9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
"Mach sie tot, mach sie tot!" Mit diesen Worten im Kopf erwacht eine Frau auf einer Intensivstation. Doch wer hat das gesagt? War sie gemeint? Wer ist sie überhaupt? Fast zwei Jahre soll sie im Koma gelegen haben, doch sie weiß nichts mehr. Den Mann, der sie mit Claudia anspricht und sich als ihr Ehemann Carsten Beermann vorstellt, kennt sie nicht. Auch der erwachsene Sohn, der von seiner leidvollen Kindheit erzählt, ist ihr fremd. Erst als sie sich an einen kleinen Jungen erinnert, der in einer brennenden Wohnung nach seiner Mutter ruft, keimt in ihr ein entsetzlicher Verdacht …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 628
Als Claudia Beermann in einem Krankenhaus aus dem Koma erwacht, erinnert sie sich nicht an ihr früheres Leben. Die Besucher, die sich als Ehemann Carsten und Sohn Maik vorstellen, hat sie noch nie gesehen. Stattdessen tauchen immer wieder zwei Namen in ihrem schmerzenden Kopf auf: Cilly Castorp, verheiratet mit Achim. Sie ist sicher, Cilly zu sein, auch wenn die vertrauensvolle Ärztin das nicht bestätigen kann.
Sind die Bilder eines Wagens, der an Achim vorbei einen schneebedeckten Abhang hinabstürzt, Traum oder Wirklichkeit? Rühren daher ihre Verletzungen? Dann fällt ihr plötzlich wieder der kleine Junge in einer brennenden Wohnung ein. Neben ihm liegt eine dunkel gelockte Frau – erstochen …
»Die Bücher von Petra Hammesfahr sind nie bloß Krimis. Sie sind Tauchfahrten in die Abgründe der Seele, sind Protokolle von dem, was Menschen einander antun können.« Brigitte
PETRA
HAMMESFAHR
Fremdes
Leben
ROMAN
Von Petra Hammesfahr sind im Diana Verlag erschienen:
An einem Tag im November – Die Lüge –
Die Frau, die Männer mochte – Fremdes Leben
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält
technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung.
Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch
unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung
oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in
elektronischer Form, ist untersagt und kann straf-
und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten,
so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung,
da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich
auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung
dieses E-Books verweisen.
In Erinnerung an den Garten meiner Mutter
Copyright © 2015 by Petra Hammesfahr
Copyright © 2016 by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München
Umschlagmotive: © Zhernosek_FFMstudio.com, Cattallina,
ANCH, buffaloboy2513, Yegor Larin/Shutterstock
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
e-ISBN 978-3-641-18470-4V001
www.diana-verlag.de
Besuchen Sie uns auch auf www.herzenszeilen.de
Prolog – 10. September 2014
»Es hat ein Problem gegeben«, sagte der Mann mit belegter Stimme, als die Frau zur Tür hereinkam. Er hielt sein Handy in der Hand, hatte kurz zuvor einen Anruf erhalten.
»Was für ein Problem?«, fragte die Frau. Sie war jung, erheblich jünger als er, und erheblich stärker. Das wusste er seit Langem. Und als sie ihn jetzt mit misstrauisch gerunzelter Stirn anschaute, wurde es ihm einmal mehr bewusst.
»Mit ihrer Beatmung.« Er senkte den Blick aufs Handy, als wolle er etwas ablesen. »Irgendwas mit der Kanüle. Die Pflegerin sprach nur gebrochen Deutsch, ich habe nicht alles verstanden. Sie hätte Besuch von ihrer Schwester gehabt, als es passierte.«
Er betrachtete das Telefon wie ein ekliges Tier. »Wer soll sie denn besucht haben? Sie hat doch keine Angehörigen, nur …«
»… dich, wolltest du sagen«, ergänzte die Frau kühl, als er abbrach. »Ist sie erstickt?«
Der Mann hielt den Blick gesenkt, konnte sie jetzt nicht ansehen. »Nein. Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus, nach Welmersheim.«
»Sind die denn von allen guten Geistern verlassen?«, brauste die Frau auf. Sie versuchte gar nicht erst, ihre Wut zu kaschieren. »Wozu der Aufwand? Soll sie noch ein paar Jahre so liegen? Aber so bringt sie der Koch noch mehr Geld. Verfluchtes Aas!«
»Vielleicht stirbt sie jetzt«, sagte der Mann, hob endlich den Blick von seinem Handy und fragte: »Wo warst du eigentlich den ganzen Nachmittag?«
1
Erwachen
Cilly
Das Licht war grell und stach ihr schmerzhaft ins linke Auge. Sie versuchte zu blinzeln und spürte Widerstand, als ob etwas ihr Lid nach oben gezogen hätte und festhielte. Doch kaum hatte sie das registriert, war ihr Lid schon wieder frei. Der messerscharfe Strahl wanderte zur Seite und erlosch dort. Übrig blieb eine gleichmäßige, erträgliche Helligkeit und etwas wie ein Zucken im Kopf: Mach sie tot! Mach sie tot!
Sie hörte ein sich stetig wiederholendes Piepsen in ihrer Nähe. Und eine jugendlich klingende Frauenstimme sagte: »Da sind Sie ja wieder. Können Sie mich hören?«
Natürlich. Sie hörte ja auch das Piepsen, wusste nur mit den Worten nicht sofort etwas anzufangen. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte man ihr sämtliche Gehirnwindungen mit Blei ausgegossen, bis auf die eine, in der dieses Zucken nachhallte wie ein hysterisches Kreischen: Mach sie tot! Mach sie tot!
»Wenn Sie mich verstehen, blinzeln Sie«, bat die jugendliche Stimme, die nun, wo das Licht auszuhalten war, auch ein Gesicht bekam. Es war schmal und unauffällig, weder ausgesprochen hübsch noch hässlich. Ungeschminkt war es, das fiel ihr auf, und es hatte etwas Tröstliches.
Die Frau war ihr unbekannt und älter, als die Stimme glauben machte. Sie mochte Mitte fünfzig sein, trug einen weißen Kittel, den sie dem Anschein nach hastig übergezogen hatte. Jedenfalls hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, die Knöpfe zu schließen.
Über das ungeschminkte Gesicht zog ein zufriedenes Lächeln, als sie wie ein folgsames Kind blinzelte, erst mit beiden Augen, dann abwechselnd mit dem linken und dem rechten. Dabei blinzelte sie nicht, um die Bitte der unscheinbaren Frau zu erfüllen. Es waren nur das Licht und der natürliche Reflex, die Augäpfel zu befeuchten, hinzu kam das Bedürfnis, das Frauengesicht nicht aus dem Blick zu verlieren.
»Sehr schön«, kommentierte die Frau, hielt ihr einen Finger vors Gesicht, bewegte ihn hin und her und sagte noch einmal: »Sehr schön«, weil sie dem Finger unwillkürlich und ohne besondere Aufforderung mit den Augen folgte. Anschließend fragte die Frau: »Können Sie sprechen? Nennen Sie einfach Ihren Namen.«
Namen?
Namen waren wichtig, fiel ihr ein, genau genommen das Wichtigste an einer Person. Wenn der Name nicht passte, funktionierte die Figur nicht. Ein Name durfte nicht proletenhaft klingen, nicht spießig und nicht altbacken. Bei gewissen Namen sah man doch sofort eine bestimmte Gesellschaftsschicht vor sich, die man aber vielleicht gar nicht erreichen wollte, weil sie nicht zur Zielgruppe gehörte. Zielgruppen waren wichtig.
Nein. Da hatte sie jetzt etwas durcheinandergebracht. Namen waren wichtig. Die ungeschminkte Frau wollte Namen hören.
