum nach. Wäre es K. nur auf die Besichtigung angekommen, dann wäre es schade um die lange Wanderschaft gewesen und er hätte vernünftiger gehandelt, wieder einmal die alte Heimat zu besuchen, wo er schon so lange nicht gewesen war. Und er verglich in Gedanken den Kirchturm der Heimat mit dem Turm dort oben. Jener Turm, bestimmt, ohne Zögern geradewegs nach oben sich verjüngend, breitdachig, abschließend mit roten Ziegeln, ein irdisches Gebäude – was können wir anderes bauen? – aber mit höherem Ziel als die niedrige Häusermenge und mit klarerem Ausdruck, als ihn der trübe Werktag hat. Der Turm hier oben – es war der einzig sichtbare -, der Turm eines Wohnhauses, wie es sich jetzt zeigte, vielleicht des Hauptschlosses, war ein einförmiger Rundbau, zum Teil gnädig von Efeu verdeckt, mit kleinen Fenstern, die jetzt in der Sonne aufstrahlten – etwas Irrsinniges hatte das -, und einem söllerartigen Abschluß, dessen Mauerzinnen unsicher, unregelmäßig, brüchig, wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet, sich in den blauen Himmel zackten. Es war, wie wenn ein trübseliger Hausbewohner, der gerechterweise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen, das Dach durchbrochen und sich erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen.
Wieder stand K. still, als hätte er im Stillestehen mehr Kraft des Urteils. Aber er wurde gestört. Hinter der Dorfkirche, bei der er stehengeblieben war – es war eigentlich nur eine Kapelle, scheunenartig erweitert, um die Gemeinde aufnehmen zu können -, war die Schule. Ein niedriges, langes Gebäude, merkwürdig den Charakter des Provisorischen und des sehr Alten vereinigend, lag es hinter einem umgitterten Garten, der jetzt ein Schneefeld war. Eben kamen die Kinder mit dem Lehrer heraus. In einem dichten Haufen umgaben sie den Lehrer, aller Augen blickten auf ihn, unaufhörlich schwatzten sie von allen Seiten, K. verstand ihr schnelles Sprechen gar nicht. Der Lehrer, ein junger, kleiner, schmalschulteriger Mensch, aber ohne daß es lächerlich wurde, sehr aufrecht, hatte K. schon von der Ferne ins Auge gefaßt, allerdings war außer seiner Gruppe K. der einzige Mensch weit und breit. K., als Fremder, grüßte zuerst, gar einen so befehlshaberischen kleinen Mann. »Guten Tag, Herr Lehrer«, sagte er. Mit einem Schlag verstummten die Kinder, diese plötzliche Stille als Vorbereitung für seine Worte mochte wohl dem Lehrer gefallen. »Ihr sehet das Schloss an?« fragte er sanftmütiger, als K. erwartet hatte, aber in einem Tone, als billige er nicht das, was K. tue. »Ja«, sagte K., »ich bin hier fremd, erst seit gestern abend im Ort.« – »Das Schloss gefällt Euch nicht?« fragte der Lehrer schnell. »Wie?« fragte K. zurück, ein wenig verblüfft, und wiederholte in milderer Form die Frage: »Ob mir das Schloss gefällt? Warum nehmt Ihr an, daß es mir nicht gefällt?« – »Keinem Fremden gefällt es«, sagte der Lehrer. Um hier nichts Unwillkommenes zu sagen, wendete K. das Gespräch und fragte: »Sie kennen wohl den Grafen?« – »Nein«, sagte der Lehrer und wollte sich abwenden. K. gab aber nicht nach und fragte nochmals: »Wie? Sie kennen den Grafen nicht?« – »Wie sollte ich ihn kennen?« sagte der Lehrer leise und fügte laut auf französisch hinzu: »Nehmen Sie Rücksicht auf die Anwesenheit unschuldiger Kinder.« K. holte daraus das Recht zu fragen: »Könnte ich Sie, Herr Lehrer, einmal besuchen? Ich bleibe längere Zeit hier und fühle mich schon jetzt ein wenig verlassen; zu den Bauern gehöre ich nicht und ins Schloss wohl auch nicht.« – »Zwischen den Bauern und dem Schloss ist kein großer Unterschied«, sagte der Lehrer. »Mag sein«, sagte K., »das ändert an meiner Lage nichts. Könnte ich Sie einmal besuchen?« – »Ich wohne in der Schwanengasse beim Fleischhauer.« Das war nun zwar mehr eine Adressenangabe als eine Einladung, dennoch sagte K.: »Gut, ich werde kommen.« Der Lehrer nickte und zog mit den gleich wieder losschreienden Kinderhaufen weiter. Sie verschwanden bald in einem jäh abfallenden Gäßchen.
K. aber war zerstreut, durch das Gespräch verärgert. Zum erstenmal seit seinem Kommen fühlte er wirkliche Müdigkeit. Der weite Weg hierher schien ihn ursprünglich gar nicht angegriffen zu haben, wie war er durch die Tage gewandert, ruhig, Schritt für Schritt! – Jetzt aber zeigten sich doch die Folgen der übergroßen Anstrengung, zur Unzeit freilich. Es zog ihn unwiderstehlich hin, neue Bekanntschaften zu suchen, aber jede neue Bekanntschaft verstärkte die Müdigkeit. Wenn er sich in seinem heutigen Zustand zwang, seinen Spaziergang wenigstens bis zum Eingang des Schlosses auszudehnen, war übergenug getan.
