Fredys Abgang - Alex Gfeller - E-Book

Fredys Abgang E-Book

Alex Gfeller

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Fredys gesammelte Liebschaften. All seine Erinnerungen.

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Inhaltsverzeichnis

Winter

Frühling

Sommer

Herbst

Winter

Es war einmal ein fabelhaft entzückender, weicher Frauenhintern, weiß wie Schnee, nicht zu groß und nicht zu klein, vollkommen in seinen akkuraten Proportionen und sanft geschwungenen Linien und wie geschaffen für das männliche Auge, fällt Fredy beim versunkenen Betrachten der misslungenen Fotografie ein. In Wałcz war der Hintern, so steht es ganz klein auf den unteren Rand geschrieben, mit diesem auffälligen, polnischen L mit Schrägstrich, also Ł, ganz tief im Gaumen hinten ausgesprochen, und zwar nicht als L, sondern als gutturales U, als eines der vielen polnischen Geheimnisse, und Fredy, in seinem Bett liegend, erinnert sich genüsslich daran, dass er zu jener Zeit das erste, aber nicht das letzte Mal in seinem Leben diesen ihm damals fremden Buchstaben geschrieben hat, unbeholfen hakelig-kritzelig mit einem zu kurzen, abgekauten Bleistift1, mit einem stumpfen Griffel, den ihm die junge Frau auf seine Anfrage hin kichernd gereicht hatte.

Wałcz, das war dieses kleine, von der Zeit und ihren kurzlebigen Erfordernissen fast vergessene, stille und ruhige Märchenstädtchen an diesen beiden verwunschenen Seen, die, kartografisch gesehen, wie zwei längliche Hoden an diesem verzauberten Ort hängen, dem Jezioro Radun und dem Jezioro Zamkowe – soeben fallen ihm diese abseitigen Einzelheiten überraschend wieder ein – eingebettet in ein stilles, nebliges, über viele Jahrhunderte hinweg immer wieder überaus geplagtes und geschundenes Land, auf dem ein alter Fluch zu lasten scheint, ein Land mit vielen verfallenen und vergessenen Schlössern, übel zugerichteten Landgütern und jeder Menge geschichtsreichem Pipapo von der wahrhaft übelsten Sorte.

Da lebte dereinst – vor allem andern, was einem sonst noch dazu einfallen mag, möchte Fredy betonen – diese junge, schöne und kluge Frau, von der man auf dieser schwarz-weißen Polaroid-Aufnahme allerdings nur die linke, blanke Hinterbacke sehen kann, ein weißer, rundlicher, gegen oben hin abflachender Hügel, der sich bis an den Rand der alten Aufnahme sanft und harmonisch wie ein polnischer, schneebedeckter Ayers Rock erhebt, ein europäischer Uluru, denn sie hatte sich auf dem abgewetzten Diwan blitzschnell weggedreht, als er eben auf den Auslöser gedrückt hatte. Darum hatte Fredy die Aufnahme damals ja überhaupt behalten, denn sie wollte die misslungene Fotografie partout nicht geschenkt haben, sie wollte, völlig zu Recht und absolut verständlich, keine Fotografie von sich, auf der nur die eine Backe ihres nackten Hintern zu erkennen war. Ihre Haut war übrigens nicht nur am Po so gleichmäßig makellos glatt und schneewittchenweiß. Zwischen den Körperstellen, die üblicherweise der Luft ausgesetzt sind und denjenigen, die normalerweise züchtig bedeckt bleiben, war keinerlei Unterschied in der Tönung, in der Färbung oder in der Struktur auszumachen. Überaus kräftig fiel deshalb der Kontrast zwischen ihren rabenschwarz gefärbten, in alle Richtungen abstehenden, wirren Kopfhaaren und der beeindruckend durchgehenden Blässe ihrer Haut aus, zusätzlich betont durch das warme Dunkelblond ihres auffällig großen und enorm expressiven Schamdreiecks.

Sie blickte Fredy vom Diwan aus, auf welchen sie sich völlig nackt und leicht verlegen hingelegt hatte, mit ihren seltsam kräftig grauen Augen hellwach und trotzdem freundlich an. Er hatte sie gebeten, sie einfach nackt anschauen zu dürfen, und bereitwillig und rasch hatte sie sich ihrer Kleider entledigt und ihn lächelnd gefragt, was sie jetzt tun solle. Er hatte wortlos auf den alten Diwan gewiesen, der an der Wand stand, und sie hatte sich gleich hingelegt, leicht amüsiert, etwas ungläubig, nicht allzu hastig, sondern durchaus bereitwillig und vor allem würdevoll gelassen, auf die linke Körperseite, ihm zugewandt, den Kopf auf die linke Handinnenfläche gestützt, den freien rechten Arm locker ausgestreckt und entspannt auf die rechte Körperseite und die rechte Hand auf die geschwungene Hüfte gebettet, die ebenmäßigen, schlanken Beine leicht angezogen und übereinander geschmiegt.

Fredy ging darauf eine Weile unruhig und unschlüssig vor dem Diwan auf und ab, überaus nachdenklich, als hätte er etwas unerhört Wichtiges vor, und jedesmal, wenn er an ihr vorbeikam, hielt er inne, schaute sie kurz mit zusammengekniffenen Augen an und versuchte, sich etwas von ihrer beeindruckenden Erscheinung zu merken. Ihr Körper und ihr Kopf blieben dabei absolut bewegungslos; nur ihre Augen verfolgten ihn äußerst gespannt und aufmerksam. Er glaubte, in ihren feinen Mundwinkeln einen leichten Anflug von Spott zu erkennen, zumindest einen ironischen Zug, was durchaus nicht verwunderlich gewesen wäre, angesichts seines etwas komischen Verhaltens. Doch er ging nicht darauf ein; soll sie denken, was sie will, fand er damals.

Zu jener Zeit hatte er sich zuweilen als Künstler ausgegeben, als freischaffender Fotokünstler, um genau zu sein, also auch dieser schönen Frau mit den eigentümlich grauen Augen gegenüber, weil er wusste, dass vor allem intelligente Frauen eine unerklärliche Schwäche für Künstler haben. Künstler zu sein war indessen ziemlich anstrengend, denn es erforderte konstanten Einfallsreichtum, den aufzubringen er nicht jederzeit genügend Kraft fand. Als Künstler musste man spielerisch in der Lage sein, die Frauen immer wieder mit an sich absurdem, jedenfalls völlig unüblichem Verhalten zu überraschen, denn wenn man das nicht schaffte, verlor man bald einmal das mühsam aufgebaute Künstleransehen und die dazugehörige, unverzichtbare Künstleraura und somit auch die sexuelle Attraktivität, besonders dann, wenn man kein Geld hatte, wusste Fredy haargenau.

Plötzlich blieb er also vor ihr stehen, zog, ohne sich umzusehen, einen niedrigen Schemel herbei und setzte sich direkt vor sie hin. Er legte seine Ellenbogen auf die Knie und stützte seinen Kopf in beide Hände, ohne sie aus den Augen zu lassen. Sie bewegte sich kurz und fand eine entspanntere Haltung, indem sie das rechte Bein etwas stärker anwinkelte und dadurch ihren Oberkörper ein wenig nach vorne neigte, was zur Folge hatte, dass ihr rundes Becken leicht einknickte und sich die kräftige Schambehaarung in ihren Schoß senkte; nur noch der obere Rand ihres dichten Dreiecks mit seinen kurzen, abstehenden, drahtartigen Haaren blieb sichtbar. Diese Haare glichen in ihrer Art denjenigen in der Achselhöhle, die indessen etwas länger und gestreckter waren, aber auch ein wenig denjenigen auf dem Kopf, die, ganz abgesehen von der tiefschwarzen Färbung, ebenfalls nach allen Seiten abstanden. Alles an ihr stand ab; auch die großen Brüste fielen seitlich ab. Die Spitze der unteren Brust berührte knapp den Diwan und stand deutlich vor, und der hellrosa Hof hob sich nur leicht von der perfekten Rundung der hellen Haut ab. Die andere Brust fiel knapp über den seitlichen Ansatz der einen; die Warze stand rechtwinklig ab, direkt auf Fredy gerichtet, als wolle sie auf ihn zeigen und seine offensichtliche Lüsternheit anklagen. Am Hals entstanden, da ihr Kopf leicht verschoben in ihrer Handfläche ruhte, unschöne Falten, welche sich vom Schlüsselbein bis unter das Kinn hinzogen, und der Bauch wölbte sich deutlich nach vorn, als Folge der versetzten Lage ihres Beckens, und schwebte wie gewichtslos nach unten. Der Bauchnabel schien sich deshalb nicht in der Mitte ihres Leibes zu befinden, sondern leicht nach der linken Seite verschoben zu sein. Diese sanfte Wölbung des Bauches endete exakt bei der Grenze der Behaarung ihrer kräftig ausgebildeten Vulva, die sich jetzt zwischen ihren Schenkeln verbarg. In dieser seitlichen Lage erschien ihre Hüfte sehr breit; die obere Wölbung, bedeckt von ihrer schmalen Hand, wäre, wenn die Frau den Kopf nicht aufgestützt hätte, in dieser Seitenlage der höchste Punkt ihres Körpers gewesen. Diese Rundung bog sich weit hin, ging glatt in die Linie ihres elegant geschwungenen, rechten Schenkels über, der leicht versetzt über dem linken Schenkel lag. Dadurch war die Hüfte etwas zu Fredy geneigt, und aus seiner sitzenden Position heraus konnte er knapp die seitliche Abflachung zum Gesäß hin erkennen. Die kräftige Rundung des Hintern selber, welche deutlich kleiner sein musste als diejenige des ganzen Beckens, lag außerhalb seines Blickfeldes, und das ihm zugewandte Knie war makellos rund und weiß, der Unterschenkel vom leicht gespannten, rechten Schienbein geprägt, welches in einem scheinbar soliden Gleichgewicht über dem linken Schienbein lag. Die obere, überaus elegante, langgezogene, schmale Wade wurde in dieser Lage leicht nach oben gedrückt und sah dadurch etwas kräftiger aus, als sie letztlich war, und die beiden Füße, die somit hintereinander zu liegen kamen, erschienen dem geneigten Betrachter elegant, lang und schmal, und sie waren, versteht sich, ebenfalls makellos weiß.

