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Kaffee schwarz oder extra? Die Café-Besitzerin Tinka versucht sich als Bloggerin. Während ihre Kafi-extra Kunden zur Sprechstunde am Espresso nippen, erzählen sie aus ihrem Leben und lassen die eigene Geschichte von Tinka umschreiben. Am nächsten Tag wird die koffeingestärkte Blogstory veröffentlicht - anonym und völlig neu verpackt. Nicht jeder Kunde ist mit dem Resultat zufrieden … Ein erfrischend originelles Lesevergnügen, das dem Leser einige Rätsel aufgibt. Denn im CAFÉ VINTAGE & CAKE ist nichts, wie es scheint. Mit ihrer Fabulierkunst schafft es Kiara Kern, den Leser auf eine vergnügliche Reise voller Überraschungen zu schicken. Ihre Figuren sind witzig, selbstironisch, charmant und manchmal ziemlich schräg. Ein unkonventioneller Roman mit verstecktem Tiefgang.
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Seitenzahl: 282
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KIARA KERN
fremdgefabelt
Die wunderlichen Fantasiegespinste der Tinka Braun
Band 1
ROMAN
Impressum
1. Auflage 2017Alle Rechte vorbehalten© boox-verlag, Urnäsch
Covergestaltung: Johanna Franco
ISBN978-3-906037-28-8 (Taschenbuch)978-3-906037-29-5 (ebook)
www.boox-verlag.ch
Fabeln= fantastische, nicht der Wirklichkeit entsprechende Geschichten erfinden; etwas Unwahres, Erfundenes erzählen.
(Duden.de)
Schubladen mag ich nicht.Die klemmen allzu oft und dann steckt man fest.Tinka
Die beschriebenen Geschichten sind allesamt fiktiv und schildern weder reale Geschehnisse, noch tatsächlich existierende Personen, seien sie tot oder lebendig. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich lebenden Menschen wäre unbeabsichtigt und rein zufällig
1 Ellbogenkampf
2 Nachbarintrigen
3 Spiderwoman
4 Catfight
5 Midlife-Krise
6 Der Zeitungsartikel
6 ¼ Kopfreisen
7 Sinkhole
8 Die Meine!
9 Kalte Bedrohung
10 Kunst-lichkeit
11 Kafi-extra
12 TINKA – Ein Kapitel für sich
13 Kaffee Hot Vanilla
14 Kaffee Decaf
Niemand ahnt, was in mir vorgeht.
Sie sitzen auf ihren Bürostühlen, fuchteln mit ihren Stiften, werfen mit Worten und wagen es zu lachen, während in mir eine emotionale Zeitbombe tickt.
Als wäre nichts passiert, kichern sie wie die Hyänen über einen Witz und benehmen sich, als würde sich die Erde ganz normal drehen.
Dabei steht sie seit neununddreissig Stunden still.
Seit mir mein Boss erklärt hat, dass ich für den Job, auf den ich jahrelang hingearbeitet habe, doch nicht genügend qualifiziert bin.
Irgendein Engländer, der nicht mal deutsch spricht, ist dafür die perfekte Besetzung. Sie hätten keine andere Wahl gehabt. Sorry about that.
Als ob ich nicht fähig wäre, der Aufgabe als Abteilungsleiterin gerecht zu werden!
Seit sechs Jahren lebe ich für Larsons Ltd., habe mich mit dieser Firma identifiziert, sowohl Freizeit als auch Liebesleben für sie geopfert, mich weitergebildet und einen Teil meines Privatvermögens investiert. Und nun sowas!
Während ich hier sitze und die Teambesprechung über mich ergehen lasse, rebellieren meine Gedanken. Wie eine Armee winziger Krieger stehen sie stramm in einer Ecke meines Gehirns, bereit für den Einsatz. Die Messer gewetzt, um sämtliche Köpfe des Teams auf Kommando rollen zu lassen. Ich warte auf die Gelegenheit, die Sätze meines Vorgesetzten anzugreifen und ihnen den Krieg zu erklären. Angespannt sitze ich da, brodle innerlich vor mich hin und wundere mich, weshalb noch kein Dampf aufsteigt.
«Was meinen Sie, Helen?», fragt mich mein Boss, dieser bierbauchige Verräter.
