Franz Kafka: Elf beste Erzählungen - Franz Kafka - E-Book

Franz Kafka: Elf beste Erzählungen E-Book

Franz kafka

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Beschreibung

Dieser Band versammelt elf der besten Erzählungen von Franz Kafka, deren Themen von der Vater-Sohn-Beziehung über die Verzweiflung des Einzelnen vor einer Machtinstanz von unergründlicher Feindseligkeit bis hin zur Lebensfeindlichkeit der Kunst reichen. Sie führen in eine Dimension, die die Wirklichkeit in Frage stellt, sie verstören zunächst und erschrecken danach. In ihrer thematischen Vielfalt und mit ihren außerordentlichen Figuren versteht sich die Auswahl als Kostprobe des umfangreichen Œuvres des einmaligsten Autors des 20. Jahrhunderts.

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Diese Sammlung würdigt die wichtigsten Werke der Weltliteratur, jeweils in ihrer Originalsprache.

Die Serie „Deutsche Briefe“ enthält Titel wie: Die Verwandlung von Franz Kafka; Gebrüder Grimms beste Märchen von Jacob und Wilhelm Grimm; Die unsichtbare Sammlung von Stefan Zweig; Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe; Das kalte Herz von Wilhelm Hauff unter anderen...

Franz Kafka

Elf besteErzählungen

© Ed. Perelló, SL, 2024

© Vorwort von M. Loreto Vilar Panella

© Deckblatt-Design: José Cazorla García

Calle Milagrosa Nº 26, Valencia

46009 - Spanien

Tlf. (+34) 644 79 79 83

[email protected]

http://edperello.es

I.S.B.N.: 978-84-10227-53-8

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Alle Rechte vorbehalten. Jede Form der Vervielfältigung, Verbreitung, Eine öffentliche Kommunikation oder Transformation dieser Arbeit kann nur erfolgen mit der Erlaubnis ihrer Inhaber, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Kontaktieren Sie CEDRO (Spanisches Zentrum für Reprografische Rechte, www.cedro.org) wenn Sie einen Ausschnitt dieser Arbeit fotokopieren oder scannen müssen.

INHALT

Vorwort

Das Urteil

Vor dem Gesetz

Ein Landarzt

Ein Brudermord

Die Brücke

Der Jäger Gracchus

Schakale und Araber

Eine kaiserliche Botschaft

Erstes Leid

Ein Hungerkünstler

Der Bau

Vorwort

Der Name des Prager Schriftstellers Franz Kafka, der von 1883 bis 1924 lebte, ist einer der wenigen, die ein Adjektiv ergeben, „kafkaesk“, womit das Skurrilste, Befremdlichste und Bedrohlichste assoziiert wird, das, was den Einzelnen unbarmherzig quält und ihn vernichtet. Und das Leben Kafkas scheint dem zu entsprechen. Als einziger Sohn einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie der deutschsprachigen Minderheit in einer der größten Städte der österreichisch-ungarischen Monarchie musste er die väterlichen Bemühungen, die ihm ein Jurastudium und auch eine Promotion ermöglichten, mit einer Beamtenstelle bei der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag honorieren, einer Verwaltungsarbeit, die seinem Bedürfnis zu schreiben in keiner Weise entsprach. Für den Sohn von Hermann und Julie Kafka, geb. Löwy, war das Schreiben das Wichtigste, für das er bis zu seiner krankheitsbedingten Pensionierung im Alter von 38 Jahren vor allem die Nächte nutzen musste. Manchmal waren es Stunden der stürmischen Inspiration, wie die in der Nacht vom 22. zum 23. September 1912, deren Ergebnis, die Erzählung Das Urteil, ein Kleinod, Franz Kafka mit Glück erfüllte. Denn dies geschah nach Tausenden von seiner Meinung nach missglückten Manuskriptseiten, die in über zehn Jahren entstanden waren, und wenige Wochen nach der Bekanntschaft mit Felice Bauer, der Frau, der Kafka die Erzählung widmete und mit der er zweimal, 1913 und 1917, verlobt war. Es waren also meistens Stunden unerbittlicher Schlaflosigkeit und grausamer Kopfschmerzen, deren Ergebnis verbrannt oder bestenfalls in der Schublade abgelegt wurde.

