Frei für die Liebe - Emma S. Rose - E-Book

Frei für die Liebe E-Book

Emma S. Rose

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Beschreibung

Wie schnell musst du laufen, um deiner Vergangenheit zu entkommen? Ein Neuanfang ist alles, was Ava im Sinn hat, als sie quer durchs Land reist, um ihr Studium anzutreten. Viele Jahre hat sie sich auf genau diesen Moment gefreut, wenn ihre Wunden die Chance bekommen, endgültig zu heilen. Als sie direkt an ihrem ersten Tag ungeplant auf einer Party landet und dort dem attraktiven Gus gegenübersteht, ahnt sie nicht, dass ihre zurückhaltende Art seine Neugierde weckt. Während sie noch versucht, sich in ihrem neuen Leben zu orientieren, setzt er alles daran, ihr Vertrauen zu gewinnen. Schon bald befindet sie sich in einem inneren Widerstreit: Wie viel kann sie von sich preisgeben, ohne ihre schrecklichen Geheimnisse zu verraten? Und hat sie ihre Vergangenheit wirklich hinter sich gelassen, oder drohen ihre Dämonen schon längst, sie wieder zu verschlingen? Ein abgeschlossener Roman über Mut und Schmerz, Angst und Vertrauen. Natürlich kommt auch die Liebe nicht zu kurz!

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FREI FÜR DIE LIEBE

EMMA S. ROSE

Frei für die Liebe

Emma S. Rose

 

1. Auflage

Juli 2019

© Emma S. Rose

Rogue Books, Inh. Carolin Veiland, Franz - Mehring - Str. 70, 08058 Zwickau

[email protected]

Umschlaggestaltung: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung von Bildmaterial von CARACOLLA; Shumo4ka / Shutterstock

Alle Rechte sind der Autorin vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung und Vervielfältigung - auch auszugsweise - ist nur mit der ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung der Autorin gestattet.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes in andere Sprachen, liegen alleine bei der Autorin. Zuwiderhandlungen sind strafbar und verpflichten zu entsprechendem Schadensersatz.

Sämtliche Figuren und Orte in der Geschichte sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit bestehenden Personen und Orten entspringen dem Zufall und sind nicht von der Autorin beabsichtigt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Für all jene, die ihre Freiheit suchen.

Möget ihr sie finden.

Möget ihr glücklich werden.

Ihr habt es verdient.

Es gibt nichts Schöneres als geliebt zu werden, geliebt um seiner selbst willen oder vielmehr trotz seiner selbst.

VICTOR HUGO

INHALT

Playlist

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Danksagung

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Über den Autor

PLAYLIST

Unsteady – X Ambassadors

Hurts Like Hell – Fleurie

Dynasty – MIIA

Paralyzed – NF

Bad Liar/Stripped – Imagine Dragons

I’ll Be Good – Jaymes Young

Hold On – Chord Overstreet

Too Much To Ask – Niall Horan

Lovely (with Khalid) – Billie Eilish

You Don’t Owe Me – Hanne Leland

Bruises – Lewis Capaldi

I Found – Amber Run

Can You Hold Me – NF, Britt Nicole

Jar of Hearts – Christina Perri

Lost Boy – Ruth B.

Someone New - Hozier

Ein helles Glöckchen kündigte meine Ankunft an, als ich die kleine Bäckerei durch eine Glastür betrat. Sofort zuckten einige Köpfe in meine Richtung - ich erweckte die Aufmerksamkeit von der jungen, gelangweilt aussehenden Verkäuferin hinter dem Tresen sowie des kleinen Grüppchens Frauen mittleren Alters, die an einem der vier Tische saßen, die sich links von der üppigen Auslage befanden.

Wow.

Von außen hatte ich nicht damit gerechnet, dass man sich hier sogar hinsetzen konnte, und nachdem ein weiterer Blick mir verriet, dass sich kein einziges männliches Wesen in diesem Raum befand, beschloss ich, meinen Plan zu ändern.

Der nagelneue Audi stand auf einem Platz direkt vor der gläsernen Front, weshalb ich ihn im Auge behalten konnte. Ein Kaffee und ein Stück Kuchen - das war gerade ungefähr alles, was ich nach der langen und anstrengenden Fahrt gebrauchen konnte.

Ich versuchte mich in einem Lächeln, das meine Nervosität nicht verriet, und trat einen Schritt näher zur Theke. »Hi. Gibt es hier eine Kundentoilette?« Als ich sah, wie sich die Miene der jungen Frau veränderte, schob ich noch schnell hinterher: »Danach werde ich auch etwas kaufen.« Ich hibbelte ein wenig von einem aufs andere Bein, was der jungen Frau ein mitfühlendes Lächeln entlockte.

»Klar. Rechts, am Ende des Raumes.« Sie deutete mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Tische, wo ich das kleine Symbol für die Kundentoilette erkannte. Meine Rettung.

Ich warf der Verkäuferin einen dankbaren Blick zu und huschte dann an dem besetzten Tisch vorbei. Zum Glück hatten die Frauen ihr Interesse an mir bereits wieder verloren, und ich erreichte die Toilette ohne Umschweife.

Während ich meine Blase entleerte, spürte ich gleichzeitig Erleichterung und einen heftigen Schmerz. Sieben Stunden lang hatte ich in dem Auto gesessen. Sieben Stunden ohne Unterbrechung - und das, obwohl ich bereits nach einer oder zwei Stunden gespürt hatte, dass ich pinkeln musste.

Als ich ans Waschbecken trat, begegnete ich meinem Abbild im Spiegel, was mich augenblicklich erstarren ließ. Ich wollte das eigentlich nicht. Für gewöhnlich vermied ich es, mich im Spiegel zu betrachten, doch ausgerechnet hier, auf der sauberen, aber superkleinen Kundentoilette einer Bäckerei, fühlte ich mich von meinem Ebenbild paralysiert, und ich konnte nicht aufhören zu starren.

Mit feuchten Fingern fuhr ich langsam über meine rechte Kieferpartie. Da ich wusste, was sich dort befand, konnte ich den Schatten des blauen Flecks erkennen, den ich mit einer dicken Schicht Make-up zu überdecken versucht hatte. Vermutlich würde niemand die leichte Schwellung erkennen; schon gar nicht jemand, der mich nicht kannte. Keine Gefahr, kein Risiko. Die Schatten unter meinen geröteten Augen waren da schon etwas anderes, aber hey - wer sah nicht ab und an müde aus? Erst recht, wenn er einen neuen Lebensabschnitt antrat? Kein Grund, sich deshalb Sorgen zu machen. Alles, was von Kleidung bedeckt war, spielte sowieso keine Rolle, da mich niemand in einem anderen Zustand als in diesem sehen würde.

Ich schloss meine Augen.

Nach meiner kurzen Bestandsaufnahme der offensichtlichen Defizite versuchte ich, mich mit neutralem Blick zu betrachten. Ich trug das besagte Make-up, was für mich eher ungewöhnlich war, und meine langen, hellen Wimpern waren von schwarzer Mascara umhüllt. Wieso ich an diesem Morgen die Ruhe dafür gehabt hatte, konnte ich rückblickend nicht sagen. Meine Augen wurden durch die getuschten Wimpern betont, sie wirkten noch größer, und das strahlende Graublau der Iris wirkte in dem hellen Licht der Toilette eher silbern. Meine Haut war normalerweise blass. Ich hatte mich jetzt nicht übertrieben geschminkt, aber das Make-up ließ mich gesünder aussehen.

Und meine Lippen? Sie waren voll, voller als ich es mir manchmal wünschte, und sie passten zu meinem herzförmigen Gesicht.

Hellblondes Haar fiel mir bis über die Schultern. So richtig hellblond und dünn, auf eine Weise, dass ich nicht viel mehr damit machen konnte, als es zu einem Zopf zusammenzubinden oder wie einen Vorhang herunter hängen zu lassen. Alles in allem gehörte ich zu dem Typ »Achtung, Sonne, in fünf Minuten bist du verbrannt«. Zusammengefasst: Ein blasses, durchschnittliches Mädchen.

Aber damit konnte ich leben, denn das Letzte, was ich wollte, war zu viel Aufmerksamkeit. Ich genoss es, ein Leben am Rande des Zentrums zu führen, und daran sollte sich auch so schnell nichts ändern.

Für etwa weitere drei Sekunden blickte ich mir noch in die Augen, versuchte mich in einem Lächeln, das vermutlich nur mir so angestrengt vorkam, und stieß mich dann vom Waschbecken ab.

