Franz Kafka: Der komische Kafka - Franz  kafka - E-Book

Franz Kafka: Der komische Kafka E-Book

Franz kafka

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Beschreibung

"Es ist ein neues Lächeln, das Kafkas Werk auszeichnet, ein Lächeln in der Nähe der letzten Dinge, ein metaphysisches Lächeln gleichsam, – ja manchmal, wenn er uns Freunden eine seiner Erzählungen vorlas, steigerte es sich, und wir lachten laut heraus." So beschreibt Max Brod die besondere, feine humoristische Qualität von Kafkas Schaffen. Der komische Kafka versammelt konsequent und ausführlich diese andere Seite des weltberühmten Autors und entdeckt dabei einen sympathischen und lebenslustigen Menschen, den zuzeiten ein sonderbarer Schalk ritt. Nicht nur Kafka-Fans werden dieses Buch mit Vergnügen lesen.

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Der komischeKafka

Eine Anthologie

Herausgegeben von Günter Stolzenberger

INHALT

Kafkas Lieblingswitz

von Günter Stolzenberger

WUNSCH, INDIANER ZU WERDEN

KAFKA IM WUNDERLAND

DAS ACHTE WELTWUNDER

LAUTER NIEMAND

DER GOTT DER ZUSAMMENGEBISSENEN ZÄHNE

DIE MAUS, DIE SICH NICHT TRAUT

IM HAUPTQUARTIER DES LÄRMS

KLEINE BOSHEITEN

ZU DIESER AUSGABE

ABKÜRZUNGEN

AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS

INHALT

Kafkas Lieblingswitz

von Günter Stolzenberger

WUNSCH, INDIANER ZU WERDEN

Wunsch, Indianer zu werden

Ich fragte einen Wanderer

Heraus aus dem Winkel!

Ein Reiter ritt

Die Ersteigung des Knie

Eine Stirn

Ein Leichenwagen

Zwanzig kleine Totengräber

Beinbruch

Das Handgelenk eines Anglers

Peter und der Wolf

Wo ist der Müller?

Das Pferd des Angreifers

Es war um Mitternacht

Kampf der Hände

Neues Verkehrsmittel

Durch das Parterrefenster

Die Aeroplane von Brescia

Der Vogel

Ausbrechen darf man

Gespräch mit dem Betrunkenen

Weit verbannt

Träumend

Mannigfaltigkeiten

KAFKA IM WUNDERLAND

Nie gesehene Dinge

Das Eichhörnchen

Verstand in die Hand

Was soll ich tun?

Die Sorge des Hausvaters

Spaziergang

Ich bin so klein, ich bin so groß

Ich war steif und kalt

Was denn? Was denn?

Der Engel

Der Regen

Als er ausbrach

Die drei Kartenspieler

Hotel Edthofer

Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich

In der Loge

Durch die Allee

Ich lebe nur hie und da

Der Bau

Babel

Immer wieder verirre ich mich

Seelenfreund eines Pferdes

Ein kapitales Stück

Eine vertrackte Geschichte

Nur ein Wort

DAS ACHTE WELTWUNDER

Eine heikle Aufgabe

Das Gerücht

Das achte Weltwunder

Wir ritten durch die Nacht

Der Turm von Babel

Warum wundert Ihr Euch?

Das nächste Dorf

Ein alltäglicher Vorfall

Der große Schwimmer

Ich fragte nur

Die Fragestellung

Die Antwort

Der Riese

Was für eine Stille?

Was sind das für Tage!

Lieblingssatz

Ich irre ab

Jenen Wilden

Asketen

Die Entwicklung

Der Gefangene

Kuriere oder Könige

Erstes Leid

Ein Rest von Glauben

Die immer Mißtrauischen

Besseres Gedächtnis

Das Hindernis

Der fliegende Pfeil

Vor dem Betreten des Allerheiligsten

Glaubst du?

Ach, sagte die Maus

In dem alten Städtchen

Flüchten

LAUTER NIEMAND

Der Ausflug ins Gebirge

Die Schachtel

Der Mensch, ein Sumpf

Ich heiße Kalmus

Geschichte des Beters

Kleider

Alter Schmutzian

Der Kübelreiter

Ein Bericht für eine Akademie

Furcht vor der Arbeit

Er hat sich eingesperrt

Wenn er mich immer frägt

Was stört dich?

Wir sind fünf Freunde

Wir haßten alle

Nebenan

Fünf Kindergewehre

Der Hammer

Ein Strohhalm?