Dies war das Schicksal der drei großen Romanprojekte Der Verschollene, Der Proceß und Das Schloß, die zusammen mit zahlreichen Prosa-Miniaturen, Erzählungen, Aphorismen und den Tagebüchern dank der Mitwirkung von Max Brod gerettet werden konnten, dem vertrauten Freund, den Kafka ausdrücklich gebeten hatte, seinen Nachlass zu vernichten. Denn zu Lebzeiten stimmte der Autor nur der Publikation einiger seiner Texte zu, und zwar nach einer sehr sorgfältigen Prüfung. Der größte Teil von Kafkas Werk kam erst posthum ans Licht, nachdem er von Brod, der die Veröffentlichung in die Wege leitete, sehr subjektiv überarbeitet worden war. Brod war später auch derjenige, der die Manuskripte vor der Zerstörungswut der Nazis rettete, sodass die erste Rezeption durch ein nicht-deutschsprachiges Publikum in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten erfolgte.

Was Kafkas Werke enthalten, hat mit dem Expressionismus zu tun und steht auch unter dem Einfluss von Dichtern wie Heinrich Kleist, Franz Grillparzer, Friedrich Hebbel, Gustave Flaubert und Fjodor Dostojewski, von Philosophen wie Søren Kierkegaard und Franz Brentano. Auch Kafkas Besuche im Kino, im jiddischen Theater, im Zirkus, in den Prager Cafés Chantants, Cabarets und Varietés sowie seine Erlebnisse als Beamter der Unfallversicherung in einer der größten Industrieregionen Europas spiegeln sich in seinen Texten wider. Die Themen reichen von der Vater-Sohn-Beziehung, der Schuld und der Unerreichbarkeit von Gerechtigkeit über die Entfremdung und Verzweiflung des Einzelnen vor einer Machtinstanz von unergründlicher Feindseligkeit bis hin zur Aufopferung, zur Unvereinbarkeit von Kunst und Leben und zur Ausgrenzung des Andersartigen. Die Helden sind ein junger Mann, der von seinen Eltern verstoßen wurde, ein Bankprokurist, ein Landvermesser, ein Reisender, ein Landarzt, ein Hungerkünstler, ein Phantomjäger, ein Ungeziefer, eine Maus, ein Affe, ein dachsähnliches Tier, eine Zwirnspule, eine Brücke und viele mehr. Es sind keine Themen und keine Figuren, die auf den ersten Blick eine bestimmte Zeit reflektieren. Es sind Phantasien, groteske Erfindungen ohne ästhetischen oder ethischen Anspruch. Und doch sind Kafkas Texte fesselnd. Sie schildern, verschweigen und suggerieren, und es gelingt ihnen, die Grenzen des vermeintlich überlegenen menschlichen Blicks zu überschreiten. Sie führen in eine Dimension, die die Wirklichkeit in Frage stellt, sie verstören zunächst und erschrecken danach.