Ich hatte sieben Stunden lang nicht gepinkelt - und genau so lange nichts gegessen oder getrunken. Ein Kaffee und Zucker in Form eines Stück Kuchens kamen mir also gerade recht.

Wahrscheinlich stellte ich gerade einen Rekord in Langsamkeit auf, was das Essen meiner Schokotarte anging. So vieles hatte zur Auswahl gestanden, und ich war doch wieder in alte Gewohnheiten gerutscht. Obwohl mich die Obsttörtchen wirklich angelacht hatten, konnte ich der Schokolade nicht widerstehen. Wie immer. Gabel für Gabel schob ich mir kleine Stücke in den Mund, um den Genuss hinauszuzögern und mir vor Augen zu führen, dass ich mir diese Zeit wirklich nehmen konnte. Ich würde mich erst in einer Stunde mit meinem neuen Vermieter treffen, der Appartementkomplex war von hier in weniger als fünf Minuten mit dem Auto erreicht, und abgesehen davon gab es absolut niemanden, der auf mich wartete.

Gut, schoss es mir durch den Kopf, während ich eine weitere, hauchdünne Scheibe Tarte mit meiner Gabel abtrennte. Das heißt, ich kann häufiger hierher kommen und mir ein Stück Kuchen oder Brot holen. Sofern ich denn einen Job finde und mir solche Spielereien gönnen kann.

Der Duft von frischgebackenen Brötchen drang mir in die Nase und ich sah, wie die junge Frau die Körbe auffüllte. Ob sie wohl eine Studentin war, so wie ich? Sich ihr Leben durch den Job hier mitfinanzierte, normalerweise aber über Büchern brütete? Ich hätte sie fragen können, doch das wäre mir komisch vorgekommen.

Ich redete nicht mit fremden Menschen. Schon gar nicht, wenn ich an einem Tisch wenige Meter entfernt saß, noch immer die Frauen in meiner Nähe, und mit vor Nervosität feuchten Händen. Auch wenn sie freundlich wirkten und mich daher eventuell von dem ablenken konnten, was mir bevorstand.

Nicht jetzt und nicht hier. Für heute hatte ich bereits genug gewagt - und der Tag war noch nicht vorbei.

Mein Blick wanderte zur Glasfront. Es erleichterte mich, den Wagen dort stehen zu sehen, denn in seinem Kofferraum befand sich alles, was ich an Habseligkeiten noch besaß. Den Großteil hatte ich zurückgelassen, als ich heute Morgen eingestiegen war und mein bisheriges Zuhause zurückgelassen hatte.

Für immer.

»Ich kehre nicht mehr zurück«, murmelte ich tonlos vor mich hin. Wenn ich schon nicht mit anderen redete, konnte ich genauso gut exzentrisch werden. Spielte jetzt auch keine Rolle mehr. »Nie mehr.«

Es war nicht das erste Mal, dass ich diese Worte dachte oder aussprach, aber noch immer fühlten sie sich fremd an. Keine Ahnung, wann ich das endlich begreifen würde, aber heute war es noch nicht soweit. Vielleicht auch nicht morgen oder übermorgen.

Aber irgendwann sicherlich.

Meine Gabel kratzte über den Teller. Traurig bemerkte ich, dass ich meinen Kuchen aufgegessen hatte. Ich spülte den letzten Bissen mit dem Rest aus meiner Kaffeetasse hinunter und warf einen Blick auf die Uhr. Noch immer war ich ein bisschen früh dran, aber ich wollte lieber einen Zeitpuffer haben, ehe etwas Unvorhergesehenes geschah und ich meinen Vermieter versetzen musste. Er hatte die Schlüssel zu meinem neuen Zuhause, und ich wollte sie so dringend, so sehr, dass meine Brust vor Sehnsucht schmerzte.

Ich beschloss, mir einen Muffin und ein Brot mitzunehmen, damit ich im Zweifel vor morgen die Wohnung nicht mehr verlassen musste, sobald ich all meinen Krempel reingeschafft hatte. Mein Blick fiel auf den gut gefüllten Umschlag, der sich in der versteckten Innentasche meiner Handtasche befand, als ich mein Portmonee hervorzog, und ich zuckte zusammen. Eilig murmelte ich der Verkäuferin ein paar Worte des Abschieds zu, dann flüchtete ich praktisch nach draußen.

Die kühle, frische Luft sorgte augenblicklich dafür, dass ich mich wieder besser fühlte. Ja, so schnell konnte das gehen. In einem Moment noch entspannt, rückten im nächsten schon die Wände auf mich ein und ich musste verschwinden.

Ich spürte, wie meine Kehle sich verschloss, und versuchte, mich blinzelnd daran zu erinnern, wo ich war.

Sieben Autostunden von meiner Vergangenheit entfernt. Ohne Hinweis darauf, wo ich war. Alleine. Im Begriff, etwas Neues aufzubauen, nur für mich. Das Bündel Geldscheine in meiner Tasche sollte mir den Start erleichtern, auch wenn es nicht richtig war, aber ich würde alles daran setzen, schon bald mein eigenes Geld zu verdienen. Geld, das nicht an fragwürdige Bedingungen geknüpft war. Kein Schweige- oder Blutgeld, wie ich es gerne bezeichnete. Kein Geld, das ich in einer kopflosen Aktion aus dem Wandtresor meiner Eltern gestohlen hatte, etwa eine Stunde, nachdem sie zu einem Wochenendtrip aufgebrochen waren, und am Vorabend meiner lang geplanten und gut verschwiegenen Flucht.

Die Fahrt zum Appartementkomplex machte mich nervös, obwohl ich die Strecke bereits abgefahren war und daher genau wusste, wohin ich musste. Ich wusste sogar, in welches Gebäude ich gleich gehen musste, wo ich parken durfte, und dass sich meine Wohnung im zweiten Stock befand. Gut, letzteres stammte von den Informationen, die ich der Wohnungsanzeige und dem Gespräch mit Herrn Keller entnommen hatte, aber trotzdem.

Ich wusste Bescheid. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung. Und das machte es mir immerhin ein bisschen leichter.

Der Parkplatz war etwas voller als noch vor einer Stunde, aber ich ergatterte eine freie Lücke in direkter Nähe zum Eingang. Ich hatte zwar nicht allzu viel mitgebracht, würde aber bestimmt dreimal laufen müssen, ehe ich meinen Kram in der Wohnung hatte. Den Wagen würde ich erst am Folgetag wieder abgeben müssen. Ich hoffte, dass mir bis dahin niemand eine Schramme in den Lack machte, denn dann würde es teuer werden. Der Audi war praktisch noch taufrisch, und ich wollte nicht diejenige sein, die ihm etwas von seinem Glanz nahm.

Schon irgendwie ironisch.

Mir blieb zwar immer noch eine Viertelstunde, aber ich hielt es nicht mehr im Wagen aus. Sieben Stunden waren lang, und ich hatte genug von der beengten Kabine. Nervös schnappte ich mir meine Tasche, verriegelte das Auto dreimal, bis ich mir sicher sein konnte, dass es zu war, rüttelte trotzdem noch einmal an Fahrertür und Kofferraum, und machte mich dann auf den Weg.

Wir waren direkt vor der Wohnung verabredet. Mit weichen Knien erklomm ich die Stufen, bereit, eine Weile zu warten, weshalb ich erstaunt zusammenzuckte, als ich eine hochgewachsene, eindeutig männliche Person etwa in der Mitte des Flurs stehen sah, mit der Schulter an die Wand gelehnt. Sie hatte den Blick auf ein Handy gerichtet und schien nicht bemerkt zu haben, dass ich den Flur betreten hatte. Sofort begannen Unruhe und Angst an meinem Inneren zu nagen. Ich hielt inne, atmete tief durch und rief mir in Erinnerung, dass das mein Vermieter sein würde. Offenbar hatte er eine ähnliche Vorstellung von Pünktlichkeit wie ich, was ein gutes Zeichen war.