So ging er wieder vorwärts, aber es war ein langer Weg. Die Straße nämlich, die Hauptstraße des Dorfes, führte nicht zum Schlossberg, sie führte nur nahe heran, dann aber, wie absichtlich, bog sie ab, und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher. Immer erwartete K., daß nun endlich die Straße zum Schloss einlenken müsse und nur, weil er es erwartete, ging er weiter; offenbar infolge seiner Müdigkeit zögerte er, die Straße zu verlassen, auch staunte er über die Länge des Dorfes, das kein Ende nahm, immer wieder die kleinen Häuschen und vereisten Fensterscheiben und Schnee und Menschenleere – endlich riß er sich los von dieser festhaltenden Straße, ein schmales Gäßchen nahm ihn auf, noch tieferer Schnee, das Herausziehen der einsinkenden Füße war eine schwere Arbeit, Schweiß brach ihm aus, plötzlich stand er still und konnte nicht mehr weiter.
Nun, er war ja nicht verlassen, rechts und links standen Bauernhütten. Er machte einen Schneeball und warf ihn gegen ein Fenster. Gleich öffnete sich die Türe – die erste sich öffnende Türe während des ganzen Dorfweges – und ein alter Bauer, in brauner Pelzjoppe, den Kopf seitwärts geneigt, freundlich und schwach, stand dort. »Darf ich ein wenig zu Euch kommen?« sagte K., »ich bin sehr müde.« Er hörte gar nicht, was der Alte sagte, dankbar nahm er es an, daß ihm ein Brett entgegengeschoben wurde, das ihn gleich aus dem Schnee rettete, und mit ein paar Schritten stand er in der Stube.
Eine große Stube im Dämmerlicht. Der von draußen Kommende sah zuerst gar nichts. K. taumelte gegen einen Waschtrog, eine Frauenhand hielt ihn zurück. Aus einer Ecke kam viel Kindergeschrei. Aus einer anderen Ecke wälzte sich Rauch und machte aus dem Halblicht Finsternis. K. stand wie in Wolken. »Er ist ja betrunken«, sagte jemand. »Wer seid Ihr?« rief eine herrische Stimme und wohl zu dem Alten gewendet: »Warum hast du ihn hereingelassen? Kann man alles hereinlassen, was auf den Gassen herumschleicht?« – »Ich bin der gräfliche Landvermessen«, sagte K. und suchte sich so vor den noch immer Unsichtbaren zu verantworten. »Ach, es ist der Landvermesser«, sagte eine weibliche Stimme, und nun folgte eine vollkommene Stille. »Ihr kennt mich?« fragte K. »Gewiß«, sagte noch kurz die gleiche Stimme. Daß man K. kannte, schien ihn nicht zu empfehlen.
Endlich verflüchtigte sich ein wenig der Rauch, und K. konnte sich langsam zurechtfinden. Es schien ein allgemeiner Waschtag zu sein. In der Nähe der Türe wurde Wäsche gewaschen. Der Rauch war aber aus der anderen Ecke gekommen, wo in einem Holzschaff, so groß, wie K. noch nie eines gesehen hatte – es hatte etwa den Umfang von zwei Betten -, in dampfendem Wasser zwei Männer badeten. Aber noch überraschender, ohne daß man genau wußte, worin das Überraschende bestand, war die rechte Ecke. Aus einer großen Lücke, der einzigen in der Stubenrückwand, kam dort, wohl vom Hof her, bleiches Schneelicht und gab dem Kleid einer Frau, die tief in der Ecke in einem hohen Lehnstuhl müde fast lag, einen Schein wie von Seide. Sie trug einen Säugling an der Brust. Um sie herum spielten ein paar Kinder, Bauernkinder, wie zu sehen war, sie aber schien nicht zu ihnen zu gehören, freilich, Krankheit und Müdigkeit macht auch Bauern fein.
»Setzt Euch!« sagte der eine der Männer, ein Vollbärtiger, überdies mit einem Schnauzbart, unter dem er den Mund schnaufend immer offenhielt, zeigte, komisch anzusehen, mit der Hand über den Rand des Kübels auf eine Truhe hin und bespritzte dabei K. mit warmem Wasser das ganze Gesicht. Auf der Truhe saß schon, vor sich hin dämmernd, der Alte, der K. eingelassen hatte. K. war dankbar, sich endlich setzen zu dürfen. Nun kümmerte sich niemand mehr um ihn. Die Frau beim Waschtrog, blond, in jugendlicher Fülle, sang leise bei der Arbeit, die Männer im Bad stampften und drehten sich, die Kinder wollten sich ihnen nähern, wurden aber durch mächtige Wasserspritzer, die auch K. nicht verschonten, immer wieder zurückgetrieben, die Frau im Lehnstuhl lag wie leblos, nicht einmal auf das Kind an ihrer Brust blickte sie hinab, sondern unbestimmt in die Höhe.