Dieser Band versammelt elf Erzählungen Kafkas, acht davon fertiggestellt, d. h. vom Autor für die Veröffentlichung überarbeitet, und drei davon unvollendet; Inhalt und Schreibweise folgen stets den Originaltexten. Es handelt sich um eine chronologische Sammlung, die exemplarisch für die drei Hauptphasen von Kafkas literarischer Produktion gedacht ist. Den Auftakt bildet Das Urteil, jene Geschichte, die aus einigen intensiven nächtlichen Stunden hervorgegangen ist und in der Kafka zwei seiner beständigen Themen, die Konfrontation zwischen einem Sohn und einem Vater und die Gerichtspraxis, zueinander in Beziehung setzt. Kafka, der sehr gerne vorlas, trug den Text schon am Tag nach der Niederschrift, den 24. September 1912, vor einer kleinen Gesellschaft vor, die Erstausgabe erschien 1913 in der von Max Brod herausgegebenen Zeitschrift Arkadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst (Leipzig). Das Manuskript befindet sich in der Bodleian Library in Oxford. Danach folgt die Parabel Vor dem Gesetz aus dem Dom-Kapitel des Romanfragments DerProceß, an dem Kafka vom Sommer 1914 bis Anfang 1915 arbeitete. Es ist eine Geschichte, die der Hauptfigur, Joseph K., von einem Geistlichen erzählt wird, und der einzige Text aus dem Proceß, den Kafka selbst veröffentlichte. Das geschah 1915, zu einem Zeitpunkt, als er die Arbeit am noch unvollendeten Roman schon aufgegeben hatte, in der jüdischen Wochenschrift Selbstwehr (Prag). Das Manuskript wird im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt. Diese beiden Geschichten, Das Urteil und Vor dem Gesetz, sind ein kleines Muster des Frühwerks des Prager Autors und gelten heute als meisterhafte Versuche, in denen sich bereits der Stil und die Themen zeigen, die ihn auszeichnen.

Für die zweite Produktionsetappe stehen einige der Prosastücke, die nach der Erschütterung des Todes des Kaisers Franz Joseph I. am 21. November 1916 (Kafka trug dessen Namen) in den Wintermonaten 1916-1917 in dem kleinen Haus in der Alchimistengasse auf dem Prager Hradschin entstanden sind: EinLandarzt, EinBrudermord, Die Brücke, Der Jäger Gracchus, Schakale und Araber und Einekaiserliche Botschaft. Diese Geschichten wurden in blaue unlinierte Oktavhefte geschrieben, die sich mit den einzigen Ausnahmen von Ein Landarzt und Ein Brudermord, deren Originale verschollen sind, in der Bodleian Library in Oxford befinden. Kafka erprobt hier eine Formenvielfalt ohnegleichen: Fabel, Parabel, Bericht, Märchen, Monolog und Dialog, Ich- und Er-Perspektive. Thematisch erweitert er die Konstellation familiärer Problematik und verbindet sie mit sozialen Fragen und exotisch anmutenden Konflikten. Zudem wird die schon im Proceß zentrale Frage nach den Ansprüchen und Selbstansprüchen des Einzelnen in einer von dunklen Machtstrukturen regierten Gemeinschaft weiter profiliert.

Die Idee zu EinLandarzt ist auf 1902 währendKafkas Urlaub in Triesch bei seinem Onkel, dem Arzt Siegfried Löwy, zurückzuführen. Er praktizierte in jenem kleinen Ort in Mähren und soll neben sagenhaften Geschichten über Rabbiner, deren Pferde so schnell waren, dass sie zu fliegen schienen, die Figur des Kafka’schen Landarztes inspiriert haben. Bekannt ist auch, dass Kafka wenige Wochen nachdem er am 12. August 1917 einen heftigen Blutsturz in Zusammenhang mit seiner Kehlkopftuberkulose erlitten hatte, an der er schließlich starb, an Max Brod schrieb, mit der „Blutwunde“ im Landarzt habe er seine Krankheit „vorausgesagt“. Die Erzählung hielt Kafka für eine seiner besten und wurde erstmals 1918 in Die neue Dichtung. Ein Almanach des Kurt Wolff Verlags (Leipzig) publiziert. Ein Brudermord ist die verbesserte Version von Der Mord und erschien zuerst in der bibliophilen spätexpressionistischen Zeitschrift Marsyas (Berlin, Juli/August 1917). Die in diesem Band publizierten Fassungen von Die Brücke und Der Jäger Gracchus entsprechen in ihrem fragmentarischen Charakter den Originaltexten vom Januar/Februar 1917 (Oktavheft B); von Brod bearbeitet, erschienen sie erstmals 1931. Die Anregung zum Jäger-Gracchus-Projekt kam Kafka beim Anblick des Hafenkais in Riva am Gardasee, wo er sich im September 1909 mit Max Brod und vier Jahre später allein aufhielt. Es ist die Geschichte eines Untoten, der ewig auf einem Kahn segelt und dessen Name mit dem italienischen „gracchio“ (Dohle) verwandt zu sein scheint, was auf Tschechisch „kavka“ heißt. Die Fabel Schakale und Araber wird meistens als metaphorisches Beispiel für die Auseinandersetzung Kafkas mit dem Judentum angeführt. Sie wurde als „Tiergeschichte“ in der Oktober-Nummer 1917 der von Martin Buber und Salman Schocken gegründeten Zeitschrift Der Jude (Berlin und Wien) publiziert, gefolgt von Ein Bericht für eine Akademie im November. Die Parabel Eine kaiserliche Botschaft, Bestandteil von Beim Bau der chinesischen Mauer, wurde erstmals separat in der Selbstwehr vom 24. September 1919 veröffentlicht.