Ihr Name war nicht auf Anhieb präsent. Man wachte nicht auf mit einem Hirn voller Blei und der Gewissheit: Ich bin Claudi Schlagmichtot oder Prinzessin Tausendschön. Wenn man so aufwachte wie sie in diesen Minuten, war man nur ein Ich und noch nicht in der Lage, sich zu hinterfragen.
Die ungeschminkte Frau beobachtete aufmerksam jede ihrer Regungen und sagte: »Lassen Sie sich Zeit.«
Zeit?
»Zeit macht nur vor dem Teufel halt, denn der wird niemals alt, die Hölle wird nicht kalt«, sang eine junge Frau unmittelbar unter ihrer Schädeldecke. Woanders wäre in ihrem Kopf noch kein Platz gewesen. Aber die Hölle war heiß. Und große Hitze ließ Blei schmelzen. Es verflüssigte sich, geriet in Bewegung, floss langsam und träge ab. Zwischen den frei werdenden Synapsen blitzten Gesichter auf. Und Namen: Dagmar Zöllner, Cilly Castrup, Beate Wego, Astrid Melzer.
Für ein paar Sekunden schwebte ein Gesicht über ihr wie ein unscharfer Fleck, der nur langsam an Kontur gewann. Gleichzeitig sagte eine Frau: »Ich hab’s gleich. Tut mir leid, das muss sein. Keine Panik. Ich hab’s gleich. Keine Angst. – So, ich bin drin.«
Das war Dagmar: Selbstvertrauen, Zuversicht und Stärke, auch wenn es hektisch oder kritisch wurde. Astrid und Beate waren ebenfalls starke Persönlichkeiten. Cilly dagegen bestand aus Unsicherheit, wankendem Selbstvertrauen und unzähligen Ängsten.
Durch die bereits frei gewordenen Gehirnwindungen zogen flüchtige Bilder: Rührei und knusprig gebratener Speck auf einem Teller. Ein gut aussehender Mann Ende dreißig mit dichtem, dunklem Haar am Frühstückstisch in einem Hotel – Achim Castrup.
»Wir fahren hinauf, wenn es dunkel ist«, sagte er. »Bei Tageslicht ist die Wirkung gleich null. Das musst du unbedingt bei Nacht sehen. Du wirst nicht glauben, dass es so etwas heute noch gibt.«
Er hatte eine angenehm dunkle Stimme, wie ein samtweiches Band, von dem Cilly sich immer wieder einwickeln ließ, obwohl die Zeit sie schmerzlich gelehrt hatte, dass ihm nicht zu trauen war.
Weitere Bilder und Töne krochen aus Ritzen und Windungen, die das abfließende Blei freigab: ein schwarzer Geländewagen auf einem Hotelparkplatz. Ein malerischer Steinbruch neben einer Landstraße. Ein verschneiter Waldweg. Eine holprige Fahrt den Hügel hinauf. »Darf man hier überhaupt hinauf?«, fragte …
»Cilly«, wollte sie endlich die Frage nach ihrem Namen beantworten. Aber ihre Mundhöhle war so ausgedörrt, dass es im Rachen schmerzte. Und ihre Zunge bewegte sich wie ein schwerfälliges Tier, an dessen Käfig die Gitterstäbe entfernt worden waren, sodass es ungehindert entweichen konnte. Ein heiseres Nuscheln über das ausbrechende Tier hinweg, mehr brachte sie nicht zustande. Die ungeschminkte Frau konnte daraus kaum einen verständlichen Namen ableiten. Sie versuchte zu schlucken – das war unmöglich. Der Piepston in ihrer Nähe wurde schneller und unregelmäßig.
»Durst«, krächzte sie.
Nur der Himmel wusste, was die ungeschminkte Frau verstanden, ob sie vielleicht nur einen heiseren Ton gehört hatte, den sie nicht zu deuten wusste. »Schon gut«, beschwichtigte sie. »Kein Grund zur Aufregung. Versuchen Sie, Ihren Arm zu heben.«
Sie wusste nicht, welcher Arm gemeint war, aber eine Wahl hatte sie ohnehin nicht. Ihr rechter Arm war mit Mullbinden am Bettgitter fixiert und ließ sich gar nicht bewegen. Ihr Kopf war hoch genug gebettet, um zu sehen, dass im Handrücken eine Kanüle steckte, in die ein Infusionsschlauch mündete. Sie konzentrierte sich auf den linken Arm, doch der lag da, als gehöre er nicht zu ihr. Sosehr sie sich anstrengte, sie schaffte es nicht, ihn auch nur um einen Zentimeter anzuheben.
Die ungeschminkte Frau erkannte, dass sie sich vergebens bemühte. Sie stand rechts von ihr, wo das Gitter hochgeschoben war, wechselte auf die andere Seite des Bettes, legte eine Hand in ihre Linke und forderte: »Versuchen wir etwas anderes, drücken Sie meine Hand, so fest Sie können.«
Sie konnte gar nicht drücken, im Gegensatz zum Arm gehorchten die Finger ihr zwar, zuckten aber nur kaum merklich. Die Frau äußerte sich nicht dazu, kniff in ihren Unterarm und wollte wissen: »Spüren Sie den Schmerz?«
Natürlich. Da das schwerfällige Tier in der ausgedörrten Mundhöhle erneut auszubrechen drohte, als sie zu sprechen versuchte, deutete sie ein Nicken an. Dabei spannte und ziepte es unangenehm vorn am Hals.
Die Frau kniff sie noch in den linken Oberschenkel, wiederholte die Prozedur auf der rechten Seite und strich ihr zu guter Letzt mit einem kalten metallenen Instrument unter den Fußsohlen entlang. Es fühlte sich beinahe an wie Schnitte. Als sie mit unwilligen Lauten reagierte, schien die Frau zufrieden. »Gut«, sagte sie. »Das ist mehr, als wir erwartet haben.«
Inzwischen war genügend Blei abgeflossen, um sie ein wenig aufnahmefähiger und geistig agiler zu machen. Sie registrierte, dass die Frau unter dem offenen Kittel ein weißes T-Shirt und eine weiße Hose aus leichtem Baumwollstoff trug.
Medizinerbekleidung. Das kannte sie. Eine Krankenschwester?
Sie versuchte, den Kopf in Richtung des Piepsens zu drehen, um herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Es kam von rechts. Aber mit dem Spannen und Ziepen vorn am Hals brachte sie ihren Kopf nicht weit genug zur Seite. Sie bemerkte nur eine zweite, jüngere Frau mit ordnungsgemäß geschlossenem weißen Kittel und asiatischen Gesichtszügen, die sich devot im Hintergrund hielt. Vermutlich war die Asiatin eine Krankenschwester und die ungeschminkte Frau eine Ärztin.
In Verbindung mit der Infusion, die in ihren Handrücken floss, und der Prozedur, der sie eben unterzogen worden war, kam sie zu dem Schluss, dass sie sich in einem Krankenhaus befand. Dann wurde der nervige Ton wohl von dem Gerät verursacht, das ihren Herzschlag, den Blutdruck und einiges mehr überwachte.
Sie kannte diese Geräte, sah sie vor sich mitsamt den Zahlen und Linien auf dem kleinen Monitor, aber ihr fiel nicht ein, wie sie hießen. Sie fand auch keine Erklärung, warum sie in einem Krankenhaus lag und wieso ihr Mund sich anfühlte, als sei er leer – bis auf die dicke, pelzige Zunge, die unbeholfen nach nicht vorhandenen Widerständen tastete und sich erneut zwischen den spröden Lippen durchpfuschen wollte.
Während sie nach Erklärungen suchte, sagte die Ärztin zur Krankenschwester: »Lassen wir sie noch eine Runde schlafen«, und machte sich an der Infusion zu schaffen. Das Licht flackerte mehrmals, weil ihre Lider zu flattern begannen.