Gerade, als ich mich in Bewegung setzte, hob er seinen Blick und sah in meine Richtung. Ich bemerkte, dass er deutlich älter war als gedacht, eher wie ein Großvater, weshalb ich mich augenblicklich entspannte. Das Lächeln, das meine Mundwinkel verzog, fühlte sich sogar echt an. »Herr Keller? Ich bin Ava Blum.«

Er erwiderte mein Lächeln. Das Handy landete in seiner Hosentasche, und er stieß sich von der Wand ab, um mir ein paar Schritte entgegenzukommen. »Frau Blum! Sind Sie gut durchgekommen?«

Ich hatte ihm gesagt, dass ich erst heute anreisen würde, weshalb die Option bestanden hatte, dass ich es nicht pünktlich schaffen würde. Außerdem hatte er sich daher auf ein spätes Treffen eingelassen. Ich war mir sicher, dass er um siebzehn Uhr an einem Samstag wesentlich Besseres zu tun hatte, als mir meine Schlüssel zu übergeben, aber er hatte nichts dergleichen erwähnt, und nun wirkte er kein bisschen gestresst. Es war, als würde ein Teil der Last von meiner Brust verschwinden. »Alles bestens. Ich bin müde, aber aufgeregt.«

»Das glaube ich. Kommen Sie.« Er führte mich zurück zu der Tür, neben der er auf mich gewartet hatte. Nummer 24. Direkt gegenüber war die 23, und ich zählte noch acht weitere Türen. Hinter jeder Einzelnen befand sich ein teilmöbliertes Einzimmer-Appartement, nahm ich an, so wie jenes, das ich nun direkt hinter Herrn Keller betrat.

Ich bin frei.

Die Nervosität wich und machte Platz für Aufregung. Erleichterung.

Ich bin wirklich frei.

Meine Augenwinkel begannen zu brennen. Oh Gott, bitte nicht. Das letzte, was ich nun gebrauchen konnte, war ein kleiner Heulanfall direkt in Anwesenheit meines Vermieters, auch wenn es sich ausnahmsweise um gute Tränen handeln würde. Also biss ich mir auf die Zunge, bohrte meine Nägel in die Handflächen und atmete so lange flach durch, bis ich spürte, wie das drängende Gefühl hinter meinen Augen wieder zurückwich. Später. Ich musste nur noch diese Übergabe schaffen, dann konnte ich mich einrollen und weinen, bis keine Flüssigkeit mehr in mir vorhanden war.

»Wie Sie bereits wissen, gibt es eine kleine Küchenzeile, ein Bett und einen Einbauschrank. Das Badezimmer ist auch soweit bestückt. Alles darüber hinaus müssen und können Sie selbst einrichten.« Er warf mir einen Blick zu; Grübchen zierten seine Augenwinkel und er wirkte vergnügt, so als hätte er wirklich Spaß an dem, was er tat.

Ich nickte eifrig, hoffte inständig, dass er mir mein Gefühlschaos nicht ansah. Als Nächstes zeigte er mir eine kleine Macke im Laminat neben der Küchenzeile und einen Sprung in einer Fliese im Bad, vermerkte die Mängel im Übergabeprotokoll. Ich unterschrieb, unterschrieb dann noch ein zweites Mal, nachdem er mir einen Bund mit Schlüsseln übergeben hatte, und nahm lächelnd einen kleinen Stapel Prospekte und Lieferdienstzettel entgegen, die er mir zwinkernd reichte. »Ich kenne die Studenten.«

Keine Viertelstunde später war ich alleine in meiner ersten eigenen Wohnung, und ich konnte mein Glück kaum fassen.

Langsam schritt ich den Raum ab, nahm mir wesentlich mehr Zeit als vorher, alles in Augenschein zu nehmen. Verglichen zu dem, wo ich herkam, war das hier nicht viel mehr als ein Flur. Ich konnte den Rest selbst bestücken, ja, aber viel Platz gab es nicht. Während ich mich langsam im Kreis drehte und den kleinen Raum auf mich wirken ließ, erstellte ich einen Plan. Einen kleinen Tisch mit Stuhl würde ich auf jeden Fall brauchen, vielleicht einen Sessel und ein Regal für meine Bücher. Gott sei Dank konnte man so etwas heutzutage auch einfach liefern lassen, denn meinen Mietwagen musste ich morgen bereits zurückgeben, und ich bezweifelte außerdem, dass ich dort einen Sessel rein bekommen - geschweige denn, ihn selber in den zweiten Stock wuchten könnte.

Ich hatte also nicht viel Platz. Das Bad war winzig, keine Badewanne. Die Kochfläche war schmal, gerade einmal zwei Platten, und der Kühlschrank klein. Aber ich hatte eine Single-Spülmaschine, im Keller gab es Waschmaschinen, für die ich Waschmünzen erstehen konnte, und, viel wichtiger - es war meins.

Ich zahlte die Miete. Nur ich hatte den Schlüssel. Und hier konnte mich niemand finden.

Ich bin frei.

Meiner Kehle entkam ein merkwürdiges Geräusch, irgendwas zwischen Quietschen und Schluchzen, und dieses Mal ließ ich die Tränen zu, die sich einen Weg nach draußen brannten. Rücklings fiel ich auf das Bett und weinte, bis ich das Gefühl hatte, keinen einzelnen Tropfen mehr hergeben zu können.

Gegen sieben schleppte ich meinen letzten Koffer nach oben. Ich hatte alles, was mich noch ausmachte und mich in der kommenden Zeit begleiten würde, in Koffer und blaue Säcke gestopft. Obwohl es mich mit Unbehagen erfüllte, hatte ich für die Schlepperei den Aufzug benutzt, und trotzdem ging mein Atem schwer, als ich das riesige Ungetüm hinter mir her zu meiner Wohnungstür zog, in Gedanken bereits bei den Lieferdiensten. Vor dem Komplex hatten sich einige Menschen versammelt, und von irgendwo her dröhnten dumpfe Bässe. Offenbar fand im Erdgeschoss eine Party statt. Dieser Umstand erschien mir so befremdlich, so fern - und das zeigte nur, wie seltsam ich geworden war.

Ich erreichte meine Wohnung und zog gerade den Schlüssel aus meiner Hosentasche, als die Tür gegenüber aufgerissen wurde. Sofort wurde ich hektischer, weil ich nicht das geringste Bedürfnis hatte, heute noch mit irgendwem zu reden, aber natürlich schaffte ich es nicht, zu fliehen, ehe ich entdeckt wurde.

»Oh, ist die Wohnung auch endlich vermietet?«

Ich hielt inne, als ich die helle Frauenstimme vernahm, und drehte mich langsam um. Mir gegenüber stand ein Mädchen, das vermutlich in meinem Alter war. Ihre Haut war kaffeebraun, ihr Haar eine Nuance dunkler und stand in wilden, wirren Löckchen zu allen Seiten ab. Am auffälligsten waren ihre ebenmäßigen, weißen Zähne, die sie mir dank ihres strahlenden Lächelns zeigte.

»Hey, ich bin Leela. Offenbar sind wir ab sofort Nachbarn.« Strahlend reckte sie mir ihre Hand entgegen.

Sie war so herzlich und fröhlich und warm, dass ich mich trotz meines Widerwillens davon anstecken ließ. »Hey, ich bin Ava und ungefähr vor zwei Stunden angekommen.« Ich griff ihre Hand und schüttelte sie.

Mit dem Kinn deutete sie auf den riesigen Koffer. »Brauchst du noch Hilfe?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nö, das war die letzte Fuhre. Ich muss demnächst los und ein paar Möbel kaufen, aber für heute ist nichts mehr zu tun.«

»Perfekt!« Leela klatschte aufgeregt in die Hände. »Ich weiß genau, was wir dann jetzt tun.«

Meine Stirn legte sich in Falten, als ich ihre Worte zu verarbeiten versuchte. »Was ... wir tun?«

Sie nickte mir eifrig zu. »Schwing deinen Hintern rein und zieh dir ein hübsches Top an. Wir gehen jetzt feiern.«

Ich lachte schrill los. »Ähm, nein. Ich glaube nicht. Ich bin heute sieben Stunden gefahren -«

»Und du bist neu hier. Keine Widerrede. Ich hätte mich gefreut, wenn bei meiner Ankunft jemand da gewesen wäre, der mir dabei geholfen hätte, Anschluss zu finden. Jackpot, Ava, du hast mich. Also los. Rein da. Zieh dir was anderes an und dann komm. Auf dich wartet ein Abend voller Spaß.«

Mein Herz raste so heftig, dass sich kleine, schwarze Punkte in meinen Augenwinkeln ausbreiteten. Das letzte, was ich mir für heute erhofft hatte, war eine Party. Mehr so das Gegenteil - Junkfood, mein Buch und eine lange, lange Zeit des Kennenlernens mit meiner neuen Matratze. Aber Leela wirkte nicht, als würde sie mich von der Angel lassen. Ihre schokoladenbraunen Augen funkelten mich so fröhlich an, dass ich schon zum zweiten Mal spürte, wie ihre positive Energie auf mich überschwappte, so sehr ich mich auch dagegen wehren wollte.

Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche. Ich zog es hervor, ohne den Blickkontakt zu Leela zu unterbrechen. Erst, als ich es draußen hatte, warf ich einen Blick aufs Display, und zuckte zusammen.

Mein Vater.

Sofort verschloss sich meine Kehle, und ich spürte, wie mir etwas schwindelig wurde. Ich trat einen kleinen Schritt zurück, stieß gegen meinen Koffer und fluchte leise auf. Als ich Leelas Blick erneut begegnete, beobachtete sie mich ganz genau, und ich bildete mir ein, Sorge in ihren Augen zu erkennen.

Was hatte sie gesehen? Was dachte sie? Welches Urteil fällte sie? War ich bereits die seltsame Nachbarin von gegenüber, war ich schräg?

Sollte das wirklich der erste Eindruck sein, den ich am ersten Tag meines neuen Lebens bei ihr erweckte?

Nein. Definitiv nein. Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte - ich würde Buch, Bett und Pizza eine Weile verschieben müssen.

»Alles klar«, brachte ich atemlos hervor. »Gib mir zehn Minuten. Willst du zwischenzeitig ein Wasser?«

Jedes Mal aufs Neue war ich fasziniert davon, wie viele Menschen sich in ein kleines Appartement quetschen konnten. Als ich vor ungefähr fünf Minuten angekommen war, tummelten sich bereits unzählige Menschen in Leopolds kleiner Bude und noch mehr auf der zugehörigen Terrasse. Dumpfe Bässe dröhnten aus einer Soundbar, und ich sah überall junge, unbekannte Gesichter, die sich mit Alkohol zuschütteten und plauderten. Neben Leos Bett tanzten sogar zwei Mädchen engumschlungen, vermutlich mit dem einzigen Ziel, die Männer um sich herum aufzuheizen.

Ich verdrehte die Augen.

Leopold lebte in einem riesigen Haus, das aus vielen ähnlich geschnittenen Wohnungen bestand. Maximal dreißig Quadratmeter, ein einziges großes Zimmer, winziges Bad. Vermutlich waren mehr als neunzig Prozent der Mieter Studenten, was dieses Haus zu einem inoffiziellen Wohnheim machte - und dementsprechend viel war am Wochenende los. Hier interessierte sich niemand dafür, wenn jemand Party machte, im Gegenteil. Statt Beschwerden über den Lärm fragte man lieber nach, ob man sich anschließen durfte. Das Leben hier war ziemlich unkompliziert.

Leopold hatte das Glück, eine Wohnung im Erdgeschoss ergattert zu haben, weshalb er noch eine kleine Terrasse besaß, die sich zum Hinterhof öffnete. Wenn wir uns bei ihm trafen, platzten früher oder später alle nach draußen, sobald die Luft zu stickig wurde. Und das wurde sie jedes Mal - kein Wunder, wenn so viele Menschen auf engstem Raum zusammensteckten.

Ich hatte mir gar nicht erst die Mühe gemacht zu klingeln, war direkt über den Innenhof zu ihnen gestoßen, nickte hier und da, blieb jedoch nicht stehen, ehe ich meinen Kumpel gefunden hatte. Wie nicht anders zu erwarten, befand er sich mitten im Zentrum - also noch in seiner Wohnung -, und gerade lachte er über irgendetwas Komisches, was eines der Mädels in seinem Dunstkreis erzählt hatte. Ich musste schmunzeln. Mit beiden Händen griff ich in die Kapuze meines Hoodies und schob sie von meinem Kopf. Hier drin war es einfach schon jetzt irre heiß.

»Hey, Mann«, begrüßte ich Leo, während ich neben ihn trat.

Er wendete sich mir zu, immer noch ein Lachen in den Augen, das sich nun in ein Grinsen verwandelte. Wir schlugen kräftig ein. »Hey. Dachte schon, du schaffst es nicht mehr.«

Ich verdrehte die Augen. »Klar. Weil ich dich ja immer wortlos hängen lasse.« Vage deutete ich mit dem Kinn Richtung Terrasse. »Hier geht ja schon gut was ab.«

»Klar. Was erwartest du? Langsam kommen alle wieder zurück. Bis zum Semesterstart dauert es nicht mehr lange.«

»Und du bist ihr Partymeister.« Ich meinte meine Worte längst nicht so sarkastisch, wie sie rüberkamen. Irgendwann im vergangenen Jahr hatte es sich eingebürgert, dass Leo regelmäßige Partys schmiss. Rein logisch betrachtet wäre es sinnvoller gewesen, sie bei mir steigen zu lassen, weil ich ungefähr dreimal so viel Platz hatte wie er, aber ich war nicht bereit, so viele betrunkene - und fremde - Leute in meine Wohnung zu lassen. Leo dagegen hatte viel zu viel Spaß daran. Er konnte von Glück reden, dass bisher niemand die Polizei gerufen hatte - aber wie gesagt, circa 90 Prozent der Bewohner waren Studenten. Wenn sich jemand doch gestört fühlte, wurde er kurzerhand eingeladen. Und so hatte sich die Gesellschaft von Mal zu Mal vergrößert.

Auch heute waren einige Gesichter da, die mir noch nicht bekannt vorkamen, obwohl ich regelmäßig hier abhing. Leo drückte mir eine Flasche Bier in die Hand, und ich ließ meinen Blick träge schweifen, während ich sie an den Mund setzte. Mir war gar nicht nach Alkohol, und ganz sicher würde ich mich heute nicht betrinken. Dafür war mein Tag zu anstrengend. Aber ein Bierchen konnte nicht schaden. Gerade wollte ich meinen Scan beenden und mich wieder auf Leopold konzentrieren, als ich an einem weiteren, fremden Gesicht hängenblieb. In einer der Ecken des Appartements, direkt neben Leela, einem aufgeweckten Wirbelwind aus dem zweiten Stock, mit dem man viel Spaß haben konnte, stand das personifizierte Unbehagen. Ich musste dem Mädchen nur einen einzigen Blick zuwerfen, um zu erkennen, wie unwohl sie sich fühlte. Immer wieder schob sie ihre linke Hand in den Ärmel des rechten Arms und umgekehrt. Sie war blass, sah müde aus.

Und sie war trotz allem unglaublich hübsch.

Ich erstarrte in meiner Bewegung, ließ die Flasche langsam sinken. Ein merkwürdiges Ziehen entstand in meiner Brust, das ich nicht kannte und daher nicht einzuordnen wusste, während ich mich nicht von ihr lösen konnte. Ihre Augen huschten immer wieder hin und her, so als hätte sie Angst, etwas zu verpassen. Leela schien auf sie einzureden, weshalb ihre Augen immer wieder zu ihr zuckten, und der Kontrast hätte nicht grotesker sein können. Leela war voller Energie, sie hüpfte auf ihren Fußballen, gestikulierte wild mit den Händen.

Und die Unbekannte? Sie zog ihre Hand aus dem rechten Ärmel, nur um dann den Ellenbogen zu umfassen und noch etwas mehr mit der Ecke zu verschmelzen.

Jepp. Sie war definitiv nicht in Feierlaune.

Warum nur war sie dann hier?

»Hey, Mann, wo starrst du hin?« Leopold stieß mir unsanft in die Seite. Als er meinem Blick folgte, schnaubte er leise auf. »Ah.«

»Ah?« Ich warf ihm einen Blick unter zusammengezogenen Augenbrauen zu. »Wer ist sie?«

»Alter, ist das dein Ernst?« Leo lachte auf. »Seit wann interessierst du dich für irgendjemanden von den Neuen?« Als ich keine Miene verzog, seufzte er auf. »Sie heißt Ava. Scheint heute eingezogen zu sein, in die Wohnung direkt gegenüber von Leela. Leela dachte wohl, es wäre eine gute Idee, sie mitzuschleppen.«

»Armes Mädchen.« Sie tat mir leid. Ein Umzug konnte echt stressig sein, und dann wurde sie auch noch direkt auf eine Party voller Fremder gezerrt - von Leela, die selbst im nüchternen Zustand ganz schön einnehmend sein konnte. Kein Wunder, dass sie sich unbehaglich fühlte.

