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Ein sensibler und unterhaltsamer Roman über die Komplexität moderner Beziehungen von der amerikanischen Bestsellerautorin Emma Straub. Was ist nach einem halben Leben von den Träumen und Hoffnungen der Jugend übrig? Durch einen Zufall findet Elisabeth heraus, dass ihr Mann Andrew sie vor Jahren betrogen hat. Elisabethʼ beste Freundin Zoe quält derweil der Gedanke, dass sie und ihre Frau Jane zwar als Geschäftspartnerinnen noch immer hervorragend funktionieren, die Gefühle im Alltag aber auf der Strecke geblieben sind. Und während die Mittvierziger mit alten Träumen und neuen Chancen hadern, machen ihre fast erwachsenen Kinder Harry und Ruby sich bereit, diesem Sommer ihren Stempel aufzudrücken und ins Leben aufzubrechen.
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Seitenzahl: 520
Emma Straub
Frauen, die lieben
Roman
Aus dem Englischen übersetzt von Gabriela Schönberger
Knaur e-books
Ein sensibler und unterhaltsamer Roman über die Komplexität moderner Beziehungen von der amerikanischen Bestsellerautorin Emma Straub.
Was ist nach einem halben Leben von den Träumen und Hoffnungen der Jugend übrig?
Durch einen Zufall findet Elisabeth heraus, dass ihr Mann Andrew sie vor Jahren betrogen hat. Elisabeth’ beste Freundin Zoe quält derweil der Gedanke, dass sie und ihre Frau Jane zwar als Geschäftspartnerinnen noch immer hervorragend funktionieren, die Gefühle im Alltag aber auf der Strecke geblieben sind. Und während die Mittvierziger mit alten Träumen und neuen Chancen hadern, machen ihre fast erwachsenen Kinder Harry und Ruby sich bereit, diesem Sommer ihren Stempel aufzudrücken und ins Leben aufzubrechen.
Für Nina,
bei der sich ein Umzug nach Ohio wie das reinste Vergnügen anhörte,
und für die Rutland Readers,
mit Dankbarkeit für sieben Jahre nachbarschaftliche Zuneigung.
Könnte ich es,
würde ich sesshaft werden.
Pavement (Rockband)
Du kannst nicht anders, wir auch nicht.
Gemeinsam, machtvolle Vergangenheit, beherrschen wir die Dinge.
Kenneth Koch, To the Past
Ruby Tuesday
Repräsentatives viktorianisches Juwel in Bestlage Ditmas Park. Fünf Schlafzimmer, antike Details wie versenkbare Schiebetüren, Zierleisten, imposante Treppe mit prächtigen Schnitzereien. Küche aufwendig modernisiert, Dach neu. Offener Kamin. Garage mit zwei Stellplätzen. Angenehme Wohnkultur im Herzen des Viertels, in unmittelbarer Nachbarschaft zu allen Einkaufsgelegenheiten und erstklassigen Restaurants der Cortelyou Road. Subway-Nähe. Eine echte Rarität!
Im Juni traf sich der Buchclub in Zoes Haus. Für Elizabeth bedeutete das, dass sie die schwere Keramikschüssel mit dem Spinatsalat mit Walnüssen und zerkrümeltem Ziegenkäse sage und schreibe einen halben Block weit zu schleppen hatte. Sie musste nicht einmal eine Straße überqueren. Keine der Frauen aus der Gruppe hatte es weit. Das war wichtig, denn es war so schon schwierig genug, einen gemeinsamen Termin zu finden und ein Buch zu lesen – wobei kaum mehr als die Hälfte der Gruppe es je bis zum Ende eines Romans schaffte –, ohne die Leute dafür auch noch in die Subway scheuchen zu müssen. Mit den eigenen Freunden konnte man sich treffen, wann und wo man wollte, und zum Abendessen quer durchs ganze Viertel fahren, wenn einem danach war – aber, hallo, hier spielte die Musik in unmittelbarster Nachbarschaft. Bequemer ging es nicht. Heute war ihr letztes Treffen vor der Sommerpause. Elizabeth hatte an sechs der zwölf Frauen Häuser verkauft und deshalb ein berechtigtes Interesse, sie bei Laune zu halten. Obwohl es nicht unbedingt von Nachteil war, wenn die Leute Brooklyn verließen und beschlossen, in einen Vorort zu ziehen beziehungsweise wieder dorthin zurückzukommen, wo sie früher gewohnt hatten, denn dann konnte sie mit einer doppelten Provision rechnen. Elizabeth liebte ihre Arbeit.
Mochte der Rest des Buchclubs auch aus Nachbarinnen bestehen, deren Wege sich sonst nie gekreuzt hätten – bei ihr und Zoe lag der Fall anders. Sie waren alte Freundinnen, um nicht zu sagen, allerbeste Freundinnen, wobei Elizabeth das in Zoes Gegenwart wahrscheinlich nie so formulieren würde, aus Angst, von ihr als spätpubertär verlacht zu werden. Nach der Universität, also in tiefster Steinzeit, hatten sie in eben diesem geräumigen viktorianischen Haus gewohnt, zusammen mit Elizabeth’ Freund – jetzt Ehemann – und zwei Typen, mit denen sie sich bereits eine Wohnung am Oberlin College geteilt hatten. Deswegen war es immer wieder schön, eine große Schüssel mit irgendetwas Selbstgemachtem zu Zoe hinüberzutragen, denn dann fühlte man sich gleich wieder in jenes Zwischenreich – arm an Geld, aber reich an improvisierten Dinnerpartys, zu denen jeder etwas beisteuerte – zurückversetzt. Besser bekannt als die Goldenen Zwanziger des Lebens. Ditmas Park lag gefühlte hundert Meilen von Manhattan entfernt, in Wirklichkeit waren es sieben, und bestand aus viktorianischen Häusern, wie sie überall in den Vereinigten Staaten hätten stehen können, im Norden begrenzt vom Prospect Park, im Süden vom Brooklyn College. Einige ihrer Schulfreunde zogen in Mietwohnungen im East Village oder in wunderschöne historische Reihenhäuser aus braunem Sandstein in Park Slope auf der anderen Seite des weitläufigen grünen Parks, doch sie hatten sich in die Vorstellung verliebt, in einem richtigen Haus zu wohnen. Und da waren sie nun, eingekeilt zwischen betagten italienischen Signoras und sozialem Wohnungsbau.
Als der Mietvertrag auslief, erwarben Zoes Eltern das Haus für ihre Tochter; mit Auftritten in Discos hatte sich das afroamerikanische Paar ein beträchtliches Vermögen ertanzt. Sieben Schlafzimmer, drei Bäder, großer Eingangsbereich, Auffahrt, Garage – hundertfünfzigtausend Dollar kostete das Haus damals. Den verschimmelten Teppich und den Bleianstrich gab es gratis dazu. Elizabeth und Andrew waren noch nicht verheiratet und weit entfernt von einem gemeinsamen Bankkonto, weswegen jeder seinen Mietanteil separat an Zoes Eltern in Los Angeles überwies. Zoe hatte im Lauf der Jahre mehrmals einen Kredit bei der Bank aufgenommen, um das Haus herrichten zu lassen, aber die Schulden waren abbezahlt. Irgendwann zogen Elizabeth und Andrew dann aus und für eine Weile ein paar Blocks weiter in die Stratford Road, um schließlich vor zwölf Jahren, als ihr Sohn Harry vier Jahre alt war, nur drei Türen entfernt selbst ein Haus zu erwerben. Inzwischen war Zoes Anwesen zwei Millionen wert, vielleicht mehr. Elizabeth versetzte es einen kleinen Stich, wenn sie daran dachte. Weder sie noch Zoe hätten es sich jemals vorstellen können, nach so vielen Jahren noch hier in der Gegend zu wohnen, aber es war einfach nie der richtige Zeitpunkt für eine Veränderung gekommen.
Elizabeth stieg die Stufen der breiten Veranda hinauf und spähte durch das Fenster. Sie war die Erste. Wie üblich. Das Esszimmer war vorbereitet, der Tisch gedeckt. Mit einer Flasche Wein in jeder Hand kam Zoe durch die Schwingtür der Küche gerauscht. Vergebens versuchte sie, eine störrische Locke aus den Augen zu pusten. Zoe trug knappe Jeans und ein verwaschenes kurzes Jäckchen, vor ihrer Brust baumelte ein verwegenes Durcheinander verschiedenster Ketten. Ob aus alter Gewohnheit in Secondhand-Geschäfte oder lieber in kleine, edle Boutiquen – egal, wohin Elizabeth mit Zoe zum Einkaufen ging, nichts stand ihr je so gut wie ihrer Freundin, die mit ihren fünfundvierzig Jahren noch immer so überirdisch lässig aussah wie damals mit achtzehn. Elizabeth klopfte ans Fenster und winkte, als Zoe aufblickte. Sie lächelte, wedelte mit dem dünnen Finger und deutete ihr an, hereinzukommen. »Die Tür ist offen!«
Im Haus roch es nach Basilikum und frischen Tomaten. Elizabeth ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und stellte ihre Salatschüssel auf dem Tisch ab. Ihre Handgelenke knackten, als sie sie ausschüttelte. Zoe kam um den Tisch herum und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Wie war dein Tag, Süße?«
Elizabeth ließ den Kopf von einer Seite zur anderen kreisen. Wieder knackte es. »Wie schon?«, sagte sie. »Wie immer. Was soll ich machen?« Sie sah sich im Zimmer um. »Soll ich noch mal heim und was holen?« Eine Essenseinladung für zwölf Personen war sogar in Ditmas Park eine Herausforderung. Unter normalen Umständen schaffte es gerade mal der harte Kern des Buchclubs zu kommen, so dass es der jeweiligen Gastgeberin keine großen Umstände machte und sie alle an ihrem Esstisch unterbringen konnte, aber hin und wieder – insbesondere vor dem Sommer – nahmen alle Frauen freudig die Einladung an. Und je nachdem, wer als Gastgeberin fungierte, sah sich die Gruppe gezwungen, zusätzliche Klappstühle über die Straße herüberzuschleppen, damit keine von ihnen wie ein schmollendes Kind an Thanksgiving auf dem Boden sitzen musste.