Niemand wird lesen

Der neuer Geist

Bereitet der Schlange den Weg

DER GOTT DER ZUSAMMENGEBISSENEN ZÄHNE

Seltsame Gottheiten

Alles fühlt den Griff am Hals

Der Magistratsbeamte

Der neue Advokat

Käfig

Im Bureau

Gegenseitige Unzufriedenheit

Mir gefallen Sie auch nicht

Glatze meines Chefs

Die Beschwerde

Ein Gesuch

Alles muß er sich erzwingen

Viele Richter

Der Nachbar

Die große Portiersloge

Poseidon war überdrüssig

Poseidon bei der Arbeit

Das Geschäft der Priester

Zur Frage der Gesetze

Noch viel weiter

Der Unterstaatsanwalt

Man hat mich gewarnt

Es gibt drei Möglichkeiten

Meine Sehnsucht

DIE MAUS, DIE SICH NICHT TRAUT

Sie schläft

Sexuelle Wünsche

Zum Frühstück

Dicke duftende Dame

Die Rehberger

Trost und Glück

Agathe und Hedwig

Einladung

Ohnmacht

Die Abweisung

Eine kleine Frau

Das Unglück des Junggesellen

Sisyphus

Schlechte Gedanken

Zölibat und Selbstmord

Der Ehemann

Gebunden sein

Gespenster

Verehrtes Fräulein, entschuldigen Sie

Meine neueste Photographie

Mein Aussehn

Die Liebe und das Wildschwein

Ich kann auch Lachen

Meine neuen Ideen

Ich komme nicht

Ich komme ganz bestimmt nicht

Ich glaube, ich komme nicht

Ich komme sicher

Ich komme hochstwahrscheinlich

Ein schlauer Traum

Nechápu

Ein Rest Verstand

Ein Roman der Jugend

IM HAUPTQUARTIER DES LÄRMS

Das Erbstück

Eine Kreuzung

Vater sein

Die geistige Oberherrschaft

Unter meinen Mitschülern

Meine Erziehung

Neue Kleider

Berufswahl

Mein gewesenes Kinderfräulein

Vorwürfe

Wucherer

Der plötzliche Spaziergang

Wo bleibst du denn?

Unbrauchbar

Ich kann nicht

Ein Steinchen

Nichts geschrieben

Die Zweifel stehn um jedes Wort

Was folgt, ist Irrsinn

Strindberg lesen

Vier oder fünf Geschichten

Im Hauptquartier des Lärms

Gut bürgerlich gesinnter Schreibtisch

Mein Schreibtisch

Schlamperei

Diesen elenden Roman

Ein Bettelbrief

Ich bin zu müde

Leerer Tag

Kraftaufwand

Lieber gleich

Mein Körper ist zu lang

Über Dicke

Wunsch, Leichtathlet zu sein

Beim Doktor

Kopfsalat mit Sahne

Daß man dem Magen nicht glaubt

Dieses Verlangen

Leichte Übelkeiten

Neustadt an der Tafelfichte

Karte mit Gebirgsluft

Alles Böse

Mit der Strömung

Vor der Auslage

Selbsterkenntnis

Der heimliche Rabe

KLEINE BOSHEITEN

Oberkontrollor Bartl

Die göttliche Abstammung

Ozeandampfer

Der Skeptiker

Talmudcitate

Tora lesen

Die Narrheit des Narren

ZU DIESER AUSGABE

ABKÜRZUNGEN

Kafkas Lieblingswitz

Auf Fotografien ist er fast immer als ernster Mensch zu sehen; nur selten findet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht. Das passt zu den schwierigen und düsteren Werken, die er geschrieben hat – Die Verwandlung, Der Prozeß – Generationen von Schülern wurden damit malträtiert. Es fällt nicht leicht, sich vorzustellen, dass dieser Franz Kafka sich über Witze amüsieren konnte. Konnte er aber.

Sein Lieblingswitz ist uns von seinem Biographen Klaus Wagenbach überliefert: Nach einem Opernbesuch kommt eine feine Dame an einem Bettler vorbei. »Liebe Frau«, sagt er und hält ihr unterwürfig seine Mütze hin, »ich habe seit drei Tagen nichts gegessen.« Die feine Dame bleibt stehen und betrachtet ihn voll Mitgefühl. »Junger Mann,« sagt sie. »Sie müssen sich zwingen.«

Die Fallhöhe der Pointe verdoppelt sich, wenn man weiß, dass Kafka unter Appetitlosigkeit litt und von allen Seiten gute Ratschläge bekam; Ratschläge, die er nicht wollte, schon gar nicht, wenn sie mit einem Zwang verbunden waren. Er hatte Zwänge genug: familiär, beruflich, erotisch – ein Mann unter Druck, aber zum Glück mit einer Gabe versehen, die in seiner Situation überlebenswichtig war: Kafka hatte Humor.

Er liebte es zu lachen. In seinen Briefen zeigt sich ein ganz anderer Mensch als der, dessen Bild sich bei uns eingeprägt hat. Unterhaltsam und pointiert, manchmal geradezu witzig schreibt er von seinem Leben, macht sich gern lustig und ist dabei selbst sein bevorzugtes Opfer. Aber bei Weitem nicht sein Einziges: Menschen, Tiere, Gegenstände, Begriffe und Strukturen, Hierarchien, Autoritäten – er hatte ein ausgeprägtes Talent, das Komische in den ungewöhnlichsten Dingen zu sehen. Und was er daraus machte, ist nicht einfach nur komisch; es ist komisch komisch.

Es ist zuerst überraschend. Ständig passiert etwas Unerwartetes, etwas, auf das man nie gekommen wäre. Kafkas Geschichten entwickeln sich in einer Art wildem Denken: sprunghaft und assoziativ, unlogisch, oder mit einer ganz anderen Logik gedacht und dadurch phantastisch und schräg. Es kann passieren, dass Raum, Zeit und Kausalität keine Rolle mehr spielen. Nicht zufällig fühlt man sich immer wieder an Alice im Wunderland erinnert, an das Traumhafte und Phantastische ihrer Abenteuer. Es gibt hier offensichtliche Parallelen. Man findet Charaktere, die mit Humpty Dumpty verwandt sein könnten; selbst motivisch gibt es Übereinstimmungen. Und ganz ähnlich wie Carroll macht uns Kafka mit kuriosen Dingen neugierig, bringt uns dann an die Grenzen unserer Denkgewohnheiten, und zeigt uns, dass es ein großes Vergnügen sein kann, sie zu übertreten.