Stell dich ans offene Fenster, damit ich dir einen Tritt in den Arsch geben kann, denke ich trotzig. «Ja, das ist eine gute Idee, der Kunde wird bestimmt begeistert sein.» Ich stelle mir vor, wie er aus dem Fenster fällt und unten auf dem harten Asphalt aufprallt …
«Welcher Kunde? Helen, Sie sind offenbar nicht ganz bei der Sache! Wir reden über das neue Konzept für die nächste Herbstpräsentation.»
Gequält zwinge ich mich, objektiv zu bleiben und einen klaren Gedanken zu fassen. Es bringt nichts, auf den Boss wütend zu sein. Ich muss das Übel an den Wurzeln packen: Bereits heute Abend würde ‹der Neue› in Zürich eintreffen und morgen sein Büro in Besitz nehmen. Das Eckbüro mit Seeblick, wohlgemerkt. Nur das Beste für den versnobten Engländer. Während ich an meiner Unterlippe herumkaue, erwäge ich die radikalste Lösung, denke spontan an Entführung, Unfall, Mord. Angenommen, er würde erst gar nicht auftauchen … dann wäre ich – zumindest theoretisch – ‹back in the game›.
«Möchten Sie, dass ich den Engländer heute Abend vom Flughafen abhole?», frage ich meinen Boss.
Das hat er nicht erwartet. «Danke, Helen, das ist nicht nötig. Wir schicken Gustav hin, der wohnt ja gleich in der Näh…»
«Es ist besser, wenn ich das übernehme», werfe ich entschlossen ein. «Wenn Gusti Englisch spricht, hört sich das wie Rätoromanisch an. Womöglich bringt er uns in Verlegenheit. Wie heisst der Neue noch gleich?»
Mein Chef nickt ab. «Sie können die Infos im Sekretariat abholen. Elvira wird alles Nötige für Sie vorbereiten.»
Nach der Sitzung eile ich von der schallgedämpften Teppichetage hinunter ins Linoleumstockwerk, um Elvira damit zu beauftragen, ein gut lesbares Namensschild für mich zu kreieren.
«Ich fahre selbst zum Flughafen. Brauche sämtliche Unterlagen so schnell wie möglich. Sagen wir … in fünfzehn Minuten? Kriegst du das hin?», frage ich schnippisch. Dabei merke ich selbst, wie herablassend mein Benehmen ist, doch irgendwo muss ich meinen Frust abladen, und sie ist nun mal die Nächste in der Hackordnung.
Frisch umgezogen und ermutigt durch ein Glas Weisswein, fahre ich zwei Stunden später Richtung Flughafen. Elviras Plakat und die Kurzinfos betreffend Flugnummer und Hotelnamen liegen auf dem Beifahrersitz. Ich drehe das Autoradio so laut, wie ich es nüchtern selten tue, und schmiede einen Schlachtplan. Der explosiven Situation angemessen, werde ich den Typen in die Hotelbar locken und ihm einen entsprechend hochprozentigen Drink bestellen. Und dann gleich noch einen. So werde ich das gnadenlos fortsetzen, bis der Engländer mit schwerer Zunge pikante Insidernews preisgibt, die ich hinterlistig mit meinem Smartphone aufnehme. Völlig entrüstet werde ich das heikle Material dem Boss übergeben und dabei dramatisch verkünden, dass die Zukunft unserer Firma in wahrhaft guten Händen liege. Falls sich herausstellen sollte, dass keinerlei Dreck an Schirm und Melone klebt, würde ich Plan B umsetzen und ihm meinen Spezial-Cocktail (Nagellackentferner gemischt mit Abführmittel) in den Drink schütten. Zumindest für den nächsten Tag würden ihn Bauchkrämpfe ans Hotelbett fesseln.
Ungeduldig betrachte ich die Ankömmlinge und komme mir mit meinem Schild ein wenig blöd vor. Schon nach wenigen Minuten reagiert ein Mann um die vierzig und kommt zielstrebig auf mich zu. Er wirkt überrascht, mich zu sehen und grüsst mich höflich, aber zurückhaltend. Seine Haut ist blass, das Haar zerzaust. Innert Sekunden stufe ich ihn als äusserst attraktiv ein.
Change of plan … In diesem Fall wäre es weitaus amüsanter, ihn zu bezirzen, zu verführen und schliesslich wieder auszuspucken – mit Anlauf, direkt Richtung Ärmelkanal.
Neugierig betrachte ich seine Hände. Nach dem üblichen Smalltalk gehe ich zum Angriff über.
«Wird Ihre Frau demnächst nachreisen?», frage ich unschuldig.