Über ihren Köpfen hörte man etwas Schweres zu Boden fallen. Rums. Und dann noch zweimal: Rums, rums.
»Ruby!«, rief Zoe und blickte zur Decke. »Komm runter und begrüße Elizabeth!«
Eine gedämpfte Antwort.
»Ist schon okay«, sagte Elizabeth. »Wo ist Jane? Im Restaurant?« Sie öffnete den Mund, um weiterzureden und ihre brandaktuellen Neuigkeiten, die jedoch nicht für die Ohren ihrer Nachbarinnen bestimmt waren, loszuwerden, bevor es an der Tür klingelte.
»Wir haben einen neuen Sous-Chef, und ich bin überzeugt, dass Jane hinter ihm steht und ihm über die Schulter schaut wie ein Sergeant. Du weißt doch, wie das am Anfang immer ist. Ein ewiges Drama. Ruby! Komm runter, bevor alle anderen auftauchen, die du nicht leiden kannst!« Zoe strich sich mit den Fingerspitzen über die Brauen. »Ich habe sie gerade für den Vorbereitungskurs für den SAT-Test angemeldet, dieser Eignungstest für die Uni, von dem du mir erzählt hast, und jetzt ist sie stinksauer.« Sie zischte wie ein Torpedo.
Oben wurde eine Tür zugeknallt, dann ertönten laute Schritte auf der Treppe. Auf der untersten Stufe blieb Ruby stehen. Seit Elizabeth sie vor ein paar Wochen das letzte Mal gesehen hatte, hatte die Farbe ihrer Haare, die wie ein Bienenkorb auf ihrem Kopf thronten, von einem blassen Grün zu einem lila schimmernden Schwarz gewechselt.
»Hey, Rube«, sagte Elizabeth. »Was geht ab?«
Ruby zupfte an ihrem Nagellack. »Nichts.« Im Gegensatz zu Zoes Gesicht war das von Ruby rund und weich, aber die beiden hatten die gleichen etwas schmalen Augen, die einen immer ein wenig skeptisch ansahen. Rubys Haut war drei Nuancen heller als die von Zoe, ihre Augen waren blassgrün wie die von Jane, und auch ohne das schwarzlila Haar und die miesepetrige Miene hätte sie einschüchternd gewirkt.
»Am Donnerstag steigt die Abschlussfeier, richtig? Was ziehst du an?«
Ruby trötete wie ein Kazoo, das Torpedo ihrer Mutter im Rückwärtsgang. Schon komisch, was Eltern ihren Kindern antaten. Selbst wenn sie es nicht darauf anlegten, wurde alles nachgemacht. Ruby sah zu ihrer Mutter, die nickte. »Ich habe eigentlich vor, eins von Mums Kleidern zu tragen. Das weiße, du weißt schon.«
Elizabeth wusste Bescheid. Zoe hatte nicht nur ein gutes Händchen beim Kauf von Kleidern, sie bewahrte sie auch auf. Zum Glück hatte sie eine Frau geheiratet, die tagaus, tagein eine Jeans und dazu abwechselnd die immer gleichen Button-down-Hemden trug. Mehr hätte in ihrem riesigen begehbaren Kleiderschrank auch keinen Platz gefunden. Das weiße Kleid war ein Überbleibsel aus Zoes Jugend: Ein gehäkeltes Mieder, mehr Luft als Materie, mit einem unanständig kurzen Röckchen aus baumelnden Schnüren. 1973 trug man so ein Kleid im Urlaub in Mexiko über einem Badeanzug. Ursprünglich hatte es Zoes Mutter gehört, und wahrscheinlich hatten sich im Saum immer noch ein paar Körnchen Quaaludes versteckt. Bevor sie die Bennetts kennenlernte, hatte Elizabeth nie Kontakt zu Eltern gehabt, auf deren Lebensstil ihre Kinder stolz waren und für den sie sich gleichzeitig schämten. Cool zu sein war gut, aber nur bis zu einem gewissen Punkt.
»Wow«, sagte Elizabeth.
»Das Thema ist noch nicht ausdiskutiert«, erklärte Zoe.
Ruby verdrehte die Augen und hüpfte hastig die letzte Stufe hinunter, als es an der Tür klingelte. Noch ehe ihre Nachbarinnen ins Haus kamen, jede eine mit Alufolie bedeckte Schüssel vor sich hertragend, war Ruby in die Küche geflitzt und mit einem Teller Essen bereits wieder auf dem Rückweg die Treppe hinauf.
»Hallööchen«, trillerten drei Frauen im Chor.
»Hallööchen«, stimmten Elizabeth und Zoe enthusiastisch mit ein in das Lied, das als Hintergrundmusik eines jeden Mädelsabends lief.
Wenn Elizabeth abends eine Verabredung hatte, war Andrew für Harrys leibliches Wohl zuständig. Harry war sehr heikel, was das Essen anging, ganz im Gegensatz zu den meisten Jungen seines Alters, die auch Pappe verzehrt hätten – Hauptsache, es war Salami drauf. Harry stocherte in seinem Essen herum wie ein kleines Kind und schob das, was er nicht mochte, an den Tellerrand. Für ihn hieß das: keine Oliven, keine Avocados, es sei denn in Form von Guacamole, keinen Frischkäse, keinen Kohl, keinen Sesam, keine Tomaten, es sei denn als Tomatensauce. Die Liste war lang und wurde immer länger. Jedes Mal, wenn Andrew kochte, hatte er das Gefühl, dass wieder etwas Neues dazugekommen war. Er öffnete den Kühlschrank und schaute hinein. Iggy Pop, ihr hagerer, dreifarbiger Kater, rieb sich an Andrews Schuh.
»Harry«, sagte Andrew und blickte in Richtung Wohnzimmer, aus dem das regelmäßige Piepsen und Blubbern von Harrys Lieblingsspiel Secret Agent zu ihm herüberdrang. Der Held des Spiels war ein Frosch mit Trenchcoat und Sherlock-Holmes-Mütze und, soweit Andrew informiert war, für Achtjährige konzipiert. Harry hatte nicht das geringste Interesse an Computerspielen wie Call of Duty oder Grand Theft Auto oder irgendeinem der unzähligen anderen Spiele, in denen Mord und Prostitution verherrlicht wurden. Und darüber war Andrew froh. Besser, einen Sohn zu haben, dem Frösche lieber waren als Maschinengewehre. Andrew hatte selbst harmlose Videospiele bevorzugt und zentimeterdicke Fantasy-Romane über Mäuse verschlungen. Sie waren einander sehr ähnlich, er und Harry. Mit einem weichen Kern wie ein Keks, den man zu früh aus dem Ofen genommen hatte. Aber war das nicht angesagt?
»Harry«, wiederholte Andrew, ließ die Kühlschranktür zuschnappen und blieb stehen. »Harry.«
Die Spielgeräusche verstummten. »Ich habe dich schon beim ersten Mal gehört, Dad«, sagte Harry. »Bestellen wir einfach eine Pizza.«
»Sicher?«
»Warum nicht?« Wieder setzten die Geräusche ein. Andrew holte sein Handy heraus und ging durch den Flur in Richtung Wohnzimmer. Iggy schlich hinter ihm her. Draußen war es noch immer hell. Einen Moment lang verspürte Andrew einen leichten Anflug von Traurigkeit beim Anblick seines sanftmütigen Sohnes, der überglücklich war, an einem wunderbaren Juniabend zu Hause sitzen zu dürfen. Keine Solo-Elfmeter im Park, kein spontanes Basketballmatch, nicht einmal eine verstohlene Zigarette auf einer versteckten Parkbank. Harry sah blass aus – Harry war blass, wie er so dasaß in seinem übergroßen schwarzen Sweatshirt, den Reißverschluss bis unters Kinn hochgezogen. »Willst du mal spielen?«, fragte Harry. Seine braunen Augen funkelten, als er aufblickte. Andrew ignorierte seine Traurigkeit und setzte sich neben seinen Sohn. Iggy Pop sprang auf seinen Schoß, rollte sich zusammen, der Frosch zwinkerte, und die Musik setzte ein.