Während er aufmerksam die Form ihrer gleichmäßigen Zehen betrachtete, fragte sie Fredy plötzlich überrascht, was er sich denn so angestrengt überlege. Er hatte jetzt tatsächlich bereits ziemlich lange etwas überlegt, von dem er bis anhin überhaupt nicht hätte sagen können, was es denn gewesen war, und erst jetzt wurde ihm dies überraschend schnell bewusst. Es fiel ihm also keine einleuchtende Antwort ein, doch er überlegte trotzdem heftig weiter, denn richtige Künstler müssen nun mal heftig überlegen, und zudem wurde seine stumme Mimik aus grauen Augen scharf beobachtet.

Die junge Frau schien seine Gedanken allmählich zu erraten: „Zu spät!“ lachte sie nämlich plötzlich hell auf und legte sich gleichzeitig entspannt zurück. Ihr gefiel Fredy außerordentlich, das war ganz offensichtlich, dieser seltsame Fremdling mit der billigen, schwarzen Polaroid-Kamera, der sich seit drei Wochen tatenlos in der Stadt herumtrieb, verfolgt von einem ganzen Rudel von mehr oder weniger diskreten Geheimpolizisten in grauen Regenmänteln und tief ins Gesicht gezogenen, grauen Einheitshüten, lauter Häscher, die seit drei Wochen gespannt auf einen flagranten Akt von akuter Spionage warteten, und jemand hatte ihr mal vertraulich zugeraunt, der sonderbare Polaroid-Mann solle, nur ganz nebenbei gesagt, ein geradezu unglaublich guter Liebhaber sein, ein richtiger Latin Lover. „Wenn du verstehst, was ich meine.“

Harry steht wie gewohnt bereits in aller Morgenfrühe in seiner weißen, korrekt geknöpften Kochjacke in der Küche und zerteilt geübt zwei große Lammschultern, die er gestern Nachmittag zum Auftauen aus der erschreckend leeren Tiefkühltruhe geholt hat. Dabei fällt sein Blick zufällig aus dem großen Küchenfenster unvermittelt auf Fredy, der im Bademantel mitten in seinem winterlich kahlen, leeren und eiskalten Garten steht und gebeugt auf einen kleinen Zettel starrt, den er mit beiden Händen weitsichtig vor sich hinstreckt. Harry hält mit dem Herauslösen des Schulterblattes erschrocken inne. Was zum Teufel macht Fredy so früh am Morgen da draußen? fragt er sich ungläubig. So ein Idiot! Im Schlafanzug! In Pantoffeln! Er ist doch krank! Er hat Fieber und sollte im Bett bleiben!

Energisch schüttelt Harry den Kopf. Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut, denn Fredy sieht auch heute schlecht aus! Grün wie hingekotzt sieht er aus! Und alt! Alt und gebeugt sieht der Mann aus! denkt Harry verblüfft. Ein alter Mann! Fredy ist ein Greis geworden! So hat er Fredy noch nie gesehen. Fredy ist ein alter Mann! Warum ist ihm dies nicht schon früher aufgefallen? Diese hässlichen, ungepflegten, schmutziggrauen Haare, dieser schlappe Hängearsch, diese lächerlich magere Bananenfigur, diese dünnen, krummen Beine, diese abstehende Adlernase, dieses ausnehmend klein gewordene, spitze Gesicht mit dem halboffenen, lippenlosen Mund und den schlechten Zähnen, diese eingefallene Altmännerbrust – und was da sonst noch alles eingefallen sein mag!

Harry legt das große Fleischermesser energisch hin, wischt sich die Hände an der frischen, weißen Schürze ab, wirft einen schnellen, ungläubigen Blick auf die Küchenuhr und auf das Thermometer am Fensterrahmen, geht die paar Schritte von seinem breiten Arbeitstisch zur Tür, die von der Küche direkt in Fredys Kräutergarten führt, öffnet sie rasch und ruft verärgert hinaus: „He! Fredy! Bist du bescheuert? Was machst du da draußen? Komm sofort herein! Wir haben fünf minus, das ist nicht gut für dich! Und du bist nicht einmal richtig angezogen! Ausgerechnet du mit deinem hartnäckigen Fieber, ich verstehe das echt nicht! Bist du blöd oder was? Du gehörst ins Bett, Fredy! Nun komm schon!“

Langsam dreht sich Fredy um und nickt stumm und widerspruchslos; er scheint aus einem langen, sehr langsamen Traum zurückzukehren. Wortlos schlurft er in seinen alten, ausgetretenen Pantoffeln gemächlich über den zugeschneiten Plattenweg zurück, den lockeren, leichten, trockenen Schnee, der über Nacht gefallen ist, vor sich her schiebend, da er die Füße beim Gehen gar nicht mehr richtig anhebt. „Nicht mal Socken hast du dir angezogen!“ schimpft Harry, wie er hinter Fredy die Türe schnell wieder schließt, damit die morgendliche Winterkälte nicht in seine angenehm warme Küche dringen kann. „Schau mal!“ bedeutet Fredy, der gar nicht auf Harrys Schimpftiraden zu achten scheint, und er fuchtelt mit einer alten Fotografie vor Harrys Nase herum. Harry packt sie widerwillig; er reißt sie Fredy recht unwirsch aus der Hand und starrt sie verärgert und neugierig zugleich an. „Da ist ja gar nichts zu sehen?“ grunzt er ungehalten.

Harry blickt ratlos auf die alte Aufnahme. Eine krumme Wand oder etwas Ähnliches ist zu sehen. „Was soll das sein?“ fragt er schroff, immer noch erbost. „Das ist ein Arsch, Harry.“ „Hä?“ „Das ist ein Weiberarsch. Siehst du? Hier!“ Er zeigt mit dem Zeigefinger hin, fährt mit der Fingerkuppe der kräftigen Wölbung entlang. „Da! Die linke Arschbacke.“

Missbilligend schüttelt Harry den Kopf und reicht die Fotografie schnell und jetzt etwas verlegen zurück. „Ich kann es nicht fassen!“ seufzt er dazu tief. „Was kannst du nicht fassen?“ fragt Fredy beiläufig und steckt die Pola achtlos in die Seitentasche seines etwas ausgebleichten Morgenmantels zurück. Harry fuchtelt gefährlich mit dem Fleischermesser herum, das er wieder aufgegriffen hat: „Ich stehe da in der Küche mit dem letzten richtigen Fleisch, das wir noch haben, und du schaust dir im Schlafanzug und im Morgenmantel mitten im Winter, mit hohem Fieber mitten im kalten Garten draußen stehend, mitten im Schnee nackte Weiberärsche an!“

Fredy kichert, obschon ihm an sich nicht ums Kichern ist. Er hat, so behauptet er seit gestern mit leidender Miene, vorgestern etwas Verdorbenes gegessen; er tippt auf einen kleinen, kalten Rest Wurstsalat, den er am Samstag nach Feierabend angeblich viel zu schnell verschlungen hat, um einen mitternächtlichen Hungerast zu bezwingen, und die kräftige Magenverstimmung, als Folge davon, hat ihn gestern Sonntag für den ganzen Tag ins Bett geworfen. Das ist ganz ungewöhnlich gewesen, und tatsächlich sieht er immer noch recht krank aus, obschon er eisern behauptet, noch nie in seinem Leben krank gewesen zu sein, wenn man mal vom Tripper absehe, den er sich vor langer Zeit gleich zweimal geholt habe, einmal in Holland und einmal in Griechenland. Doch ein Tripper zähle nicht als richtige Krankheit, hat er schnell zu beschwichtigen versucht, das sei nur ein infektiologisches Missgeschick, eine kurze Störung, sonst nichts, nicht der Rede wert, wäre da nicht die Spritze beim Doktor gewesen, die beide Male gewirkt habe, als hätte ihn ein Pferd in den Arsch getreten, wie er erklärte.