K. hatte sie wohl lange angesehen, dieses sich nicht verändernde schöne, traurige Bild, dann aber mußte er eingeschlafen sein, denn als er, von einer lauten Stimme gerufen, aufschreckte, lag sein Kopf an der Schulter des Alten neben ihm. Die Männer hatten ihr Bad beendet, in dem sich jetzt die Kinder, von der blonden Frau beaufsichtigt, herumtrieben, und standen angezogen vor K. Es zeigte sich, daß der schreierische Vollbärtige der Geringere von den zweien war. Der andere nämlich, nicht größer als der Vollbärtige und mit viel geringerem Bart, war ein stiller, langsam denkender Mann von breiter Gestalt, auch das Gesicht breit, den Kopf hielt er gesenkt. »Herr Landvermesser«, sagte er, »hier könnt Ihr nicht bleiben. Verzeiht die Unhöflichkeit.« – »Ich wollte auch nicht bleiben«, sagte K., »nur ein wenig mich ausruhen. Das ist geschehen, und nun gehe ich.« – »Ihr wundert Euch wahrscheinlich über die geringe Gastfreundlichkeit«, sagte der Mann, »aber Gastfreundlichkeit ist bei uns nicht Sitte, wir brauchen keine Gäste.« Ein wenig erfrischt vom Schlaf, ein wenig hellhöriger als früher, freute sich K. über die offenen Worte. Er bewegte sich freier, stützte seinen Stock einmal hier, einmal dort auf, näherte sich der Frau im Lehnstuhl, war übrigens auch der körperlich Größte im Zimmer.
»Gewiß«, sagte K., »wozu brauchtet ihr Gäste. Aber hier und da braucht man doch einen, zum Beispiel mich, den Landvermesser.« – »Das weiß ich nicht«, sagte der Mann langsam, »hat man Euch gerufen, so braucht man Euch wahrscheinlich, das ist wohl eine Ausnahme, wir aber, wir kleinen Leute, halten uns an die Regel, das könnt Ihr uns nicht verdenken.« – »Nein, nein«, sagte K., »ich habe Euch nur zu danken, Euch und allen hier.« Und unerwartet für jedermann kehrte sich K. förmlich in einem Sprunge um und stand vor der Frau. Aus müden, blauen Augen blickte sie K. an, ein seidenes, durchsichtiges Kopftuch reichte ihr bis in die Mitte der Stirn hinab, der Säugling schlief an ihrer Brust. »Wer bist du?« fragte K. Wegwerfend – es war undeutlich, ob die Verächtlichkeit K. oder ihrer eigenen Antwort galt – sagte sie: »Ein Mädchen aus dem Schloss.«
Das alles hatte nur einen Augenblick gedauert, schon hatte K. rechts und links einen der Männer und wurde, als gäbe es kein anderes Verständigungsmittel, schweigend, aber mit aller Kraft zur Tür gezogen. Der Alte freute sich über irgend etwas dabei und klatschte in die Hände. Auch die Wäscherin lachte bei den plötzlich wie toll lärmenden Kindern.
K. aber stand bald auf der Gasse, die Männer beaufsichtigten ihn von der Schwelle aus. Es fiel wieder Schnee; trotzdem schien es ein wenig heller zu sein. Der Vollbärtige rief ungeduldig: »Wohin wollt Ihr gehen? Hier führt es zum Schloss, hier zum Dorf.« Ihm antwortete K. nicht, aber zu dem anderen, der ihm trotz seiner Überlegenheit der Umgänglichere schien, sagte er: »Wer seid Ihr? Wem habe ich für den Aufenthalt zu danken?« – »Ich bin der Gerbermeister Lasemann«, war die Antwort, »zu danken habt Ihr aber niemandem.« – »Gut«, sagte K., »vielleicht werden wir noch zusammenkommen.« – »Ich glaube nicht«, sagte der Mann. In diesem Augenblick rief der Vollbärtige mit erhobener Hand: »Guten Tag, Artur, guten Tag, Jeremias!« K. wandte sich um, es zeigten sich in diesem Dorf also doch noch Menschen auf der Gasse! Aus der Richtung vom Schlosse her kamen zwei junge Männer von mittlerer Größe, beide sehr schlank, in engen Kleidern, auch im Gesicht einander sehr ähnlich. Die Gesichtsfarbe war ein dunkles Braun, von dem ein Spitzbart in seiner besonderen Schwärze dennoch abstach. Sie gingen bei diesen Straßenverhältnissen erstaunlich schnell, warfen im Takt die schlanken Beine. »Was habt ihr?« rief der Vollbärtige. Man konnte sich nur rufend mit ihnen verständigen, so schnell gingen sie und hielten nicht ein. »Geschäfte!« riefen sie lachend zurück. »Wo?« – »Im Wirtshaus.« – »Dorthin gehe auch ich!« schrie K. auf einmal mehr als alle anderen, er hatte großes Verlangen, von den zweien mitgenommen zu werden; ihre Bekanntschaft schien ihm zwar nicht sehr ergiebig, aber gute, aufmunternde Wegbegleiter waren sie offenbar. Sie hörten K.s Worte, nickten jedoch nur und waren schon vorüber.