Einer musste es ja machen. Einer musste diese Musik komponieren, harmlose kleine Melodien, die als Endlosschleife im Hintergrund liefen. Einer musste sich die Musik einfallen lassen, mit der in Seifenopern die dramatischen Pausen der Schauspieler betont wurden. Oder die Klingeltöne von Mobiltelefonen. Irgendeiner bekam Geld dafür und kassierte vielleicht sogar Tantiemen. Andrew war nie ein begnadeter Bassist gewesen, aber schon immer gut darin, sich Melodien einfallen zu lassen. Aus beruflicher Sicht war das wahrscheinlich das Einzige, das er jemals richtig gern gemacht hatte. Und wann immer er niedergeschlagen war, was eher öfter als selten vorkam, dachte Andrew an seine eigenen Tantiemen, an seinen und Elizabeth’ Scheck, mit denen sie zum großen Teil Harrys Erziehung in einer Privatschule finanzierten. Und das heiterte ihn dann wieder ein wenig auf. Immer gab es jemanden, dem es besserging, vor allem in New York City. Aber was sollte er sich damit herumquälen, immerhin hatte er in seinem Leben etwas geschaffen, das in Erinnerung bleiben würde.
»Dad«, sagte Harry, »du bist dran. Ich bestell die Pizza.« Harry schob sich die Haare aus den Augen und blinzelte wie ein Maulwurfjunges, das zum ersten Mal die Sonne erblickt. Er war so ein braver Junge, so ein braver Junge. Seit er ein Baby war, kannten sie kein anderes Thema. Zufrieden aneinandergekuschelt, das Babyphone zwischen sich, waren Andrew und Elizabeth im Bett gelegen und hatten seinem Glucksen gelauscht. Er war schon immer pflegeleicht gewesen. Alle ihre Freunde warnten sie, dass das nächste Kind das krasse Gegenteil wäre. Nichts als Ärger Tag und Nacht, aber das nächste Kind kam nie. Und so blieben sie zu dritt. Zu Anfang wollten die Leute noch wissen, warum sie nur ein Kind hatten. Doch je länger dieser Zustand andauerte, desto sicherer waren die Leute, dass es ihre freie Entscheidung war, und ließen es dabei bewenden. Sogar ihre Eltern hatten aufgehört zu fragen, als Harry sechs Jahre alt war. Und wer brauchte schon mehr Enkelkinder, wenn Harry seiner Großmutter freiwillig auf den Schoß kletterte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte, ohne dass man nachhelfen musste? Wer konnte mehr verlangen? Manche Bewohner der Nachbarschaft – nicht unbedingt Freunde, nur Nachbarn, denen man zuwinkte, wenn man den Abfall rausbrachte – hatten drei oder vier Kinder. Andrew kam das immer vor wie ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert, als man noch möglichst viele kleine Hände zum Melken der Kühe und für die Feldarbeit brauchte. Was tat man in Brooklyn mit so vielen Kindern? Waren deren Gene so gut und so wichtig für die menschliche Rasse? Er verstand, wenn religiöse Beweggründe dahintersteckten – wie bei den Lubawitscher Chassiden in Williamsburg oder den Mormonen in Utah. Sie wollten schließlich ins Endspiel. Aber er und Elizabeth? Sie taten ihr Bestes, und ihr Bestes war Harry. Der süße Harry. Halb wünschte Andrew sich, ihr Sohn möge beim SAT-Test kläglich versagen, für ein Studium als ungeeignet erachtet werden und für immer zu Hause bleiben. Aber selbstverständlich würde er auch bei diesem Test wieder glänzend abschneiden. Was er nur dem schwülstigen Schreibstil der Romane zu verdanken hatte, die er so gern las. Bereits als Baby hatte Harry Wörter geliebt, die mehr als eine Silbe hatten. »Das is auf-SER-egend«, brabbelte er beim Anblick des Brunnens an der Grand Army Plaza, der Wasserfontänen hoch in die Luft schleuderte. Da war er noch keine zwei Jahre alt.
»Ich hab dich lieb, Kumpel«, sagte Andrew.
Harry blickte auf sein Handy und drückte irgendwelche Tasten. »Bestellung erledigt.«
Ruby hasste den blöden SAT-Test mindestens ebenso sehr, wie sie die blöde Highschool verabscheute. Beides Hochburgen des Patriarchats und seines Beharrens auf männlicher Überlegenheit und ähnlichem sexistischem Schwachsinn. Gemessen am Standard anderer Privatschulen in Brooklyn, war die Whitman High eine gute Schule – nicht die beste, aber auch nicht die schlechteste. Hin und wieder schaffte ein Schüler sogar den Sprung an eine Elite-Uni. Die meisten aber gingen an Colleges wie Marist, Syracuse oder Purchase. Nicht so Ruby. Ruby pausierte ein Jahr. Eine höfliche Umschreibung des Umstands, dass sie an keiner der fünf Universitäten zugelassen worden war, an denen sie sich beworben hatte. Ihre unbegründet optimistischen Mütter waren überzeugt, dass daran nur ihr miserables Abschneiden beim SAT-Test schuld war, nicht ihre generell ablehnende Haltung, nicht ihre schlechten Noten oder bescheuerten Aufsätze zum Thema Leben als schwarze Jüdin mit zwei lesbischen Müttern – zumindest konnte man davon ausgehen, dass ihr so etwas einfallen würde. Und deshalb musste sie nun im Sommer nachsitzen und einen weiteren Vorbereitungskurs absolvieren. Wer machte so etwas schon? Kein Mensch. Ein Witz war das, und sie war das Opfer.
Das Handy auf ihrem Bett vibrierte: UM10AMSCHULHOF? Dust war neunzehn Jahre alt, hatte einen abgebrochenen Schneidezahn und einen kahlrasierten Schädel. Er gehörte zu den Kirchen-Kids, einer kleinen Gang aus Skatern, die den ganzen Tag die Stufen der Kirche gegenüber der Whitman High hinauf- und hinunterbretterten. Soweit Ruby wusste, ging keiner von ihnen zur Schule, nicht einmal diejenigen, die noch keine achtzehn Jahre alt waren. Manchmal verjagten die Sicherheitsleute der Highschool sie, aber nie für lange, da sie ja nichts Illegales taten. Dust war ihr Anführer. Seine Jeans saßen perfekt – weder zu eng, dass er darin aussah wie eine Tussi, aber auch nicht zu ausgebeult, als könnten sie irgendeinem alten Herrn gehören. Dust mit seinen Muskeln, die sich von selbst entwickelt zu haben schienen, bewegte sich wie ein Halbstarker aus den fünfziger Jahren, der die meiste Zeit damit verbrachte, in einer Autowerkstatt herumzuschrauben. Ruby bezog ihr Wissen über die fünfziger Jahre aus Filmen wie Grease und Denn sie wissen nicht, was sie tun. Ein Teenager zu sein, das war im Grunde genommen für jeden eine Katastrophe. Es sei denn, man hieß John Travolta. Aber der war ganz offensichtlich schon neunundzwanzig, und das zählte nicht. Die einzigen Schüler an der Whitman High, die spontan zu singen anfingen, waren die Streber von der Musical-AG. Ruby konnte sie ebenso wenig leiden wie die Sportler, die ihr noch bedauernswerter vorkamen, da die Whitman High nicht einmal über eine nennenswerte Sporthalle verfügte. Daneben gab es noch die normalen Streber, die nichts anderes taten, als auf Prüfungen zu lernen, und die Weltverbesserer, die einen immerfort zu Unterschriften auf ihre Petitionen gegen die Tötung der Wale und zur Rettung vor Ebola zu überreden versuchten. Vielleicht war es auch andersherum. Also waren die Kirchen-Kids ihre einzige Hoffnung. In sexueller Hinsicht zumindest.
KANNNICHT, schrieb sie zurück. DERBUCHCLUBMEINERMUMTAGT. GROSSEPARTY / BRINGTMICHUM.
SCHONOK, simste er, und dann war Funkstille.
Dass Ruby ihre Mutter »Mum« nannte, lag nicht an einer etwaigen Vorliebe für britisches Englisch. Schließlich hatte sie zwei Mütter, die sie irgendwie unterscheiden musste. Und so hatte sie eben eine Mom und eine Mum. Außerdem war die Sache mit dem Buchclub völlig unbedeutend und nur eine von vielen Ausreden in letzter Zeit. Vor drei Wochen hatte sie mit Dust Schluss gemacht. Oder zumindest dachte sie das. Vielleicht drückte sie sich nicht klar genug aus, als sie sich im Purity Diner neben der Schule von ihm nicht zu Pommes einladen ließ. Und dann, zwei Tage später, als sie gerade aus der Schule kam und Dust gegenüber auf der Kirchentreppe stand, tat sie so, als sähe sie ihn nicht, und ging direkt zur Subway, statt sich von ihm in den Park begleiten zu lassen, um dort so heftig herumzumachen, wie es in der Öffentlichkeit möglich war. Und da ging eine ganze Menge.