«Meine Frau? Nein, im Moment nicht, wieso?»
Verführen. Erpressen. Einfacher geht‘s nicht.
«Was sagt denn Ihre Frau dazu?», frage ich jetzt kokett. «Zürich ist ja nicht gerade bekannt für ein aufregendes Nachtleben. Und sonntags ist die Stadt wie ausgestorben. Nix mit shoppen.»
«Zürich? Wie meinen Sie das? Immerhin ist es doch eine Stadt mit hoher Lebensqualität – gemäss den Ratings.»
«Ja, das heisst es immer … keine Ahnung wieso.»
Ich lächle und gebe mich so, als ob ich Besseres gewohnt sei. Ein Multikulti-Jetset-Girl, das in Oxford studiert, in Brüssel ein Praktikum absolviert und in New York seine erste Million verdient hat.
Man will ja nicht angeben, eher lässt man entsprechende Floskeln diskret in die Diskussion einfliessen. Das habe ich im Laufe vieler Jahre von meinem männerdominierten Arbeitsumfeld gelernt.
Dabei liebe ich die Schweiz. Insbesondere Zürich. Als Teenager träumte ich jedoch davon, in Amerika oder England zu leben. Schliesslich bin ich urgrossmütterlicherseits britisch verwurzelt. Meine Familie hatte kein Geld für irgendwelche Auslandsprachaufenthalte, auch sind keine Verwandten mehr übrig, die ich in England besuchen könnte. Auf dem Hof meiner Eltern – inmitten von Kuhfladen getränkten Weiden in der Nähe von Stallikon – übte ich stattdessen täglich mit meinem imaginären Sprachlehrer, einem alten Kassettenrekorder. Während ich mir vorstellte, mit Wellies anstatt Gummistiefeln auf einer südenglischen Farm zu arbeiten, stapfte ich durch den heimischen Dreck und fragte die Hühner auf Englisch, ob sie mir ‹scrambled eggs› für meinen Toast liefern könnten.
«Ach ja?», nuschelt Jack. Nicht unbedingt die schlagfertige Antwort, die ich von einem Engländer erwarte.
«Unsere Stadt ist so feurig wie ein Zuchthengst, dem man eine Betäubungsspritze in den Hintern geschossen hat.»
Er schaut mich verblüfft von der Seite an. Ich versuche mit ihm Schritt zu halten. Anscheinend hat er es eilig.
«Oh, ich will Ihnen nicht die Vorfreude verderben. Wir Zürcher sind zuweilen sehr wohl temperamentvoll … zumindest im August. Einmal im Jahr werden die Strassen lebendig.» Konzentriert weiche ich einer jungen Frau aus, die sich mit ihren zwei pinkfarbenen Koffern an mir vorbeidrängen will. Genervt blicke ich ihr nach.
Der Mann neben mir scheint nicht sonderlich glücklich über meine Bemerkung zu sein.
«Bitte entschuldigen Sie», sage ich schnell.
«Ich dachte nur … you know … Zürich ist mit London nicht zu vergleichen.»
Während ich im Parkhaus das Namensschild in einen Abfalleimer werfe, drücke ich den automatischen Türöffner meines Mercedes. Er steigt auf der Beifahrerseite ein und ich fahre mit quietschenden Reifen aus dem Parkhaus. Jack sagt nicht viel, wahrscheinlich ist er zu müde. Nach fünfzehn Minuten Autofahrt bemerkt er plötzlich, dass sein Hotel wohl nicht mehr weit sei.
«Oh. Sie kennen sich aus?», frage ich überrascht.
«Nun, das Hotel liegt meines Erachtens in der Nähe des Hauptbahnhofs. Ist dieses Schloss zu meiner Rechten nicht das Landesmuseum?»
«Lovely, isn’t it? Kaum jemand würde glauben, dass die Junkies immer noch hier rumhängen. Die Kriminalitätsrate ist enorm gestiegen. Gerade letzte Woche gab es wieder einen Doppelmord.»
Er schaut mich schief an, dann kramt er in seinen Unterlagen und liest laut den Namen seines Hotels vor.
«Nein, nein, Ihr Hotel liegt im Kreis 5», sage ich und möchte abbiegen.