Leo schnaubte laut auf. »Komm schon. Es gibt Schlimmeres, als auf eine meiner Partys zu gehen. Hier findet sie wenigstens direkt Anschluss.«

Darauf erwiderte ich nichts. Zum einen, weil er wesentlich eingebildeter klang, als er wirklich war - und zum anderen, weil es nichts hinzuzufügen gab. Abgesehen davon, dass seine Partys nicht gerade der Nabel der Welt waren, hatte er Recht. Wie lernte man besser Leute kennen als auf diesem Weg? Zumindest, wenn man ein bisschen mehr tat, als unbehaglich in einer Ecke zu stehen.

Ich warf einen weiteren Blick in ihre Richtung und sah, dass sich ihr Verhalten nicht wesentlich verändert hatte. Ava. Ein ungewöhnlicher Name - aber schön. Ohne weiter darüber nachzudenken, setzte ich mich in Bewegung und steuerte auf sie zu.

»Hey, Gus!« Leela entdeckte mich schon von weitem, und ihr Grinsen wurde zu einem breiten Strahlen. Sie schaffte es irgendwie, trotz der Fülle der Wohnung auf mich zu zu hüpfen und mir um den Hals zu fallen. Ich erstarrte, weil mir diese Art der Begrüßung ein wenig zu persönlich vorkam, und schob sie auf Armeslänge von mir, um ihr in die Augen zu sehen.

»Aber hallo. Da hat jemand schon gut ins Glas geguckt, was?« Ich schmälerte die Schärfe meiner Worte mit einem Zwinkern. »Alles klar?«

Leela schien es mir nicht übel zu nehmen. Sie trat einen Schritt zurück und zuckte mit den Schultern. »Dafür sind wir doch hier, oder nicht?«

So konnte man es auch betrachten. Leela und ich kannten uns noch nicht allzu lange - weshalb mir ihre Begrüßung so merkwürdig vorgekommen war. Klar, ein nettes Mädchen, aber wir hatten noch nicht viel miteinander gequatscht. Sie und Leopold kannten sich besser. Gerade wollte ich sie nach ihrer Begleitung fragen, als sie mir zuvorkam.

»Gus, darf ich dir Ava vorstellen? Sie ist heute hier eingezogen und wir werden Freunde.«

Ich musste herzhaft loslachen. Klar, das war etwas, was man einfach so beschließen konnte. Grinsend schüttelte ich den Kopf und wandte mich Ava zu.

»Hey. Mach dir keine Gedanken. Leela ist nicht immer so aufgekratzt.«

»Aber meistens«, warf Leela zwinkernd ein. Dann schien sie zu beschließen, dass sie genug getan hatte, denn sie wedelte plötzlich mit den Armen und lief davon. Offenbar hatte sie irgendwen entdeckt.

Meine Mundwinkel zuckten noch immer, während ich mich ganz auf Ava konzentrierte. Mir fiel auf, dass sie nicht mehr so blass wirkte. Ihre Wangen waren von einer niedlichen Röte überzogen, was sie sofort wesentlich lebendiger wirken ließ, selbst wenn die Schatten unter ihren Augen noch immer von ihrer Erschöpfung zeugten. Außerdem hatte sie mittlerweile die Arme vor der Brust verschränkt. Selbst ein Blinder konnte erkennen, dass sie sich nicht sonderlich wohlfühlte. »Also, Ava. Nimm es mir nicht übel, aber du wirkst nicht gerade so, als wärst du gern hier.«

In diesem Moment gab es eigentlich zwei realistische Varianten. Entweder wurde sie nun zickig - oder sie ließ sich auf das Gespräch ein. Ich war wirklich neugierig, wie sie reagieren würde. Als ich bemerkte, wie sich die Röte ihrer Wangen noch vertiefte, bemerkte ich wieder dieses merkwürdige Ziehen in meiner Brust. Und dann - Halleluja - zuckten ihre Mundwinkel. »Nichts für ungut, aber meine Abendplanung sah anders aus, bis Leela mich im Flur abgefangen hat.«

»Schieß los.« Ich blickte ihr aufmerksam in die Augen. Faszinierende, blau-graue Augen, mit einem dunklen Ring außen, der sich zur Pupille hin deutlich aufhellte. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber sie schien sich ein kleines bisschen zu entspannen. Vielleicht, weil ich ihr keine Vorhaltungen machte, nur weil sie zugegeben hatte, lieber woanders zu sein?

Überraschung - das hatte ich schon vorher gewusst. Mir gefiel, dass sie ehrlich war. Das konnte man von der Hälfte der Mädels hier im Raum nicht behaupten.

Ihre Augen huschten kurz zu mir, ehe sie auf den Boden blickte. Ich sah, wie der Daumen ihrer linken Hand über ihren Oberarm streifte. »Der Tag war lang. Ich wollte Essen bestellen und das Bett vor morgen nicht mehr verlassen.«

Sofort entstanden Bilder vor meinem inneren Auge. Bilder, die ich lieber direkt wieder verdrängte, denn sie beinhalteten nicht nur eine riesige Pizza, auf die ich durchaus Bock gehabt hätte, sondern auch viel weniger Klamotten, als gerade im Spiel waren.

Was zur Hölle?

Zugegeben, ich war kein Kind von Traurigkeit, was Frauen betraf, aber normalerweise brauchte es ein bisschen mehr als ein paar Sätze zur Begrüßung, ehe ich mir mehr vorstellen konnte. Doch etwas an Ava zog mich in den Bann - vom ersten Moment an, da ich sie so verloren in der Ecke entdeckt hatte.

»Klingt auch nicht schlecht«, brummte ich verspätet.

Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Obwohl um uns herum nach wie vor der übliche Lärm herrschte - laute Musik, Geschrei und Gelächter -, fühlte es sich so an, als wäre es direkt um uns herum still. Ich erkannte, dass ihr die Situation unangenehm war, und mir war absolut klar, dass ich dazu beitrug. Dummerweise konnte ich mich nicht einfach umdrehen und sie in Ruhe lassen, dafür interessierte ich mich viel zu sehr für sie. »Du wohnst also seit heute hier. Studierst du?«

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, den ich nur schwer einordnen konnte. Dann jedoch begegnete sie meinem Blick, und das erste Mal überhaupt hielt unser Kontakt länger als nur ein paar Sekunden. »Ich beginne dieses Semester, genau.«

Ich nahm einen Schluck aus meiner beinahe vergessenen Bierflasche und stellte sie dann halbvoll auf das Regal direkt neben uns. »Welche Richtung?«

Sie zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Für den Anfang Psychologie. Mal sehen, wie weit ich damit komme.«

Freudige Überraschung breitete sich in mir aus. »Im Ernst? Ich studiere Psychologie im fünften Semester. Wenn du Fragen hast - immer her damit.«

»Ähm.« Sie wirkte sichtlich überfordert. »Danke ...«

Ich atmete tief durch. Das hatte so keinen richtigen Zweck. »Wollen wir rausgehen? Draußen ist es nicht ganz so eng und stickig.«

Ihre Miene hellte sich spürbar auf, wie ich zufrieden feststelle. Mit einer Handbewegung bedeutete ich ihr, vorzugehen, was sie nach kurzem Zögern auch tat. Ich konnte nicht verhindern, dass mein Blick an ihr hinab glitt. Sie war schmal gebaut, für meinen Geschmack fast schon zu schmal. Ihre Jeans war dunkel und saß wie eine zweite Haut, dazu trug sie ein Longsleeve in Dunkelgrün und Sneaker. Schlicht und lässig auf eine unaufdringliche, coole Art. Ihr Outfit verriet mir, dass sie keines dieser Mädchen war, das stundenlang vor ihrem Kleiderschrank stand und grübelte, was es bloß anziehen konnte, um Jungs zu beeindrucken.

Das gefiel mir. Sehr sogar.

Klar, sie war praktisch hierher entführt worden, was vermutlich der einzige Grund für ihr unaufgeregtes Auftreten war, aber im Vergleich zu all den anderen Mädels stach sie hervor. Ich hätte es nicht vermutet, aber ja, das gefiel mir.

Auf dem Weg nach draußen lief ich an Leopold vorbei, der übertrieben mit den Augenbrauen wackelte. Ich zeigte ihm meinen Mittelfinger, was er mit einem theatralischen Griff ans Herz quittierte, und schon trat ich durch die schmale Terrassentür nach draußen.

Hier draußen war die Luft wesentlich angenehmer und der Lärm zumindest ein bisschen erträglicher, weshalb ich tief durchatmete. Verschiedene Grüppchen standen lachend zusammen, nicht nur auf der Terrasse, sondern auch über einen guten Teil des Innenhofs verteilt, und ich brauchte einen kurzen Moment, ehe ich Ava ausmachen konnte. Sie befand sich rechts von mir, direkt neben einem Fahrradständer, und blickte sich um. Erneut stand ihr die Verunsicherung ins Gesicht geschrieben.