Die Sache mit Dust hatte einen Haken – er war weder sonderlich witzig noch unterhaltsam, es sei denn, man rechnete sein Talent für Skateboard-Fahren oder Oralsex dazu. Sein abgebrochener Zahn, sein stoppelhaariger Kopf und sein schiefes Grinsen taten es zwar ein paar Monate lang, aber als deren Strahlkraft nachließ, hatten die beiden bald keine anderen Themen mehr als American Idol – eine Show, die sie nicht leiden konnten – und die Neuauflage von Fast and Furiuos – die Ruby nicht gesehen hatte. Ein weiteres Problem war, dass das Restaurant von Rubys Müttern nur drei Blocks entfernt lag und man nie wusste, wann eine von beiden nach Hause kam. Ruby wusste nur eines mit Sicherheit: dass die beiden Dust nie über den Weg laufen durften. Denn hätten die drei auch nur ein Wort miteinander gewechselt, wäre dabei ein ähnliches Kauderwelsch herausgekommen, als versuchte man einem Hund Chinesisch beizubringen. Dust war nicht gemacht für Eltern. Er war gemacht für Straßenecken, mit Haschischklumpen in den Taschen, und das hatte Ruby hinter sich. Sie glitt vom Bett auf den Boden und kroch zu ihrem Plattenspieler. Während ihre Mom mit ihren klobigen Clogs und dem Männerhaarschnitt nicht gerade der Inbegriff von Erotik war, hatte Rubys Mum in der Hinsicht durchaus etwas zu bieten. Auch der Plattenspieler stammte von ihr. Den hatte sie schon am College, damals, als die Dinosaurier noch über die Erde trabten, aber jetzt gehörte er Ruby, und er war ihr wertvollster Besitz. Hätte sich Dust ihrer Zeit als würdig erwiesen, hätte sie ihn mit allen Bands bekannt gemacht, die sie so liebte – die Raincoats, X-Ray Spex, die Bad Brains. Aber er hörte sich nur Zeug wie Dubstep an, eine der größten Beleidigungen für die Ohren, die es je gab.
Ruby sortierte den Stapel Schallplatten am Boden und legte sie aus wie Tarotkarten, bis sie fand, wonach sie suchte. Aretha Franklin, Lady Soul. Aretha hatte nie ein Fanzine, so ein Fan-Magazin, gehabt und wahrscheinlich auch kein Piercing in der Nase, aber sie war trotzdem eine verdammt starke Frau. Ruby legte die A-Seite auf und wartete, bis die Musik einsetzte. Langsam ließ sie sich auf den Teppich zurückgleiten und starrte an die Decke. Durch den Fußboden drang das lauter werdende Geschnatter der Buchclub-Damen zu ihr herauf. Sie führten sich auf, als ob kein Mensch über dreißig je einen in der Krone gehabt hätte und es für alle das erste Mal wäre. Im Ernst. Bald würden sie anfangen, über ihre Männer und Kinder zu reden, und ihre Mum würde ihre Stimme zu einem Flüstern senken, wenn sie etwas sagte, aber Ruby konnte sie trotzdem immer heraushören und alles verstehen. Eltern schnallten es einfach nicht, dass Kinder, weil sie ein Gehör wie Fledermäuse hatten, einen sogar dann noch zu hören vermochten, wenn man sich auf der anderen Seite des Hauses befand und zu flüstern glaubte. Der Sommer nervte sie jetzt schon, und dabei hatte er noch gar nicht richtig angefangen.
Es war schon fast elf, und die letzten Partygäste standen in der Küche und halfen Zoe beim Aufräumen. Allison und Ronna waren beide neu im Viertel und begierig, Details zu erfahren. Elizabeth hatte an beide Immobilien verkauft – Allison ein entzückendes altes, renovierungsbedürftiges Haus an der Westminster zwischen Cortelyou Road und Ditmas Avenue und Ronna eine Wohnung an der Ecke Beverly Road und Ocean Avenue. Beide Frauen waren in den Dreißigern, verheiratet, ohne Kinder. Arbeiteten aber laut eigener Aussage daran! Junge Frauen liebten es, derlei Bemerkungen ins Gespräch einfließen zu lassen, vor allem Immobilienmaklern gegenüber. Was war Elizabeth nicht schon alles gewesen: Therapeutin, Eheberaterin, Medium, Guru – nur um zu einem schnelleren Verkaufsabschluss zu gelangen. Bestimmte Themen wie die Qualität der öffentlichen Schulen oder die ethnische Zusammensetzung des Viertels waren zwar rechtlich tabu, ebenso die Kriminalstatistik, aber das hielt die Leute keineswegs davon ab, den Makler auszufragen. Allison und Ronna flossen geradezu über vor Begeisterung, die anderen kennenzulernen, und berichteten kichernd von ihrer Suche nach Mischbatterien und Tapezierern. Elizabeth küsste beide auf die Wange und schickte sie nach Hause, wo sie in Ruhe weiter ihre Küchen inspizieren konnten.
Zoe, die am Spülbecken hantierte, tropfte mit ihren nassen Händen alle paar Minuten Seifenwasser auf den Fußboden. »Du hast mich erwischt«, sagte Elizabeth und streifte sich die Spritzer vom Arm.
»Ich bitte gnädigst um Verzeihung«, sagte Zoe. »Na, das war doch ein netter Abend. Wie heißt gleich noch mal das nächste Buch?«
»Sturmhöhe! Ausgerechnet Josephine, die noch nie in ihrem Leben ein Buch zu Ende gelesen hat, hat sich das ausgesucht! Würde mich nicht wundern, wenn sie sich nur den Film ausleiht. Ich bin sogar sicher, dass das der eigentliche Grund für ihren Vorschlag ist. Wahrscheinlich gibt es eine neue Verfilmung, die sie auf ihrem HBO-Abo gesehen hat, und jetzt wird sie so tun, als würde sie das Buch lesen. Den ganzen Abend über wird sie versuchen, uns weiszumachen, dass es auf einer Trauminsel in der Karibik spielt.« Elizabeth nahm den Stapel sauberer Teller und stellte ihn zurück in den Schrank.
»Du musst mir wirklich nicht helfen, Lizzy«, sagte Zoe.
»Ach, komm. Das sagt man zu Leuten, wenn man will, dass sie sich verabschieden.«
Zoe lachte. Elizabeth wandte sich um und lehnte sich an die Küchentheke. »Es gibt da was, worüber ich mit dir reden wollte.«
Zoe drehte den Wasserhahn zu. »So, ja? Ich auch. Du zuerst.«
»Sie wollen einen Film über Lydia drehen und brauchen dazu unsere Zustimmung und die Rechte an dem Song. Irgendein bekannter Mensch schreibt das Drehbuch. Der muss wirklich gut sein, ich habe den Namen vergessen.« Elizabeth verzog aufgeregt das Gesicht und presste die Lippen aufeinander.
Vor Urzeiten, noch vor Brooklyn und den Kindern, waren Elizabeth, Andrew und Zoe in einer Band gewesen und hatten seinerzeit – außer unzählige Auftritte in armseligen Kellerlokalen zu absolvieren und ihre Lieder auf einem pinkfarbenen Kassettenrecorder aus Plastik aufzunehmen – einen ihrer Songs, »Mistress of Myself«, an ihre Freundin und Ex-Bandmitglied Lydia Greenbaum verkauft. Lydia ließ daraufhin erst das College und dann ihren Nachnamen sausen, wurde von einer Plattenfirma unter Vertrag genommen, wurde in Frisur und Kleidung bald kopiert von allen Kids des St. Mark’s Place und erlangte damit eine gewisse Berühmtheit. Dann nahm sie den Soundtrack zu einem Experimentalfilm über eine Frau auf, die ihre rechte Hand bei einem Unfall in einer Fabrik verlor – Zero Days Since –, rasierte sich den Kopf, konvertierte zum Buddhismus und starb schließlich mit siebenundzwanzig Jahren an einer Überdosis wie Janis und Jimi und Kurt. Jedes Jahr an ihrem Todestag wurde »Mistress of Myself« von jedem College-Radiosender im Land den ganzen Tag über gespielt. Dieses Jahr jährte sich ihr Todestag das zwanzigste Mal, und Elizabeth hatte schon damit gerechnet, dass sich etwas tun würde. Der Anruf war am Vormittag gekommen. Es hatte bereits zuvor Anfragen gegeben, aber niemals von Leuten mit richtig viel Geld.