Die Asiatin fragte in melodischem Singsang: »Müssen Angehörige verständigt werden, dass sie ansprechbar ist?« Es hörte sich an wie das Zwitschern eines kleinen Vogels und weckte in ihr die Illusion, dass da ein Kind sprach.
Sie hörte noch ein kurzes, raues Lachen, genau genommen nur einen abfälligen Ton und ein paar unverständliche, dumpf ausklingende Worte. Dann erlosch das Licht. Und sie glitt zurück in die Dunkelheit, der sie eben erst entkommen war.
Als sie die Augen zum zweiten Mal aufschlug, vielmehr aufriss, hatte sie das Gefühl, dass etwas mit ihrem Hals passierte und sie keine Luft mehr bekam. Sie erwartete, wieder den unscharfen Fleck über sich zu sehen und Hände zu spüren. Eine Hand drückte ihren Kopf in den Nacken, die andere presste etwas auf ihren Hals, während ihr gleichzeitig ein Rohr in die Kehle geschoben wurde, woran sie zu ersticken drohte. Mach sie tot! Mach sie tot, zuckte und kreischte es wie beim ersten Erwachen durch ihr Hirn.
Aber da war niemand. Kein verschwommener Fleck, der sich nach mehrfachem Blinzeln in die ängstliche Miene einer sehr jungen Frau mit dunklem Teint verwandelte. Keine resolute, befehlsgewohnte Frauenstimme, die unwillig verlangte: »Jetzt nimm endlich deine Flossen da weg. Sie wird nicht verbluten. – Ich hab’s gleich. Tut mir leid, das muss sein. Keine Panik. Ich hab’s gleich. Keine Angst. – So, ich bin drin.« Nichts davon war wirklich.
Bis auf das nervenaufreibende Piepsen war es still und gerade hell genug, um die nähere Umgebung zu erkennen. Dafür hatte sie beim ersten Erwachen keinen Blick gehabt. Und jetzt war es blanke Panik, die sie veranlasste, hektisch alles in Augenschein zu nehmen, was in ihrem Blickfeld lag.
Sie war allein in einem kleinen Raum mit gelb gestrichenen Wänden, der von ihrem Bett fast ausgefüllt wurde. Sonst gab es nur noch einen Metallschrank mit Schubfächern. Auf der Ablagefläche machte sie eine Packung Kleenex und eine Spenderbox mit Einmalhandschuhen aus. Darüber waren von Plexiglasklappen verschlossene Fächer mit Mulltupfern, Einwegspritzen und Verbandsmaterial angebracht. Das Gerät, dessen Name ihr entfallen war, stand auf einem Sockel zwischen dem Schrank und ihrem Bett und piepste in beängstigend rascher Folge.
Wie viel Zeit vergangen war, seit ihr das messerscharfe, grelle Licht ins Auge gestochen hatte, konnte sie nicht einmal schätzen. Jetzt war es dieses unerklärliche Reißen, Ziehen und Pressen im oder am Hals. Sie konnte den Schmerz nicht exakt lokalisieren, er ließ auch schon wieder nach. Was blieb, war die Erinnerung an das lebensbedrohliche Gefühl zu ersticken, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Der fliegende Atem und der rasende Puls bezeugten noch die Panik, in die sie geraten war.
Zu beiden Seiten des Bettes waren die Gitter hochgeschoben. Der Kopfteil war so weit angehoben, dass sie gut über das Fußende hinwegsehen konnte. Zwischenzeitlich hatte man sie bis zur Taille mit einer dünnen Decke zugedeckt.
Das Blei in ihrem Hirn schien vollständig abgeflossen zu sein. Ihr Kopf fühlte sich leichter an, freier und leer. Ihr Blick schweifte durch eine offene Tür in den Korridor, von dem mattes Licht hereinschimmerte. Dort näherten sich eilige Schritte.
Die Asiatin mit der kindlich zwitschernden Vogelstimme hastete herein, sorgte für mehr Helligkeit und überprüfte eilig die Werte, die das piepsende Gerät anzeigte. Anschließend kontrollierte sie den dünnen Schlauch, der mit der Kanüle in ihrem rechten Handrücken verbunden war, und den Infusionsbeutel, der von einem Galgen am Kopfende des Bettes baumelte und aus dem eine klare Flüssigkeit gemächlich in den Schlauch tropfte. Damit schien alles in Ordnung zu sein.
Die routinierten Handgriffe der Krankenschwester, mehr noch deren Anwesenheit oder einfach die Tatsache, dass sie nicht mehr alleine war und ihr niemand nach dem Leben trachtete, beruhigten sie und ließen ihre Herzfrequenz sinken. Doch als die Asiatin die dünne Decke zurückschlug und ein kurzes, verwaschenes Nachthemd hochschob, schossen ihr Puls und der Blutdruck erneut in die Höhe.
In ihrem Oberbauch steckte ein zweiter, dickerer Schlauch. Das Ende lag neben ihrem Nabel und war mit einem schwarzen Pfropfen verschlossen. Dicht dabei verlief ein schmaler Streifen, der sich weiß von ihrer bleichen Haut abhob. Eine Narbe? So wie es aussah, musste es eine ältere Narbe sein. Aber sie erinnerte sich nicht an eine Verletzung oder Operation, bei der man ihren Bauch aufgeschnitten hätte.
Ihr Blick glitt über den in eine Windel gepackten Unterleib zu den nackten Beinen. Und ihr Entsetzen steigerte sich ins Unerträgliche. Was da auf dem weißen Laken lag, waren dürre Stecken mit dicken Knubbeln – die Kniegelenke – und kein bisschen Fleisch drum herum. Auch an den Ober- und Unterschenkeln waren die Knochen scheinbar nur von weiß-grauer, faltiger Haut umschlossen, durch die sich Spinnennetze von hellen Streifen zogen. Es sah aus, als sei sie damit unter einen Mähdrescher geraten.
»Keine Angst«, zwitscherte die Asiatin in ihrem beruhigenden Singsang, zog das Nachthemd wieder herunter und die Decke über die Verheerung bis hinauf zur Taille. »Es ist alles gut. Doktor Scheuer kommt sofort.«
Keine Angst? Was sie aufwühlte, war entschieden mehr als Angst. Atemnot und Schmerzen im oder am Hals, ein Schlauch im Leib, verunstaltete Beine, keine Kraft in Händen und Armen und keine Erklärungen. Mit der ausgedörrten Mundhöhle konnte sie nicht einmal fragen, was mit ihr geschehen war.
Sie brauchte dringend etwas zu trinken. Ihre Lippen waren so trocken, dass sie zu reißen drohten. Und ihre Zunge gebärdete sich immer noch wie ein Tier, das unbedingt seinen Käfig verlassen wollte. Keine Gitterstäbe. Keine Zähne.
Sie versuchte, mit einer Geste zu verdeutlichen, was sie wollte. Ihr rechter Arm war nach wie vor am Gitter fixiert. Den linken brachte sie diesmal immerhin einige Zentimeter vom Laken in die Höhe. Es gelang ihr sogar, die Hand zu einem Becher zu formen und eine Trinkbewegung anzudeuten. Die Krankenschwester verstand. Als die ungeschminkte Frau hereinhetzte, wieder mit offenem Kittel und nachlässig hochgestecktem Haarknoten, aus dem sich mehrere Strähnen gelöst hatten, erklärte die Asiatin: »Ich glaube, die Patientin möchte etwas trinken.«
»Dafür müssen Sie doch keinen Alarm schlagen«, erwiderte die Ärztin gereizt. »Bekommt sie nicht ausreichend Flüssigkeit?«
»Doch.« Die Asiatin schielte zu dem Infusionsbeutel am Galgen, als sei sie ihrer Sache nicht so sicher wie behauptet. »Aber etwas hat den Herzalarm ausgelöst. Ich habe nur …«
»Holen Sie etwas Tee«, schnitt die Ärztin ihr das Wort ab. »Wenn sie schlucken kann und ihr Zustand weiterhin stabil bleibt, können wir die PEG in den nächsten Tagen entfernen und sie auf die Innere verlegen.«
Die Krankenschwester eilte wieder hinaus. Die Ärztin – Doktor Scheuer, das hatte sie sich trotz Panik und Entsetzen gemerkt – lächelte sie an und warf ebenfalls einen Blick auf den Herzmonitor. Plötzlich wusste sie die richtige Bezeichnung für das Gerät. Es piepste immer noch in schneller Folge, aber nicht mehr so beunruhigend ungleichmäßig wie bei der Panikattacke unmittelbar nach dem Aufwachen und beim Anblick ihrer Beine.