Während der ins Stocken geratenen Arbeit am Roman Das Schloß im Frühjahr 1922 entstanden die Künstlergeschichten Erstes Leid (Februar-April) und Ein Hungerkünstler (Mai), die zum ebenfalls in der Bodleian Library in Oxford aufbewahrten Spätwerk Kafkas zählen. Der Autor befasst sich hier mit den Themen Außenseitertum und Lebensfeindlichkeit der Kunst. Erstes Leid wurde erstmals im Januar 1923 in der Kunstzeitschrift Genius (München) publiziert, Ein Hungerkünstler im Oktober 1922 in der Zeitschrift Die neue Rundschau (Berlin und Leipzig). Beide erschienen auch posthum, Ende August 1924, im Sammelband Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten des Berliner Verlags Die Schmiede zusammen mit den letzten Erzählungen, die Kafka noch für die Veröffentlichung vorbereiten konnte, Eine kleine Frau und Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. Zu dieser allerletzten Etappe gehört noch die 1923 in Berlin entstandene Tiergeschichte Der Bau, in der das Thema der Lebensangst zu dem der Todesangst wird. Unvollendet geblieben, wurde sie erstmals 1928 in der Zeitschrift Witiko (Wien) publiziert.

Diese Auswahl, die familiäre, soziale und seelische Anliegen im Zusammenhang mit Verfehlung und Gerechtigkeit, Bedrohung und Gewalt, Körperlichkeit und künstlerischem Ausdruck sowie Menschen-, Tier- und Objektfiguren versammelt, versteht sich als kleine Kostprobe des umfangreichen Œuvres des einmaligsten Autors des 20. Jahrhunderts, der seine Werke niemals deuten wollte. Am 25. Februar 1918 schrieb er nur: „Ich bin Ende oder Anfang.“

M. Loreto Vilar Panella

Barcelona, im November 2024

Das Urteil

Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloß ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluß, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün.

Er dachte darüber nach, wie dieser Freund, mit seinem Fortkommen zu Hause unzufrieden, vor Jahren schon nach Rußland sich förmlich geflüchtet hatte. Nun betrieb er ein Geschäft in Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hatte, seit langem aber schon zu stocken schien, wie der Freund bei seinen immer seltener werdenden Besuchen klagte. So arbeitete er sich in der Fremde nutzlos ab, der fremdartige Vollbart verdeckte nur schlecht das seit den Kinderjahren wohlbekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe auf eine sich entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien. Wie er erzählte, hatte er keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie seiner Landsleute, aber auch fast keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien und richtete sich so für ein endgültiges Junggesellentum ein.