K. stand noch immer im Schnee, hatte wenig Lust, den Fuß aus dem Schnee zu heben, um ihn ein Stückchen weiter in die Tiefe zu senken; der Gerbermeister und sein Genosse, zufrieden damit, K. endgültig hinausgeschafft zu haben, schoben sich langsam, immer nach K. zurückblickend, durch die nur wenig geöffnete Tür ins Haus, und K. war mit dem ihn einhüllenden Schnee allein. »Gelegenheit zu einer kleinen Verzweiflung«, fiel ihm ein, »wenn ich nur zufällig, nicht absichtlich hier stünde.«
Da öffnete sich in der Hütte linker Hand ein winziges Fenster; geschlossen hatte es tiefblau ausgesehen, vielleicht im Widerschein des Schnees, und war so winzig, daß, als es jetzt geöffnet war, nicht das ganze Gesicht des Hinausschauenden zu sehen war, sondern nur die Augen, alte, braune Augen. »Dort steht er«, hörte K. eine zittrige Frauenstimme sagen. »Es ist der Landvermesser«, sagte eine Männerstimme. Dann trat der Mann zum Fenster und fragte nicht unfreundlich, aber doch so, als sei ihm daran gelegen, daß auf der Straße vor seinem Haus alles in Ordnung sei: »Auf wen wartet Ihr?« – »Auf einen Schlitten, der mich mitnimmt«, sagte K. »Hier kommt kein Schlitten«, sagte der Mann, »hier ist kein Verkehr.« »Es ist doch die Straße, die zum Schloss führt«, wendete K. ein. »Trotzdem, trotzdem«, sagte der Mann mit einer gewissen Unerbittlichkeit, »hier ist kein Verkehr.« Dann schwiegen beide. Aber der Mann überlegte offenbar etwas, denn das Fenster, aus dem Rauch strömte, hielt er noch immer offen. »Ein schlechter Weg«, sagte K., um ihm nachzuhelfen.
Er aber sagte nur: »Ja freilich.«
Nach einem Weilchen sagte er aber doch: »Wenn Ihr wollt, fahre ich Euch mit meinem Schlitten.« – »Tut das, bitte«, sagte K. erfreut, »wieviel verlangt Ihr dafür?« – »Nichts«, sagte der Mann. K. wunderte sich sehr. »Ihr seid doch der Landvermesser«, sagte der Mann erklärend, »und gehört zum Schloss. Wohin wollt Ihr denn fahren?« – »Ins Schloss«, sagte K. schnell. »Dann fahre ich nicht«, sagte der Mann sofort. »Ich gehöre doch zum Schloss«, sagte K., des Mannes eigene Worte wiederholend. »Mag sein«, sagte der Mann abweisend. »Dann fahrt mich also zum Wirtshaus«, sagte K. »Gut«, sagte der Mann, »ich komme gleich mit dem Schlitten.« Das Ganze machte nicht den Eindruck besonderer Freundlichkeit, sondern eher den einer Art sehr eigensüchtigen, ängstlichen, fast pedantischen Bestrebens, K. von dem Platz vor dem Hause wegzuschaffen. Das Hoftor öffnete sich, und ein kleiner Schlitten für leichte Lasten, ganz flach, ohne irgendwelchen Sitz, von einem schwachen Pferdchen gezogen, kam hervor, dahinter der Mann, gebückt, schwach, hinkend, mit magerem, rotem, verschnupftem Gesicht, das besonders klein erschien durch einen fest um den Kopf gewickelten Wollschal. Der Mann war sichtlich krank und nur, um K. wegbefördern zu können, war er doch hervorgekommen. K. erwähnte etwas Derartiges, aber der Mann winkte ab. Nur daß er der Fuhrmann Gerstäcker war, erfuhr K., und daß er diesen unbequemen Schlitten genommen habe, weil er gerade bereitstand und das Hervorziehen eines anderen zuviel Zeit gebraucht hätte. »Setzt Euch«, sagte er und zeigte mit der Peitsche hinten auf den Schlitten. »Ich werde mich neben Euch setzen«, sagte K. »Ich werde gehen«, sagte Gerstäcker. »Warum denn?« fragte K. »Ich werde gehen«, wiederholte Gerstäcker und bekam einen Hustenanfall, der ihn so schüttelte, daß er die Beine in den Schnee stemmen und mit den Händen den Schlittenrand halten mußte. K. sagte nichts weiter, setzte sich hinten auf den Schlitten, der Husten beruhigte sich langsam und sie fuhren.
Das Schloss dort oben, merkwürdig dunkel schon, das K. heute noch zu erreichen gehofft hatte, entfernte sich wieder. Als sollte ihm aber doch noch zum vorläufigen Abschied ein Zeichen gegeben werden, erklang dort ein Glockenton, fröhlich beschwingt eine Glocke, die wenigstens einen Augenblick lang das Herz erbeben ließ, so, als drohe ihm – denn auch schmerzlich war der Klang – die Erfüllung dessen, wonach es sich unsicher sehnte. Aber bald verstummte diese große Glocke und wurde von einem schwachen, eintönigen Glöckchen abgelöst, vielleicht noch oben, vielleicht aber schon im Dorfe. Dieses Geklingel paßte freilich besser zu der langsamen Fahrt und dem jämmerlichen, aber unerbittlichen Fuhrmann.
»Du«, rief K. plötzlich – sie waren schon in der Nähe der Kirche, der Weg ins Wirtshaus nicht mehr weit, K. durfte schon etwas wagen -, »ich wundere mich sehr, daß du auf deine eigene Verantwortung mich herumzufahren wagst, darfst du denn das?« Gerstäcker kümmerte sich nicht darum und schritt ruhig weiter neben dem Pferdchen. »He!« rief K., ballte etwas Schnee vom Schlitten zusammen und traf Gerstäcker damit voll ins Ohr. Nun blieb dieser stehen und drehte sich um; als ihn K. aber nun so nahe bei sich sah – der Schlitten hatte sich noch ein wenig weitergeschoben -, diese gebückte, gewissermaßen mißhandelte Gestalt, das rote müde, schmale Gesicht mit irgendwie verschiedenen Wangen, die eine flach, die andere eingefallen, den offenen, aufhorchenden Mund, in dem nur ein paar vereinzelte Zähne waren, mußte er das, was er früher aus Bosheit gesagt hatte, jetzt aus Mitleid wiederholen, ob Gerstäcker nicht dafür, daß er K. transportierte, gestraft werden könne. »Was willst du?« fragte Gerstäcker verständnislos, erwartete aber auch keine weitere Erklärung, rief dem Pferdchen zu, und sie fuhren wieder.