Harry wendet sich wieder seufzend seinen Vorbereitungen zu, zerstückelt fast teilnahmslos die beiden Lammschultern zu gleichmäßigen, mund- und gabelgerechten Würfeln und meint mürrisch: „Fredy, du solltest schleunigst wieder in dein Zimmer zurück gehen! Es ist viel zu kalt draußen! Das ist nicht gut, wenn du dort sinnlos herumstehst! Du holst dir noch was! Eine verdammte Lungenentzündung hätte uns gerade noch gefehlt! Ich kriege das Mittagessen ohne weiteres alleine hin, keine Sorge, heute ist Montag, da werden wir bestimmt nicht viele Gäste haben; mehr als ein halbes Dutzend werden es nicht sein. Ich mache ein klassisches Ragout mit der letzten Lammschulter, die ich noch habe, dazu gebratene Spätzle und etwas Kohl- und Randensalat, das haut immer hin. Unsere Gäste mögen das. Ich kann alles alleine und rechtzeitig bereitstellen, so dass ich die Leute selber bedienen kann. Kein Problem! Geh du jetzt nur in deine Kiste zurück und deck dich bitte ordentlich zu, du Depp!“

Fredy blickt kurz und skeptisch zu Harry hin. „Meinst du?“ Harry nickt eifrig. „Kein Problem! Du musst dich hinlegen, Fredy, du musst dich stille halten, du musst dich warm halten, damit du bald wieder auf die Beine kommst! Und geh’ bitte nicht mehr in die Kälte hinaus, das bringt nichts! Dein Garten ist im Winterschlaf, da ist jetzt wirklich nichts zu holen, da ist jetzt bestimmt nichts zu machen! Lass ihn ruhen! Ich werde dir gleich einen frischen Lindenblütentee für die Thermosflasche zubereiten, damit du was Heißes zum Trinken hast!“

Fredy hört gar nicht richtig hin. „Jezioro Radun und Jezioro Zamkowe.“ Er schüttelt kurz den Kopf. „Warum nur fällt mir heute so etwas Abgedrehtes wieder ein? Kannst du mir das sagen? Sehr merkwürdig! Das ist gut vierzig Jahre her! Mir fallen in letzter Zeit laufend solch komische Dinge ein, das gibt es gar nicht! Die nebensächlichsten Sachen! Ganz unglaublich!“ Mechanisch holt er die alte Polaroid-Aufnahme wieder hervor, blickt gelbäugig auf die alte Fotografie mit dem halben weißen Frauenhintern und scheint von dieser Ansicht richtig fasziniert zu sein. Dabei bemerkt er plötzlich verlegen, wie ihn Harry skeptisch beobachtet. Er fühlt sich ertappt und erklärt deshalb zu seiner Entschuldigung, indem er mit der Kinnspitze möglichst gleichgültig auf die Foto zeigt: „Ich habe die in der alten Hutschachtel gefunden, du weißt doch! Erinnerst du dich? Ich habe ja früher an den Stränden immer diese weißen, venezianischen Canotiers getragen, diese flachen, runden Strohhüte mit dem schwarzen Band. Erinnerst du dich?“ „Klar erinnere ich mich!“ nickt Harry. „Die sieht man heute überhaupt nicht mehr, dabei sind die früher sehr populär gewesen.“ „Vor hundert Jahren vielleicht! In der Urzeit der Fotografie!“ „All diese Hüte, die ich damals in dieser Hutschachtel transportiert habe! Wenn ich nur daran denke! Alle aus derselben Produktion. Original venezianisch. Das musste sein. Diese Canotiers besitze ich natürlich nicht mehr, die sind alle längst im venezianischen Huthimmel gelandet. Aber diese alte Hutschachtel ist mir gestern Abend ganz zufällig wieder in die Finger gekommen, als ich auf dem Dachboden eine Wärmeflasche für meinen Bauch gesucht habe!“ „Du brauchst eine Wärmeflasche?“ „Ich habe die ganze Nacht diese verflixten Bauchschmerzen gehabt, so verdammte Magenschmerzen oder Darmschmerzen oder so was, weiß der Henker! Dieser verteufelte Wurstsalat! Ich hätte ihn am Freitagabend wegschmeißen und nicht aufessen sollen, diesen Rest! Und zudem habe ich ihn auch noch viel zu kalt hinunter gewürgt, ich Idiot! Direkt aus dem Kühlraum!“

Freddy gerät richtig ins Schimpfen. Harry seufzt. Er kennt das. Fredy kann schimpfen wie im Frühjahr ein Amselmännchen im Garten draußen, das sich über einen Konkurrenten oder eine scheinheilige Katze aufregt. Fredy ereifert sich: „Als du gestern Abend bereits im Bett gewesen bist und schon längst tief geschlafen hast, habe ich mir vorgenommen, mir einfach eine Wärmeflasche auf den Bauch zu legen, in der Meinung, dass mir dies helfen würde, besser zu schlafen. Verstehst du? Darum habe ich überall auf dem Dachboden nach dieser verflixten Gummiflasche gesucht. Ich glaube mich zu erinnern, dort mal vor langer Zeit eine gesehen zu haben. Doch dort ist absolut nix gewesen; ich habe alles durchsucht.“ Und nach einer Gedenkpause: „Dafür habe ich diese alte Hutschachtel wiedergefunden. Wenn ich nur daran denke! Das Ding hat mich praktisch ein ganzes Leben lang begleitet! Stell dir das mal vor! Ein ganzes Leben lang! Unglaublich!“

Doch Harry, der als Koch immer noch bei seinem angeblich verdorbenen Wurstsalat ist, schüttelt energisch und entschieden den Kopf: „Mein Wurstsalat ist einwandfrei gewesen, Fredy. Ich habe ihn erst am Donnerstag gemacht. Im Kühlraum, wo ich ihn hingestellt habe, hätte er sich mindestens noch zwei oder drei Tage lang absolut frisch gehalten. Mindestens. Absolut einwandfrei!“ „Hat er aber nicht! Donnerstagabend bis Samstagabend, das sind zwei volle Tage!“ „Das ist kein Problem für einen frischen Wurstsalat mit einwandfreien Zutaten!“ „Vielleicht hat er eine ganze Weile nicht im Kühlraum gestanden, wer weiß? Vielleicht hat er erst einen halben Tag lang auf dem Herd gestanden und hat deshalb eine ganze Weile zu heiß gehabt?“ „Nein, der hat bestimmt immer im Kühlraum gestanden, da bin ich mir sicher! Ich selber bin dreimal in den Kühlraum gegangen, um dreimal Wurstsalat zu holen. Drei volle Portionen haben wir nämlich am Freitagmittag an die drei jungen Monteure vom Elektrizitätswerk verkauft, erinnerst du dich? Die vierte und letzte Portion, die hast du am Samstagabend gegessen, um Mitternacht.“ „Warum sonst hätte es mir denn davon derart schlecht werden sollen?“ versucht sich Fredy zu verteidigen. „Etwas anderes kann es nicht gewesen sein! Ich habe am Freitag nach dem Frühstück nichts anderes mehr gegessen, den ganzen Tag nicht! Erst ganz spät am Abend diesen verdammten Wurstsalat!“

Es geht ihm indessen eindeutig viel zu mies, als dass er jetzt die Kraft fände, sich richtig aufzuregen. Er winkt resigniert ab, denn es ist ihm ganz deutlich anzusehen, dass er unter starken Bauchschmerzen leidet und dass ihm überhaupt elend ist; sein grünes, altersfleckiges Gesicht spricht Bände. Harry nickt und seufzt. Fredy hat tatsächlich Altersflecken! Das ist ihm bislang noch gar nie aufgefallen. Er überlegt. „Ich habe kürzlich eine Wärmeflasche gesehen“, murmelt er grübelnd und blickt zur Decke hoch. „Aber wo nur?“ Harry versucht sich zu erinnern. Er legt das scharfe Messer wieder hin, wischt sich zum zweiten Mal die Finger an der Schürze ab und starrt in den milchigweißen Garten hinaus. Da fällt es ihm ein: „In Mimis Zimmer! In Mimis Zimmer liegt eine! Wenn du hereinkommst, steht gleich rechts der alte Wäschekorb, nicht wahr? Dort liegt sie! Mimi hat die immer benutzt, wenn sie ihre Periode bekommen hat. Du weißt doch, Mimi hat immer Bauchschmerzen bekommen, wenn sie ihre Tage hatte.“

Fredy ist jedoch bereits bei seinem anderen Thema: „Ich habe die alte Hutschachtel herunter geholt und ahnungslos geöffnet, und weißt du was?“ „Nein?“ „Darin haben tatsächlich immer noch all die alten Aufnahmen gelegen, die in all den Jahren zusammengekommen sind!“ „Welche alten Aufnahmen?“ fragt Harry unwirsch. „Na, all die alten, missratenen Aufnahmen, verstehst du? Es sind Hunderte! Tausende, vielleicht. Ich weiß es nicht genau, ich habe sie nie gezählt.“ Er überlegt kurz. „Hunderte sind es ganz bestimmt. Lauter Aufnahmen, welche mir die Leute damals aus einem Scheiß-Grund nicht haben abkaufen wollen, sei es, weil sie verwackelt oder verschwommen gewesen sind, undeutlich oder sonstwie unscharf, sei es, weil die Leute darauf nicht ganz zu sehen gewesen sind oder mit jemandem zusammen, mit dem oder mit der zusammen sie nicht hätten gesehen werden sollen. Was weiß ich? Oder sei es, weil sie plötzlich einfach ihre Meinung geändert haben und folglich keine Foto von sich haben mitnehmen wollen.“ „Gründe gibt es sicher genug, verstehe. Vor allen andern Gründen die Blödheit der Leute selber, nehme ich an.“ Fredy nickt: „Manchmal, ja. Ziemlich oft hat den Leuten einfach nur ihr eigenes Abbild nicht gefallen. Verstehst du? Sie haben jeweils plötzlich bereits beim ersten Anblick ihres eigenen Abbildes – übrigens meist völlig zu Recht – schockiert gefunden, sie sähen auf dem Bild richtig Scheiße aus. Dabei haben sie bislang meist einfach nur selber noch gar nicht gemerkt, dass sie in der Tat wie Scheiße aussehen.“ „Das ist eigentlich das verständlichste“, meint Harry grinsend. „Ich kann meine Fresse mitunter auch nicht ausstehen.“