Um das zu erreichen, benutzt er nicht selten herkömmliche Techniken, handhabt sie aber auf recht unkonventionelle Weise. Er parodiert und ist ironisch, macht Menschen zu Dingen und Dinge zu Menschen, lässt Tiere philosophieren und findet immer neue Analogien und Parabeln. Wenn der Schalk ihn reitet, ist er sich selbst für eine Kindsköpfigkeit nicht zu schade, und er kann sie so lange auf die Spitze treiben, bis aus ihr eine filmreife Slapstick-Einlage wird. Sein Repertoire reicht vom spontanen Einfall bis zur ausgefeilten Satire und dazwischen liegen kleine und große Meisterwerke der komischen Literatur, die darauf warten, endlich als solche entdeckt zu werden: ein Schwimmweltmeister, der gar nicht schwimmen kann, ein Geist, dem während einer spiritistischen Sitzung schlecht wird, ein Schreibtisch, der blaue Flecken macht, wenn man aufregende Dinge schreibt, ein Hut, unter dem es weiterregnet, wenn man ihn aufsetzt. Man staunt, man wundert sich. Was ist das? Es ist Kafka. Und es ist komisch.

WUNSCH, INDIANER ZU WERDEN

Wunsch, Indianer zu werden

Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.

EL 30

Ich fragte einen Wanderer

Ich fragte einen Wanderer den ich auf der Landstraße traf ob hinter den sieben Meeren, die sieben Wüsten wären und hinter ihnen die sieben Berge, auf dem siebenten Berge das Schloß und o

DE 141

Heraus aus dem Winkel!

In Voraussicht des Kommenden hatte ich mich in eine Zimmerecke geduckt und das Kanapee quervorgeschoben. Kam jetzt jemand herein, mußte er mich eigentlich für närrisch halten, aber der welcher kam tat es doch nicht. Aus seinem hohen Schaftstiefel zog er eine Hundepeitsche, schwang sie im Kreis um sich, hob und senkte sich auf den breit auseinander stehenden Beinen und rief: »Heraus aus dem Winkel! Heraus aus dem warmen Winkel! Wie lange noch?«

ZFG 156

Ein Reiter ritt

Ein Reiter ritt auf einem Waldweg, vor ihm lief ein Hund. Hinter ihm kamen paar Gänse, ein kleines Mädchen trieb sie mit einer Gerte vor sich her. Trotzdem alle vom Hund vorn bis zu dem kleinen Mädchen hinten so schnell als möglich vorwärtseilten, war es doch nicht sehr schnell, jeder hielt leicht mit den andern Schritt. Übrigens liefen auch die Waldbäume zu beiden Seiten mit, irgendwie widerwillig, müde, diese alten Bäume. An das Mädchen schloß sich ein junger Athlet, ein Schwimmer, er schwamm mit kräftigen Stößen, den Kopf tief im Wasser, denn Wasser war wellenschlagend rings um ihn und wie er schwamm, so floß das Wasser mit, dann kam ein Tischler, der einen Tisch abzuliefern hatte, er trug ihn auf dem Rücken, die zwei vordern Tischbeine hielt er mit den Händen fest, ihm folgte der Kurier des Czaren, er war unglücklich wegen der vielen Menschen die er hier im Wald getroffen hatte, immerfort streckte er den Hals und sah nach wie vorn die Lage war und warum alles so widerwärtig langsam gieng, aber er mußte sich bescheiden, den Tischler vor sich hätte er wohl überholen können, aber wie wäre er durch das Wasser gekommen, das den Schwimmer umgab. Hinter dem Kurier kam merkwürdigerweise der Czar selbst, ein noch junger Mann mit blondem Spitzbart und zartem aber rundbäckigem Gesicht, das sich des Lebens freute. Hier zeigten sich die Nachteile so großer Reiche, der Czar kannte seinen Kurier, der Curier seinen Czaren nicht, der Czar war auf einem kleinen Erholungsspaziergang und kam nicht weniger schnell vorwärts, als sein Kurier, er hätte also die Post auch selbst besorgen können. Allerdings … … … … … .

ZFG 165

Die Ersteigung des Knie

Wir liefen auf glattem Boden, manchmal stolperte einer und fiel hin, manchmal wäre einer seitlich fast abgestürzt, dann mußte immer der andere helfen, aber sehr vorsichtig, denn auch er stand ja nicht fest. Endlich kamen wir zu einem Hügel den man das Knie nennt, aber trotzdem er gar nicht hoch ist, konnten wir ihn nicht überklettern, immer wieder glitten wir ab, wir waren verzweifelt, nun mußten wir ihn also umgehn, da wir ihn nicht überklettern konnten, das war vielleicht ebenso unmöglich, aber viel gefährlicher, denn hier bedeutete ein Mißlingen des Versuches gleich Absturz und Ende. Wir beschlossen, um einander nicht zu stören, daß jeder es auf einer andern Seite versuchen sollte. Ich warf mich hin und schob mich langsam an den Rand, ich sah daß hier keine Spur eines Weges, keine Möglichkeit sich irgendwo festzuhalten war, ohne Übergang fiel alles ab in die Tiefe. Ich war überzeugt daß ich nicht hinüberkommen werde, war es nicht drüben auf der andern Seite ein wenig besser, was aber eben eigentlich nur der Versuch zeigen konnte, dann war es offenbar mit uns beiden zuende. Aber wagen mußten wir es, denn hier bleiben konnten wir nicht und hinter uns ragten abweisend und unzugänglich die fünf Spitzen die man Zehen nennt.