Als sie – K. erkannte es an einer Wegbiegung – fast beim Wirtshaus waren, war es zu seinem Erstaunen schon völlig finster. War er so lange fort gewesen? Doch nur ein, zwei Stunden etwa nach seiner Berechnung, und am Morgen war er fortgegangen, und kein Essenbedürfnis hatte er gehabt, und bis vor kurzem war gleichmäßige Tageshelle gewesen, erst jetzt die Finsternis. »Kurze Tage, kurze Tage!« sagte er zu sich, glitt vom Schlitten und ging dem Wirtshaus zu.
Oben auf der kleinen Vortreppe des Hauses stand, ihm sehr willkommen, der Wirt und leuchtete mit erhobener Laterne ihm entgegen. Flüchtig an den Fuhrmann sich erinnernd, blieb K. stehen, irgendwo hustete es im Dunkeln, das war er. Nun, er würde ihn ja nächstens wiedersehen. Erst als er oben beim Wirt war, der demütig grüßte, bemerkte er zu beiden Seiten der Tür je einen Mann. Er nahm die Laterne aus der Hand des Wirts und beleuchtete die zwei; es waren die Männer, die er schon getroffen hatte und die Artur und Jeremias angerufen worden waren. Sie salutierten jetzt. In Erinnerung an seine Militärzeit, an diese glücklichen Zeiten, lachte er. »Wer seid ihr?« fragte er und sah vom einen zum anderen. »Euere Gehilfen«, antworteten sie. »Es sind die Gehilfen«, bestätigte leise der Wirt. »Wie?« fragte K. »Ihr seid meine alten Gehilfen, die ich nachkommen ließ, die ich erwarte?« Sie bejahten es. »Das ist gut«, sagte K. nach einem Weilchen, »es ist gut, daß ihr gekommen seid.« – »Übrigens«, sagte K. nach einem weiteren Weilchen, »ihr habt euch sehr verspätet, ihr seid sehr nachlässig.« »Es war ein weiter Weg«, sagte der eine. »Ein weiter Weg«, wiederholte K., »aber ich habe euch getroffen, wie ihr vom Schlosse kamt.« – »Ja« sagten sie, ohne weitere Erklärung. »Wo habt ihr die Apparate?« fragte K. »Wir haben keine«, sagten sie. »Die Apparate, die ich euch anvertraut habe«, sagte K. »Wir haben keine«, wiederholten sie. »Ach, seid ihr Leute!« sagte K., »versteht ihr etwas von Landvermessung?« – »Nein«, sagten sie. »Wenn ihr aber meine alten Gehilfen seid, müßt ihr doch das verstehen«, sagte K. und schob sie vor sich ins Haus.
Sie saßen dann zu dritt ziemlich schweigsam in der Wirtsstube beim Bier, an einem kleinen Tischchen, K. in der Mitte, rechts und links die Gehilfen. Sonst war nur ein Tisch mit Bauern besetzt, ähnlich wie am Abend vorher. »Es ist schwer mit euch«, sagte K. und verglich wie schon öfters ihre Gesichter, »wie soll ich euch denn unterscheiden? Ihr unterscheidet euch nur durch die Namen, sonst seid ihr einander ähnlich wie« – er stockte, unwillkürlich fuhr er dann fort -, »sonst seid ihr einander ja ähnlich wie Schlangen.« Sie lächelten. »Man unterscheidet uns sonst gut«, sagten sie zur Rechtfertigung. »Ich glaube es«, sagte K., »ich war ja selbst Zeuge dessen, aber ich sehe nur mit meinen Augen, und mit denen kann ich euch nicht unterscheiden. Ich werde euch deshalb wie einen einzigen Mann behandeln und beide Artur nennen, so heißt doch einer von euch. Du etwa?« – fragte K. den einen. »Nein«, sagte dieser, »ich heiße Jeremias.« – »Es ist ja gleichgültig«, sagte K., »ich werde euch beide Artur nennen. Schicke ich Artur irgendwohin, so geht ihr beide, gebe ich Artur eine Arbeit, so macht ihr sie beide, das hat zwar für mich einen großen Nachteil, daß ich euch nicht für eine gesonderte Arbeit verwenden kann, aber dafür den Vorteil, daß ihr für alles, was ich euch auftrage, gemeinsam ungeteilt die Verantwortung tragt. Wie ihr untereinander die Arbeit aufteilt, ist mir gleichgültig, nur ausreden dürft ihr euch nicht aufeinander, ihr seid für mich ein einziger Mann.« Sie überlegten das und sagten: »Das wäre uns recht unangenehm.« – »Wie denn nicht«, sagte K., »natürlich muß euch das unangenehm sein, aber es bleibt so.« Schon ein Weilchen lang hatte K. einen der Bauern den Tisch umschleichen sehen, endlich entSchloss er sich, ging auf einen Gehilfen zu und wollte ihm etwas zuflüstern. »Verzeiht«, sagte K., schlug mit der Hand auf den Tisch und stand auf, »dies sind meine Gehilfen, und wir haben jetzt eine Besprechung. Niemand hat das Recht, uns zu stören.« – »O bitte, o bitte«, sagte der Bauer ängstlich und ging rücklings zu seiner Gesellschaft zurück. »Dieses müßt ihr vor allem beachten«, sagte K. dann wieder sitzend. »Ihr dürft mit niemandem ohne meine Erlaubnis sprechen. Ich bin hier ein Fremder, und wenn ihr meine alten Gehilfen seid, dann seid auch ihr Fremde. Wir drei Fremden müssen deshalb zusammenhalten, reicht mir daraufhin eure Hände.