Sie wusste auch, was eine PEG war. Perkutane endoskopische Gastrostomie. Cilly sollte nach einem schrecklichen Unfall auf diese Weise ernährt werden, obwohl es ästhetischer ausgesehen hätte, sie per Infusionslösung zu versorgen.
»So ein Schlauch durch die Bauchdecke in den Magen gesteckt, das ist morbide und fremdbestimmt. Es hat etwas von Machtmissbrauch und Quälerei.Darauf stehen die Leute«, blitzte ihr eine Männerstimme durchs Hirn.
Die Asiatin kam mit einer antiquiert aussehenden Schnabeltasse zurück. Links neben dem Bett war gerade Platz genug für einen Besucherstuhl, den jemand in die Ecke geschoben hatte, sodass die Ärztin, die rechts zwischen Bett und Metallschrank stand, nicht weichen musste.
»Jetzt trinken Sie ein Schlückchen«, sagte Frau Doktor Scheuer überflüssigerweise. »Langsam und vorsichtig, Lucy.« Der letzte Satz galt der hilfsbereiten Seele mit der hellen Kinderstimme.
Lucy schob ihr behutsam eine Hand unter den Kopf und stützte den Nacken, wobei es vorne am Hals wieder ziepte. Sie hätte gerne hingefasst, um den Grund zu ertasten, möglicherweise noch eine Narbe. Aber ohne Kraft in den Armen …
Sie spürte die Schnabeltülle an den trockenen Lippen. Dann sickerten die ersten Tropfen in ihre ausgedörrte Mundhöhle wie ein Trank für die Götter. Lauwarmer, schwach gesüßter Pfefferminztee benetzte ihre Zunge und die Schleimhäute. Als die nächsten Tropfen ihre Kehle erreichten und sie schlucken wollte, musste sie fürchterlich husten und versprühte das köstliche Nass wie einen feinen Nebel auf Lucys Gesicht.
Es war ihr peinlich, obwohl Lucy kein Aufheben darum machte, sich von der Ärztin ein Kleenex reichen ließ und sich das Gesicht abwischte. Frau Doktor Scheuer nahm das Tuch zurück, warf es in einen kleinen Treteimer neben dem Metallschrank und erklärte dabei: »Sie wurden längere Zeit über eine Trachealkanüle beatmet und nach deren Entfernen intubiert. Ihr Kehlkopf ist noch gereizt. Wenn Sie Schluckbeschwerden und Probleme beim Sprechen haben, rührt das daher. Aber das ist kein Grund zur Sorge. In ein paar Tagen haben Sie das vergessen.«
Die Schluckbeschwerden vielleicht. Und wie sollte sie den Rest vergessen? Die verstümmelten Beine, die Narbe am Bauch. Keine Zähne im Mund. Längere Zeit beatmet? Was verstand die Ärztin unter längerer Zeit?
Trachealkanüle bedeutete Luftröhrenschnitt. Warum hatten sie die Methode gewechselt? Intubiert wurde in den Kehlkopf. Da konnten bei hastigem oder unsachgemäßem Einführen des Instruments die Frontzähne in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Begriffe, das Prozedere, sogar mögliche Komplikationen waren ihr vertraut. War sie ebenfalls Ärztin? Oder Krankenschwester? Oder hatte sie als Hilfskraft im medizinischen Bereich gearbeitet?
Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie nicht den Schimmer einer Ahnung hatte, welchen Beruf sie ausgeübt haben könnte, ehe sie in diesem Bett gelandet war. Und wieder hatte sie eine Stimme im Kopf, dem Klang nach zu urteilen diesmal eine alte Frau, die fragte: »Worüber beklagst du dich eigentlich? Du führst ein Leben, um das dich jeder normale Mensch beneidet, tust den lieben langen Tag nur, wozu du Lust hast. Du hast wirklich keinen Grund, unzufrieden zu sein.«
»Ich bin nicht unzufrieden.« Das war ihre eigene Stimme. Sie erinnerte sich auch daran, was die alte Frau erwidert hatte.
»Was dann? Hast du wieder den Blues? Wenn ich jedes Mal aus schlechter Laune eine Depression machen würde, könnte ich mich einweisen lassen. Und glaub mir, ich bin auch nicht jeden Tag in der Stimmung, fröhliche Liedchen zu pfeifen. Ich muss nur an deinen Vater denken, dann überkommt mich jedes Mal das heulende Elend. Aber damit verkrieche ich mich nicht im Kabäuschen. Ich beschäftige mich lieber im Garten, da gibt es immer was zu tun. Und wenn ich sehe, wie die Pflänzchen wachsen, bringt mich das schnell auf andere Gedanken. Solltest du auch mal versuchen.«
Wer hatte das gesagt? Mit der brüchig klingenden Stimme verband sich ein Gesicht voller Runzeln und Altersflecken. Die Stirn gefurcht wie ein frisch gepflügter Acker, erschlaffte Augenlider. Marionettenfalten zogen sich als tiefe Kerben von den Nasenflügeln am Mund vorbei zum Kinn.
Dagmar war das auf keinen Fall.
Dagmar war Notärztin! Das flammte unvermittelt in ihrem Hirn auf wie ein Scheinwerfer, nachdem jemand den richtigen Schalter umgelegt hatte. Dagmar Zöllner, Mitte dreißig, geschieden von Boris, lebte allein mit ihrem fünfjährigen Sohn Daniel, ein süßer Fratz und eine Nervensäge, die ihresgleichen suchte. Vor ihrem geistigen Auge tauchte ein gerahmtes Foto auf, das einen kleinen Blondschopf mit Lausbubenlächeln zeigte.
Sie erinnerte sich auch wieder, zu wem die anderen Namen gehörten, die ihr eingefallen waren, als die Ärztin sie aufgefordert hatte, ihren eigenen zu nennen.
Astrid Melzer war Staatsanwältin, im selben Alter wie Dagmar. Astrid lebte allein, hatte einen Bruder und einen Vater, der im Rollstuhl saß, geistig äußerst rege war und seinen Kindern in jeder Lebenslage mit guten Ratschlägen zur Seite stand – bildlich gesprochen.
Beate Wego war ebenfalls Mitte dreißig und bei der Kripo. Sie lebte mit einem erfolgreichen Rechtsanwalt zusammen, aber es kriselte ständig in dieser Beziehung, weil ihr Freund zu oft miese Typen aus der U-Haft holte, die Beate festgenommen hatte.
Und Cilly Castrup, Mitte dreißig wie die drei anderen, kinderlos, verheiratet mit Achim Castrup. Der Gedanke an Cilly ging ihr so nahe, dass es wehtat. Diese besondere Art von Schmerz, die sich nicht genau lokalisieren lässt, weil sie im gesamten Brustraum zu spüren ist. Sie war Cilly. Zu der Erkenntnis war sie doch schon unmittelbar nach dem ersten Aufwachen gelangt.
Wahrscheinlich hatte sie keinen Beruf ausgeübt und war deshalb von der alten Frau kritisiert worden. Weil sie den Blues hatte? Ältere Menschen hatten nicht unbedingt Verständnis für Depressive, verwechselten Antriebslosigkeit und Mutlosigkeit mit Faulheit, hielten das schwarze Loch im Innern für eine Geisteskrankheit.