Beide lachen kurz, Fredy allerdings etwas gequält, und Harry fragt beiläufig weiter: „Du hast damals die unbrauchbaren oder unverkäuflichen Bilder nicht einfach weggeworfen?“ „Nein, nie! Das ist es ja! Das ist so eine Art Reflex gewesen, den ich die ganze Zeit, also all die fünfundzwanzig Jahre als Strandfotograf durchgezogen habe. Ich habe jeweils sogar unten auf den weißen Rand den Ort hingeschrieben, wo das Foto aufgenommen worden ist, sobald ich die Zeit dazu gefunden habe, siehst du hier?“ Er zeigt Harry noch einmal die Pola mit dem hingekritzelten Namen des Ortes. „Wałcz?“ staunt Harry. “Du bist in Wałcz gewesen?” Fredy nickt kurz und fährt fort: „Ich habe die unverkauften Fotografien immer eingesteckt, achtlos in eine der vielen Taschen meiner Weste. Erinnerst du dich noch an die braune Weste mit den vielen Taschen, die ich damals als Fotograf immer getragen habe?“ Harry nickt. „Aber sicher erinnere ich mich an die! Die hast du damals ja praktisch Tag und Nacht getragen!“ „Wann immer ich die Taschen dieser Weste geleert habe, sind alle die unverkäuflichen und sonstwie unverkauften Bilder in dieser alten Hutschachtel zusammengekommen, verstehst du? Darin habe ich sie alle gesammelt, und darin haben sie erstaunlicherweise bis heute überlebt, weil ich die Hüte jeweils einfach oben auf den ganzen Foto-Haufen gelegt habe. Ist das nicht unglaublich?“ „Ort und Datum?“ „Nein, nur der Ort, sonst nichts. Weiß der Teufel, was ich mir damals dabei gedacht habe. Man denkt ja nicht immer logisch, und so ist es nun mal gewesen. Wahrscheinlich habe ich die misslungenen Bilder als eine Art persönliches Souvenir angesehen. Du hast völlig Recht, leider ist kein Datum dabei und leider sind auch keine Namen der abgebildeten Personen drauf notiert. Meistens habe ich ja gar nicht wissen können, wie die Leute geheißen haben, die ich tagein-tagaus fotografiert habe, verstehst du? Der Aufnahmeort steht jedoch immer da. Den habe ich immer gewusst, daran habe ich mich immer erinnert; ich habe ja immer gewusst, wo ich bin – oder fast immer.“

Er lacht wiederum trocken. Harry zeigt auf das Bild in Fredys Hand: „Diese Polaroid-Aufnahme hier muss uralt sein. Die ist ja nicht einmal farbig!“ mäkelt er. Fredy wiegt den Kopf hin und her. „Zunächst hat es halt nur diese schwarz-weißen Instantbilder gegeben. Das sind diese großen, schwarzen, unhandlichen Kisten gewesen, erinnerst du dich? Man hat damals sogar den Entwickler und die Fixierlösung getrennt mit sich führen müssen. Das ist ein richtiger Aufwand gewesen, bis man so ein mickeriges, klebriges Bildchen beisammen hatte! Das waren die Anfänge.“ Harry greift noch einmal nach der Aufnahme. „Das Bild hat sich aber recht gut erhalten, wenn du mich fragst.“ „Naja, es geht. Die Qualität dieser Sofort-Aufnahmen aus der Anfangszeit der Firma Polaroid ist ziemlich miserabel gewesen. Richtige Profis haben damals zu Recht die Nase gerümpft. Da sind zunächst mal tatsächlich nur ganz mickerige Bildchen entstanden, viel zu klein und viel zu umständlich. Aber neu und attraktiv daran ist halt trotzdem gewesen, dass man sie bereits kurz nach dem Knipsen hat anschauen können. Das hat den verblüfften Leuten fast immer gefallen, und auf diese Tatsache habe ich ja kurz nach der Lehre mein aufwändiges Ein-Mann-Geschäft gleich von Anfang an aufgebaut. Die fertigen Aufnahmen sind in billige Kartonrähmchen gekommen, in Passepartouts, und das hat dann für die Leute doch ganz ordentlich attraktiv ausgesehen – wenigstens vorübergehend.“ „Und hat sich somit verkaufen lassen“, fügt Harry hinzu. Fredy nickt, nimmt Harry das Bild wieder aus der Hand, schaut es sich noch einmal an und fügt hinzu: „Immerhin, man sieht sogar heute noch etwas auf der Fotografie, und das fünfzig Jahre später!“

Harry zeigt mit der Messerspitze auf das Bildchen und schaut ungläubig hin: „Du erinnerst dich noch an die Tante mit dem weißen Arsch?“ „Aber sicher! Das ist ja das Erstaunliche! Mit dem Bild kommt sofort die Erinnerung zurück, und zwar messerscharf! Optisch einwandfrei! Das ist fast unglaublich! Ich weiß zwar nicht mehr, wie sie geheißen hat, und ich wüsste auch nicht mehr zu sagen, wo es gewesen ist, wenn es nicht auf dem Rand der Aufnahme stehen würde. Aber sonst weiß ich noch alles bis ins kleinste Detail. Als ich sie damals habe ablichten wollen, das heißt, ihre schöne Muschi, verstehst du, hat sie sich beim Klack – der Apparat hat ja laut klack gemacht – blitzschnell umgedreht, und deshalb sieht man jetzt nur die eine Hälfte ihres schönen Arsches. Meine Reaktionszeit muss für den Moment ziemlich stark verlangsamt gewesen sein, nach all dem polnischen Wodka, den ich zuvor hineingeschüttet habe.“ Harry kichert amüsiert und schüttelt ungläubig den Kopf, und Fredy fährt ganz sachlich fort: „Die farbigen Polaroidbilder sind erst später auf den Markt gekommen und sind, ganz abgesehen von der Farbe, die damals immerhin eine richtige technische Revolution dargestellt hat, rein qualitativ weitaus besser als die schwarz-weißen Bilder gewesen.“ „Dazu ist die ganze Prozedur sehr bald sehr viel einfacher geworden. Elektrolytisch. Ich habe bald einmal weiter nichts dabei gehabt als die Kamera, die übrigens dreckbillig war, und habe dazu nur die vielen, sperrigen Schachteln mit den – allerdings sauteuren – Wegwerf-Filmkassetten im Multipack mitgeschleppt. Mit diesen Kassetten mit eingebauter Batterie hat die Firma erst richtig Kohle gemacht, nicht mit den billigen Apparaten.“ „Ja, genau! Ich erinnere mich! Die Taschen von deinem Dings da, von deinem braunen Wams, sind ständig prallvoll gewesen von diesen Schachteln!“ „Selbst das Blitzlicht ist später in diese einfachen, unglaublich intelligenten Apparate eingebaut gewesen, erinnerst du dich? Bald einmal auch die automatische Lichtbestimmung, später sogar der überaus praktische Infrarot-Entfernungsmesser, und in jeder Kassette hat es jeweils gleichzeitig eine Wegwerf-Batterie für den ganzen Strombedarf gehabt.“ „Idiotensicher“, nickt Harry, „aber gleichzeitig eine unglaublich gedankenlose Verschwendung von teuren Materialien und viel Energie.“ Fredy zuckt gleichgültig die Achseln: „Die Leute haben das lieber gekauft als diese schwarz-weißen, undeutlichen Dinger, die, wenn sie noch nass aus der Kamera gezogen worden sind, sich zudem ständig gekringelt und verklebt haben.“ „Sind sie nicht von selber heraus gekommen?“ „Nein, man hat sie am Anfang nach dem Fotografieren erst mühsam mit den Fingerspitzen an diesem kurzen Zipfel heraus klauben müssen. Die sind noch nicht einmal von selber heraus gekommen. Und ganz nass und klebrig sind sie zudem gewesen, diese Scheißdinger. Da müssten eigentlich immer noch meine Fingerabdrücke zu sehen sein.“

Fredy hält das Bildchen schräg gegen das Licht und prüft das kurze Stück, an welchem er die Fotografie aus dem Kasten gezogen hat. „Da! Genau! Da sind immer noch meine Fingerabdrücke drauf! Siehst du?“ Er hält die Fotografie Harry hin, lacht verlegen und schüttelt ungläubig den Kopf. Seine eigenen Fingerabdrücke, die er vor rund vierzig Jahren hinterlassen hat! Harry hat jedoch genug gesehen. Er zieht die Augenbrauen hoch und macht ein unwilliges Gesicht, denn er möchte, dass Fredy endlich wieder ins Bett geht. „Jedenfalls hast du damals auch mit den farbigen Bildern kein ausgesprochenes Bombengeschäft gemacht“, meint Harry gelassen und greift wieder entschlossen zum Fleischmesser. „Wie meinst du das?“ fragt Fredy verwundert. „Ich habe immerhin fast dreißig Jahre lang davon gelebt!“ „Naja, reich bist du damit nicht geworden, farbige Revolution hin oder her!“ Fredy lacht lautlos in sich hinein. Stimmt, diese Zeit ist längst vorbei.

Castrovillari, die kleine Stadt in dieser üppig wilden, waldigen Hügellandschaft mitten in Kalabrien, inmitten dieser steilen, bisweilen stark felsigen, etwas düsteren, halbrunden Erhebungen, die sich schier endlos ausdehnen, zudem unter einem meist dermaßen knallblauen Himmel, dass man es kaum glauben mochte und der aussah, als hätte ein Verrückter an seinem freien Nachmittag das ganze Firmament mit schreiend blauer Poolfarbe angestrichen, fällt ihm wieder ein. Direkt auf der erdabgewandten Seite des Mondes schien das mittelalterlich enge Städtchen verschlafen und verträumt zu liegen, so hat es Fredy heute noch in durchaus lebhafter Erinnerung, und an ihr, an der Kalabresin selber, war alles mindestens ebenso kalabresisch riesig, weit und mächtig hügelig, wirklich alles, was überhaupt riesig, weit und mächtig hügelig sein konnte, erotisch-rundlich, selbst die Hände und die Füße, obwohl die überaus eindrückliche Frau überhaupt nicht fett war. O nein, fett war sie nicht! Sie hatte zwar voluminöse Beine und massive Arme, einverstanden, sie hatte einen gewaltigen Oberkörper wie ein Schrank, ja, richtig, und sie hatte ein schweres Haupt mit einer kolossalen Löwenmähne. Eine Frau so richtig zum Fürchten war sie, wäre sie nicht so liebenswürdig, so unerhört aufmerksam, so zuvorkommend und so überaus herzlich gewesen. Eine Frau zum Anfassen, richtig warmherzig, das ist der richtige Ausdruck, offenherzig und vor allem ungewohnt freundlich und einladend.