Er schaut mich durchdringend an und sagt dann ruhig, aber bestimmt, dass er das Hotel umgebucht habe. Sein Hotel liege an der Löwenstrasse, gleich hinter dem Hauptbahnhof. Verwundert biege ich in die gewünschte Strasse ein. Nach dem Einchecken in der Hotellobby steuern wir direkt die Bar an. Ich biete Jack ein Briefing über die Firma an, damit er besser vorbereitet ist.
«The usual?», fragt der Barkeeper den Engländer.
Habe ich mich verhört? Ich gehe kurz auf die Toilette, um mich frischzumachen. Als ich zurückkomme, sitzt Jack bereits auf einem der Ledersofas, an einem Glas Whisky nippend. Selber brauch ich auch dringend einen Drink. Gin Tonic, bitte!
Ich setze mich zu ihm. Gespielt langsam ziehe ich meinen Blazer aus und bücke mich nach vorn, um nach meinem Glas zu greifen, welches der Kellner gerade professionell lächelnd auf das Tischchen stellt. Konzentriert erläutere ich Jack interne Details über unsere Abteilung, lobe meinen Vorgesetzten und meine Mitarbeiter. Dabei blicke ich den Feind bewundernd an, packe den Laptop aus meiner Tasche und rutsche ein wenig näher, um ihm das Firmen-Organigramm zu präsentieren.
«Jack … wir alle freuen uns sehr auf Sie. Sie werden frischen Wind in die Abteilung bringen.»
«Danke! Ich fühle mich geehrt.» Er blickt mich amüsiert an und stellt keinerlei Fragen.
Ein wenig irritiert schenke ich ihm mein schönstes Lächeln, trinke schneller als für mich gut ist mein Glas leer, bestelle nach und biete ihm ebenfalls einen weiteren Whisky an.
«Ihr Schweizer seid überaus freundlich», flüstert mir Jack ins Ohr und erzählt mir von seiner Leidenschaft für Schwarz-Weiss-Fotografie. Er schwärmt in den höchsten Tönen von seiner Spiegelreflexkamera. Geduldig höre ich zu und versuche schliesslich, ihn aufs eigentliche Thema zurück zu bringen. Meine Mission, die Stadt Zürich als komplett uninteressant zu verkaufen, ist noch nicht beendet. «Falls Sie demnächst Anschluss suchen sollten … es gibt in Zürich Kurse für unglückliche Zuwanderer. Die Zürcher sind nicht sonderlich … nun – es leben ja auch viele andere Nationalitäten hier, auf die Sie notfalls ausweichen können.»
«Ach … das wird schon werden», sagt er augenzwinkernd.
Erneut gönne ich mir einen kräftigen Schluck meines Gin Tonics und frage mich, ob da auch wirklich Tonic drin ist. Der Alkoholspiegel in meinem Blut steigt und zunehmend entspannt lehne ich mich zurück. Die Situation erscheint mir auf einmal äusserst witzig und ich beginne Dinge zu erzählen, die rein gar nichts mit der Arbeit zu tun haben. Wir unterhalten uns angeregt, flirten und nippen an unseren Drinks. Mein Handy ist immer noch auf Voice Memo eingestellt. Trotzdem – er gibt nichts von sich preis, was ich irgendwie verwerten könnte. Er erweist sich als so trinkfest, wie es der Ruf der Engländer verspricht. Selbst kann ich kaum noch einen klaren Gedanken fassen und muss aufpassen, nichts Unprofessionelles von mir zu geben. Gerade will ich das Handy ausschalten, da höre ich:
«Dein Boss ist ein Idiot.»
Ich sollte nicht so schnell trinken. Bestimmt hat er Idol gesagt.
«Äh … inwiefern?»
«Ich gehe davon aus, dass er dich relativ kurzfristig auf mich angesetzt hat? In London haben wir auch unsere Edelprostituierten, aber bis anhin hatte ich noch nie das Vergnügen. Er ist wohl ziemlich knausrig, wenn er eine Anfängerin wie dich losschickt. Bin ich als Kunde so unwichtig?»
«Wie bitte?», frage ich geschockt. «Wieso Kunde … Sie arbeiten doch in unserem Team?»
«Das scheint mir ja ein tolles Team zu sein!»
Er lacht mich aus und winkt dem Barkeeper. Während ich überlege, was er mit seiner Bemerkung meint, fährt er fort: «Als du mich vom Airport abgeholt hast, dachte ich, der Hotelservice in der Schweiz habe sich verbessert … schliesslich bin ich seit Jahren gern gesehener Gast in diesem Hotel. Hast du wirklich geglaubt, du könntest mich ausspionieren, ohne dass ich es merke? Arbeitest du für die Konkurrenz? Wer steckt dahinter?»