In ihrem Kopf überschlugen sich Gedanken, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen. Auf ihrer Zunge lagen unendlich viele Fragen. Über ihre Lippen kam nur unverständliches Nuscheln und Krächzen. Ihre Zunge war nicht daran gewöhnt, ohne das natürliche Hindernis Zähne verständliche Laute zu formen. Und der Hustenanfall hatte ihrer ohnehin wunden Kehle nicht zum Vorteil gereicht. Sie bedeutete Lucy, noch einen Versuch mit der Schnabeltasse zu wagen.
»Aber ganz vorsichtig«, mahnte die Ärztin erneut.
Das zweite Schlückchen Tee behielt sie zur Sicherheit im Mund, bis Lucy sich ein Stück zurückgezogen hatte. Dann ließ sie es in mikroskopisch kleinen Dosen zum Rachen rinnen. Und so funktionierte es. Die ersten Tröpfchen versickerten ohne nennenswerte Schluckbewegung in den Schleimhäuten. Die zweite, etwas größere Portion tat zwar weh im Hals, doch das war auszuhalten. Beim dritten Schluck fühlte es sich an, als könne sie den Rest auf einmal aus dem Mund zum Magen befördern. Aber ein Risiko ging sie lieber nicht ein.
Lucy lächelte, die Ärztin lächelte. Sie selbst erschrak, als sie danach die ersten einigermaßen verständlichen Worte zustande brachte. »Wie lange bin ich schon hier?«
Das war nicht die Stimme, die sie eben als ihre eigene identifiziert hatte. »Ich bin nicht unzufrieden.« Nur war dieser Satz aus einem Mund voller Zähne gekommen. Logisch, dass sie jetzt ganz anders klang. Zudem kratzte es im Rachen, als hätte man sie wochenlang mit Reißzwecken gefüttert.
»Seit neun Tagen«, antwortete Frau Doktor Scheuer. »Als Sie eingeliefert wurden, haben Sie eigenständig geatmet. Aber niemand konnte vorhersagen, ob dieser Zustand von Dauer war. Sie waren sehr geschwächt. Deshalb wurden Sie zu uns auf die Intensivstation gebracht, nachdem die Chirurgie den Zugang für die Trachealkanüle geschlossen hatte. Wir haben Sie schlafen lassen. Das kostet keine Kraft. Vor zwei Tagen haben wir Sie kurz geweckt und einige Tests gemacht. Erinnern Sie sich?«
Sie erinnerte sich an das grelle Licht, das Kneifen und das hysterische Kreischen: Mach sie tot! Mach sie tot! War das schon zwei Tage her? Und davor – neun minus zwei macht sieben – sieben Tage im künstlichen Koma? Und davor? Wo war sie denn vorher gewesen? Wo hatte man sie längere Zeit über eine Trachealkanüle beatmet? Und wie lange?
Fragen über Fragen. Als sie Anstalten machte, die nächste zu stellen, wurde die Ärztin energisch: »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Einzelheiten zu erörtern. Sie brauchen noch sehr viel Ruhe, Frau Beermann. Wir wollen Sie nicht überanstrengen. So fit, wie Sie sich zu fühlen scheinen, sind Sie noch nicht.«
Sie fühlte sich alles andere als fit, war nur mit einem Schlag hellwach. Beermann? Wer war Frau Beermann? Sie war Cilly Castrup. Die falsche Anrede verpasste ihr einen satten Schub Adrenalin. Doch so aufgewühlt, wie sie war, verstand sie ihren Protest selbst nicht. Und Frau Doktor Scheuer ließ nicht mit sich handeln, schickte Lucy noch einmal hinaus, um fünf Milligramm von irgendwas zu holen. Die Bezeichnung kannte sie nicht und konnte sie sich in der Aufregung auch nicht merken.
Zurück kam Lucy mit einer Ampulle. Die Ärztin zog eine Einwegspritze auf, injizierte den Inhalt in den Infusionsbeutel und schickte sie damit erneut in die Dunkelheit, die allerdings nicht so dunkel war wie das Nichts, das hinter ihr lag.
Der Steinbruch
Am Horizont zogen noch blutrote Schlieren der untergehenden Sonne durch den Abendhimmel. Auf der Landstraße war es bereits Nacht, als der schwarze Geländewagen den stillgelegten Steinbruch passierte. Die Straße verlief in einem Bogen, und für wenige Augenblicke verwandelten die Scheinwerfer das zerklüftete Gelände in eine bezaubernde Winterlandschaft. Eine traumhaft schöne Kulisse, die nicht einmal der alte Bauwagen auf dem abschüssigen Zufahrtsweg verschandeln konnte, weil er ebenfalls aussah wie einer glitzernden Eiswelt entnommen.
Cilly schaute über die Schulter zurück und danach noch sekundenlang in den Außenspiegel, bis der verschneite Bewuchs am Straßenrand ihr die Sicht auf das schimmernde Wintermärchen nahm. Der letzte Eindruck war ein schwach aufglimmendes, schmutzig gelbes Viereck.
Im Bauwagen legte ein Obdachloser seine Hände um den Glaszylinder einer Petroleumlampe und wärmte seine vor Kälte steifen Finger, ehe er einen Schlafsack auf dem schmuddeligen Boden ausbreitete.
Der schwarze SUV bog in einen schmalen Waldweg ein. Die Reifen drückten ihre Spuren in die noch unberührte Schneedecke, unter der die Unebenheiten des Wegs verborgen lagen. Aber der Wagen spürte sie auf, es rumpelte gehörig.
Cilly spürte Unbehagen aufsteigen. Der Weg führte ziemlich steil nach oben. Schneeketten hatten sie nicht aufgezogen.
»Darf man hier überhaupt hinauf?«, fragte sie.
»Klar«, sagte der gut aussehende Mann mit den dunklen Haaren neben ihr, Achim Castrup. Er steuerte den SUV. »Sonst hätten sie keinen Aussichtspunkt ausgeschildert.«
Beim Frühstück im Hotel hatte er sie zu dieser Fahrt überredet und auf den Abend vertröstet, weil bei Tageslicht die Wirkung gleich null sei. Was er ihr unbedingt zeigen wollte, darum hatte er ein Geheimnis gemacht, nur betont: »Du wirst nicht glauben, dass es so etwas heute noch gibt.«
Für einen spektakulären Sonnenuntergang war es schon zu spät. Und die gab es auch in der heutigen Zeit noch zuhauf. Cilly rechnete mit einem Ausblick von der Kuppe des Hügels über die verschneite Landschaft. Vielleicht ein malerisches Dorf und ein paar verstreut liegende Gehöfte im Tal. Schneebedeckte Dächer, von denen feine, sich kräuselnde Rauchsäulen in den sternenklaren Nachthimmel stiegen. In sanftem Gelb schimmernde Fensterchen wie auf einem Thomas-Kinkade-Puzzle. Genauso hatte sie – Achim vermutlich auch – es in einem der Faltblätter gesehen, die an der Hotelrezeption lagen.
»Ich meine, darf man hier mit dem Auto hinauf?«, fragte sie, hatte vor dem Abbiegen an der Landstraße kein Verbotsschild bemerkt. Aber sie hatte auch nicht Ausschau nach einem Schild gehalten, war durch den Steinbruch abgelenkt gewesen.
Statt ihr zu antworten, fluchte Achim unvermittelt: »Scheißkiste.«
»Was ist los?«, fragte sie.