Im Allgemeinen fürchten sich Männer vor Frauen, das weiß Fredy seit langem, und zwar grundsätzlich, sie fürchten sich rundweg vor allen Frauen, ganz generell und überhaupt, nicht nur, weil alle Männer eine Mutter haben oder gehabt haben, die sie geboren, genährt, angewiesen und gezüchtigt hat, sondern auch, weil sie in ihrem kümmerlichen Leben gleich von Anbeginn an mitgekriegt haben, dass sie ihnen, also den Frauen, ganz generell völlig ausgeliefert sind und ergeben bleiben und ihnen niemals werden das Wasser reichen können.

Angesichts dieser enormen Frau in Castrovillari hätten sie jedenfalls sogleich mehrere einleuchtende Gründe aufs Mal gehabt, möglichst schnell das Weite zu suchen und auf Nimmerwiedersehn zu verduften, denn sie war wirklich unglaublich kräftig gebaut, viel kräftiger noch als ein durchschnittlich kräftiger Mann, eine Kugelstoßerin, eine Speerwerferin oder eine Gewichtheberin, etwas in der Art, eine spätgriechische Olympionikin allenfalls. Sie verunsicherte Fredy und ganz gewiss überhaupt alle Macker allein durch ihre äußere Erscheinung, augenblicklich, zutiefst und fundamental, ganz besonders von dem Moment an, als sie sich in dieser lauten, lustigen Trattoria voll ausgelassener Leute, wo es die besten Safrannudeln mit Pilzen gab, die Fredy jemals gegessen hat, tagliatelle fatto in casa al zafferano con porcini, plötzlich spielerisch seitlich an ihn lehnte.

Fredy musste ihr gefallen haben, und wäre seine erotische Neugierde zumindest an diesem Abend nicht wesentlich größer gewesen als seine angeborene Furcht vor Leuten, die, ganz unabhängig von ihrem Geschlecht, deutlich größer und stärker waren als er, wäre es nie zu dieser herrlichen, kalabrischen Nacht gekommen. Das Bild, das Fredy zufällig hervorgekramt hat, zeigt den Moment, da sie sich mühsam in ihren winzigen Seicento zwängt, denn sie nahm ihn spät abends ohne weiteres, also ohne langes Nachfragen und ohne lange zu fackeln, mit sich nach Hause, wie eine sportliche Trophäe oder wie ein herrenloses Hündchen, obwohl natürlich beide wussten, dass der nächste Morgen in solch hoffnungslosen Fällen von unüberlegten Spontankontakten immer recht mühsam werden konnte, wie die unangenehme Erfahrung ihnen natürlich bereits mehrfach und unerbittlich gezeigt hatte.

Fredy hatte sie bis anhin noch kaum berührt, hatte ihr allerdings bereits alles erzählt, was er über italienische Opern wusste, denn sie schien Opern zu mögen, ja, sie erbebte beim Gedanken an, Rigoletto, Nabucco und La Traviata, erzitterte bei der Erinnerung an Aida, Don Carlos und Othello, erschauderte mit allen Fasern ihres empfindsamen, musischen Riesinnenkörpers, und beim Stichwort „Mozart“ zerfloss sie geradezu, wahrhaftig fast in Tränen aufgelöst. Mitunter haben Frauen eine Art, begeistert zuzuhören, dass Männer zuweilen zumindest verbal ganz erstaunlich weit über sich hinaus wachsen können, wenn auch nur äußerst selten und nur kurzzeitig.

In ihrem Appartement angekommen, legte ein angesichts des Alkoholkonsums erstaunlich aufgeräumter Fredy wie abgesprochen gleich die Zauberflöte auf, seine erklärte Lieblingsoper, und sie setzten sich dicht nebeneinander in ein tiefes Sofa und lauschten gespannt der berauschenden Ouvertüre, deren Klänge sich bei weit geöffnetem Fenster in dieser betörenden kalabrischen Sommernacht mit dem beharrlichen Zirpen der vielen tausend Grillen mischte. Darauf fing die spannende Geschichte mit dem bekannten dramaturgischen Paukenschlag an:

„Zu Hilfe! Zu Hilfe! sonst bin ich bin verloren,

Der listigen Schlangen zum Opfer erkoren –

Barmherzige Götter! Schon nahet sie sich,

Ach rettet mich, ach rettet, schützet mich!“

Tamino fiel auf der Bühne planmäßig in Ohnmacht, und die Hammerwerferin warf sich mit diesem ihrem ganzen Körper unverzüglich an Fredy heran, in einer sanften, liebevollen Weise indes, die ihn nicht im Geringsten erschrecken konnte. Er vertiefte sich sogleich freudig in ihr breites, offenes Gesicht, küsste einen angenehm weichen Mund und stellte überrascht fest, dass alles an ihr angenehm weich und nachgiebig war: Sie fühlte sich, ganz im Gegensatz zu ihm, völlig entspannt an. Überhaupt war sie – und dies stellte sich schnell einmal heraus – selbst mit diesem ihrem perfekt durchtrainierten Wahnsinns-Bodybuilding-Body viel beweglicher als er: So gelang es ihr ohne weiteres und ohne jede sichtbare Anstrengung, sich und ihn gleichzeitig in einer ganz überraschenden Geschwindigkeit völlig zu entkleiden, ohne das vielzüngige Züngeln und vielfingrige Fummeln nachhaltig zu unterbrechen, während das akkurate Damentrio sang:

„Stirb, Ungeheuer, durch unsre Macht!

Triumph! Triumph! Sie ist vollbracht

Die Heldentat! Er ist befreit

Durch unsres Armes Tapferkeit.“

Fredy fuhr mit beiden Händen über erstaunlich kleine, feste Brüste mit spitzen, harten Warzen und über einen endlos großen, runden Leib bis hinunter zum braunen Pelzchen aus drahtigem, fein gekräuseltem Haar, und er war restlos hingerissen von ihr, das muss man betonen. So viel Wärme, so viel Fleisch, so viel Lust, so viel Vergnügen an einem einzigen Stück! Das hatte er noch nie erlebt. Die herrlichen Arien flatterten hell und triumphierend durch den Raum, die Posaunen und Trompeten tobten sich hemmungslos aus, die Streichinstrumente tönten wollüstig und lasziv wie nie zuvor, die Oboen nörgelten beleidigt vor sich hin, und die drei großen Kesselpauken donnerten voluptuös auf- und abschwellend. Auf- und abschwellend, o ja, ganz genau! Richtig! Genau wie sein Hammer auch! Die liebenswürdige Zehnkämpferin legte Fredy flach aufs Sofa, kniete sich vor ihm auf den Boden und küsste ihn ganz systematisch und zärtlich vom Hals bis zu den knochigen Knien, ohne seinem unübersehbaren Riesenständer auch nur einen Millimeter auszuweichen. Ihre großen, festen Hände streichelten intensiv sein membrum virile mit geradezu unglaublicher Zärtlichkeit und Hingabe, dazu auch noch mit einer rührenden Innigkeit, dass Fredy hätte heulen mögen vor Lust und Freude, und ihre flinke Zungenspitze verweilte immer wieder spielerisch bei seinen harten Eiern. Da wollte, da musste er etwas unternehmen, denn Papageno sang:

„Der Vogelfänger bin ich ja –

Stets lustig heißa hoppsassa!

Ich Vogelfänger bin bekannt

Bei Alt und Jung im ganzen Land.

Weiß mit dem Locken umzugehn

Und mich aufs Pfeifen zu verstehn!

Drum kann ich froh und lustig sein,

Denn alle Vögel sind ja mein.“

Er zog sie, heißa, so gut er konnte, hoppsassa, aufs Sofa hoch, und unaffektiert kam sie ihm behände mit einer überraschend gelassenen Bereitwilligkeit entgegen. Diese athletische Eleganz hatte er bislang noch nirgends angetroffen, noch nie, denn entspannte Bereitschaft ist in der Regel nicht unbedingt das erste, was einer an Frauen kennen lernt, wenn es sich nicht um eine geschäftliche Abmachung handelt. Alle ihre überaus geschmeidigen und scheinbar durchtrainierten Bewegungen waren völlig harmonisch; da gab es keine Ecken und Kanten. Das war ganz einfach ein wundervoller, riesiger, kräftiger, sportlicher Frauenkörper mit der wunderbaren Begabung des körperlichen Entgegenkommens. So tauchte Fredy sein Gesicht zwischen die prächtigen Brüste, die festen, danach zwischen die Schenkel, die gewaltigen, und suchte mit seiner Zungenspitze den heißen Schlitz in ihrem Gebüsch. Die Frau dehnte und reckte sich wohlig, sichtlich zufrieden mit dem Verlauf der Dinge, und sie stöhnte bald einmal leise, aber aussagekräftig auf.

„Wenn alle Mädchen wären mein,

So tauschte ich brav Zucker ein:

Die, welche mir am liebsten wär,

Der gäb ich gleich den Zucker her.

Und küsste sie mich zärtlich dann,

Wär sie mein Weib und ich ihr Mann.