Was sollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht helfen konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen, seine Existenz hierher zu verlegen, alle die alten freundschaftlichen Beziehungen wieder aufzunehmen — wofür ja kein Hindernis bestand — und im Übrigen auf die Hilfe der Freunde zu vertrauen? Das bedeutete aber nichts anderes, als daß man ihm gleichzeitig, je schonender, desto kränkender, sagte, daß seine bisherigen Versuche mißlungen seien, daß er endlich von ihnen ablassen solle, daß er zurückkehren und sich als ein für immer Zurückgekehrter von allen mit großen Augen anstaunen lassen müsse, daß nur seine Freunde etwas verstünden und daß er ein altes Kind sei, das den erfolgreichen, zu Hause gebliebenen Freunden einfach zu folgen habe. Und war es dann noch sicher, daß alle die Plage, die man ihm antun müßte, einen Zweck hätte? Vielleicht gelang es nicht einmal, ihn überhaupt nach Hause zu bringen — er sagte ja selbst, daß er die Verhältnisse in der Heimat nicht mehr verstünde —, und so bliebe er dann trotz allem in seiner Fremde, verbittert durch die Ratschläge und den Freunden noch ein Stück mehr entfremdet. Folgte er aber wirklich dem Rat und würde hier — natürlich nicht mit Absicht, aber durch die Tatsachen — niedergedrückt, fände sich nicht in seinen Freunden und nicht ohne sie zurecht, litte an Beschämung, hätte jetzt wirklich keine Heimat und keine Freunde mehr; war es da nicht viel besser für ihn, er blieb in der Fremde, so wie er war? Konnte man denn bei solchen Umständen daran denken, daß er es hier tatsächlich vorwärts bringen würde?

Aus diesen Gründen konnte man ihm, wenn man noch überhaupt die briefliche Verbindung aufrecht erhalten wollte, keine eigentlichen Mitteilungen machen, wie man sie ohne Scheu auch den entferntesten Bekannten machen würde. Der Freund war nun schon über drei Jahre nicht in der Heimat gewesen und erklärte dies sehr notdürftig mit der Unsicherheit der politischen Verhältnisse in Rußland, die demnach also auch die kürzeste Abwesenheit eines kleinen Geschäftsmannes nicht zuließen, während hunderttausende Russen ruhig in der Welt herumfuhren. Im Laufe dieser drei Jahre hatte sich aber gerade für Georg vieles verändert. Von dem Todesfall von Georgs Mutter, der vor etwa zwei Jahren erfolgt war und seit welchem Georg mit seinem alten Vater in gemeinsamer Wirtschaft lebte, hatte der Freund wohl noch erfahren und sein Beileid in einem Brief mit einer Trockenheit ausgedrückt, die ihren Grund nur darin haben konnte, daß die Trauer über ein solches Ereignis in der Fremde ganz unvorstellbar wird. Nun hatte aber Georg seit jener Zeit, so wie alles andere, auch sein Geschäft mit größerer Entschlossenheit angepackt. Vielleicht hatte ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch, daß er im Geschäft nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen eigenen Tätigkeit gehindert. Vielleicht war der Vater seit dem Tode der Mutter, trotzdem er noch immer im Geschäfte arbeitete, zurückhaltender geworden, vielleicht spielten — was sogar sehr wahrscheinlich war — glückliche Zufälle eine weit wichtigere Rolle, jedenfalls aber hatte sich das Geschäft in diesen zwei Jahren ganz unerwartet entwickelt, das Personal hatte man verdoppeln müssen, der Umsatz hatte sich verfünffacht, ein weiterer Fortschritt stand zweifellos bevor.

Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Veränderung. Früher, zum letztenmal vielleicht in jenem Beileidsbrief, hatte er Georg zur Auswanderung nach Rußland überreden wollen und sich über die Aussichten verbreitet, die gerade für Georgs Geschäftszweig in Petersburg bestanden. Die Ziffern waren verschwindend gegenüber dem Umfang, den Georgs Geschäft jetzt angenommen hatte. Georg aber hatte keine Lust gehabt, dem Freund von seinen geschäftlichen Erfolgen zu schreiben, und jetzt nachträglich hätte es wirklich einen merkwürdigen Anschein gehabt.