ZFG 142

Eine Stirn

Ich bin gewohnt in allem meinem Kutscher zu vertrauen. Als wir an eine hohe weiße seitwärts und oben sich langsam wölbende Mauer kamen, die Vorwärtsfahrt einstellten, die Mauer entlang fahrend sie betasteten und schließlich der Kutscher sagte: Es ist eine Stirn.

BCM 128

Ein Leichenwagen

Es trieb sich ein Leichenwagen im Land herum, er hatte eine Leiche aufgeladen, lieferte sie aber auf dem Friedhof nicht ab, der Kutscher war betrunken und glaubte, er führe einen Kutschwagen, aber auch wohin er mit diesem fahren solle hatte er vergessen. So fuhr er durch die Dörfer, hielt vor den Wirtshäusern und hoffte wenn ihm hie und da die Sorge nach dem Reiseziel aus der Trunkenheit aufblitzte, von guten Leuten einmal alles Nötige zu erfahren. So hielt er einmal vor dem »Goldenen Hahn« und ließ sich einen Schweinebraten

ZFG 157

Zwanzig kleine Totengräber

Zwanzig kleine Totengräber, keiner größer als ein durchschnittlicher Tannenzapfen, bilden eine selbstständige Gruppe. Sie haben eine Holzbaracke im Bergwald, dort ruhen sie von ihrer schweren Arbeit aus. Es ist dort viel Rauch, Geschrei und Gesang, wie es eben ist, wenn zwanzig Arbeiter beisammen sind. Wie fröhlich diese Leute sind! Niemand bezahlt sie, niemand rüstet sie aus, niemand hat ihnen einen Auftrag gegeben. Auf eigene Faust haben sie sich ihre Arbeit erwählt, auf eigene Faust führen sie sie aus. Es gibt noch Mannesgeist in unserer Zeit. Nicht jeden würde ihre Arbeit befriedigen, vielleicht befriedigt sie auch diese Leute nicht ganz, aber sie lassen nicht ab vom einmal gefaßten Entschluß, sie sind ja gewöhnt die schwersten Lasten durch das dichteste Gebüsch zu zerren. Von Morgen bis Mitternacht dauert der Festlärm. Die einen erzählen, die andern singen, es gibt auch welche die stumm die Pfeife rauchen, alle aber helfen der großen Schnapsflasche den Tisch umwandern. Um Mitternacht erhebt sich der Führer und schlägt auf den Tisch, die Männer nehmen ihre Mützen vom Nagel; Seile, Schaufeln und Hacken aus der Ecke, sie ordnen sich zum Zuge, immer zwei und zwei.

ZFG 178

Beinbruch

Einmal brach ich mir das Bein, es war das schönste Erlebnis meines Lebens

DE 144

Das Handgelenk eines Anglers

Ich habe – wer kann noch so frei von seinen Fähigkeiten sprechen – das Handgelenk eines alten glücklichen unermüdlichen Anglers. Ich sitze z. B. zuhause, ehe ich angeln gehe, und drehe scharf zusehend die rechte Hand, einmal hin und einmal her. Das genügt, um mir im Anblick und Gefühl das Ergebnis des künftigen Angelns oft bis in Einzelheiten zu offenbaren. Ich sehe das Wasser meines Fischplatzes in der besondern Strömung der besondern Stunde, ein Querschnitt des Flusses zeigt sich mir, eindeutig an Zahl und Art, dringen sie an zehn, zwanzig ja hundert verschiedenen Stellen gegen diese Schnittfläche vor, nun weiß ich wie die Angel zu führen ist, manche durchstoßen ungefährdet mit dem Kopf die Fläche, da lasse ich die Angel vor ihnen schwanken und schon hängen sie, die Kürze dieses Schicksalsaugenblicks entzückt mich selbst am häuslichen Tisch, andere Fische dringen bis an den Bauch vor, nun ist hohe Zeit, manche ereile ich noch, andere aber entwischen der gefährlichen Fläche selbst mit dem Schwanz und sind für diesmal mir verloren, nur für diesmal, einem wahren Angler entgeht kein Fisch.

BCM 62

Peter und der Wolf

Peter begegnete im Wald einem Wolf. »Endlich!« sagte der Wolf, »den ganzen Tag suche ich schon etwas zum Fressen.« »Bitte, Wolf«, sagte Peter, »heute verschone mich noch, in einer Woche soll meine Hochzeit sein, laß mich die noch erleben.« »Ungern«, sagte der Wolf. »Und was für einen Vorteil soll ich denn vom Warten haben?« »Nimm uns dann beide, mich und meine Frau«, sagte Peter. »Und was soll bis zur Hochzeit geschehn?« sagte der Wolf. »Ich kann doch bis dahin nicht hungern. Schon jetzt habe ich Übelkeiten vom Hungern und wenn ich nicht sehr bald etwas bekomme, fresse ich Dich jetzt auch gegen meinen Willen auf.« »Bitte«, sagte Peter, »komm mit mir, ich wohne nicht weit, ich werde Dich die Woche über mit Kaninchen füttern.« »Ich muß auch zumindest ein Schaf bekommen.« »Gut, ein Schaf.« »Und fünf Hühner«

BCM 159

Wo ist der Müller?