Sie schlief an meiner Seite ein,

Ich wiegte wie ein Kind sie ein.“

Fredy war wieder einmal mächtig überrascht über den direkten Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Sie hatte einen dieser weichen, fast stillen, aber lang anhaltenden Orgasmen, und er fühlte deutlich, wie ihr Kitzler plötzlich heftig anschwoll und eine ganze Weile machtvoll an seine unablässig arbeitende Zungenspitze pochte. Noch voller Erregung zog sie ihn sanft auf sich, über sich, in sich, und sein steiler Tauchsieder verschwand automatisch in den warmen und schlüpfrigen Schluchten ihrer kalabrischen Schoßlandschaft.

„Bewahret euch vor Weibertücken,

Dies ist des Bundes erste Pflicht;

Manch weiser Mann ließ sich berücken,

Er fehlte und versah sich’s nicht.

Verlassen sah er sich am Ende,

Vergolten seine Treu mit Hohn!

Vergebens rang er seine Hände,

Tod und Verzweiflung war sein Lohn.“

Den ganzen zweiten Akt der Zauberflöte lag er fast bewegungs- und halb besinnungslos in ihr drin und spielte nur mit dem Auf und Ab der Schwellungen seines pochenden Gliedes. Sie ging sofort und freudig mit langsamen, überaus kräftigen Kontraktionen darauf ein, ein herrliches, lang anhaltendes Rezitativ bis hin zum triumphalen Auftritt der Königin der Nacht: Da hob unversehens ein mächtiges Stampfen und Stöhnen an, und eine raumgreifende Bewegungsmaschinerie kam allmählich in Gang, ähnlich einer mächtigen Dampfmaschine in einem alten, riesigen Atlantikkreuzer. Kolben und Zylinder. Ziehen und stoßen. Drücken und pressen. Bis zum mehrfach gestrichenen Hohen C. Fredy wurde auf den Wogen ihres Leibes heftig hin und her geworfen, tauchte unter und kam japsend wieder hoch. Mächtige Brecher schlugen gewaltig tosend über ihm, dem längst seekranken Schiffbrüchigen, zusammen, und die Gischt der schäumenden Brandung spülte den letzten, morbiden Rest von angeborener Zurückhaltung und anerzogener Reserve weg. Es war ein ultimativer Kampf mit den tosenden Elementen; bereits waren sie gemeinsam und eng umschlungen vom viel zu kurzen Sofa gefallen, wälzten und wanden sich auf dem kühlen Tonplattenboden wie auf der kochenden Lava eines entfesselten Vulkans. Oben und Unten waren angesichts dieses brodelnden Universums galoppierender Lüste längst zu belanglosen, weil zu völlig unzutreffenden Begriffen geworden, relativ wie nur irgendwas.

„Heil dir, Jüngling! Dein standhaft männliches

Betragen hat gesiegt. Zwar hast du noch manch

Rauen und gefährlichen Weg zu wandern, den

Du aber durch die Hilfe der Götter glücklich endigen

Wirst. – Wir wollen also mit reinem Herzen

Unsre Wanderschaft weiter fortsetzen.“

Fredy hatte zunächst das verwirrende Gefühl, immer und ewig weitermachen zu können, doch darauf kam unvermittelt das ultimativ-diktatorische „Zurück!“ der furchteinflößenden Königin der Nacht, und eigenartigerweise befolgte er diesen Befehl auf der Stelle mit pochendem Pickel. Zurück! Zurück! Zurück! Er legte sich ächzend auf den Rücken und spürte gleich wieder entzückt ihre zärtliche Zunge an der empfindlichsten Kante seiner prallen Eichel, empfand unvermindert schmerzlichste Lust, wohltuende Leere und vor allem den unaufhörlichen Drang, sich auf der Stelle aufzugeben, zu kapitulieren und mit einer wehenden weißen Fahne stracks zum Feinde überzulaufen.

„Heil sei euch Geweihten!

Ihr dranget durch Nacht!

Dank! Sei dir Osiris!

Dank! Dir Isis gebracht!

Es siegte die Stärke

Und krönet zum Lohn

Die Schönheit und Weisheit

Mit ewiger Kron!“

Die Oper klang aus, und immer noch lagen sie ineinander verwoben auf dem Boden und spielten erschöpft und gedankenverloren mit ihren für einmal überaus stark beanspruchten Geschlechtsteilen. Sie fühlten sich beide ausgeleert und aufgebraucht, und – wie soll einer das erklären? Es fehlte ihnen etwas. Doch was? Es fehlte das entscheidende Tor, es fehlte ihnen ein richtig sportlicher Schluss, es fehlte der finale Abpfiff, es fehlte die olympische Goldmedaille, es fehlte der tosende Applaus eines freudetrunkenen Publikums, es fehlte die zeremonielle Abspielung der Nationalhymnen bei gleichzeitigem, feierlichen Hochziehen der Nationalflaggen, und es fehlte auch das begeisterte Glückwunschtelegramm der Staats- oder Regierungspräsidenten, und als der kühle Morgen bald einmal graute, trennten sich die beiden wie zwei Bergsteiger, die sich zufällig gleichentags auf einer Bergspitze angetroffen hatten, die sie von verschiedenen Seiten erklommen, nämlich wort- und kommentarlos und für immer, obschon sie sich auf dem Gipfel sogar das Du angeboten hatten.

Fredy liegt ausgestreckt im Bett, die warme Bettflasche aus Gummi auf dem faltigen Bauch, und hält die Fotografie bewegungslos vor sich hin. Er ist mit sich selber absolut einig, dass dieses Ereignis ein unerhört starkes Stück Dramatik gewesen ist, dieses nächtliche Geschehen in Castrovillari unten, ganz gewiss, ein unvergessliches jedenfalls, und es ist ihm jetzt tatsächlich, als sei es erst gestern passiert; es ist ihm, als könne er jetzt noch ihren Vaginalsaft schmecken, als habe er noch heute diesen milden Geschmack im Munde, denn jede noch so delikate Einzelheit ist aus den Tiefen des Gedächtnisses wie von selbst wieder aufgetaucht, ganz überraschend und ungewollt, und dies mit einer Präzision, die ihn wiederum enorm überrascht. Wäre er nicht zufällig auf dieses Foto gestoßen – darüber ist er sich durchaus im klaren – hätte er sich niemals wieder an diese wilde kalabrische Nacht mit dieser herrlichen Frau und Mozarts Zauberflöte erinnert. Er beschließt spontan, das kleine Bildchen mit der großen, weichen, starken Frau aus Castrovillari, die sich im trügerischen Schein des Blitzlichtes eben gerade in dieses winzige Auto quetscht, über das Bett zu hängen, zusammen mit dem sanften, weißen Hügel des halben Frauenhintern aus Wałcz, damit er vielleicht noch ein wenig länger in den wollüstigen Erinnerungen schwelgen kann, falls er noch lange schlaflos und mit Bauchschmerzen im Bett liegen bleiben müsste.

So richtet er sich ächzend auf, wühlt sich träge aus den warmen Decken, setzt sich auf die Bettkante, drückt sich mit der einen Hand die lauwarme Bettflasche aus Mimis Zimmer an den Bauch und bückt sich ächzend zur untersten Schublade des kleinen Nachttischchens neben seinem Bett: Da müsste eine alte Rolle hellbraunen Paketklebestreifens zu finden sein, papierenes Abdeckband, wie es die Maler verwenden, ein billiges Klebeband, das aus der frühesten Zeit von Harry’s Bar stammen muss, aus der Gründerzeit sozusagen, aus der ruhigen Zeit vor zwanzig Jahren nämlich, als er das ganze Haus mit Mimi zusammen innen und außen frisch gestrichen hat. Noch bevor er die Rolle ertastet hat, springt jedoch die Türe seines Zimmers auf, und Harry platzt, rückwärtsgehend, mit einem Tablett voller Frühstücksware herein.

„Junge, du musst was zu dir nehmen“, murmelt er verlegen, wie er sich zu Fredy hin umdreht, „ich habe dir hier etwas Kleines bereitgestellt.“ Er stellt das Tablett direkt neben Fredy ab, mitten aufs Bett, klappt den runden Deckel der Hutschachtel, die ebenfalls auf dem Bett steht, energisch zu, stellt selbige ans Fußende, um Platz für sich selber zu schaffen, und setzt sich darauf vorsichtig mit der einen Gesäßhälfte auf die Bettkante, genau dorthin, wo vorhin noch die Hutschachtel gestanden hat.

Fredy reicht ihm unaufgefordert das Foto: „Schau mal!“ Harry schaut sich das Bild lange an. Es sagt ihm absolut nichts, denn er hat nichts damit zu tun; er sieht lediglich eine offenbar großgewachsene Frau, die nächtens und scheinbar kopfvoran in ein kleines Auto steigt – oder zumindest zu steigen versucht. Vielleicht holt sie nur etwas aus dem Wagen heraus, ihre Handtasche vielleicht; so deutlich ist das nicht zu erkennen. Man sieht auf der alten Aufnahme eigentlich nur einen riesigen Frauenhintern, und dahinter steht ein heller Kleinwagen mit weit geöffneter Fahrertür. Aussteigen tut sie jedenfalls bestimmt nicht, denn wenn sie aussteigen würde, müsste man sie von vorne erkennen können. Harry ist, je länger er das Bildchen betrachtet, tatsächlich der Meinung, dass sie auch nicht einsteigt, denn wenn sie einsteigen würde, würde sie als erstes ihren dicken Arsch ins Auto schieben, nicht wahr? Oder zumindest erst mal ein Bein, oder wenigstens einen Arm. Aber doch nicht den Kopf zuerst? Wer steigt schon kopfvoran in ein Auto? Der Kopf wäre bestimmt das letzte, was ins Auto hinein käme, denn niemand steigt kopfvoran in ein Auto, und sei es noch so klein.