So beschränkte sich Georg darauf, dem Freund immer nur über bedeutungslose Vorfälle zu schreiben, wie sie sich, wenn man an einem ruhigen Sonntag nachdenkt, in der Erinnerung ungeordnet aufhäufen. Er wollte nichts anderes, als die Vorstellung ungestört lassen, die sich der Freund von der Heimatstadt in der langen Zwischenzeit wohl gemacht und mit welcher er sich abgefunden hatte. So geschah es Georg, daß er dem Freund die Verlobung eines gleichgültigen Menschen mit einem ebenso gleichgültigen Mädchen dreimal in ziemlich weit auseinanderliegenden Briefen anzeigte, bis sich dann allerdings der Freund, ganz gegen Georgs Absicht, für diese Merkwürdigkeit zu interessieren begann.

Georg schrieb ihm aber solche Dinge viel lieber, als daß er zugestanden hätte, daß er selbst vor einem Monat mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld, einem Mädchen aus wohlhabender Familie, sich verlobt hatte. Oft sprach er mit seiner Braut über diesen Freund und das besondere Korrespondenzverhältnis, in welchem er zu ihm stand. „Er wird also gar nicht zu unserer Hochzeit kommen,“ sagte sie, „und ich habe doch das Recht, alle deine Freunde kennenzulernen.“ „Ich will ihn nicht stören,“ antwortete Georg, „verstehe mich recht, er würde wahrscheinlich kommen, wenigstens glaube ich es, aber er würde sich gezwungen und geschädigt fühlen, vielleicht mich beneiden und sicher unzufrieden und unfähig, diese Unzufriedenheit jemals zu beseitigen, allein wieder zurückfahren. Allein — weißt du, was das ist?“ „Ja, kann er denn von unserer Heirat nicht auch auf andere Weise erfahren?“ „Das kann ich allerdings nicht verhindern, aber es ist bei seiner Lebensweise unwahrscheinlich.“ „Wenn du solche Freunde hast, Georg, hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen.“ „Ja, das ist unser beider Schuld; aber ich wollte es auch jetzt nicht anders haben.“ Und wenn sie dann, rasch atmend unter seinen Küssen, noch vorbrachte: „Eigentlich kränkt es mich doch“, hielt er es wirklich für unverfänglich, dem Freund alles zu schreiben. „So bin ich und so hat er mich hinzunehmen“, sagte er sich, „ich kann nicht aus mir einen Menschen herausschneiden, der vielleicht für die Freundschaft mit ihm geeigneter wäre, als ich es bin.“

Und tatsächlich berichtete er seinem Freunde in dem langen Brief, den er an diesem Sonntagvormittag schrieb, die erfolgte Verlobung mit folgenden Worten: „Die beste Neuigkeit habe ich mir bis zum Schluß aufgespart. Ich habe mich mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld verlobt, einem Mädchen aus einer wohlhabenden Familie, die sich hier erst lange nach Deiner Abreise angesiedelt hat, die Du also kaum kennen dürftest. Es wird sich noch Gelegenheit finden, Dir Näheres über meine Braut mitzuteilen, heute genüge Dir, daß ich recht glücklich bin und daß sich in unserem gegenseitigen Verhältnis nur insoferne etwas geändert hat, als Du jetzt in mir statt eines ganz gewöhnlichen Freundes einen glücklichen Freund haben wirst. Außerdem bekommst Du in meiner Braut, die Dich herzlich grüßen läßt, und die Dir nächstens selbst schreiben wird, eine aufrichtige Freundin, was für einen Junggesellen nicht ganz ohne Bedeutung ist. Ich weiß, es hält Dich vielerlei von einem Besuche bei uns zurück. W