»Wie?« sagte der Reisende plötzlich. War etwas vergessen? Ein Wort? Ein Griff? Eine Handreichung? Sehr möglich. Höchstwahrscheinlich. Ein grober Fehler in der Rechnung, eine grundverkehrte Auffassung, ein kreischender tintenspritzender Strich geht durchs Ganze. Wer stellt es aber richtig? Wo ist der Mann es richtig zu stellen. Wo ist der gute alte landsmännische Müller aus dem Norden, der die zwei grinsenden Kerle drüben zwischen die Mühlsteine stopft?

TB3 153

Das Pferd des Angreifers

Das Pferd des Angreifers zum eigenen Ritt benützen. Einzige Möglichkeit. Aber was für Kräfte und Geschicklichkeiten verlangt das? Und wie spät ist es schon!

TB3 224

Es war um Mitternacht

Es war um Mitternacht. Fünf Männer hielten mich, über sie hinweg hob ein sechster seine Hand um mich zu fassen. »Los« rief ich und drehte mich im Kreis, daß alle abfielen. Ich fühlte irgendwelche Gesetze herrschen, hatte bei der letzten Anstrengung gewußt, daß sie Erfolg haben werde, sah wie alle Männer jetzt mit erhobenen Armen zurückflogen, erkannte, daß sie im nächsten Augenblick alle gemeinsam gegen mich stürzen müßten drehte mich zum Haustor um – ich stand knapp davor – öffnete das förmlich freiwillig und in ungewöhnlicher Eile aufspringende Schloß und entwich die dunkle Treppe hinauf. Oben im letzten Stock stand in der Wohnungstür meine alte Mutter mit einer Kerze in der Hand. »Gib acht, gib acht« rief ich schon vom vorletzten Stockwerk hinauf »sie verfolgen mich.« »Wer denn? Wer denn?« fragte meine Mutter. »Wer könnte Dich denn verfolgen, mein Junge.« »Sechs Männer« sagte ich atemlos. »Kennst Du sie« fragte die Mutter. »Nein, fremde Männer« sagte ich. »Wie sehn sie denn aus?« »Ich habe sie ja kaum gesehn. Einer hat einen schwarzen Vollbart, einer einen großen Ring am Finger, einer hat einen roten Gürtel, einer hat die Hosen an den Knien zerrissen, einer hat nur ein Auge offen und der letzte zeigt die Zähne.« »Jetzt denke nicht mehr daran«, sagte die Mutter, »geh in Dein Zimmer, lege Dich schlafen, ich habe aufgebettet.« Die Mutter! diese alte Frau! schon unangreifbar vom Lebendigen, mit einem listigen Zug um den bewußtlos 80jährige Narrheiten wiederholenden Mund. »Jetzt schlafen?« rief ich.

TB3 24

Kampf der Hände

Meine zwei Hände begannen einen Kampf. Das Buch in dem ich gelesen hatte, klappten sie zu und schoben es bei Seite, damit es nicht störe. Mir salutierten sie und ernannten mich zum Schiedsrichter. Und schon hatten sie die Finger ineinander verschränkt und schon jagten sie am Tischrand hin, bald nach rechts bald nach links je nach dem Überdruck der einen oder der andern. Ich ließ keinen Blick von ihnen. Sind es meine Hände, muß ich ein gerechter Richter sein, sonst halse ich mir selbst die Leiden eines falschen Schiedsspruchs auf. Aber mein Amt ist nicht leicht, im Dunkel zwischen den Handtellern werden verschiedene Kniffe angewendet, die ich nicht unbeachtet lassen darf, ich drücke deshalb das Kinn an den Tisch und nun entgeht mir nichts. Mein Leben lang habe ich die Rechte, ohne es gegen die Linke böse zu meinen, bevorzugt. Hätte doch die Linke einmal etwas gesagt, ich hätte, nachgiebig und rechtlich wie ich bin, gleich den Mißbrauch eingestellt. Aber sie muckste nicht, hing an mir hinunter und während etwa die Rechte auf der Gasse meinen Hut schwang, tastete die Linke ängstlich meinen Schenkel ab. Das war eine schlechte Vorbereitung zum Kampf, der jetzt vor sich geht. Wie willst Du auf die Dauer, linkes Handgelenk, gegen diese gewaltige Rechte Dich stemmen? Wie Deine mädchenhaften Finger in der Klemme der fünf andern behaupten? Das scheint mir kein Kampf mehr, sondern natürliches Ende der Linken. Schon ist sie in die äußerste linke Ecke des Tisches gedrängt, und an ihr regelmäßig auf und nieder schwingend wie ein Maschinenkolben die Rechte. Bekäme ich angesichts dieser Not nicht den erlösenden Gedanken, daß es meine eigenen Hände sind, die hier im Kampf stehn und daß ich sie mit einem leichten Ruck von einander wegziehn kann und damit Kampf und Not beenden – bekäme ich diesen Gedanken nicht, die Linke wäre aus dem Gelenk gebrochen vom Tisch geschleudert und dann vielleicht die Rechte in der Zügellosigkeit des Siegers wie der fünfköpfige Höllenhund mir selbst ins aufmerksame Gesicht gefahren. Statt dessen liegen die zwei jetzt übereinander, die Rechte streichelt den Rücken der Linken, und ich unehrlicher Schiedsrichter nicke dazu.