Und er seinerseits: »Hörst du das nicht?«
Cilly hörte nur den Motor. Er war mit dem Geländewagen viel vertrauter als sie. Dass ihm ungewöhnliche Fahrgeräusche eher auffielen als ihr, lag auf der Hand. Vielleicht sah er auch einen Warnhinweis auf einer der Cockpit-Anzeigen, die sie vom Beifahrersitz aus nicht einsehen konnte. Wie um ihre Vermutung zu bestätigen, sagte er: »Ich fürchte, wir verlieren Öl.«
Damit hielt er an, stieg aus und fluchte erneut, weil er bis über die Knöchel im Schnee versank. Er stampfte nach vorne und klappte die Motorhaube hoch. Nun war Cilly die Sicht durch die Frontscheibe genommen. Sie sah nicht, was Achim tat, sah nicht einmal mehr etwas von ihm. Er hätte sich vom Fahrzeug entfernen können, ohne dass sie es bemerkt hätte.
In das schon vorhandene Unbehagen mischte sich Nervosität. Der SUV stand mitten auf dem Weg. Wenn nun noch andere wie sie mit dem Auto hinauf zur Kuppe wollten, um die Aussicht bei Dunkelheit zu genießen. Wenden war unmöglich. »Du solltest vielleicht zuerst an die Seite fahren!«, rief sie.
»Bin ich doch!«, gab Achim zurück.
Der Weg war kaum breiter als der Geländewagen. Aus dem rechten Seitenfenster fiel Cillys Blick auf die wolkigen Gebilde verschneiter Büsche, die unmittelbar neben der Beifahrertür zu stehen schienen. Auf der Fahrerseite war nicht viel mehr Platz.
»Und wenn jemand kommt?«
»Keine Panik, es geht gleich weiter«, erwiderte er und verlangte: »Rutsch rüber und gib mal ein bisschen Gas, aber nur wenig.«
Es widerstrebte Cilly, über die breite Mittelkonsole und den Schalthebel für das Automatikgetriebe zu steigen. Lieber wollte sie aussteigen und ums Auto herumgehen. Doch als sie die Tür öffnete, lag unmittelbar davor eine schräg abfallende, gewellte Schneefläche, hinter der das Buschwerk aufragte.
»Da kannst du nicht raus«, sagte Achim im selben Moment. »Da ist ein Graben. Du versinkst bis zur Hüfte, wenn du da hineingerätst. Rutsch rüber.«
»Woher weißt du denn, wie tief der Graben ist?«, fragte sie.
Wieder blieb er ihr die Antwort schuldig, drängte nur unwillig: »Jetzt mach schon, ehe ich Frostbeulen bekomme.«
Da müsste er lange stehen. Er hatte sich angezogen wie für eine Tour durch die Arktis. Daunenjacke, Thermohose und dick mit Lammfell gefütterte, knöchelhohe Stiefel.
Cilly zog die Tür wieder zu. Mit der rechten Hand auf dem Beifahrersitz und der linken an der Nackenstütze des Fahrersitzes stemmte sie sich hoch, hob das linke Bein über die Mittelkonsole. Und gerade als sie hinüber auf den Fahrersitz wechseln wollte, setzte sich der Geländewagen in Bewegung. Vor Überraschung und Schreck war Cilly sekundenlang unfähig zu reagieren, dann rief sie: »Achim! Halt die verdammte Kiste an!«
Zuerst rollte der SUV noch relativ langsam rückwärts den abschüssigen Weg hinunter. Achim hätte ihn mühelos erreichen, sich wieder hinters Lenkrad schwingen und die Bremse treten können. Aber er stand nur da, mit hängenden Armen im Scheinwerferlicht mitten auf dem Weg.
Aussteigen oder abspringen war in Cillys Position völlig ausgeschlossen. Das Bremspedal erreichte sie nicht. Ihr linker Fuß in dem gefütterten Winterstiefel berührte mit der Spitze gerade eben die Matte vor dem Gaspedal und verlor wegen der Unebenheiten des Wegs schon nach wenigen Metern zum ersten Mal den Bodenkontakt, danach immer wieder.
Den rechten Fuß stemmte sie gegen den Wagenboden vor dem Beifahrersitz. Ihr Hintern schwebte über dem Staufach, in dem Achim für gewöhnlich eine Tüte mit englischem Weingummi und ein paar Energieriegel mitführte. Jetzt stand eine Wasserflasche drin. Keine PET-Flasche. Der aufragende Flaschenhals aus dickem Glas machte es ihr unmöglich, auf dem Fach Platz zu nehmen und hinüber auf den Fahrersitz zu rutschen. Und vor dem Fach störte der Schalthebel des Automatikgetriebes.
Sie krallte sich mit der Rechten in die Kante des Beifahrersitzes und hielt mit der Linken das Gestänge der Nackenstütze umklammert, um einigermaßen das Gleichgewicht zu halten.
Die Handbremse! In ihrer Panik dachte sie erst jetzt daran. Wo war die verfluchte Handbremse? Nicht zwischen den Sitzen wie bei ihrem Wagen. Wahrscheinlich gab es links am oder unter dem Armaturenbrett einen Knopf zu drücken oder einen Hebel zu ziehen. Sie wusste nicht genau, wo, hatte das PS-starke Monster noch nie gefahren und hätte Knopf oder Hebel jetzt auch nicht erreichen können.
Der Wagen wurde schneller, rumpelte und hüpfte regelrecht über den unebenen Waldweg. Ein Wunder, dass er nicht schon vor der ersten Kehre seitlich in den Graben oder das Gebüsch kippte und sich mehrfach überschlagend den Abhang hinunterstürzte.
Zweimal stieß Cilly heftig mit dem Kopf ans Wagendach. Jedes Mal schrie sie kurz auf, eher vor Schreck als vor Schmerz. Es war anstrengend, sich zwischen den Sitzen abgestützt zu halten, trotzdem löste sie nur widerstrebend die linke Hand von der Nackenstütze und griff ins Lenkrad. Ihr Blick klebte am Innenspiegel, mit der rechten Hand und dem Fuß kämpfte sie auf der Beifahrerseite weiter um Halt, mit der linken bemühte sie sich, das schwarze Monstrum in der Spur zu halten. Der Weg verlief nicht schnurgerade nach unten, das taten Waldwege, die einen Hügel hinaufführten, nie.
Die erste Kurve meisterte sie, ebenso die zweite Biegung. Aber es kamen noch mehr. Und unten lag der Steinbruch wie ein Wintermärchen in der Dunkelheit. Das schmutzblinde Fensterchen am Bauwagen war wieder schwarz wie die Nacht.
Fragmente
Für das dritte Aufwachen gab es keinen besonderen Auslöser, keinen Schmerz, keine Panik. Es war ein gemächliches Auftauchen aus einem Kessel voller Bilder und Töne. Unbeeinträchtigt von der Außenwelt, sammelte ihr Hirn die verfügbaren Bestandteile ihres Lebens ein und warf alles zu Cillys Höllenfahrt in den Kessel.
Bis auf das Piepsen des Herzmonitors herrschte in ihrer unmittelbaren Umgebung Stille. Intensivstation?
Damit verband sie Hektik und helles Licht. Kammerflimmern oder pulslose Kammertachykardie. Ärzte, die ihr Letztes gaben, um Menschenleben zu retten. Pflegepersonal, das Herz-Lungen-Reanimation durchführte, bis endlich der Defibrillator zur Stelle war. »Gib mir 200 Joule. – Alle weg vom Bett!« Und dann zuckte der leblose Körper des Patienten zwar, aber er schoss nicht vom Laken hoch, wie es manchmal in Filmen gezeigt wurde. Das war Blödsinn. Sie mochte keinen Blödsinn und machte keinen. Alles nur bitterernst. Das Leben war kein Spaß, wenn man den Blues hatte.
Sie horchte auf die kaum wahrnehmbaren Geräusche von außerhalb und versuchte sie einzuordnen. Das gelang ihr nicht, weil ihr eigener Pulsschlag dominierte. Ihr Herz schlug langsam und gleichmäßig. Ruhepuls achtundfünfzig, dachte sie automatisch.