»Was?!« Zoe packte Elizabeth an den Ellbogen. »Willst du mich verscheißern? Wie viel bieten sie uns?«
»Oh, das weiß ich noch nicht, aber Andrew will auf keinen Fall zustimmen. Im Prinzip brauchen sie von jedem von uns eine Unterschrift wegen der Persönlichkeitsrechte, und dann müssen wir noch damit einverstanden sein, dass sie den Song in dem Film …«
»Und ohne den Song können sie keinen Film über Lydia machen.«
»Nein. Sie könnten schon, aber was hätte das für einen Sinn?«
»Hmm«, brummelte Zoe und fuhr fort: »Wer könnte sie spielen? Wer würde dich spielen? Wer mich? O mein Gott, Ruby, ganz klar! O mein Gott, das alles ist zu perfekt, der Wahnsinn, wow, her mit den Papieren. Ich sage: Ja.«
Elizabeth machte eine abwehrende Geste. »Oh, ich glaube nicht, dass der Teil mit uns eine so große Rolle spielen wird. Aber ich sage der Frau, dass sie dir den Vertrag zum Unterschreiben schicken soll. Ich bin ziemlich sicher, dass sie uns alle in einen Topf werfen werden, nach dem Motto: Zufallsfreundschaften am College Nummer eins, zwei und drei. Aber Andrew wird nie zustimmen, ihnen den Song zu überlassen. Das wühlt bei ihm bloß alles wieder auf.«
In den letzten zehn Jahren hatten Elizabeth und Andrew in aller Stille damit begonnen, gemeinsam Songs zu schreiben. Nur sie beide und meistens an den Nachmittagen, an denen Harry in der Schule war und sie nicht arbeiten mussten. Sie stellten zwei Stühle in die Garage, setzten sich und spielten drauflos. Elizabeth hätte nicht zu sagen gewusst, ob ihre neuen Lieder gut waren. Aber es machte ihr Freude, mit ihrem Mann gemeinsam zu singen und mit ihm auf eine so intime Weise verbunden zu sein, obwohl sie einen Meter getrennt voneinander dasaßen und es sich dennoch anfühlte, als berührten sie sich. Keiner wusste davon. Andrew wollte es so.
»Aber lassen wir das«, sagte Elizabeth. »Was hast du für Neuigkeiten?« Auf der Küchentheke stand noch ein halber Pecan-Kuchen von Josephine. Einmal im Monat brachte sie ihn mit, auch wenn er nicht in die Jahreszeit passte und die anderen Buchclub-Mitglieder ihn deshalb fast immer links liegenließen. Elizabeth stocherte darin herum.
»Ach«, sagte Zoe, »bei uns ist mal wieder die Rede davon, dass wir uns scheiden lassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, aber es sieht so aus, als könnte es diesmal wirklich ernst werden.« Bingo, Zoes alter Golden Retriever, schleppte sich aus seinem Versteck unter dem Esstisch hervor und presste sich mitfühlend gegen ihre Schienbeine. Zoe ging in die Hocke und drückte ihn an sich. »Jetzt umarme ich schon einen Hund«, sagte sie und fing zu schluchzen an.
»Schätzchen!«, rief Elizabeth, ging ebenfalls in die Hocke und schlang beide Arme um Zoe, während der Hund sich zwischen sie zwängte. In einer Situation wie dieser gab es gute und schlechte Fragen. So sollte man niemals nach dem Warum fragen oder überrascht wirken oder das Gegenteil, was im Grunde noch beleidigender war. »Oh, nein! Was ist los? Das tut mir so leid. Bist du okay? Weiß Ruby es? Überlegt ihr, das Haus zu verkaufen?«
Zoe hob den Kopf; ein Hundehaar klebte an ihrer feuchten Wange. »Mir auch. Ja. Nein. Na ja, vielleicht. Wahrscheinlich. Ich denke doch. Oh, Gott.«
Elizabeth tätschelte Zoes Kopf und zupfte das Hundehaar von ihrem Gesicht. »Ich helfe euch. Bei allem. Das weißt du doch, oder?«
Zoe nickte und schob schmollend die Unterlippe vor, deren zarte Haut blassrosa wie das Innere einer Muschelschale schimmerte.
Die Whitman Academy war eine kleine, private Highschool mit gerade mal achtundsechzig Absolventen in der Abschlussklasse. Ruby war eine von zwölf farbigen Schülern ihres Jahrgangs: drei Afroamerikaner, vier Latinos, fünf Asiaten. Ein jämmerlicher, deprimierender Zustand, aber so war die Situation an den Privatschulen in New York City. Zoe hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Ruby dorthin schickte. Sie wünschte sich größtmögliche Vielfalt bei den Mitschülern ihrer Tochter, aber alle Privatschulen waren gleich schlimm, die öffentlichen Schulen in ihrer Gegend schrecklich, und die Whitman High lag nun mal am nächsten. Es war, wie es war.
Die Abschlussfeier fand nach Einbruch der Dunkelheit statt, was alle berufstätigen Eltern glücklich machte und den Schülern das Gefühl gab, an einer veritablen Galaveranstaltung teilzunehmen. Falls derlei Ermutigung überhaupt noch nötig war. Die Schule lag am Prospect Park West, und das bedeutete, dass es beinahe unmöglich war, einen Parkplatz zu finden. Aber Ruby trug Schuhe mit hohen Absätzen und weigerte sich, die paar Schritte von der Subway zu Fuß zu gehen. Sie hätten ein Taxi nehmen können, aber da es regnete, glich der Versuch, in Ditmas Park ein Taxi anzuhalten, dem Bemühen, einen Eisbären einzufangen. Es war aussichtslos. Zoe saß auf dem Fahrersitz ihres Hondas, der in der Auffahrt stand und dessen Motor im Leerlauf lief. In zwanzig Minuten mussten sie dort sein. Jane hatte sich den Abend freigenommen, was nichts anderes hieß, als dass sie im Moment vermutlich in ihrer eigenen statt in der Küche ihres Restaurants stand, telefonierte, bei einem Lieferanten in New Jersey zwanzig Pfund Urtomaten bestellte und dabei auf dem Stummel eines Bleistifts herumkaute, bis der aussah wie die knorrige Wurzel eines Baums. Im Radio lief ein Kulturprogramm, aber Zoe war nicht in der Stimmung dafür. Auf der Suche nach einem anderen Sender drehte sie am Knopf und erstarrte mitten in der Bewegung, als sie den Chor von »Mistress of Myself« und Lydias charakteristisches Kreischen hörte. Sicher, es war ein gutes Lied, aber im Grunde war es nicht mehr als der richtige Song zur richtigen Zeit gewesen, interpretiert von der richtigen Stimme.
Lydia war nichts Besonderes gewesen, damals am Oberlin College. Ein wenig dicklich wie die meisten von ihnen, die wegen des ungewohnten Essens in der Cafeteria, dem Softeis und den Kartoffelkroketten, die es zu jeder Mahlzeit gab, ein paar Pfunde zugenommen hatten. Sie hatten alle im selben Studentenheim gewohnt, im South-Dorm. Die meisten Erstsemester waren auf der anderen Seite des Campus untergebracht und hatten viele Konservatoriumsstudenten als Mitbewohner. Als ihre Eltern sie ablieferten, hatte Zoe ein Mädchen und seine Mutter beobachtet, wie sie gemeinsam eine Harfe die Treppe hinaufbeförderten. Zoe und ihre Freunde waren jedoch keine echten Musiker, zumindest nicht gemessen an den Wunderkindern des Konservatoriums, die von klein auf an ihre Instrumente gekettet wurden. Zoe spielte Klavier und Gitarre, und Elizabeth hatte seit ihrem zehnten Lebensjahr Gitarrenunterricht. Andrew verfügte bestenfalls über rudimentäre Kenntnisse als Bassist. Lydia sollte als Schlagzeugerin bei ihnen einsteigen, aber sie besaß kein Schlagzeug, nur ein Paar Stöcke, mit denen sie auf allem herumtrommelte, was in greifbarer Nähe war. Damals war ihr Haar noch braun und sanft gewellt wie das der meisten Mädchen aus einem bürgerlichen Vorort wie Scarsdale. Sobald aus Lydia jedoch der Star Lydia geworden war, verleugnete sie selbstredend ihre Herkunft.
Zoe hörte Rufe aus dem Haus. Sie schaltete das Radio aus und kurbelte das Fenster herunter. Ruby und Jane kamen durch die Eingangstür gestürmt, Ruby in ihrem weißen Fransenkleid und Jane mit einem versteinerten Ausdruck der Ungläubigkeit auf dem Gesicht.
»Willst du mich provozieren?«, fragte Jane und steckte den Kopf auf der Beifahrerseite durch das Fenster.
»Mom, Himmel, es ist doch nur ein Kleid«, ächzte Ruby und schob sich auf den Rücksitz.
»Aber definitiv kein ganzes Kleid.« Jane ließ sich ins Auto sacken. Ihr schwerer Körper brachte den kleinen Wagen zum Schwingen, während sie die Tür zuzog und den Sicherheitsgurt schloss. Ohne Zoe anzuschauen, redete sie weiter. »Ich kann es nicht glauben, dass du ihr erlaubt hast, das anzuziehen.«
»Ich bin hier, hallo«, sagte Ruby.
Jane starrte geradeaus. »Fahr los. Mir ist das alles zu viel.«
Zoe wendete den Wagen. Im Rückspiegel trafen sich ihr und Rubys Blick. »Wir freuen uns so für dich, Liebes.«
Ruby verdrehte die Augen. Eine unbewusste Reaktion so wie das Atmen, eine automatische Antwort auf alles, was ihre Mütter sagten. »Das sehe ich«, erwiderte sie. »Ihr könnt mich ja bei Chloes Familie abladen, sie gehen zum Essen ins River Café.«
»Das River Café ist auch nicht mehr das, was es mal war«, sagte Jane. »Diese blöden Brooklyn-Bridge-Schokoladenkuchen. Die sind doch nur was für Touristen.«
»Ich weiß«, sagte Ruby, wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus.