Mann.

Es juckte in meinen Fingern, so dringend wollte ich sie ablenken. Ich zog sogar in Erwägung, ihr anzubieten, dass wir uns ihrem eigentlichen Abendprogramm widmeten, aber mir war klar, dass dies nicht mich umfassen würde. Ich sah bildlich vor mir, wie verschreckt sie wirken würde, wenn ich mich kurzerhand zu ihr einlüde. Angespannt schob ich meine Hände in die Hosentaschen, kurz bevor ich sie erreichte. »Hey.«

Sie zuckte zusammen wie ein verschrecktes Reh. »Hey.«

Mein Herz pochte schneller. Was war nur los? Ich begriff nicht, was genau gerade geschah, wieso ich mich von ihr derart angezogen fühlte - aber so war es. Es erschien mir wie das übergeordnete Ziel des Abends, ihr ein wenig von der Anspannung zu nehmen. Gott, ich wollte der Grund dafür sein, weshalb sie endlich lächelte und sich wohl fühlte. Das war schon ziemlich egozentrisch. »Wo kommst du denn her? Und was hat dich ausgerechnet hierher verschlagen?« Es war nicht so, dass unsere Fakultät besonders bekannt oder groß war, wir befanden uns in einer eher ländlichen Gegend. Mir gefiel es, weil ich in der Nachbarstadt aufgewachsen war und nie das Bedürfnis verspürt hatte, weit wegzuziehen. Aber Ava? Was war ihre Geschichte?

Ihr Zögern entging mir nicht. Mir lag bereits ein dummer Spruch auf den Lippen, den ich im letzten Moment zurückhalten konnte - und ich wurde belohnt. Sie legte ihren Kopf schräg, wodurch ihr glänzendes Haar über ihre Schulter fiel. Ich unterdrückte das Bedürfnis, eine Strähne zwischen die Finger zu nehmen und zu testen, ob es so weich war, wie es aussah. »Ein Wort: ZVS.«

Ich lachte auf. Klar, die zentrale Studienplatzvergabe. Man hatte nur einen gewissen Einfluss darauf, wohin es einen verschlug. Dennoch gab es die Möglichkeit, Prioritäten anzugeben. Ich hakte nicht weiter nach, da sie offenkundig nicht mehr sagen wollte. »Du wirst dich schon eingewöhnen.«

Eine ganze Weile lang blickte sie mich nur an. Ich sah Fragen in ihren Augen. Zweifel. Unsicherheit. Aber da war auch noch mehr. Ein Funkeln, das ich als Aufregung interpretierte. Ihre Mundwinkel hoben sich ein wenig zu dem niedlichsten, schüchternen Lächeln, das ich seit langer Zeit gesehen hatte. Verdammt, es war das Beste überhaupt. »Bestimmt. Ich bin hier angekommen, das ist schonmal -«

»Hey, Gus!« Eine laute Stimme ertönte direkt hinter mir und brachte Ava sofort zum Verstummen. Im nächsten Moment spürte ich, wie sich ein schwerer Arm um meinen Hals legte, und ich sackte ächzend ein.

»Was soll das, Mann?« Gereizt wandte ich mich um, erkannte, dass ein Teamkollege von Leopold beschlossen hatte, im denkbar ungünstigsten Zeitpunkt in unser Gespräch zu platzen.

»Leo sucht dich. Er will ...«

Was auch immer der Kerl laberte - ich nahm es nicht mehr wahr. Eine flüchtige Bewegung aus dem Augenwinkel lenkte mich ab. Eilig wandte ich mich wieder Ava zu - nur um festzustellen, dass sie verschwunden war. Mein Blick huschte umher, aber sie hatte offenbar genau die richtige Sekunde abgepasst, um abzutauchen. Sie war weg.

Wortlos.

Was auch immer sie noch hatte sagen wollen - es spielte keine Rolle mehr. Sie war weg. Gerade, als ich den Eindruck gewonnen hatte, dass sie auftaute.

Enttäuscht atmete ich aus.

Ich verließ meine Wohnung nur, weil ich den Wagen bei der Vermietung abgeben musste. In erster Linie fühlte ich mich total erschöpft vom gestrigen Tag - und das auf jede nur erdenklich mögliche Art und Weise. Meine Glieder waren schwer, mein Kopf schmerzte, und ich war einfach nur schrecklich ausgelaugt. Ironischerweise war ich zudem auch noch verunsichert, während ich den Audi zur Vermietungszentrale lenkte, die sich im Industriegebiet am Stadtrand befand. Ein dünner, klebriger Schweißfilm bedeckte meine Haut, mein Herz pochte spürbar in meiner Kehle und ich verkrampfte so sehr, dass ich in den nächsten Tagen sicherlich Nacken- und Schulterprobleme haben würde.

Jepp.

Es fühlte sich an, als würde ich das allererste Mal hinterm Steuer sitzen - und das, nachdem ich am Vortag sieben Stunden lang gefahren war, sowohl in der Stadt, als auch auf der Autobahn. Mein Nervenkostüm war wirklich nicht das beste.

Immer wieder musste ich an meinen wenig heldenhaften Abgang am Vorabend denken. Wahlweise auch an den Moment, als ich diesen unglaublich heißen Kerl entdeckt hatte, wie er in das hoffnungsvoll überfüllte Appartement getreten war und sofort den Raum für sich vereinnahmt hatte. Immer wieder sah ich wie in Zeitlupe vor meinem inneren Auge, wie er mit beiden Händen in die Kapuze seines hellgrauen Hoodies griff, um sie sich von dem Kopf zu schieben - und wie ich unwillkürlich die Luft anhielt, als ich so einen direkten Blick auf das wohl attraktivste Gesicht erhaschte, das ich je in meinem Leben gesehen hatte. Ich wusste sofort, dass er nicht zu meiner Kategorie Mensch gehörte.

Ja, ich teilte uns in Kategorien ein. Es gab Menschen wie ihn - groß. Gutaussehend. Präsent. Sie betraten einen Raum und rissen die Aufmerksamkeit an sich, und das mit einer Selbstverständlichkeit, die ihresgleichen suchte.

Und dann waren da Menschen wie ich. Unscheinbar, am Rande des Geschehens. Dass Menschen wie er mit Menschen wie mir redeten, gab es in diesem Universum nicht. Ebenso hatte ich keine Bezeichnung für all die vielen Nuancen dazwischen, denn logischerweise wusste ich, dass es nicht nur die und mich gab. Aber in jedem Fall war mir klar, dass er nicht mit mir reden würde.

Und doch, wieso auch immer, hatte er beschlossen, seine Aufmerksamkeit wie einen Scheinwerfer auf mich zu richten.

Es hatte ja nicht gereicht, dass mich Leela auf diese Party schleppen musste. Nein. Sie hatte mich auch noch mit dem heißesten Kerl des Abends alleine gelassen. Und als er Fragen nach meinem alten Leben gestellt hatte - nun, da war ich in Panik geraten.

Ich war eine Katastrophe auf zwei Beinen, und mir war klar, dass ich zukünftig einen Hechtsprung hinter jede sich bietende Säule machen würde, wann immer Gus mir über den Weg laufen sollte. Gott, vermutlich würde ich einen Riesen-Bogen um Leos Appartement machen müssen, so tun, als würde ich Leela nicht kennen, und am besten einfach eine Papiertüte über den Kopf ziehen, damit ich mich mit dieser Peinlichkeit nicht auseinandersetzen musste.

Nicht, dass ich davon ausging, dass es Gus wirklich interessierte, wieso ich so plötzlich verschwunden war. Leute wie er redeten nicht viel mit Leuten wie mir. Vermutlich hatte er schon nach wenigen Minuten ein neues Mädchen gefunden, für das er sich interessierte.

Und das war alles, worauf ich in meinem bisherigen Leben gesetzt hatte.

Als ich den Schlüssel für das Auto in den Briefkasten warf, fühlte es sich an, als würde ich einen weiteren Teil meines alten Lebens hinter mir lassen. Mit diesem Wagen war ich hergekommen - und nun war ich ihn los. Eigentlich musste ich jetzt nur noch eine neue Handynummer beantragen, damit meine Eltern mich nicht mehr kontaktieren konnten, und dann waren so ziemlich alle Verbindungen gekappt. Ich machte mir eine gedankliche Notiz, mich in der kommenden Woche darum zu kümmern. Ein Schritt nach dem anderen. Ich hätte niemals gedacht, dass es mich so viel Energie kosten würde, mein altes Leben abzuschütteln.