Ich glotze ihn nur dumm an.
«Es ist klar, dass du von Fotografie so viel verstehst wie ein Mafioso von Skrupel.»
«Hä?»
Mir fehlen die Worte. Was wirklich sehr, sehr selten vorkommt.
«Jetzt tu doch nicht so scheinheilig … Ihr Schweizer seid tatsächlich nicht so harmlos, wie ihr ausseht.»
«Das sag ich doch! Wir sind ein völlig durchtriebenes Volk», versuche ich zu kontern.
«Mit einem derart eleganten Akzent, dass sich einem die Härchen im Innern der Ohrmuscheln sträuben.»
«Excuse me?»
Ich bin den Tränen nahe und so verwirrt wie ein Neugeborenes, das frisch aus dem Gebärmutterhals herausgequetscht wurde. Wo bin ich? Hab ich den Kulissenwechsel verpasst?
«Tut mir leid, Kleines, ich hab mich auf deine Kosten amüsiert. No hard feelings, okay? Es ist mir egal, wer das organisiert hat – ich fand es sogar ziemlich unterhaltsam. Leider bist du nicht mein Typ. Ich bezahle die Drinks und hoffe, dass du mit deinem Zuhälter keinen Stunk kriegst. Good luck!»
Er grinst mich frech an und konzentriert sich dann auf sein Smartphone, ohne mir noch weitere Beachtung zu schenken.
Zuhälter? Als ob ich eine … und auch wenn, warum erwägt er es nicht mal, mit mir ins Bett zu steigen? Gratis!
Vorsichtig stehe ich auf und richte meinen – unterdessen versteinerten – Blick auf den Ausgang, schreite langsam und konzentriert darauf zu, bemüht, mich nicht noch mehr zu blamieren. Gedemütigt wie noch nie, checke ich draussen mein Handy. Hat wenigstens die Voice Memo Aufnahme geklappt? Der Akku ist fast leer, eilig schalte ich es ganz aus. Ich bin zu betrunken, um seine Anschuldigungen auswerten zu können und realisiere, dass ich jetzt auch noch mein Auto zurücklassen muss. Genervt rufe ich ein Taxi und lasse mich nach Hause fahren – höllisch bereuend, dass ich ihm das Fläschchen mit dem Gift-Cocktail nicht in den Whisky geschüttet habe. Insbesondere, weil die klebrig stinkige Flüssigkeit gerade aus meiner Handtasche tropft, die ich ohne Nachzudenken auf mein Bett geworfen habe. Wütend und frustriert reisse ich die feuchte Decke vom Bett, hänge mein Smartphone an das Ladegerät und lege mich erschöpft auf die Matratze.
Am nächsten Morgen gehe ich verkatert, jedoch erhobenen Hauptes, den Korridor in der Teppichetage der Larsons Ltd. entlang. Während ich mein Beweisstück, das Handy, fest umklammere, trete ich triumphierend ins Büro meines Chefs. Ich bin zuversichtlich, dass meiner Beförderung nichts mehr im Wege steht, immerhin hat Jack meinen Vorgesetzten als Zuhälter beschrieben. Doch als mein Boss mich erblickt, brüllt er mich an.
«Wo haben Sie sich gestern Abend nur rumgetrieben? Jeff musste mit einem Taxi nach Zürich fahren, nachdem er eine halbe Stunde am Flughafen vergeblich auf Sie gewartet hatte. Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?» Er ist knallrot im Gesicht.
Ich stehe nur da und verstehe kein Wort.
«Aber … ich habe Jack Smith doch abgeholt. Sogar mit einem Namensschild.»
«Jack Smith? Wer soll das sein? Unser Mann heisst Jeff Mayer!»
«Oh. Dann hab ich das wohl falsch verstanden, und … der andere … der hiess per Zufall Jack Smith … Wieso war ein Jack Smith an Bord …?»
«Lügen Sie mich nicht an, Helen! Ihr Verhalten ist total inakzeptabel – ich überlege ernsthaft, ob das Konsequenzen für Sie haben wird.»
«Wieso? Ich habe doch gar nichts …»
Elvira! Ich lasse meinen Boss kurzerhand stehen und hetze mit meinen hochhackigen Stilettos durch den Korridor, steige in den Lift und durchquere einen weiteren Korridor – auf dem harten Linoleumboden ist das Geklapper meiner Absätze bestimmt bis in die obere Etage zu hören.