BCM 105

Neues Verkehrsmittel

Heute habe ich im Traum ein neues Verkehrsmittel für einen abschüssigen Park erfunden. Man nimmt einen Ast, der nicht sehr stark sein muß, stemmt ihn schief gegen den Boden, das eine Ende behält man in der Hand setzt sich möglichst leicht darauf, wie im Damensattel, der ganze Zweig rast dann natürlich den Abhang hinab, da man auf dem Ast sitzt wird man mitgenommen und schaukelt behaglich in voller Fahrt auf dem elastischen Holz. Es findet sich dann auch eine Möglichkeit, den Zweig zum Aufwärtsfahren zu verwenden. Der Hauptvorteil liegt abgesehen von der Einfachheit der ganzen Vorrichtung darin, daß der Zweig dünn und beweglich wie er ist, er kann ja gesenkt und gehoben werden nach Bedarf überall durchkommt, wo selbst ein Mensch allein schwer durchkäme

TB2 182 f

Durch das Parterrefenster

Durch das Parterrefenster eines Hauses an einem um den Hals gelegten Strick hineingezogen und ohne Rücksicht wie von einem der nicht acht gibt, blutend und zerfetzt, durch alle Zimmerdecken, Möbel, Mauern und Dachböden hinaufgerissen werden, bis oben auf dem Dach die leere Schlinge erscheint, die meine Reste erst beim Durchbrechen der Dachziegel verloren hat.

TB2 183

Die Aeroplane von Brescia

Nun aber kommt der Apparat, mit dem Blériot den Kanal überflogen hat; keiner hat es gesagt, alle wissen es. Eine lange Pause und Blériot ist in der Luft, man sieht seinen geraden Oberkörper über den Flügeln, seine Beine stecken tief als Teil der Maschinerie. Die Sonne hat sich geneigt und unter dem Baldachin der Tribünen durch beleuchtet sie die schwebenden Flügel. Hingegeben sehn alle zu ihm auf, in keinem Herzen ist für einen andern Platz. Er fliegt eine kleine Runde und zeigt sich dann fast senkrecht über uns. Und alles sieht mit gerecktem Hals, wie der Monoplan schwankt, von Blériot gepackt wird und sogar steigt. Was geschieht denn? Hier oben ist 20 M. über der Erde ein Mensch in einem Holzgestell verfangen und wehrt sich gegen eine freiwillig übernommene unsichtbare Gefahr. Wir aber stehn unten ganz zurückgedrängt und wesenlos und sehen diesem Menschen zu.

Alles geht gut vorüber. Der Signalmast zeigt gleichzeitig an, daß der Wind günstiger geworden ist und Curtiss um den großen Preis von Brescia fliegen wird. Also doch? Kaum verständigt man sich darüber, schon rauscht der Motor des Curtiss, kaum sieht man hin, schon fliegt er von uns weg, fliegt über die Ebene, die sich vor ihm vergrößert, zu den Wäldern in der Ferne, die jetzt erst aufzusteigen scheinen. Lange geht sein Flug über jene Wälder, er verschwindet, wir sehen die Wälder an, nicht ihn. Hinter Häusern, Gott weiß wo, kommt er in gleicher Höhe wie früher hervor, jagt gegen uns zu; steigt er, dann sieht man die unteren Flächen des Biplans dunkel sich neigen, sinkt er, dann glänzen die oberen Flächen in der Sonne. Er kommt um den Signalmast herum und wendet, gleichgültig gegen den Lärm der Begrüßung, geradeaus dorthin, von wo er gekommen ist, um nur schnell wieder klein und einsam zu werden. Er führt fünf solche Runden aus, fliegt 50 Km. in 49′ 24″ und gewinnt damit den großen Preis von Brescia, L. 30.000. Es ist eine vollkommene Leistung.