Der Weg war weit, aber ich war zu geizig, um Geld für ein Taxi oder den Bus auszugeben. In der Hoffnung, dass die frische Luft meinen Kopf klärte, lief ich nach Hause - Gott, wie das klang.

Ich bin frei.

Immer und immer wieder musste ich mir das vor Augen führen, denn auch wenn ich nun seit beinahe vierundzwanzig Stunden hier war, schien diese Erkenntnis noch nicht bei mir angekommen zu sein. Die Luft war lau, beinahe zu warm für die Jacke, die ich mir übergeworfen hatte, aber ich zog sie nicht aus, sondern kuschelte mich noch tiefer in sie hinein. In diesem Moment brauchte ich den zusätzlichen Schutz, um mich von dieser neuen Welt abzugrenzen, die hoffentlich schon bald nicht mehr so beängstigend sein würde. Immerhin lief ich mit offenen Augen durch die Straßen und versuchte, so viel wie möglich von der neuen Umgebung auf mich wirken zu lassen.

Ich bin frei. Und ich werde es bleiben.

Unruhig begann ich, mit den Zeigefingern an der Nagelhaut des Daumens zu knibbeln.

Anschließend setzte ich meinen Plan vom Vorabend endlich um. Ich hatte meinen Schokomuffin und einen Pizzalieferdienst und noch genug Internetvolumen, um ein paar Folgen meiner aktuellen Serie auf Netflix zu schauen. Um einen WLAN-Anschluss musste ich mich kommende Woche kümmern. Obwohl es nicht unbedingt kühl war, zog ich mir zusätzlich zur Bettdecke auch noch meine Fleecedecke über den Schoß, kuschelte mich in die Ecke und genoss das Gefühl, nichts mehr tun zu müssen, außer die Pizza anzunehmen.

Es gab niemanden, der mich in diesem Moment überraschen konnte. Ich war alleine, in meiner eigenen, neuen Wohnung. Ich lag in meinem frisch bezogenen Bett, in einem Zimmer, das noch halbwegs kahl wirkte, aber trotzdem schon jetzt ein warmes Gefühl in mir auslöste. Und egal was ich tat, was ich sagte oder auch nicht - es würde nichts passieren.

Dieser Gedanke war unglaublich.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie mein Handy aufleuchtete, doch ich ignorierte es. Ich wollte nicht wissen, wer sich bei mir meldete. Es gab niemanden, zu dem ich noch Kontakt halten wollte und würde. Keine Familie. Keine Freunde - von denen hatte ich sowieso keine nennenswerten zurückgelassen. Nicht viel mehr als ein paar oberflächliche Bekanntschaften, auf die ich zukünftig verzichten würde. Ich wollte von niemand anderem als dem Lieferboten gestört werden, kein anderes Gespräch führen - weshalb ich mich auch tot stellte, als es am frühen Abend an meiner Wohnungstür klopfte.

Es gab nur eine Person, die das sein konnte - meine Erstarrung löste sich schon sehr bald wieder, als Leelas kräftige Stimme durch das Holz drang.

»Schätzchen, ich bin mir sicher, dass du da bist. Lass mich rein, ich will quatschen!«

Woher auch immer sie die Sicherheit nahm - ich dachte nicht weiter darüber nach, weil sie ja wirklich recht hatte. Allerdings verspürte ich nicht das geringste Bedürfnis, mit ihr zu reden. Ich konnte nur ahnen, worum es gehen würde. Eventuell um meinen überstürzten Abgang am Vorabend. Oder die Tatsache, dass der wohl heißeste Kerl des Abends beschlossen hatte, mit mir zu reden. Was auch immer - ich wollte es nicht. Nicht an diesem Abend, und vielleicht auch nicht morgen.

Ich musste hier ankommen - und dazu brauchte ich Zeit für mich. Dies jemandem zu erklären, erforderte viel zu viel Energie und würde mich meiner Vergangenheit viel zu nahe bringen.

Danke - aber nein, danke.

Mitten in der Nacht wachte ich schreiend auf.

Mein Herz raste so heftig, dass ich selbst in der Dunkelheit sehen konnte, wie mir kleine Flecken vor dem Auge herumschwirrten. Immer und immer wieder spürte ich ein Stechen in der Brust; meine Lunge verkrampfte sich, wollte mich nicht mit ausreichend Luft versorgen, weshalb ich mich eilig aufrichtete. Ich besaß noch keine Nachttischlampe; hektisch tastete ich nach meinem Handy, um die Taschenlampenfunktion zu nutzen. Als das grelle Licht anging, zuckte mein Blick sofort umher.

Ich war sicher, immer noch in meiner eigenen Wohnung - und alleine.

Scheinbar war ich irgendwann eingeschlafen. Die halb vertilgte Pizza lag auf meinem Nachttisch, mein Laptop war in die Kuhle zwischen mir und der Wand gerutscht.

Und ich selbst war schweißüberströmt.

Stöhnend rieb ich mit den Handballen über meine Augen und versuchte, die Bilder zu verjagen, die sich noch immer in meinem Kopf abspielten. Ich hörte seine hasserfüllte Stimme so deutlich in meinem Ohr, als würde er direkt neben mir stehen, was einen weiteren heftigen Schauder auslöste.

»Egal, wie weit du fliehst - wir werden dich finden.«

Hatte er das wirklich gesagt? Oder war es einzig ein Produkt meiner ängstlichen Fantasie? In den verlorenen Stunden zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens konnte ich mir einfach nicht sicher sein.

»Gott verdammt.« Ich wollte eigentlich laut fluchen, doch meine Stimme war schwach und piepsig. Erneut überwältigten mich die Bilder meines Traumes. Dort, in dieser nebulösen Zwischenwelt, hatten sie mich gefunden. Sie hatten mich aus meiner Wohnung geschleppt, ohne dass ich auch nur die Chance gehabt hatte, irgendetwas mitzunehmen. Ich hatte gewusst, was passieren würde, noch ehe es begann. Und während sie mich direkt vor dem riesigen Gebäude fertig gemacht hatten, stand Gus, der niedliche Kerl vom Vorabend, direkt daneben und beobachtete uns schweigend. Der Blick in seinen Augen war eindeutig: »Nichts anderes hast du verdient.«

In diesem Moment hatte ich kapituliert.

Stumme Tränen liefen mir über die Wangen, während ich den Bildschirm entsperrte und meine Nachrichten überprüfte. Natürlich hatten meine Eltern mir geschrieben.

Wo zur Hölle steckst du, Ava? Geh endlich ans Handy. Wir machen uns Sorgen!

Fröstelnd starrte ich auf die Worte. Sorgen? Ja, natürlich. Ganz bestimmt um mein persönliches Wohlergehen - nicht. Mein Finger schwebte über dem Display, doch egal, was ich auch tat, ich konnte mich einfach nicht zu einer Antwort durchringen. Mir fehlten schlicht und ergreifend die Worte.

»Weg«, flüsterte ich in die stille Wohnung. Dann atmete ich zittrig durch. »Ich bin weg. Und ich komme auch nicht wieder.«

Die letzte freie Woche stand uns bevor, ehe die Vorlesungen wieder starten würden, und ich plante, die Zeit weise zu nutzen.

Mit Nichtstun zum Beispiel.

Dienstags kam Leo vorbei. Ich hatte ihm geschrieben und gefragt, ob er Bock auf ein Playstation-Duell hätte - und eine Stunde später war er bereits auf dem Weg.

Ich wusste einfach, wie ich ihn locken konnte.

»Ich habe Bier mitgebracht«, rief er gut gelaunt und drückte mir ein Six-Pack in die Arme, während ich ihn in die Wohnung ließ. Er trug eine Jogginghose und einen Kapuzensweater, so wie ich, bereit für einen lockeren Abend zu zweit. Von diesen hatte es schon eine ganze Reihe gegeben, seit wir uns in einem Wahlpflichtfach kennengelernt hatten. Leo studierte Mathematik und Geschichte, weshalb die Chance, dass wir uns über den Weg laufen würden, ziemlich gering gewesen war. Dennoch hatten wir es geschafft und waren seitdem gut befreundet.