Es musste Nacht sein. Vom Korridor fiel gedämpftes Licht durch die offene Tür. Wieso stand die eigentlich immer offen? Und wie lange hatte man sie diesmal aus dem wachen Leben verbannt? Erneut einige Tage oder nur ein paar Stunden?
So wie die Fragen auftauchten, wurden die Antworten nebensächlich. Ihr fiel ein, dass die Ärztin zuletzt etwas gesagt hatte, was unbedingt einer Klärung bedurfte. Aber sie erinnerte sich nicht, was das gewesen war. Stattdessen tauchten scheinbar zusammenhanglose Szenen aus dem Kessel Buntes vor ihrem inneren Auge auf.
Eine böse Zauberin stach einer kleinen Prinzessin mit einem schwarzen Stab ins Auge und sagte: »Wer schön sein will, muss leiden.«
Ein kleiner Junge, fast noch ein Baby, tappte auf unsicheren Beinchen über eine Wiese und sammelte Federn auf. Er trug eine blaue Latzhose, darunter nur ein Hemdchen und an den nackten Füßen Sandalen mit festem Fersenteil. Und jedes Mal, wenn er sich bückte, sah es aus, als kippe er vornüber, weil er nicht die Knie beugte, sondern den Oberkörper.
Eine junge Frau mit schulterlangen brünetten Locken betrat den engen Flur einer Etagenwohnung.
Autoscheinwerfer streiften ein Fenster und ließen einen Schatten über eine Flurwand huschen, dessen Füße den Boden nicht berührten.
Im Wohnzimmer lag ein umgekippter Stuhl am Boden. Ein älterer Mann baumelte von einem Haken in der Decke.
Die Brünette stand wie erstarrt an der Wohnzimmertür. »Papa«, stammelte sie fassungslos, stürzte auf den baumelnden Mann zu und schrie: »Papa!«
Noch ein kleiner Junge, ein anderer als der in Latzhosen auf der Wiese. Dieser stand am Gitter eines Bettchens und war mit einem Pyjama bekleidet, der mit blauen Delfinen bedruckt war. Mit beiden Händchen hielt er die Stäbe umklammert, rief: »Mama«, hustete und schluchzte jämmerlich.
Aus dem Flur drang Rauch ins Zimmer. Ein Nachtlicht in Form einer Eule tauchte alles in schwaches Licht. Die Rauchschwaden, ein Bobbycar, Bilderbücher in einem Regal, einen Plastiktraktor mit Anhänger. Die Wickelkommode mit einer Auflage, die ebenfalls mit Delfinen bedruckt war. Auf einem Hocker lag Kinderkleidung, obenauf ein T-Shirt mit dem Aufdruck: »Ich habe einen Schutzengel, er heißt Opa.«
Darauf folgte die weißhaarige Frau mit dem Gesicht voller Runzeln und Altersflecken, die ihr mit brüchiger Stimme empfohlen hatte, den Blues mit Gartenarbeit zu bekämpfen. Mit einer Decke über den Beinen schlief sie in einem Ohrensessel, dessen dunkelroter Bezug von cremeweißen Tupfen gesprenkelt war, und wurde durch einen Türspalt beobachtet.
»Ich halte das nicht für eine gute Idee«, flüsterte ein junger Mann. Achim Castrup? »Wenn sie aufwacht, schmeißt sie mich wieder raus. Und du bekommst noch einen Monat Stubenarrest. Ach was sag ich: Der alte Drachen lässt dich für den gesamten Rest des Jahres nicht mehr vor die Tür. Lass uns lieber wieder ins Auto …«
»Feigling«, wisperte sie.
Auch das nächste Bruchstück war eine Szene, die sie irgendwann durch einen Türspalt beobachtet haben musste, wobei sie sich zutiefst verletzt gefühlt hatte. So tief im Innern getroffen, dass es selbst in ihrem jetzigen Zustand noch schmerzte.
Ein Paar bei einem Liebesakt in einem halbdunklen Büro. Die Frau lag mit hochgeschobenem Rock bäuchlings über einem Schreibtisch. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen, weil sie ihren Kopf in Ekstase auf der Tischplatte hin und her warf. Die Frisur war dieselbe wie bei der jungen Frau, die ihren Vater erhängt im Wohnzimmer fand: schulterlange Locken.
Der Mann war dunkelhaarig. Er stand mit heruntergelassener Hose und dem Rücken zur Tür hinter dem Lockenköpfchen. Sein Hemd hatte er bis zur Taille hochgeschoben, drückte den Stoff mit den Ellbogen gegen seinen Körper, was der Szene etwas lächerlich Groteskes verlieh.
Gleich anschließend fragte Achim Castrup: »Scheidung? Das geht nicht. Ich könnte hier dichtmachen.«
Zu guter Letzt tauchte das Thomas-Kinkade-Puzzle auf. Aus Kaminen mit Schneehäubchen stiegen feine Rauchsäulen in den sternenübersäten Himmel. Damit reihten sich die Bilder zu einer fortlaufenden Handlung.
Der schwarze Geländewagen stürzte den verschneiten Abhang hinunter und überschlug sich mehrfach, ehe er in dem stillgelegten Steinbruch aufprallte.
Aufgeschreckt vom Gepolter, schälte sich im alten Bauwagen der Obdachlose mit grauem, ungepflegtem Bart und dünnen, zotteligen Haaren aus dem Schlafsack und torkelte ins Freie.
Das zerbeulte Ungetüm lag in zwanzig Metern Entfernung zwischen Steinblöcken. Der Obdachlose näherte sich zögernd in der Erwartung, auf eine Leiche zu stoßen. Der SUV war auf dem Dach aufgekommen. Auf Anhieb sah man nicht, dass die Motorhaube fehlte. Die lag weiter oben am Hang, war abgerissen, als der Wagen vom Weg abgekommen und durch Büsche und Bäume gebrochen war. Die Schneise, die er geschlagen hatte, zog sich wie ein breiter, dunkler Streifen durch die matte Helligkeit des verschneiten Hügels.
Plötzlich war ihr, als läge sie kopfüber im Auto. Aus einer Wunde an der Stirn oder der Schläfe rann ihr Blut ins rechte Auge. Von den Beinen drang grauenhafter Schmerz wie in Stoßwellen in ihr Bewusstsein. Ganz in ihrer Nähe kreischte eine sich hysterisch überschlagende Stimme: »Mach sie tot! Mach sie tot!« Zwei Hände griffen unter ihre Achseln und zerrten sie durch die geborstene Seitenscheibe ins Freie.
Eine Erinnerung? Was sonst! Gleichzeitig wohl ein massiver Hinweis, dass der Unfall im Steinbruch kein Unfall gewesen war. Über das Warum und das Wie musste sie nicht lange spekulieren, klaubte die Gründe aus den Fetzen, die soeben aus dem Kessel Buntes aufgetaucht waren, und setzte sie zu einem logischen Ablauf zusammen.
Achim Castrup hatte eine Affäre, trieb es mit einem brünetten Lockenköpfchen auf dem Schreibtisch in einem Büro. Wo sie die beiden durch einen Türspalt beobachtet und belauscht hatte. Sie nahm zumindest an, dass der kurze Dialog über die Unmöglichkeit einer Scheidung zu dieser Szene gehörte.
Weil eine Scheidung Achim Castrup teuer zu stehen gekommen wäre, ließ das Pärchen sich etwas Besseres einfallen. Um zu erreichen, dass der schwere Geländewagen wie von Zauberhand bewegt losrollte, nachdem Achim Castrup ausgestiegen war und Cilly hilflos über der Mittelkonsole und dem gläsernen Flaschenhals balancierte, brauchte es keine spezielle Kenntnis von Bremssystemen oder den technischen Finessen eines Getriebes. Über solche Kenntnisse verfügte Achim Castrup nicht, er war in der Finanzbranche tätig. Aber er hatte ein Paar gesunde Hände und musste nach dem Öffnen der Motorhaube nur kräftig schieben. Im Gegensatz zu Cilly, der die Sicht durch die Frontscheibe genommen war, konnte er um die Motorhaube herumlinsen, um den richtigen Moment abzupassen.