« Allzu bereitwillig streckten sie sie K. entgegen. »Laßt euch die Pratzen«, sagte er, »mein Befehl aber gilt. Ich werde jetzt schlafen gehen und auch euch rate ich, das zu tun. Heute haben wir einen Arbeitstag versäumt, morgen muß die Arbeit sehr frühzeitig beginnen. Ihr müßt einen Schlitten zur Fahrt ins Schloss verschaffen und um sechs Uhr hier vor dem Haus mit ihm bereitstehen.« – »Gut«, sagte der eine. Der andere aber fuhr dazwischen: »Du sagst: Gut, und weißt doch, daß es unmöglich ist.« – »Ruhe«, sagte K., »ihr wollt wohl anfangen, euch voneinander zu unterscheiden.« Doch nun sagte auch schon der erste: »Er hat recht, es ist unmöglich, ohne Erlaubnis darf kein Fremder ins Schloss.« – »Wo muß man um die Erlaubnis ansuchen?« – »Ich weiß nicht, vielleicht beim Kastellan.« »Dann werden wir dort telefonisch ansuchen, telefoniert sofort an den Kastellan, beide!« Sie liefen zum Apparat, erlangten die Verbindung – wie sie sich dort drängten! Im Äußerlichen waren sie lächerlich folgsam – und fragten, ob K. mit ihnen morgen ins Schloss kommen dürfe. Das »Nein!« der Antwort hörte K. bis zu seinem Tisch. Die Antwort war aber noch ausführlicher, sie lautete: »Weder morgen noch ein andermal.« – »Ich werde selbst telefonieren«, sagte K. und stand auf. Während K. und seine Gehilfen bisher, abgesehen von dem Zwischenfall des einen Bauern, wenig beachtet worden waren, erregte seine letzte Bemerkung allgemeine Aufmerksamkeit. Alle erhoben sich mit K., und obwohl sie der Wirt zurückzudrängen suchte, gruppierten sie sich beim Apparat in engem Halbkreis um ihn. Es überwog bei ihnen die Meinung, daß K. gar keine Antwort bekommen werde. K. mußte sie bitten, ruhig zu sein, er verlange nicht, ihre Meinungen zu hören.
Aus der Hörmuschel kam ein Summen, wie K. es sonst beim Telefonieren nie gehört hatte. Es war, wie wenn sich aus dem Summen zahlloser kindlicher Stimmen – aber auch dieses Summen war keines, sondern war Gesang fernster, allerfernster Stimmen -, wie wenn sich aus diesem Summen in einer geradezu unmöglichen Weise eine einzige hohe, aber starke Stimme bilde, die an das Ohr schlug, so, wie wenn sie fordere, tiefer einzudringen als nur in das armselige Gehör. K. horchte, ohne zu telefonieren, den linken Arm hatte er auf das Telefonpult gestützt und horchte so.
Er wußte nicht wie lange; so lange, bis ihn der Wirt am Rock zupfte, ein Bote sei für ihn gekommen. »Weg!« schrie K. unbeherrscht vielleicht in das Telefon hinein, denn nun meldete sich jemand. Es entwickelte sich folgendes Gespräch: »Hier Oswald, wer dort?« rief es, eine strenge, hochmütige Stimme, mit einem kleinen Sprachfehler, wie es K. schien, den sie über sich selbst hinaus durch eine weitere Zugabe von Strenge auszugleichen versuchte. K. zögerte, sich zu nennen, dem Telefon gegenüber war er wehrlos, der andere konnte ihn niederdonnern, die Hörmuschel weglegen, und K. hatte sich einen vielleicht nicht unwichtigen Weg versperrt. K.s Zögern machte den Mann ungeduldig. »Wer dort?« wiederholte er und fügte hinzu: »Es wäre mir sehr lieb, wenn dortseits nicht soviel telefoniert würde, erst vor einem Augenblick ist telefoniert worden.« K. ging auf diese Bemerkung nicht ein und meldete mit einem plötzlichen Entschluß: »Hier der Gehilfe des Herrn Landvermessers.« »Welcher Gehilfe? Welcher Herr? Welcher Landvermesser?« K. fiel das gestrige Telefongespräch ein. »Fragen Sie Fritz«, sagte er kurz. Es half, zu seinem eigenen Erstaunen. Aber mehr noch als darüber, daß es half, staunte er über die Einheitlichkeit des Dienstes dort. Die Antwort war: »Ich weiß schon. Der ewige Landvermesser. Ja, ja. Was weiter? Welcher Gehilfe?« »Josef«, sagte K. Ein wenig störte ihn hinter seinem Rücken das Murmeln der Bauern; offenbar waren sie nicht damit einverstanden, daß er sich nicht richtig meldete. K. hatte aber keine Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen, denn das Gespräch nahm ihn sehr in Anspruch. »Josef?« fragte es zurück. »Die Gehilfen heißen« – eine kleine Pause, offenbar verlangte er die Namen jemandem anderen ab – »Artur und Jeremias.« »Das sind die neuen Gehilfen«, sagte K. »Nein, das sind die alten.« – »Es sind die neuen, ich aber bin der alte, der dem Herrn Landvermesser heute nachkam.« – »Nein!« schrie es nun. »Wer bin ich also?« fragte K., ruhig wie bisher. Und nach einer Pause sagte die gleiche Stimme mit dem gleichen Sprachfehler und war doch wie eine andere tiefere, achtungswertere Stimme: »Du bist der alte Gehilfe.«
K. horchte dem Stimmklang nach und überhörte dabei fast die Frage: »Was willst du?« Am liebsten hätte er den Hörer schon weggelegt. Von diesem Gespräch erwartete er nichts mehr. Nur gezwungen fragte er noch schnell.- »Wann darf mein Herr ins Schloss kommen?« – »Niemals«, war die Antwort. »Gut«, sagte K. und hing den Hörer an.