Heute freute ich mich auf einen entspannten Abend mit ihm, selbst wenn ich ihn nicht ohne Hintergedanken eingeladen hatte. Während er wie selbstverständlich in mein Wohnzimmer schlenderte und sich dort vor der Couch auf den Boden sinken ließ, legte ich mir bereits die Worte zurecht.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Studenten lebte ich nicht in einem kleinen Appartement oder in einer WG, sondern in einer Drei-Zimmer-Wohnung nicht unweit vom Campus. Meine Eltern hatten die Wohnung vor einigen Jahren gekauft, meine Schwester hatte hier bereits während ihres Studiums gelebt und nun hatte ich die Schlüssel übernommen. Sobald ich einen Abschluss hatte, würden sie die Wohnung einfach vermieten. In dieser Lage würden sie sicherlich schnell neue Mieter finden, vielleicht auch für eine WG. Es war also eine langfristige Investition, die meiner Schwester und mir ein sorgenfreies Studium und anschließend regelmäßiges Einkommen bescheren würde. Zwar kam ich mir deshalb manchmal wie ein Bonze vor - aber ich beschwerte mich ganz sicher nicht. Als Leo angefangen hatte, die Partys zu schmeißen, hatte er mich überreden wollen, meine Wohnung zur Verfügung zu stellen - mehr Platz und so weiter.

Danke, aber nein.

Das letzte, was ich wollte, war eine Meute trinkender Studenten in meiner Bude, von denen ich die Hälfte nicht einmal kannte. Vielleicht zeugte es von Doppelmoral, dass ich einerseits regelmäßig Leos Partys besuchte, selber aber keine schmeißen wollte, doch das war mir egal.

Ich machte einen kleinen Abstecher in die Küche, um das Bier kaltzustellen und eine Cola zu holen, ehe ich mich zu Leo gesellte, der bereits den Fernseher angeschmissen und Fifa gestartet hatte.

Damit war wohl klar, womit wir den ersten Teil des Abends verbringen würden.

Obwohl mir eine Frage auf der Zunge lag, spielte ich erst ein paar Matches mit meinem Kumpel. Ich genoss die beruhigende Wirkung, die das Klicken von Knöpfen auf mich hatte, auch wenn ich zwischendurch laut fluchte, sobald Leo mich abzog.

Was öfter vorkam, als mir lieb war.

Zwischendurch bestellten wir, und ich beschloss, beim Essen mit der Sprache rauszurücken.

Es dauerte noch fünf weitere Spiele, die ich fast alle verlor, bis es an der Tür klingelte und wir uns mit triefenden Salamipizzen auf dem Boden vor dem Couchtisch wiederfanden; jeder ein Bier in der Hand. Ich säbelte an der Pizza herum, während Leo sich direkt ein komplettes vorgeschnittenes Stück nahm, es längs zusammenklappte und hineinbiss.

Ich legte mein Besteck beiseite und räusperte mich, plötzlich irgendwie nervös. »Und, wie lange habt ihr Samstag noch gemacht?«

Leos Blick huschte kurz zu mir, doch er nahm erst noch einen weiteren riesigen Bissen, ehe er antwortete - mit vollem Mund. »Kein Plan. Bis vier oder so?«

»Wow«, murmelte ich leise. Nachdem Ava einfach verschwunden war, hatte es mich nicht mehr allzu lange auf der Party gehalten. Ich war so gegen eins abgehauen, längst nicht mehr in der richtigen Stimmung.

Bis heute beschäftigte mich dieser Umstand, da ich das Mädchen im Grunde gar nicht kannte und daher überhaupt nicht verstand, wieso sie mich so beeinflusste.

»Jupp. Echt schade, dass du so früh abgehauen bist. Gegen zwei wurde es ein bisschen leerer, und wir haben mit ein paar Mädels Wahrheit oder Pflicht gespielt.« Leo grinste mich an. »War lustig.«

Das konnte ich mir sehr gut vorstellen. Ich zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck Bier. »Hast du nochmal was von Ava gehört?«

»Ava?« Leo musterte mich ehrlich verwirrt. Ich sah, wie es hinter seiner Stirn arbeitete - und erkannte den Moment, als es bei ihm »Klick« machte. »Ach, du meinst dieses mürrische Mädchen, mit dem du anfangs gequatscht hast?«

Leo war ein wirklich guter Freund und ein sympathischer Kerl, doch in diesem Moment spürte ich irrationale Wut aufflammen. »Mürrisch ist nicht gerade der richtige Begriff. Sie war müde und überfordert von den vielen fremden Gesichtern.«

Leo zuckte mit den Schultern. »Seit wann bist du so gereizt?« Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Was ist, findest du sie scharf oder so?«

Ich schüttelte eilig den Kopf. »Ne, Quatsch. Keine Ahnung, ich hab ja nur kurz mit ihr geredet, aber sie wirkte so gestresst. Ich hoffe, sie ist gut angekommen.«

Leo beobachtete mich nun ganz genau. »Was ist eigentlich mit Ina?«

Seine Frage traf mich vollkommen unvorbereitet. »Ina? Was soll mit ihr sein?«

»Sag du es mir.« Er ließ mich nicht aus den Augen.

Ich seufzte auf. »Das letzte Mal, als wir geredet haben, ging es ihr ganz gut.« Mir war klar, worauf er hinaus wollte, aber ich war nicht bereit, mich darauf einzulassen. So lässig wie möglich nahm ich mein Besteck wieder auf und aß ein Stück Pizza, die ganze Zeit unter der wachsamen Beobachtung meines Kumpels. Ich versuchte, die Irritation klein zu halten.

»Geredet«, murmelte Leo. Auch wenn er keine entsprechende Bewegung mit den Fingern machte, wusste ich, dass er dieses eine Wort in Anführungsstriche gesetzt hatte. »Ich wusste gar nicht, dass ihr sowas tut.«

»Tja«, gab ich gedehnt zurück. »Tun wir auch nicht. Nicht wirklich. Und deshalb weiß ich auch nicht, welche Rolle sie genau jetzt spielt.«

»Vergiss es, Mann. Ich dachte nur ... aber egal. Um zu deiner Frage zurückzukommen: Ich hab keine Ahnung, wie es Ava geht. Hab sie seit Samstag nicht wieder gesehen. Und Leela hat sie auch nicht erwähnt.«

Ich hob meine Augenbrauen. »Ach, sie hast du also gesehen?«

Nun war Leo derjenige, der sich betont ruhig gab, wie ich belustigt feststellte. »Ja, klar. Wir sind uns im Flur über den Weg gelaufen.«

Ich verkniff mir einen weiteren Kommentar und konzentrierte mich wieder auf die Pizza. Eine Weile aßen wir schweigend weiter, und ich dachte schon, Leo hätte das Thema bereits abgehakt, als er schließlich doch noch einmal davon anfing.

»Also, was ist? Soll ich Leela mal nach ihr fragen? Willst du ihre Nummer haben oder sowas?«

Eine innere Stimme rief sofort laut »Verdammt, ja!«, doch ich wartete ein paar Sekunden, ehe ich zu einer coolen Antwort ansetzte. »Du kannst Leela gerne mal fragen, ja. Wäre schön, zu wissen, ob sie sich eingelebt hat oder nicht. Vielleicht ist sie ja auch wieder bei deiner nächsten Party dabei.«

»Die nächste Party? Kaum ist die letzte vorbei, denkst du schon an die nächste?« Er schlug mir derart kräftig auf die Schulter, dass ich zusammenzuckte und mich beinahe an der Pizza verschluckte. »So gefällst du mir, Mann. Ich kann kommenden Samstag gerne wieder die Pforten zu meinem Heiligtum öffnen. Ganz im Sinne der Fröhlichkeit.«

Ich lachte laut los. »Genau, im Sinne der Fröhlichkeit. Du kleiner Pascha. Deine Geste wird bestimmt gern gesehen.«

Leopold schüttelte gespielt betrübt seinen Kopf. »Du kannst es noch nicht würdigen, aber das wird schon noch, mein Freund. Es wird. Und bis dahin werde ich sehen, was Leela über deine geheimnisvolle Fremde zu sagen hat.«

Genau das, was ich hören wollte. »Gut. Und nun genug von dem Thema. Wie sieht’s aus? Bereit für eine Revanche?«

Leo hielt sein Wort und fragte Leela nach der Neuen aus. Dummerweise gab es nichts, was er mir berichten konnte. Scheinbar hatte niemand sie seit jenem Abend gesehen - und das kam mir merkwürdig vor.

Rein theoretisch konnte ich herausfinden, wo sie wohnte. Sie hatte die Wohnung gegenüber von Leela bezogen, und es hätte nur eine einzige Nachfrage bei Leo erfordert, um an die nötigen Informationen zu kommen.

---ENDE DER LESEPROBE---