EL 318

Der Vogel

Als ich abend nachhause kam, fand ich in der Mitte des Zimmers ein großes ein übergroßes Ei. Es war fast so hoch wie der Tisch und entsprechend ausgebaucht. Leise schwankte es hin und her. Ich war sehr neugierig, nahm das Ei zwischen die Beine und schnitt es vorsichtig mit dem Taschenmesser entzwei. Es war schon ausgetragen. Zerknitternd fiel die Schale auseinander und hervorsprang ein storchartiger, noch federloser, mit zu kurzen Flügeln die Luft schlagender Vogel. »Was willst Du in unserer Welt?« hatte ich Lust zu fragen, hockte mich vor den Vogel nieder und sah ihm in seine ängstlich zwinkernden Augen. Aber er verließ mich, und hüpfte die Wände entlang, halb flatternd, wie auf wehen Füßen. »Einer hilft dem andern«, dachte ich, packte auf dem Tisch mein Abendessen aus und winkte dem Vogel, der drüben gerade seinen Schnabel zwischen meine paar Bücher bohrte. Gleich kam er zu mir, setzte sich, offenbar schon ein wenig eingewöhnt, auf einen Stuhl, mit pfeifendem Atem begann er die Wurstschnitte die ich vor ihn gelegt hatte zu beschnuppern, spießte sie aber lediglich auf und warf sie mir wieder hin. »Ein Fehler«, dachte ich, »natürlich, man springt nicht aus dem Ei um gleich mit Wurstessen anzufangen. Hier wäre Frauenerfahrung nötig.« Und ich sah ihn scharf an, ob ihm vielleicht seine Essenswünsche von außen abzulesen wären. »Kommt er«, fiel mir dann ein, »aus der Familie der Störche, dann werden ihm gewiß Fische lieb sein. Nun ich bin bereit sogar Fische ihm zu verschaffen. Allerdings nicht umsonst. Meine Mittel erlauben mir nicht mir einen Hausvogel zu halten. Bringe ich also solche Opfer, will ich einen gleichwertigen lebenerhaltenden Gegendienst. Er ist ein Storch, möge er mich also bis er ausgewachsen und von meinen Fischen gemästet ist, mit in die südlichen Länder nehmen. Längst schon verlangt es mich dorthin zu reisen und nur mangels Storchflügel habe ich es bisher unterlassen.« Sofort holte ich Papier und Tinte, tauchte des Vogels Schnabel ein und schrieb, ohne daß mir vom Vogel irgendein Widerstand entgegengesetzt worden wäre, folgendes: »Ich, storchartiger Vogel, verpflichte mich für den Fall, daß Du mich mit Fischen, Fröschen und Würmern (diese zwei letztern Lebensmittel fügte ich der Billigkeit halber hinzu) bis zum Flüggewerden nährst, Dich auf meinem Rükken in die südlichen Länder zu tragen.« Dann wischte ich den Schnabel rein und hielt dem Vogel nochmals das Papier vor Augen, ehe ich es zusammenfaltete und in meine Brieftasche legte. Dann aber lief ich gleich um Fische; diesmal mußte ich sie teuer bezahlen, doch versprach mir der Händler nächstens immer verdorbene Fische und reichlich Würmer für billigen Preis bereitzustellen. Vielleicht würde die südliche Fahrt nicht gar zu teuer werden. Und es freute mich zu sehn wie das Mitgebrachte dem Vogel schmeckte. Glucksend wurden die Fische hinabgeschluckt und füllten das rötliche Bäuchlein. Tag für Tag, unvergleichlich mit Menschenkindern, machte der Vogel Fortschritte in seiner Entwicklung. Zwar verließ der unerträgliche Gestank der faulen Fische nicht mehr mein Zimmer und nicht leicht war es, den Unrat des Vogels immer aufzufinden und zu beseitigen, auch verbot die Winterkälte und die Kohlenteuerung die außerordentlich nötige Lüftung – was tat es, kam das Frühjahr, schwamm ich in leichten Lüften dem strahlenden Süden zu. Die Flügel wuchsen, bedeckten sich mit Federn, die Muskeln erstarkten, es war Zeit mit den Flugübungen zu beginnen. Leider war keine Storchmutter da, wäre der Vogel nicht so willig gewesen, mein Unterricht hätte wohl nicht genügt. Aber offenbar sah er ein, daß er durch peinliche Aufmerksamkeit und größte Anstrengung die Mängel meiner Lehrbefähigung ausgleichen müsse. Wir begannen mit dem Sesselflug. Ich stieg hinauf, er folgte, ich sprang mit ausgebreiteten Armen hinab, er flatterte hinterher. Später giengen wir zum Tisch über und zuletzt zum Schrank, immer aber wurden alle Flüge systematisch vielemal wiederholt.

BCM 87

Ausbrechen darf man

Das ist ein Leben zwischen Kulissen. Es ist hell, das ist ein Morgen im Freien, dann wird gleich dunkel und es ist schon Abend. Das ist kein komplicierter Betrug, aber man muß sich fügen, solange man auf den Brettern steht. Nur ausbrechen darf man, wenn man die Kraft hat, gegen den Hintergrund zu, die Leinwand durchschneiden und zwischen den Fetzen des gemalten Himmels durch, über einiges Gerümpel hinweg in die wirkliche enge dunkle feuchte Gasse sich flüchten, die zwar noch immer wegen der Nähe des Teaters Teatergasse heißt, aber wahr ist und alle Tiefen der Wahrheit hat.

ZFG 174

Gespräch mit dem Betrunkenen

Als ich aus dem Haustor mit kleinem Schritte trat, wurde ich von dem Himmel mit Mond und Sternen und großer Wölbung und von dem Ringplatz mit Rathaus, Mariensäule und Kirche überfallen.

Ich ging ruhig aus dem Schatten ins Mondlicht, knöpfte den Überzieher auf und wärmte mich; dann ließ ich durch Erheben der Hände das Sausen der Nacht schweigen und fing zu überlegen an:

»Was ist es doch, daß Ihr tut, als wenn Ihr wirklich wäret. Wollt Ihr mich glauben machen, daß ich unwirklich bin, komisch auf dem grünen Pflaster stehend? Aber doch ist es schon lange her, daß du wirklich warst, du Himmel, und du Ringplatz bist niemals wirklich gewesen.«

»Es ist ja wahr, noch immer seid Ihr mir überlegen, aber doch nur dann, wenn ich Euch in Ruhe lasse.«

»Gott sei Dank, Mond, du bist nicht mehr Mond, aber vielleicht ist es nachlässig von mir, daß ich dich Mondbenannten noch immer Mond nenne. Warum bist du nicht mehr so übermütig, wenn ich dich nenne ›Vergessene Papierlaterne in merkwürdiger Farbe‹. Und warum ziehst du dich fast zurück, wenn ich dich ›Mariensäule‹ nenne und ich erkenne deine drohende Haltung nicht mehr Mariensäule, wenn ich dich nenne ›Mond, der gelbes Licht wirft‹.«

»Es scheint nun wirklich, daß es Euch nicht gut tut, wenn man über Euch nachdenkt; Ihr nehmt ab an Mut und Gesundheit.«

»Gott, wie zuträglich muß es erst sein, wenn Nachdenkender vom Betrunkenen lernt!«

»Warum ist alles still geworden. Ich glaube es ist kein Wind mehr. Und die Häuschen, die oft wie auf kleinen Rädern über den Platz rollen, sind ganz festgestampft – still – still – man sieht gar nicht den dünnen, schwarzen Strich, der sie sonst vom Boden trennt.«

Und ich setzte mich in Lauf. Ich lief ohne Hindernis dreimal um den großen Platz herum und da ich keinen Betrunkenen traf, lief ich ohne die Schnelligkeit zu unterbrechen und ohne Anstrengung zu verspüren gegen die Karlsgasse. Mein Schatten lief oft kleiner als ich neben mir an der Wand, wie in einem Hohlweg zwischen Mauer und Straßengrund.