Die Bauern hinter ihm waren schon ganz nahe an ihn herangerückt. Die Gehilfen waren, mit vielen Seitenblicken nach ihm, damit beschäftigt, die Bauern von ihm abzuhalten. Es schien aber nur Komödie zu sein, auch gaben die Bauern, von dem Ergebnis des Gesprächs befriedigt, langsam nach. Da wurde ihre Gruppe von hinten mit raschem Schritt von einem Mann geteilt, der sich vor K. verneigte und ihm einen Brief übergab. K. behielt den Brief in der Hand und sah den Mann an, der ihm im Augenblick wichtiger schien. Es bestand eine große Ähnlichkeit zwischen ihm und den Gehilfen, er war so schlank wie sie, ebenso knapp gekleidet, auch so gelenkig und flink wie sie, aber doch ganz anders. Hätte K. doch lieber ihn als Gehilfen gehabt! Ein wenig erinnerte er ihn an die Frau mit dem Säugling, die er beim Gerbermeister gesehen hatte. Er war fast weiß gekleidet, das Kleid war wohl nicht aus Seide, es war ein Winterkleid wie alle anderen, aber die Zartheit und Feierlichkeit eines Seidenkleides hatte es. Sein Gesicht war hell und offen, die Augen übergroß. Sein Lächeln war ungemein aufmunternd; er fuhr mit der Hand über sein Gesicht, so, als wolle er dieses Lächeln verscheuchen, doch gelang ihm das nicht. »Wer bist du?« fragte K. »Barnabas heiße ich«, sagte er. »Ein Bote bin ich.« Männlich und doch sanft öffneten und schlossen sich seine Lippen beim Reden. »Gefällt es dir hier?« fragte K. und zeigte auf die Bauern, für die er noch immer nicht an Interesse verloren hatte und die er mit ihren förmlich gequälten Gesichtern – der Schädel sah aus, als sei er oben platt geschlagen worden, und die Gesichtszüge hatten sich im Schmerz des Geschlagenwerdens gebildet -, ihren wulstigen Lippen, ihren offenen Mündern zusahen, aber doch auch wieder nicht zusahen, denn manchmal irrte ihr Blick ab und blieb, ehe er zurückkehrte, an irgendeinem gleichgültigen Gegenstande haften, und dann zeigte K. auch auf die Gehilfen, die einander umfaßt hielten, Wange an Wange lehnten und lächelten, man wußte nicht, ob demütig oder spöttisch, er zeigte ihm diese alle, so, als stellte er ein ihm durch besondere Umstände aufgezwungenes Gefolge vor und erwartete – darin lag Vertraulichkeit, auf die kam es K. an -, daß Barnabas ständig unterscheiden werde zwischen ihm und ihnen. Aber Barnabas nahm – in aller Unschuld freilich, das war zu erkennen – die Frage gar nicht auf, ließ sie über sich ergehen, wie ein wohlerzogener Diener ein für ihn nur scheinbar bestimmtes Wort des Herrn, blickte nur im Sinne der Frage umher, begrüßte durch Handwinken Bekannte unter den Bauern und tauschte mit den Gehilfen ein paar Worte aus, das alles frei und selbständig, ohne sich mit ihnen zu vermischen. K. kehrte – abgewiesen, aber nicht beschämt – zu dem Brief in seiner Hand zurück und öffnete ihn. Sein Wortlaut war: »Sehr geehrter Herr! Sie sind, wie Sie wissen, in die herrschaftlichen Dienste aufgenommen. Ihr nächster Vorgesetzter ist der Gemeindevorsteher des Dorfes, der Ihnen auch alles Nähere über Ihre Arbeit und die Lohnbedingungen mitteilen wird und dem Sie auch Rechenschaft schuldig sein werden. Trotzdem werde aber auch ich Sie nicht aus den Augen verlieren. Barnabas, der Überbringer dieses Briefes, wird von Zeit zu Zeit bei Ihnen nachfragen, um Ihre Wünsche zu erfahren und mir mitzuteilen. Sie werden mich immer bereit finden, Ihnen, soweit es möglich ist, gefällig zu sein. Es liegt mir daran, zufriedene Arbeiter zu haben.« Die Unterschrift war nicht leserlich, beigedruckt aber war ihr: Der Vorstand der X. Kanzlei. »Warte!« sagte K. zu dem sich verbeugenden Barnabas, dann rief er den Wirt, daß er ihm ein Zimmer zeige, er wollte mit dem Brief eine Zeitlang allein sein. Dabei erinnerte er sich daran, daß Barnabas bei aller Zuneigung, die er für ihn hatte, doch nichts anderes als ein Bote war, und ließ ihm Bier geben. Er gab acht, wie er es annehmen würde, er nahm es offenbar sehr gern an und trank sogleich. Dann ging K. mit dem Wirt. In dem Häuschen hatte man für K. nichts als ein kleines Dachzimmer bereitstellen können, und selbst das hatte Schwierigkeiten gemacht, denn man hatte zwei Mägde, die bisher dort geschlafen hatten, anderswo unterbringen müssen. Eigentlich hatte man nichts anderes getan, als die Mägde weggeschafft, das Zimmer war sonst wohl unverändert, keine Bettwäsche zu dem einzigen Bett, nur ein paar Polster und eine Pferdedecke in dem Zustand, wie alles nach der letzten Nacht zurückgeblieben war. An der Wand ein paar Heiligenbilder und Fotografien von Soldaten. Nicht einmal gelüftet war worden, offenbar hoffte man, der neue Gast werde nicht lange bleiben, und tat nichts dazu, ihn zu halten. K. war aber mit allem einverstanden, wickelte sich in die Decke, setzte sich an den Tisch und begann bei einer Kerze, den Brief nochmals zu lesen.