Als sie zur Schule kamen, sprang Jane aus dem Wagen und tauschte Platz mit Zoe. Einer musste ja so lange um den Block kreiseln, bis er einen Parkplatz fand. Ruby würde einen Nervenzusammenbruch bekommen, wenn sie gefühlte dreihundertmal an der Schule vorbeifahren musste, ehe sie hineingehen konnte. Vor dem Schulgebäude und im Foyer wimmelte es von Absolventen und ihren Familien, die sich alle herausgeputzt hatten wie für einen richtigen Abschlussball. An der Whitman High gab es so etwas natürlich nicht. Viel zu bieder und spießig. Stattdessen hatte man mit allen Lehrern eine Party in einem ausgebauten Loft in Dumbo veranstaltet. Zoe wartete nur auf die E-Mail, dass Schüler und Lehrer bei einer Gruppenorgie in den Toilettenräumen erwischt worden waren. Die meisten Lehrer sahen ohnehin aus wie Schüler, die bereits öfter nicht versetzt worden waren, fast alle waren junge Männer mit kurzen Bärten an Wangen oder Kinn, wahrscheinlich um zu beweisen, dass sie tatsächlich Bartwuchs hatten. Ruby hatte die Party geschwänzt. »Ist mir zu ätzend.« Zoe hatte ihr insgeheim zugestimmt.
Zoe ließ sich von Ruby durch die hinein- und herauswogende Menge vor der Schule lotsen. Sie nickte, winkte und begrüßte Eltern, die sie kannte, und drückte dem einen oder anderen Schüler kurz den Arm. Es war eine kleine Schule, und Ruby besuchte sie, seit sie fünf war. Zoe kannte folglich fast jeden, ob Ruby denjenigen nun für würdig erachtete, das Wort an ihn zu richten, oder nicht. Chloe, Paloma, Anika und Sarah – Rubys mal geliebte, mal gehasste beste Freundinnen – waren bereits drinnen und posierten mit Eltern und Geschwistern für Erinnerungsfotos. Zoe wusste, dass Ruby sie und Jane baldmöglichst links liegenlassen und zu ihren Freundinnen gehen würde. Der Hormonschub, den der bevorstehende Abschluss hervorrief, ließ den normalen Pubertätssturm wie ein laues Lüftchen erscheinen: Ruby war seit Monaten im Ausnahmezustand. Als sie durch die schwere Eingangstür ins Innere traten, sah Zoe Elizabeth und Harry auf der anderen Seite des Foyers stehen.
»Hey, warte«, sagte sie zu Ruby und deutete auf die beiden. Widerwillig blieb Ruby stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ruby! Gratuliere, mein Schatz!« Die gute Elizabeth. Sie ließ sich von Rubys tödlichen Blicken nicht irritieren. »Dieses Kleid sieht phänomenal aus an dir. Echt scharf!« Zoe sah, wie ihre Tochter sich ein wenig entspannte. Sie brachte es sogar fertig, sich ein zaghaftes Lächeln abzuringen.
»Danke«, sagte Ruby. »Ich meine, ist ja nur die Highschool. Also kein großes Ding. Das wär’s nur, wenn man den Abschluss nicht schafft, verstehst du? Ich habe schließlich auch mal das Laufen und den Umgang mit Messer und Gabel gelernt.«
Harry kicherte. »Ich kann mir sogar schon selbst die Schuhe binden«, sagte er. Wie zur Bekräftigung, und um Ruby nicht in die Augen sehen zu müssen, bohrte er die Zehenspitze in den Boden. Harry und Ruby waren zusammen aufgewachsen, hatten fast ihr ganzes Leben lang nur drei Häuser entfernt voneinander gewohnt, doch in den letzten paar Jahren hatte sich etwas verändert. Als Kinder hatten sie zusammen gespielt, gemeinsam gebadet, Sandburgen gebaut und sich kleine Tänze ausgedacht. Jetzt brachte Harry in Rubys Gegenwart kaum einen Ton heraus. Wenn er neben ihr stand, konnte Harry meistens an nichts anderes denken als an das Foto, das seine Mutter von ihm und Ruby auf ihrer Kommode stehen hatte. Da war er ein Jahr alt und sie zwei, und sie standen nackt im Vorgarten. Sein Penis sah so winzig aus, so klitzeklein wie die kleinste Babykarotte in der Tüte, die man sich gar nicht zu essen traute aus Angst, es könnte eigentlich eine Zehe sein.
»Genau.« Über Harrys Kopf hinweg ließ Ruby den Blick durch den Raum wandern. »Oh, Scheiße«, stammelte sie. Zoe, Elizabeth und Harry drehten gleichzeitig den Kopf und schauten in die Richtung. »Mum, du bleibst da.« Unter Einsatz beider Ellbogen bahnte Ruby sich einen Weg durch den Raum.
Zoe reckte den Hals, während immer mehr Leute hereinströmten. »Mit wem redet sie da, Harry?«
»Das ist Dust«, antwortete Harry und bereute es noch in derselben Sekunde. Er hatte sie vor der Schule gesehen, wie sie sich küssten, und im Dunkeln in ihrer Straße, wo sie zwischen den geparkten Autos standen. Dust gehörte ganz gewiss nicht zu den Jungen, die ein Mädchen mit nach Hause zu den Eltern brachte, auch wenn diese so cool wie die von Ruby waren. Das hätte zu viele Fragen aufgeworfen. Dust gehörte zu den Typen, die Rubys Mütter zu adoptieren versucht hätten, wäre das Leben eine Sitcom gewesen. Denn dann hätte es sich herausgestellt, dass er nicht lesen konnte und seit seinem zwölften Lebensjahr auf einer Parkbank lebte. Doch im richtigen Leben war Dust irgendwie unheimlich. Ruby sollte besser die Finger von ihm lassen. Harry hatte jede Menge guter Ideen, mit wem sie stattdessen hätte gehen sollen, und alle liefen auf ihn hinaus.
»Dust?«, fragte Elizabeth.
»Ist das ein Name oder ein Zustand? Geht er hier zur Schule? Wie alt ist er?«, wollte Zoe wissen.
»Was?«, fragte Harry und legte eine Hand an sein Ohr. Im Foyer der Schule wurde es immer lauter, und er fing an zu schwitzen. Besser, er tat so, als habe er nichts gehört. Ruby würde wütend auf ihn sein. Plötzlich wünschte Harry sich die Gleichgültigkeit zurück, mit der sie ihn seit der neunten Klasse bedachte.
Der Leiter der Highschool trat vor die Menge und forderte die Absolventen auf, sich in einer Reihe aufzustellen. Langsam lösten sich die Gruppen auf. Aufgeregte Eltern fotografierten einander mit ihren Handys, manche sogar mit echten Kameras. Die Lehrer trugen Krawatten und schüttelten Hände. Elizabeth umfasste Harrys Schultern. »Ich bin sicher, das ist in Ordnung. Sollen wir schon mal hineingehen? Zoe, soll ich dir und Jane Plätze besetzen?«
»Warte kurz«, erwiderte Zoe. Da die Leute jetzt in die Aula strömten, fiel der Blick ungehindert durch das Foyer bis zu der Tür, wo Ruby stand und heftig mit dem Jungen stritt, der aussah wie ein Skinhead. Gab es überhaupt noch Skinheads? Der Junge war größer als Ruby und beugte sich beim Sprechen nach vorn, die Schultern rund wie die eines alten Mannes. Ruby wirkte aufgebracht und der Junge ebenfalls. Sein Gesicht war hager, und er starrte drohend ihre Tochter an. »Harry, raus mit der Sprache.«
Harry spürte, wie sein Gesicht zu brennen begann. »Scheiße«, sagte er. »Er ist ihr Freund.«
»Heißt er nun Dust oder Scheiße?«, fragte Elizabeth. »Was ist das für eine Geschichte?«
Chloe und Paloma bahnten sich ihren Weg zu Ruby hinüber, auf ihren neuen Absätzen staksend wie zwei Baby-Dinosaurier. Harry öffnete den Mund, um eine Antwort zu geben – er war noch nie ein guter Lügner gewesen –, aber genau in dem Moment stieß Ruby einen kleinen Schrei aus. Noch ehe er überlegen konnte, was er tat, stürzte Harry quer durch den Raum und warf sich mit seinem ganzen Körper gegen Dust, woraufhin die beiden mit einem dumpfen Aufprall zu Boden gingen. Harry spürte, wie Dust sich auf die Seite rollte, und dann sah er ihn nur noch auf Händen und Füßen wie einen Einsiedlerkrebs davonflitzen und durch die Tür verschwinden. Ruby stand über Harry und hatte die Hände vor den Mund geschlagen. Einen Moment lang sah sie tatsächlich erschrocken aus. Die weißen Fransen ihres Kleides bebten ein klein wenig, als würde sie tanzen. Es war das schönste Kleid, das Harry je gesehen hatte. Es war nicht einfach nur ein Kleid: Es war eine Offenbarung. Ein speiender Vulkan, der Hunderte blasser Touristen in den Tod reißen würde, und Harry war mehr als bereit für die strömende Lava. Als Ruby ihre Fassung wiedererlangt hatte, sah sie sich um. Ein Halbkreis hatte sich um sie herum gebildet, den ihre Mütter in diesem Moment durchbrachen, die Münder weit aufgerissen wie zwei hungrige Guppys. Ruby wandte sich zu der Menge um, lächelte und winkte huldvoll, die Ellbogen angewinkelt, wie bei einer Misswahl. Chloe und Paloma stießen erstickte Laute aus und griffen nach Ruby, die sie jedoch ignorierte. »Mein Held«, sagte sie neckisch zu Harry und streckte die Hand aus, um ihm vom Boden aufzuhelfen.