Das Auto steht auf einem kleinen, nächtlichen Parkplatz vor einem italienischen Lokal, denn man kann knapp das beleuchtete Schild ‚Trattoria’ lesen, und auf dem schmalen, unteren Rand ist zudem mit einem billigen Kugelschreiber, der beim Schreiben ganz offensichtlich farbliche Aussetzer gehabt hat, ‚Castrovillari’ hingekritzelt worden.

Harry zuckt die Achseln und reicht das Bild wortlos zurück. „Schau bitte mal hier nach“, bittet Fredy und zeigt kurz auf die untere Schublade seines Nachttischchens, „da müsste noch eine alte Rolle Abdeckband liegen!“ Harry steht wieder auf und zieht die untere Schublade heraus. „Da!“ Er reicht Fredy das Gesuchte. „Was willst du damit?“ fragt er gleichzeitig verwundert. „Nimm mal das Tablett weg!“ befiehlt Fredy. Harry hebt es wieder hoch, und Fredy richtet sich auf, packt die Bettflasche beiseite, dreht sich um und kniet sich auf dem Bett gegen die nackte Wand hin. Er reißt ein kurzes Stück Klebestreifen von der Rolle und klebt sorgfältig erst das eine, darauf das andere Bildchen an die Wand, erst den weißen Hügel von Wałcz, daneben die große Frau und das winzige Auto auf dem nächtlich erleuchteten Kneipen-Parkplatz von Castrovillari, beide ziemlich dicht nebeneinander, direkt über dem Kopfende des Bettes, allerdings nicht auf der Stirnseite, sondern an der Längsseite, wo er im Liegen seitlich hinblicken kann. Danach dreht sich Fredy, bereits recht unbeweglich geworden, mit steifem Kreuz langsam wieder um, legt die Rolle Klebestreifen auf das Nachttischchen, setzt sich im Bett hin, nimmt Harry das Tablett aus der Hand und stellt es so vor sich hin, dass er bequem an die liebevoll zubereiteten Häppchen kommt: Da sind einige winzig kleine Schnittchen auf Toastbrot zu finden, canapés, wie Harry den Dingern zu sagen pflegt, mit Wurst, Schinken, Käse, Honig und Konfitüre, dazu etwas Rührei mit Bratspeckstreifchen in einem separaten Tellerchen, ein Yoghurt im Glas und ein silbernes Kännchen mit frischem, heißem Tee.

„Ich will, wenn ich schon etwas Zeit dafür habe, die Fotos von früher hier aufkleben, die mir zufällig in die Finger gekommen sind und die mir gefallen haben, weil sie mich an etwas Besonderes erinnern!“ erklärt Fredy sachlich und weist auf die leere Wand über dem Bett. „So kann ich sie jederzeit vom Bett aus betrachten. Das gefällt mir, das erinnert mich an gewisse Dinge, an die ich ganz gerne wieder mal erinnert werden möchte, verstehst du?“ Harry schaut gleichgültig die weiße Wand an und nickt vage. „Du willst hier deine eigene Fotoausstellung veranstalten?“ fragt er recht verwundert, denn ihm sagen die Aufnahmen natürlich nichts. Fredy hebt vieldeutig die Augenbrauen und die Schultern.

Es ist durchaus verständlich, dass Harry mit Fredys neuester komischer Absicht wenig anfangen kann. Fredy schaut sich indessen die beiden Fotos an der Wand mit schräg gelegtem Kopf aus einiger Distanz lange und intensiv an und nickt danach zufrieden: „Gut so. Geht ganz gut so, ja, so geht es. Das ist jetzt genau so, wie ich es haben will. Weißt du, Harry, es ist mit der klassischen Fotografie nämlich so: Mitunter sind die schlechteren Aufnahmen die besseren Aufnahmen. Verstehst du, was ich meine? Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis, denn bisweilen ist weniger mehr, möchte ich mal als artista fotografica ganz dringend festhalten. Oder: Manchmal ist das Misslungene das weitaus Bessere als das Gelungene! Wenn du verstehst, was ich meine!“ „Du hast vielleicht Ansprüche!“ scherzt Harry kurz, ohne viel Verständnis für Fredys philosophische Kapriolen zu zeigen, und wendet sich wieder der Tür zu, um in die Küche hinunter zu gehen.

Er dreht sich aber noch einmal nach ihm um: „Soll ich die Bettflasche mitnehmen und ausleeren? Brauchst du sie überhaupt noch? Oder soll ich frisches, heißes Wasser einfüllen und sie wieder heraufbringen?“ „Nein, es geht, danke. Ich glaube fest, dass ich bald wieder auf dem Damm bin, Harry; die Bauchschmerzen klingen jedenfalls ab. Vielleicht bin ich nach diesem Frühstück wieder fit. Mal sehen. Ich fühle mich jetzt nur noch etwas wackelig auf den Beinen und müde wie die Sau, das ist alles. Die Bauchschmerzen scheinen jedenfalls endlich wegzugehen.“ Harry nickt zufrieden. „Du hast gestern gekotzt wie ein Weltmeister“, kichert er.

Darauf geht er wieder hinaus, hinunter zu seinem ragout d’agneau, durchaus etwas skeptisch, was die eben angekündigte Genesung betrifft. Fredy schaut sich eine Weile kritisch die beiden Bilder an, die er ausgewählt hat und die jetzt einsam an der Wand hängen, nachdenklich in sich versunken, gibt sich darauf einen Ruck, richtet sich entschlossen auf und macht sich seufzend hinter das herzhafte Frühstück, das ihm Harry unaufgefordert, doch sehr aufmerksam zubereitet hat. Er weiß noch gar nicht, ob er überhaupt Appetit haben soll, oder nicht.

„Harry, sie wollen die Bettenfabrik schließen!“ „Ach wo!“ „Alle sagen es!“ „Das ist doch gar nicht möglich!“ „Sie sollen ganze Bereiche abbauen! Sie haben schon angefangen damit!“ „Dummes Zeug! Der Fabrik geht es gut.“ „Nein, es soll wegen der Aktien sein, wegen der Börse! Sie haben sich verspekuliert, heißt es! Etwas mit faulen Krediten soll es sein! Etwas mit viel zu hohen Abfindungen und viel zu massiven Abgangsentschädigungen! Die Banken machen anscheinend viel Ärger! Wollen nicht mehr zahlen! Finanzielle Dreckmanöver sind soeben im Gange!“ „Quatsch, Fredy! Die Auftragsbücher sind voll. Der Fabrik geht es gut.“ „Ehrlich! Man hört, dass sie bald die Löhne nicht mehr bezahlen können sollen!“ „Du spinnst wohl, das ist doch gar nicht möglich! Das kann man doch gar nicht machen! Da warten doch immerhin mehr als zweihundert von den ehemals vierhundert Leuten darauf!“ „Das Management verschwindet in alle Winde, sagt man!“ „Du träumst!“ „Habe ich gehört! Man munkelt so allerhand!“ „Quatsch. Das ist gar nicht möglich! Die Bettenfabrik steht solide da.“ „Das ganze Dorf ist in Aufruhr, Harry!“

Das Bettendorf ist tatsächlich bereits seit einem halben Jahr in stillem Aufruhr. Niemand weiß etwas Genaues, aber alle kennen die bösen Gerüchte. Der eine meint dies, der andere das, die wildesten Spekulationen zirkulieren, werden aufgebauscht und gleich wieder heftig widerrufen oder glatt geleugnet; man vermutet, man rät, man werweißt und wiegelt ab, doch das Feuer ist natürlich längst im Dach. „Harry, sie haben ein Communiqué herausgegeben.“ „Wer?“ „Die Fabrikleitung und das Konzern-Management.“ „Wozu soll das denn gut sein?“ „Die Löhne seien nur noch bis November gesichert, schreiben sie!“ „Was? Bist du bescheuert? Das sind zweihundert Arbeitsplätze! Ein ganzes Dorf!“ „Eben!“ „Und was soll nachher werden?“ „Das weiß niemand.“ „Das kann doch nicht sein? Nein, das ist nicht möglich!“ „Es ist aber so, Harry.“ „Dann würde ja ein ganzes Dorf Pleite gehen!“ „Eine ganze Region, Harry.“ „Das wäre das Ende, wenn das stimmt, Fredy. Das wäre das Aus für alle. Für uns alle.“

Harry weiß nur eines: Seine Kneipe läuft so schlecht wie noch nie zuvor, und das ist ganz gewiss kein gutes Zeichen. Die Leute bleiben neuerdings lieber zu Hause, als dass sie auswärts essen gehen würden; sie schließen sich verängstigt in ihre Häuser ein, setzen sich vor die Glotze, lassen sich zerstreuen und harren ergeben der üblen Dinge, die angeblich geschehen sollen. „Harry, warum kommen die Leute nicht mehr zu uns?“ „Das weiß ich nicht, Fredy. An mir kann’s gewiss nicht liegen. Ich koche so gut wie eh und je.“ Fredy blättert im dicken Gästebuch neben dem Telefon, wo über das ganze Jahr hinweg all die Vorbestellungen notiert worden sind. Er tippt mit dem Zeigefinger ratlos auf eine Stelle: „Schau da! Hier steht’s! Monat Mai! Im Mai haben wir noch gut hundert Vorbestellungen gehabt.“ Er blättert weiter. „Im Juni sind es sogar hundertzwanzig gewesen, und im Juli gerade mal dreißig.“ „Das ist normal, Fredy. Im Juli ist das normal. Denk doch mal nach! Die Leute sind wie jedes Jahr im Sommerurlaub. Herrgott noch mal! Nun sei nicht so pessimistisch!“