«Elvira, who the fuck is Jack?», rufe ich laut, als ich sie endlich erblicke. Sie sitzt unschuldig an ihrem Pult, ihre falschen Wimpern zucken nicht einmal. Mit grossen Rehaugen blickt sie mir ernst ins Gesicht.
«Ah … keine Ahnung. Glücklicherweise habe ich bei der besagten Airline eine Freundin, die mir noch einen Gefallen schuldete … Sie hat die Passagierliste nach einem englisch klingenden Namen aus der Business Class durchforstet und mir diesen Tipp gegeben.» Sie lächelt mich spöttisch an und fragt: «Na? Habe ich das gut hingekriegt?»
«Elvira!»
Mit offenem Mund steh ich vor ihr.
«Die Bemerkung ‹kriegst du das hin› hättest du dir verkneifen sollen», sagt die ältere Frau mit gefährlich leiser Stimme. «Von den Männern bin ich es gewohnt, unterschätzt zu werden, aber von dir lass ich mir das nicht gefallen.»
Ich bin fassungslos. Die verlässliche, gute alte Elvira. Dreiundfünfzig Jahre alt und ansonsten so harmlos wie ein Huhn im Stall meiner Eltern, hat mir ein Messer in den Rücken gestossen. Ich möchte mich verteidigen und zurück ins Büro meines Vorgesetzten rennen, um Elvira zu beschuldigen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob mir mein Boss glauben würde. Es stünde Aussage gegen Aussage. Müde lächle ich Elvira an und gehe langsam zurück Richtung Lift. Dann drehe ich mich um.
«Es tut mir leid. Gestern war ein schlimmer Tag – ich war wütend auf alle.»
Der Lift öffnet sich. Ich verschwinde hinter den sich schliessenden Türen, verschwinde aus der Linoleumetage. Ohne Eile gehe ich in mein Büro zurück, um ein paar Kleinigkeiten einzupacken. Als ich meinen PC ausschalten möchte, zögere ich – und google einer Eingebung folgend einen ganz bestimmten Namen: Jack Smith. Mehrere Millionen Einträge … Ich überlege, wie sich die Suche näher eingrenzen liesse, als mir sein Zweitnamen in den Sinn kommt, der auf einer Notiz vermerkt war. Zweiter Versuch: Jack Lucas Smith – Zürich und London: Jahrgang 1965, studierte Fotografie am London College of Communication. Seine Arbeiten sind bekannt für die versteckten skurrilen Details, Herausgeber des Schwarz-Weiss-Bandes Verwischte Spuren (2008), arbeitet an verschiedenen Projekten weltweit. Über die nächste geplante Ausstellung in Zürich wird bereits spekuliert …
Deshalb die Bemerkung betreffend ausspionieren. Er dachte, ich sei von der Konkurrenz. Kopfschüttelnd eile ich aus meinem Büro, um so schnell wie möglich zu verschwinden. Nach all den Jahren in dieser Firma blicke ich nicht einmal zurück, verabschiede mich von niemandem sondern fliehe schwer atmend zum Lift. Wie es aussieht, habe ich einen völlig fremden Menschen vom Flughafen abgeholt, ihn zu seinem Hotel gefahren und mich mit ihm betrunken, um ihn über etwas auszuspionieren, was gar nicht existiert. Wie eine echte Spionin habe ich meine geliebte Stadt verraten und wäre sogar bereit gewesen, mit diesem Fremden zu schlafen und/oder ihn mit meinem Spezial-Cocktail zu vergiften!
Wenn es nicht so peinlich wäre, würde ich jetzt lachen. Und als ob der Tag nicht schon genug versaut gewesen wäre, kommt mir im Erdgeschoss ein Mann entgegen, der ziemlich sicher der Grund dieser Bescherung ist.
«Good morning», sagt er höflich und schaut mich über den Brillenrand hinweg an.
«Ich bin eine von den Guten, verdammt noch mal! Was wissen Sie schon von all den Menschen hier, den internen Zusammenhängen? Ich hab mir für diese Firma den Arsch aufgerissen!», schreie ich, völlig die Fassung verlierend, diesen Fremden an – obwohl er wahrscheinlich kein Wort versteht.
«Oh. Sind Sie … Helen?»