In Elizabeth’ und Andrews Schlafzimmer war es viel zu warm. Alle drei Fenster standen sperrangelweit offen, ein großer Ventilator drehte sich von links nach rechts, trotzdem war es noch unangenehm heiß. Iggy Pop hatte seinen Stammplatz auf ihrem Bett zugunsten des kühleren Fensterbretts aufgegeben. Elizabeth beneidete die Katze. Die tragbare Air-Condition befand sich noch im Keller, da Andrew seinen ganzen Ehrgeiz dareinsetzte, so lange wie möglich damit zu warten, sie heraufzuholen. In einem Sommer, noch vor Harrys Geburt, hatten sie damit bis zum fünfzehnten Juli gewartet.
Elizabeth schob das oberste Laken von sich und rollte sich auf die Seite. »Ich dachte, es soll regnen und ein wenig abkühlen«, sagte sie.
»Der Planet liegt im Sterben«, bemerkte Andrew. »Im Januar wirst du diesen Zustand mehr zu schätzen wissen.« Scherzhaft stupste er sie mit einer Zehe an.
»Ach, hör auf«, sagte Elizabeth und wischte sich über die Stirn. Es war schon fast Mitternacht. »Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass Harry auf jemanden losgegangen ist.«
»Für mich klingt das nicht so sehr nach einer Attacke«, sagte Andrew, »als vielmehr nach einer Rettungsaktion. Aber du hast recht, das sieht ihm gar nicht ähnlich. Vielleicht war da eine Wespe, und er wollte den Jungen zur Seite schubsen.« Andrew rollte sich ebenfalls herum, so dass er und seine Frau einander ins Gesicht sahen. »Aber auch das klingt nicht nach ihm.«
»Nein, Harry hat sich auf diesen Jungen gestürzt wie eine Rakete. Er lief los, und dann war er auch schon in der Luft. Ich kann es immer noch nicht fassen. Wie in einem Action-Film. Sein ganzes Leben lang habe ich ihn nicht so schnell laufen sehen.«
»Wirklich eigenartig.« Andrew setzte sich auf und trank ein paar Schluck Wasser. »Ich kann es nicht glauben, dass er nächstes Jahr auch schon so weit ist.«
»Hoffen wir, dass ihn dann niemand umrennt. Der Bursche sah übrigens aus wie fünfundzwanzig. Ich wette, der ist schon dreimal durchgefallen. Kannst du dich noch daran erinnern, was das für ein Gefühl war?« Elizabeth legte sich wieder auf den Rücken und ließ die Beine aus dem Bett baumeln. »Aber was anderes«, fuhr sie fort. »Willst du über Lydia reden? Ich habe ihnen gesagt, dass sie so bald wie möglich eine Antwort von mir bekommen.«
»Muss das jetzt sein? Ich bin müde, okay?«, erwiderte Andrew. Elizabeth murrte. »Reden wir morgen darüber. Hab dich lieb.« Er knipste seine Nachttischlampe aus und küsste Elizabeth auf die Stirn. »Gute Nacht.«
Elizabeth starrte auf den Hinterkopf ihres Mannes. Sein dunkelbraunes Haar wurde langsam grau an den Schläfen und auch hier und da auf dem übrigen Kopf, aber es war noch immer voll und lockte sich an den Spitzen, wenn er es ein paar Monate lang nicht geschnitten hatte. Sie lauschte seinem Atem, bis er weich und fließend wurde. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Andrew hatte wie jedermann seine Probleme, aber Schwierigkeiten mit dem Einschlafen hatte er nie gehabt. Er war wie ein Roboter. Wenn es an der Zeit war, machte er die Augen zu und schlief ein.
Ein seltsames Gefühl, an Lydia zu denken. Als sie sich damals alle kennengelernt hatten, waren sie gerade mal zwei Jahre älter gewesen als Harry jetzt, ein Jahr älter als Ruby. Elizabeth konnte sich noch gut an diese Zeit erinnern: wie sie sich fühlte, wenn sie auf eine Party kam; wie sich ihre Haut nach drei Tagen mit reichlich Bier und null Zeit zum Duschen anfühlte; wie es war, zum ersten Mal mit jemandem zu schlafen. Zum ersten und einzigen Mal! Sie dachte damals immer, sie hätte mehr Jahre, um sich auszutoben, mehr peinliche Momente des morgendlichen Aufwachens neben Fremden, aber sie und Andrew waren sich früh begegnet, und dann war es für sie gelaufen gewesen. Fünf Männer. Das war Elizabeth’ ganze sexuelle Ausbeute. Jämmerlich. Ihre Freunde, die ihre Ehepartner erst in den Dreißigern kennenlernten, hatten mindestens mit zwanzig Leuten geschlafen, wenn nicht mit mehr. Taylor Swift hatte sicher mit mehr Leuten Sex gehabt als sie. Gut für sie. Die meisten Eltern an der Whitman High waren zehn Jahre älter als sie und Andrew und schüttelten sich bestimmt bei der Vorstellung. Als wäre sie bereits im Teenageralter Mutter geworden. Aber Zoes und Janes Romanze war gerade mal zwei Jahre alt, als sie Ruby bekamen, und plötzlich hatte Elizabeth ihre biologische – oder ihre an den inneren Rhythmus von Zoe angepasste – Uhr wie verrückt ticken gehört, und sie hatten sich ein Beispiel an den beiden genommen und zwischen einer Periode und der nächsten jeden Tag gevögelt.
Elizabeth war glücklich in ihrer Ehe. Daran gab es keinen Zweifel. Nur manchmal dachte sie an all die Erfahrungen, die ihr entgangen waren, und an all die Nächte, in denen sie dem Schnarchen ihres Mannes gelauscht hatte, und dann wollte sie einfach nur noch aus dem Fenster springen und mit dem erstbesten Menschen, der sie ansprach, nach Hause gehen. Sich für jemanden zu entscheiden war einfach, bis einem klarwurde, wie lang das Leben sein konnte.
Aber es schmeichelte ihr, dass ihr Song dem Publikum noch immer etwas zu sagen hatte. Manche Hits alterten nur langsam. Kein Mensch käme auf die Idee, dass ein Song wie »Who Let the Dogs Out« etwas mit einer innerlichen Befindlichkeit zu tun haben könnte. Aber »Mistress of Myself« hatte sich besser als die meisten gehalten. Junge Frauen, die alles satt hatten, empfindsame junge Männer, von allen Wirren der Pubertät geplagte Teenager, stillende junge Mütter, jeder Mann und jede Frau, die einen Boss hatten, den sie hassten, oder einen Liebsten, von dem sie nicht genügend Aufmerksamkeit bekamen – der Song war auf überraschend viele Situationen übertragbar. Den Text hatte Elizabeth im Handumdrehen verfasst, im Herbst ihres zweiten Studienjahres, zusammengekauert in einem der kugelrunden, orangefarbenen Stühle in der Bibliothek. Ein sogenannter »Womb Chair« aus den sechziger Jahren, der deshalb so hieß, weil er rund und gemütlich war, tief genug, um wie in einen Schoß hineinzukriechen. Bestimmt hatte mehr als ein Student versucht, sich neun Monate darin aufzuhalten. Innen war der Sessel mit Polsterschaum ausgekleidet, aber man dachte besser nicht darüber nach, wie mühsam es war, ihn zu reinigen. Elizabeth liebte es, sich in einem dieser Kugelstühle zu verkriechen, zu lesen oder in ihr Notizbuch zu schreiben. Alle anderen am Oberlin standen auf Foucault und Barthes, aber ihre Heldin hieß Jane Austen. Einen Roman wie Verstand und Gefühl las sie zum Vergnügen, und auf einer der letzten Seiten des Buches hatte sie das Zitat gefunden: Elinor Dashwood war eben dabei, sich auf einen Besuch von Edward Ferrars vorzubereiten, den sie sehr liebte, von dem sie aber glaubte, er habe sie verlassen. »Ichwerdeganzruhig sein. Ich werde mich beherrschen«, dachte Elinor. Zitatende. Herrin ihrer selbst, dachte Elizabeth.
Elizabeth verstand nur allzu gut diesen Wunsch nach Kontrolle, die Notwendigkeit, die Worte laut auszusprechen. Keine der Frauen in St. Paul, Minnesota, war jemals voll und ganz Herrin ihrer selbst gewesen. Elizabeth’ Mutter und ihre Freundinnen gingen alle zum selben Friseur, kauften in denselben Geschäften ein, schickten ihre Kinder auf dieselbe Schule. Sie war überzeugt, dass sie auch alle das Gleiche zum Abendessen aßen, mit Ausnahme von Purva vielleicht, deren Eltern aus Indien stammten, und Mary, deren Eltern Koreaner waren.