Er war nicht einheitlich, es gab Stellen, wo mit ihm wie mit einem Freien gesprochen wurde, dessen eigenen Willen man anerkennt, so war die Überschrift, so war die Stelle, die seine Wünsche betraf. Es gab aber wieder Stellen, wo er offen oder versteckt als ein kleiner, vom Sitz jenes Vorstandes kaum bemerkbarer Arbeiter behandelt wurde, der Vorstand mußte sich anstrengen, »ihn nicht aus den Augen zu verlieren«, sein Vorgesetzter war nur der Dorfvorsteher, dem er sogar Rechenschaft schuldig war, sein einziger Kollege war vielleicht der Dorfpolizist. Das waren zweifellos Widersprüche, sie waren so sichtbar, daß sie beabsichtigt sein mußten. Den einer solchen Behörde gegenüber wahnwitzigen Gedanken, daß hier Unentschlossenheit mitgewirkt habe, streifte K. kaum. Vielmehr sah er darin eine ihm offen dargebotene Wahl, es war ihm überlassen, was er aus den Anordnungen des Briefes machen wollte, ob er Dorfarbeiter mit einer immerhin auszeichnenden, aber nur scheinbaren Verbindung mit dem Schloss sein wolle oder aber scheinbarer Dorfarbeiter, der in Wirklichkeit sein ganzes Arbeitsverhältnis von den Nachrichten des Barnabas bestimmen ließ. K. zögerte nicht zu wählen, hätte auch ohne die Erfahrungen, die er schon gemacht hatte, nicht gezögert. Nur als Dorfarbeiter, möglichst weit den Herren vom Schloss entrückt, war er imstande, etwas im Schloss zu erreichen, diese Leute im Dorfe, die noch so mißtrauisch gegen ihn waren, würden zu sprechen anfangen, wenn er, wo nicht ihr Freund, so doch ihr Mitbürger geworden war, und war er einmal ununterscheidbar von Gerstäcker oder Lasemann – und sehr schnell mußte das geschehen, davon hing alles ab -, dann erschlossen sich ihm gewiß mit einem Schlag alle Wege, die ihm, wenn es nur auf die Herren oben und ihre Gnade angekommen wäre, für immer nicht nur versperrt, sondern unsichtbar geblieben wären. Freilich, eine Gefahr bestand, und sie war in dem Brief genug betont, mit einer gewissen Freude war sie dargestellt, als sei sie unentrinnbar. Es war das Arbeitersein. Dienst, Vorgesetzter, Arbeit, Lohnbestimmungen, Rechenschaft, Arbeiter, davon wimmelte der Brief, und selbst, wenn anderes, Persönlicheres gesagt war, war es von jenem Gesichtspunkt aus gesagt. Wollte K. Arbeiter werden, so konnte er es werden, aber dann in allem furchtbaren Ernst, ohne jeden Ausblick anderswohin. K. wußte, daß nicht mit wirklichem Zwang gedroht war, den fürchtete er nicht und hier am wenigsten, aber die Gewalt der entmutigenden Umgebung, der Gewöhnung an Enttäuschungen, die Gewalt der unmerklichen Einflüsse jedes Augenblicks, die fürchtete er allerdings, aber mit dieser Gefahr mußte er den Kampf wagen. Der Brief verschwieg ja auch nicht, daß K., wenn es zu Kämpfen kommen sollte, die Verwegenheit gehabt hatte, zu beginnen; es war mit Feinheit gesagt, und nur ein unruhiges Gewissen – ein unruhiges, kein schlechtes – konnte es merken, es waren die drei Worte »wie Sie wissen« hinsichtlich seiner Aufnahme in den Dienst. K. hatte sich gemeldet, und seither wußte er, wie sich der Brief ausdrückte, daß er aufgenommen war.
K. nahm ein Bild von der Wand und hing den Brief an den Nagel; in diesem Zimmer würde er wohnen, hier sollte der Brief hängen.