Fredy blättert weiter. „Im August, schau da, noch sechzehn! Im September: noch zwei! Ganze zwei Vorbestellungen! Und im Oktober null, im November null, im Dezember null, und bis heute: Null! Nichts! Das geht nun schon seit Monaten so, Harry! Üblicherweise sind die Wintermonate gut für uns. Aber was ist in diesem Jahr? Nichts! Jetzt haben wir schon Januar, und es ist immer noch keine Besserung in Sicht!“ Fredy klappt das dicke Gästebuch unwirsch mit einem heftigen Knall zu. „Im Januar herrscht immer etwas Flaute, Fredy, das ist bekannt!“ beschwichtigt Harry. Fredy schüttelt empört den Kopf: „Das ist mehr als eine Flaute, Harry, das ist bereits eine ausgewachsene Krise!“ „Das gibt sich wieder, Fredy, keine Bange! Sobald sich die Lage etwas beruhigt hat, sobald diese Scheiß-Gerüchte vom Tisch sind, werden die Leute wieder in Scharen bei uns auftauchen und gut essen wollen. Ich schwör’s! Das ist so sicher wie Weihnachten! Gut essen wollen sie immer. Ausgehen wollen sie auch.“

Aber man spricht im Dorf erneut von stornierten Aufträgen und von gestoppten Lieferungen, auch munkelt man von langjährigen Zulieferbetrieben, die bald dicht machen sollen, von Einstellungs-Stopps und von jungen, frisch zugezogenen Fachkräften, die bald wieder wegziehen werden oder bereits weggezogen sind, von lauter ungewöhnlichen, einschneidenden Maßnahmen, von fristlosen Kündigungen und von bevorstehenden Massenentlassungen, von unheimlichen Nachlass-Stundungen, von drohendem Ausverkauf gar, von bestenfalls vorzeitigen Pensionierungen und überaus miesen Abgangsentschädigungen, von fristlosen Schließungen, von unfreundlichen Übernahmen und von panischen Angstverkäufen, von erzwungenen Fusionen, von unausweichlichen Ein- und Ausgliederungen, von drohender Zahlungsunfähigkeit, von rundweg tödlichem Bankrott und von Zwangsversteigerungen, lauter schlafraubende Begriffe, die eine fassungslose, ungläubig augenreibende Dorfbevölkerung seit vier oder fünf Jahrzehnten nicht mehr gehört hat.

Vor vier Jahren erst hat es in der Fabrik schon einmal diese sogenannten Umstrukturierungen gegeben. Das ist damals der mehr als verlogene Begriff für nichts anderes als für die fristlose Entlassung der Hälfte einer paralysierten, entgeisterten Belegschaft gewesen. Zweihundert Stellen sind im Bettendorf also schon einmal gestrichen worden, angeblich nur deshalb, damit die Fabrik konkurrenzfähig bleibe und auf sicheren und soliden, also auf gesunden und kräftigen Beinen weiter existieren könne. Man hat damals tatsächlich von ‚Beinen’ gesprochen. „Wir haben eine solide Basis“, hat es zuversichtlich geheißen. „Der Betrieb steht auf zwei gesunden Beinen“, was immer damit gemeint war. „Das Kerngeschäft ist unverwüstlich und ausbaufähig“, hat man voller Optimismus erklärt, und „Die Produkte-Qualität bleibt europaweit unerreicht! Das ist unser wichtigstes Kapital.“

Zu jener Zeit ist die ganze Diskussion im Dorf hauptsächlich um ordentliche oder um vorgezogene Pensionierungen gegangen; jedenfalls ist der angeblich unausweichliche, massive Einschnitt in die Existenz eines ganzen Dorfes ‚sozial verträglich abgefedert’ worden, wie vor allem die Lokalpolitiker in zahllosen blumigen Communiqués so etwas Unschönes reichlich beschönigend genannt haben. Eines ist heute jedenfalls ganz sicher, eines ist allen sonnenklar: Sollte nächstens tatsächlich das allerschlimmste eintreten, was man sich zwar ohne weiteres ausdenken kann, sich jedoch kaum auszudenken, auch nicht auszusprechen und schon gar nicht zu glauben wagt, die Schließung der ganzen Bettenfabrik, denn dann kann gleich das ganze Bettendorf dichtmachen. Dann bleibt tatsächlich nicht mehr viel von all dem übrig, was hier in der geografischen Abgeschiedenheit einmal ein paar tausend menschliche Existenzen finanziert und somit gerechtfertigt hat.

„Harry, die Leute werden nie mehr zu uns kommen.“ „Warum sollten sie nicht?“ „Sie ziehen weg.“ „Die bleiben. Die sind von hier. Die wollen nicht weggehen.“ „Warum sollten sie hier bleiben? Hier wird es bald nichts mehr geben, was ein Verbleiben überhaupt erst ermöglichen würde. Alle ziehen sie weg, alle. Hier gibt es bald nichts mehr zu tun, Harry. So sehe ich das.“ „Es wird ihnen sicher was einfallen, keine Bange, Fredy. Man wird sich halt umstellen müssen. Man wird sich was ausdenken müssen.“ „Nein, Harry, das glaube ich nicht. Sie behaupten, es sei die internationale Wirtschaftslage. Der ganze heimische Holzmarkt sei soeben zusammengebrochen. Die ganze hiesige Möbelindustrie sei am Ende. Die ausländische Konkurrenz sei übermächtig geworden.“ „Ach was! Das sind doch alles nur Ausreden!“ „Die Möbelproduktion sei längst in die Billiglohnländer ausgelagert worden, heißt es.“ „Blödsinn! Die ganzen Fachkräfte sind ja noch hier! Das ganze Wissen! Die ganze Technologie ist noch hier! Und denk nur an all die happigen Investitionen der letzten Zeit! All die teuren, modernen Maschinen! Das ganze Geld ist also auch noch hier! Glaubst du, die Banken würden das alles einfach aufgeben wollen? Eine Gans aufgeben, die goldene Eier legt? Eine blöde Kuh, die praktisch endlos gemolken werden kann? Einen dämlichen Esel, der güldene Taler scheißt? Du hast sie nicht alle!“ „Wer zurückbleibt, ist endgültig am Arsch und wird von der Sozialhilfe leben müssen. Somit kommen sie bestimmt nicht mehr zu uns zum Essen in Harry’s Bar, nicht am Mittag, und schon gar nicht am Abend.“ „Du siehst das alles viel zu schwarz, Fredy! Du wirst es selber sehen! Du wirst es selber erleben! Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird!“ „Wenn ich es dir sage, Harry! Wir müssen uns ernsthaft überlegen, wie es für uns und unsere Kneipe weitergehen soll! Ehrlich! Es ist fünf vor zwölf, Harry! Das hat auch für uns Konsequenzen! Schwerwiegende Konsequenzen! Denk doch mal darüber nach! Harry’s Bar ist ernsthaft in Gefahr!“

Und alle im Dorf rätseln entsetzt: Wie hat das nur geschehen können? Man hat in der Bettenfabrik erst kürzlich neue und bedeutende Investitionen getätigt, für alle sichtbar und verständlich, hat moderne Maschinen gekauft, teure, vollautomatische Roboter, Absaugvorrichtungen, Klimaanlagen, Produktionsstraßen, hat neue Märkte erschlossen, hat das breite Angebot klug erweitert, gestrafft und erneuert, hat neueste Technologien angewandt, hat jede Menge Synergien fließen lassen und die gesamte Produktion weitgehend automatisiert und somit in nie dagewesener Weise modernisiert und kostengünstig vereinfacht. Noch kann sich verständlicherweise niemand vorstellen, warum überhaupt ein einstmals blühender Großbetrieb mit generationenlanger Tradition und starker Verankerung in der treu ergebenen Region, wie es die altehrwürdige Bettenfabrik nun mal ist, einfach eingehen kann, und zwar in der Blüte seiner Entwicklung.

Für Harry, der wie immer in seiner kleinen, praktischen Sichtküche steht und jetzt eben seine schönen, saftigen Ragoutstücke in der heißen Pfanne anbrät, sieht das derzeit so aus: Seit einem halben Jahr, seit dem Ende der letzten Sommerferien bleiben die Gäste mehrheitlich aus. Es kommt fast niemand mehr in Harry’s Bar essen. Am Abend bleibt die Kneipe leer. Nicht, dass die Angebote schlechter geworden oder dass die Preise überrissen wären, und auch an Harrys und Fredys Arbeit kann es nicht liegen. Es ist einfach der ganz banale, tiefgreifende, existenzielle Schiss, der die Leute erfasst hat und zu Hause bleiben lässt, haben die beiden Wirte herausgefunden. Die Dörfler haben alle die durchaus berechtigte Angst, ihre schöne, friedliche, dörfliche und über viele Generationen hinweg gelebte Existenz aufgeben zu müssen und ihre angestammte Welt zu verlieren, und die Leute, die früher sogar aus den umliegenden Dörfern und aus der nahen Kreisstadt zu Harry gekommen sind, um sich ein gutes Essen zu gönnen, bleiben ebenfalls aus, weil sie das unglückliche Dorf, das seit mehreren Generationen von dieser einen und einzigen Möbelfabrik abhängig ist, aus reinem Aberglauben meiden. Sie wollen sich selber das Unglück, das drohend über diesem ehemals tüchtigen Dorf und der ganzen Region liegt, nicht auch noch anhängen; sie wollen sich von den drohenden Seuchen namens Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit nicht anstecken lassen.