»Das will ich sehen.« Wieder die Männerstimme, die darauf bestanden hatte, Cilly per PEG zu ernähren. »Das ist morbide und fremdbestimmt. Es hat etwas von Machtmissbrauch und Quälerei. Darauf stehen die Leute.«
Wer hatte das gesagt? Nicht Achim Castrup, der behauptete anschließend: »Ich kann mir das nur so erklären, dass meine Frau den Schalthebel in die falsche Position gedrückt hat. Sie war nicht vertraut mit dem Wagen. Ich weiß nicht, wie oft ich ihr erklärt habe, dass D Dauerbetrieb bedeutet und N neutral heißt und nicht normal. Sie wollte immer in Normal-Stellung losfahren. Als der Wagen zurückrollte, wollte sie vermutlich bremsen und hat versehentlich das Gaspedal erwischt.«
Blödsinn! Neutral, normal. Sie war doch nicht beschränkt. Natürlich kannte sie den Unterschied, obwohl ihr eigener Wagen ein Schaltgetriebe hatte. Aber genauso hatte Achim Castrup es gesagt. Und sie hatte es gehört!
Wann? Wo? War er hier gewesen in den Tagen, die sie im künstlichen Koma verbracht hatte? Man hörte doch oft, dass bewusstlose oder komatöse Patienten einiges von dem mitbekamen, was in ihrer Nähe gesprochen wurde.
Dieser miese Hund! Hatte er gedacht, er könnte ihr hier den Rest geben, nachdem der Obdachlose im Steinbruch ihm die Pläne durchkreuzt hatte?
Sie musste sofort Bescheid sagen, damit die Polizei verständigt wurde und man Achim Castrup nicht noch mal in ihre Nähe ließ.
Jemand, vermutlich Lucy oder eine andere Krankenschwester, hatte einen Rufknopf mit einer Mullschlinge an ihrem linken Handgelenk befestigt und ihr den kleinen Zylinder mit dem Knopf in die Handfläche gelegt. Anscheinend hielt man sie inzwischen für fähig, auf andere Weise Hilfe herbeizurufen als durch eine Panikattacke mit Herzalarm.
Sie wollte den Knopf drücken, um ein Glas Wasser oder Tee bitten und ihr Anliegen vorbringen. Doch etwas hielt sie davon ab. Die Müdigkeit vielleicht, die nun wieder begann, ihr Hirn mit Watte auszustopfen. Oder diese Männerstimme, von der sie nicht wusste, zu wem sie gehörte. »Das ist morbide. – Das will ich sehen.«
Während sie in sich hineinlauschte und grübelte, wer der Mann sein und welche Bedeutung ihm zukommen mochte, lullte der Herzmonitor sie mit seinem gleichmäßigen Piepsen ein. Sie dämmerte weg und schreckte wieder hoch, als ihr etwas Feuchtes, Warmes über den Mund und durchs Gesicht fuhr.
Eine Frau in den Fünfzigern hatte begonnen sie zu waschen und zuerst ihre Lippen angefeuchtet.
»Guten Morgen«, wisperte die Frau, als ihr auffiel, dass sie aufgewacht war. »Wie schön, dass ich Sie auch einmal wach erlebe. Bisher haben Sie immer fest geschlafen, wenn ich bei Ihnen war. Ich bin die Frühschicht, Iris Ruhland oder Schwester Iris, wie Sie wollen.«
»Durst«, murmelte sie.
Die Frühschicht ließ den Waschlappen in eine Schüssel gleiten. »Ich hole Ihnen einen Tee, einverstanden? Oder wäre Ihnen ein stilles Wasser lieber?«
»Tee«, nuschelte sie.
»Möchten Sie auch frühstücken? Dann sag ich Bescheid.«
»Ohne Zähne?« Es wunderte sie, dass sie verstanden wurde.
»Ein Milchsüppchen geht bestimmt.«
»Auch mit PEG?«
»Aber sicher.« Iris Ruhland strahlte sie an. »Die nutzen wir hier sowieso nicht. Ihrem Magen ist es egal, aus welcher Richtung er gefüllt wird. Hauptsache, es kommt etwas rein. Wenn Sie schlucken können …«
»Kann ich«, versicherte sie heiser.
»Das habe ich schon gehört«, bestätigte Iris Ruhland. »Und sprechen können Sie auch. Da soll noch mal einer behaupten, dass wir hier nicht ab und zu Wunder vollbringen.«
Iris Ruhland eilte davon. Zurück kam sie wenige Minuten später mit einer Bechertasse. »Die Bestellung habe ich für Sie aufgegeben. Vorsicht, der Tee ist heiß.«
Schwester Iris war ebenso nett und fürsorglich wie Schwester Lucy, stützte ihren Kopf und ließ sie schluckweise trinken. Es ziepte wieder außen am Hals, aber so heiß, dass sie sich den Mund verbrannt hätte, war der Tee nicht mehr. Husten musste sie auch nicht, ihre Kehle schien sich von der Beatmungstortur erholt zu haben. Als sie zu verstehen gab, dass es ihr fürs Erste reichte, widmete Iris Ruhland sich wieder der Körperpflege.
Nach dem Gesicht war der Kopf an der Reihe. Sie spürte die feuchte Wärme unmittelbar auf der Kopfhaut, und es ging so fix, dass sie dafür nur eine Erklärung fand: keine Haare.
Entweder konnte Iris Ruhland Gedanken lesen, oder sie las von ihrer Miene ab, was hinter ihrer Stirn vorging. »Wenn wir ein paar Wochen weiter sind, geht das nicht mehr so schnell«, erklärte sie ungefragt. »Ihre Haare sind schon ein bisschen gewachsen. Als Sie heraufgebracht wurden, sahen Sie noch aus wie Kojak. Kennen Sie Kojak?«
Wer kannte den nicht?
»Der wird mittlerweile gedoubelt«, erzählte Iris Ruhland. »Telly Savalas ist ja schon eine Weile tot. Ich weiß gar nicht mehr, wann der gestorben ist.«
1994. Sie wusste das.
»Die jüngeren Leute kennen den kaum noch«, fuhr Iris Ruhland fort. »Die werden mit seinem Nachfolger mehr anfangen können. Wim Diesel, oder heißt der Win? Ich glaube, es schreibt sich sogar mit V. Neulich hab ich’s noch gelesen, mir aber nicht gemerkt. Er sieht Telly Savalas jedenfalls ähnlich.«
Nach dem Kopf nahm Iris Ruhland sich die Hände vor, begann mit der linken und bearbeitete jeden Finger einzeln mit dem Waschlappen, wechselte dann mitsamt der Schüssel auf die rechte Seite. Dort löste sie zuerst die Fixierung und nahm einen aufgeblasenen, aber erschlafften Einmalhandschuh vom Laken.
»Ich mache Ihnen gleich einen neuen.«
»Warum?«
»Damit Ihr Handgelenk nicht wund liegt. Solange wir es fixieren müssen, betten wir es schön weich auf ein Luftpolster.«
»Warum müssen Sie es fixieren?«
Dieses zahnlose Nuscheln empfand sie als beschämend. Doch wenn sie sich nicht darin übte, würde es so schnell nicht besser. Und wenn sie mit Polizisten über den Unfall im Steinbruch sprechen wollte, der in Wahrheit ein Mordversuch gewesen war, sollte sie deutlich und in vollständigen Sätzen artikulieren können, sonst hielt man sie womöglich für übergeschnappt.
»Damit Sie sich diese Kanüle nicht auch noch herausreißen«, antwortete Iris Ruhland.
ENDE DER LESEPROBE