Als ich bei dem Hause der Feuerwehr vorüberkam, hörte ich vom kleinen Ring her Lärm und als ich dort einbog, sah ich einen Betrunkenen am Gitterwerk des Brunnens stehn, die Arme wagrecht haltend und mit den Füßen, die in Holzpantoffeln staken, auf die Erde stampfend.

Ich blieb zuerst stehn, um meine Atmung ruhig werden zu lassen, dann ging ich zu ihm, nahm meinen Zylinder vom Kopfe und stellte mich vor:

»Guten Abend, zarter Edelmann, ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, aber ich habe noch keinen Namen. Sie aber kommen sicher mit erstaunlichen, ja mit singbaren Namen aus dieser großen Stadt Paris. Der ganz unnatürliche Geruch des ausgleitenden Hofes von Frankreich umgibt Sie.«

»Sicher haben Sie mit Ihren gefärbten Augen jene großen Damen gesehn, die schon auf der hohen und lichten Terasse stehn, sich in schmaler Taille ironisch umwendend, während das Ende ihrer auch auf der Treppe ausgebreiteten bemalten Schleppe noch über dem Sand des Gartens liegt. – Nicht wahr, auf langen Stangen, überall verteilt, steigen Diener in grauen frechgeschnittenen Fräcken und weißen Hosen, die Beine um die Stange gelegt, den Oberkörper aber oft nach hinten und zur Seite gebogen, denn sie müssen an Stricken riesige graue Leinwandtücher von der Erde heben und in der Höhe spannen, weil die große Dame einen nebligen Morgen wünscht.« Da er sich rülpste, sagte ich fast erschrocken: »Wirklich, ist es wahr, Sie kommen Herr aus unserem Paris, aus dem stürmischen Paris, ach, aus diesem schwärmerischen Hagelwetter?« Als er sich wieder rülpste, sagte ich verlegen: »Ich weiß, es widerfährt mir eine große Ehre.«

Und ich knöpfte mit raschen Fingern meinen Überzieher zu, dann redete ich inbrünstig und schüchtern:

»Ich weiß, Sie halten mich einer Antwort nicht für würdig, aber ich müßte ein verweintes Leben führen, wenn ich Sie heute nicht fragte.«

»Ich bitte Sie, so geschmückter Herr, ist das wahr, was man mir erzählt hat. Gibt es in Paris Menschen, die nur aus verzierten Kleidern bestehn und gibt es dort Häuser, die bloß Portale haben und ist es wahr, daß an Sommertagen der Himmel über der Stadt fliehend blau ist, nur verschönt durch angepreßte weiße Wölkchen, die alle die Form von Herzen haben? Und gibt es dort ein Panoptikum mit großem Zulauf, in dem bloß Bäume stehn mit den Namen der berühmtesten Helden, Verbrecher und Verliebten auf kleinen angehängten Tafeln.«

»Und dann noch diese Nachricht! Diese offenbar lügnerische Nachricht!«

»Nicht wahr, diese Straßen von Paris sind plötzlich verzweigt; sie sind unruhig, nicht wahr? Es ist nicht immer alles in Ordnung, wie könnte es auch sein! Es geschieht einmal ein Unfall, Leute sammeln sich, aus den Nebenstraßen kommend mit dem großstädtischen Schritt, der das Pflaster nur wenig berührt; alle sind zwar in Neugierde, aber auch in Furcht vor Enttäuschung; sie atmen schnell und strecken ihre kleinen Köpfe vor. Wenn sie aber einander berühren, so verbeugen sie sich tief und bitten um Verzeihung: ›Es tut mir sehr leid, – es geschah ohne Absicht – das Gedränge ist groß, verzeihen Sie, ich bitte – es war sehr ungeschickt von mir – ich gebe das zu. Mein Name ist – mein Name ist Jerome Faroche, Gewürzkrämer bin ich in der rue du Cabotin – gestatten Sie, daß ich Sie für morgen zum Mittagessen einlade – auch meine Frau würde so große Freude haben.‹ So reden sie, während doch die Gasse betäubt ist und der Rauch der Schornsteine zwischen die Häuser fällt. So ist es doch. Und wäre es möglich, daß da einmal auf einem belebten Boulevard eines vornehmen Viertels zwei Wagen halten. Diener öffnen ernst die Türen. Acht edle sibirische Wolfshunde tänzeln hinunter und jagen bellend über die Fahrbahn in Sprüngen. Und da sagt man, daß es verkleidete junge Pariser Stutzer sind.«

Er hatte die Augen fast geschlossen. Als ich schwieg, steckte er beide Hände in den Mund und riß am Unterkiefer. Sein Kleid war ganz beschmutzt. Man hatte ihn vielleicht aus einer Weinstube hinausgeworfen und er war darüber noch nicht im Klaren.