Elizabeth drehte den Stuhl so, dass sie zum Fenster hinaussehen konnte, und schlug ihr Notizbuch auf. Fünfzehn Minuten später war der Song fertig. An diesem Nachmittag zeigte sie den Text Zoe, Andrew und Lydia, und als sie abends zu Bett gingen, stand die Musik. Ihre Band hieß Kitty’s Mustache, eine Referenz an Tolstois Heldin. Sie waren ganz gewöhnliche College-Kids, die sich an ihrer eigenen Klugheit berauschten. Keiner hatte je zuvor einen Gedanken daran verschwendet. Und so war es der bis heute beste Abend ihres Lebens.
Das mit ihr und Andrew war nichts Ernstes. Sie hatten drei- oder viermal miteinander geschlafen. Meistens, wenn sie betrunken waren, einmal sogar auf Ecstasy. Aber das war wahrscheinlich nur ein Aspirin mit ein paar Körnchen Kokain darauf gewesen. Wie Parmesan auf einer Lasagne. Andrew war ein zurückhaltender, ein wenig zorniger junger Mann – eine unwiderstehliche Mischung. Er trug nur Schwarz. Schwarze Drillichhosen, schwarze T-Shirts, schwarze Socken, schwarze Schuhe. Er strahlte eine gewisse Zurückhaltung aus, die Elizabeth gefiel, aber sie war sich nicht sicher. Seine Eltern waren reich, und er hasste sie. Die alte Geschichte. Elizabeth war neunzehn, Andrew zwanzig Jahre alt, aber so wichtig war das nicht. Doch dann war sie zwanzig, zweiundzwanzig, vierundzwanzig, und dann waren sie verheiratet. Als Lydia die anderen Bandmitglieder fragte, ob sie die Rechte für den Song bekäme, damit sie ihn aufnehmen und herausbringen könne, musste Elizabeth nicht eine Sekunde lang nachdenken. Auch sie hatte nie die Chance gehabt, Herrin ihrer selbst zu sein. Keiner von ihnen hielt Lydia für eine große Sängerin. Erfahrungsgemäß war sie das nicht. Was konnte also schon passieren?
Am schlimmsten war es für Andrew gewesen, miterleben zu müssen, dass Lydias Version des Songs durchstartete wie eine Rakete. Elizabeth war hingegen der Ansicht, dass jeder Song – große Songs, perfekte Songs – ohnehin der ganzen Welt gehörten. Spielte es da eine Rolle, wer »They Can’t Take That Away from Me« geschrieben hatte, wenn Ella Fitzgerald und Billie Holiday den Song beide auf ihre unnachahmliche Art interpretierten? Gute Songs verdienten es einfach, gehört zu werden. Man musste verschwenderisch mit seinem Talent umgehen. Wozu emotional werden? Sie hatte den Text geschrieben, die Zeilen zu Papier gebracht, doch Lydia war besser darin, ihn in die Welt hinauszutragen. Andrew dagegen war eher ein Sammler. Und Zoe hatte von ihren Eltern mitbekommen, dass das Musikbusiness durch und durch verkommen war. Und damit wollte sie nichts zu tun haben.
Elizabeth hatte seit ihrem Abschluss am Oberlin College drei verschiedene Jobs gehabt. Sie arbeitete als Assistentin eines früheren Partners ihres Vaters in dessen Anwaltskanzlei in der Nähe der Grand Central Station. Von Ditmas Park aus war sie ewig unterwegs gewesen, und ihr Arbeitstag war so lang, dass sie oft in der Subway auf dem Nachhauseweg einschlief und erst an der Endstation, in Coney Island, wieder aufwachte. Bei ihrer zweiten Anstellung, wieder als persönliche Assistentin, hatte sie für eine Verlegerin von Kunstbüchern in Chelsea gearbeitet. Ihre Chefin war gerade dabei, ihr Stadthaus zu verkaufen und den Umzug nach Brooklyn vorzubereiten, und es war Elizabeth’ Aufgabe, ihr dabei zu helfen. Sie vermaß Wände, klebte Bücherkisten zu, packte ein und packte aus. So kam sie zu ihrem dritten Job – der Immobilienmaklerei. Das war schon so lange her, dass ihr die Arbeit mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen war. Sie fühlte sich dabei wie ein Lehrer oder wie ein Bildhauer, der Objekte aus Sand macht – ein greifbares Ergebnis sah man nie. Man konnte nur darauf vertrauen, dass man wusste, was man tat, und dass alles gut ausgehen würde. Hin und wieder kam es vor, dass sie einer Fernsehschauspielerin ein Haus verkaufte, und dann waren Fotos davon in der Zeitung. Aber Elizabeth hätte sich nie etwas darauf eingebildet. Ihr Beruf war nicht sehr anspruchsvoll. Wie eine Stewardess half auch sie den Leuten, von einem Ort zum andern zu gelangen.
Schwer zu sagen, was Elizabeth beim Verkaufen von Häusern am meisten Freude machte, wahrscheinlich die Vorstellungskraft, die dazu nötig war. Sie mochte es, einen Raum zu betreten und sich auszumalen, welches Potenzial darin steckte. Einen großen Teil ihrer Einkünfte verdankte sie dem Verkauf von Wohnungen, zumeist seelenlose Neubauten, aber am liebsten vermittelte sie alte Häuser, vorzugsweise an Leute, die diese zu schätzen wussten.
Elizabeth schwang die Beine aus dem Bett und rutschte vor zur Kante, bis sie mit den Fußspitzen den Holzboden berührte. Die Bodenbretter knarrten – das Haus war immerhin hundert Jahre alt –, das taten Bodenbretter nun mal. Sie stand auf, ging hinüber zum Fenster, das auf Andrews Bettseite lag, und schaute hinaus auf die Argyle Road.
»Ich werde ruhig sein, ruhig, ruhig, ruhig, ruhig«, summte Elizabeth. »Ich werde ruhig sein, ruhig, ruhig, ruhig, ruhig!« Aus ihrem Mund hörten sich die Worte seltsam an. Damals hatten sie sich so voller Leben angefühlt, als wäre ein Damm in ihr gebrochen und ein kräftiger Strahl feministischer Erleuchtung hätte sie durchströmt, als sie in ihrer ordentlichen kleinen Handschrift die Liedzeilen in ihr Notizbuch schrieb, schnell und schneller, bis die Buchstaben immer unleserlicher wurden. Elizabeth wusste, dass der Text gut war. Was sie nicht wusste – nicht wissen konnte –, war, was später geschehen würde. Doch sie ahnte, dass der Song ihr Meisterstück war. Andrew schnarchte. Elizabeth blickte auf die Straße hinunter, bis Iggy Pop vom Fensterbrett sprang und miauend auf dem Holzboden landete. Elizabeth hob die Katze hoch, drückte sie an ihre schweißnasse Brust und kehrte ins Bett zurück.
Jane hatte es sich angewöhnt, im Gästezimmer zu schlafen. Seit Ruby wusste, dass ihre beiden Mütter Probleme hatten, die tatsächlich zum Ende ihrer Ehe führen könnten, war die Stimmung im Haus sowohl besser als auch schlechter. Sie und Zoe mussten nicht mehr heile Welt spielen, aber irgendwie hatte Jane Gefallen daran gefunden, so zu tun als ob. Es gefiel ihr sogar so gut, dass sie es oft den ganzen Tag und bis in den Abend hinein durchhielt. Erst wenn sie nach der abendlichen Stoßzeit im Restaurant nach Hause kam und Zoe sie von ihrem Platz auf dem Sofa aus böse anfunkelte, dachte sie wieder daran. Denn Jane durfte weder den Fernseher einschalten noch eine andere Musik auflegen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich still in eine Ecke zu setzen und Zoe nicht zu behelligen. Arbeitete sie jedoch an ihrem Laptop und erledigte Schreibkram, war das auch nicht recht. Zoe schien der Ansicht zu sein, dass sie alle über endlos viel Zeit verfügten, in einem wahren Ozean aus Zeit schwammen. Wer, außer ihr, hockte schon reglos drei Stunden lang auf einem Fleck und las in einem Buch? Vielleicht redeten sie deshalb über Scheidung. Alle Ehen erlebten stürmische Zeiten, hatte Dr. Amelia gesagt, ihre Paartherapeutin, die sie vor Jahren einmal aufgesucht hatten. Das hieße aber noch lange nicht, dass die Beziehung schlecht sei oder problematisch. Es hieß nur, dass man mal ein paar neue Reifen aufziehen, hier und da ein paar Schrauben anziehen oder ein wenig nachwürzen musste. Dr. Amelia hatte nie Angst vor handfesten Metaphern gehabt. Wenn sie in ihrer Praxis auf der niedrigen, orangefarbenen Couch saßen, legte Dr. Amelia zuweilen sinnierend den Kopf in den Nacken und durchsuchte ganze Listen nach dem passenden Bild.
Es war nicht mehr so wie am Anfang. Da hatten sie sich tagelang durch sämtliche chinesischen Einkaufscenter in Queens geschlemmt. Oder nach der Eröffnung ihres Restaurants Hyacinth,