«Nein, ich bin der Lift Boy! Wir Zürcher brüllen gerne wildfremde Leute an! Natürlich bin ich Helen!»
Als ich realisiere, dass er mich sehr wohl verstanden hat, starre ich ihn trotzig an. Es ist mir nicht mal peinlich. Er starrt zurück und lächelt mich gönnerhaft an.
«Wer hat gesagt, dass ich nicht verstehe Deutsch? Ich nur nicht sprechen besonders gut.»
«Gibt es vielleicht etwas, das Sie nicht können?», frage ich genervt. «Wie können Sie es wagen, mir meinen Job zu stehlen? Und sowieso, ohne mich ist die Firma aufgeschmissen! Ich gehe davon aus, dass Ihr CV seit dem Kindergarten gefaked ist.»
«Ich nie gewesen im Kindergarten.»
«Wieso? Wieso waren Sie nie im Kindergarten?»
«Weil ich … wurde unterrichtet … privat.»
«Snob.»
«Really?»
«Kein Wunder, dass Sie so skrupellos und egoistisch sind.»
Stille. Der smarte Engländer ist endlich sprachlos.
«Na gut, ich geh dann mal. Helen has left the building.» Füge ich der Vollständigkeit halber noch an.
«Nein, Sie können erst sagen das, wenn Sie sind schon draussen.»
«Shut up!»
«Danke fürs Abholen!», ruft er mir mit vorwurfsvoller Stimme nach.
«Ich … habe Sie abgeholt! Und wie ich Sie abgeholt habe, verdammt!», schreie ich zurück.
Wütend versuche ich, durch die Schwingtür zu gehen, mit der ich seit Jahren auf Kriegsfuss stehe. Als ich endlich draussen ankomme, halte ich inne und atme tief ein. Ich kann nicht glauben, dass ich wortwörtlich auf der Strasse stehe. Ich, der Workaholic des Jahrhunderts. Ohne Job.
«Helen – wait!», ruft er mir nach.
Der hat vielleicht Nerven. Gespielt langsam drehe ich mich um. Es ist mir alles egal, ich habe nichts mehr zu verlieren.
«Eigentlich wollte ich Ihnen nur anbieten einen Job.»
«Einen Job?»
«Ja.» Ruhig blickt er mich an und erklärt dann auf Englisch: «Sie müssten allerdings dazu bereit sein, nach New York auszuwandern. Ihr Boss hat Sie als Idealbesetzung vorgeschlagen. Wir wollten das heute in Ruhe während der Sitzung mit Ihnen diskutieren. Hat er das denn nicht erwähnt? Wahrscheinlich wollte er Sie damit überraschen.»
Ich gaffe ihn an. Meine Innereien drehen sich im Gegenuhrzeigersinn.
«Nicht interessant genug? Na gut …»
Er kehrt mir den Rücken zu und macht Anstalten, ins Gebäude zu entschwinden.
«Nein, warten Sie! Es … tut mir leid, was ich gesagt habe. Ich finde es toll, dass Sie als Kleinkind privat unterrichtet wurden. In der Schweiz gibt es das nur selten. Meist stecken sie uns direkt nach der Geburt in die Kita. Das, äh … macht uns manchmal ein wenig aggressiv, wissen Sie …»
ENDE.
Happy End? Von wegen. So hat es sich gar nicht zugetragen. Die Realität sieht anders aus, jedoch nicht weniger frustrierend. Minus Mercedes, Minus Flirten. Das mit der Konkurrenz aus heiterem Himmel stimmt. Auch das mit dem Alkoholabsturz: Allein, in meinen eigenen vier Wänden.
Ein Engländer hat meine wohlverdiente Beförderung geklaut, der Rest darum herum ist erfunden. Ich trage ja nicht mal Stöckelschuhe! Und der Job, den ich gestern geschmissen habe, war auch nicht in der Teppichetage … So peinlich dieses Skript für die Protagonistin wäre: Immerhin hat sie sich gebührend gewehrt.
Eine zünftige Ladung Dramatik steckt in der Story, vielleicht ein bisschen zu viel Klischee, das gebe ich zu. Helen hat sich so verhalten, wie ich es mir in meiner Fantasie spontan ausgemalt habe. Auf jeden Fall fühle ich mich jetzt besser, konnte mich zumindest abreagieren. Es ist immer ein tröstendes Gefühl, wenn ich eine komplett unvernünftige Story erfinde.
Weder heisse ich Helen, noch bin ich frech, selbstsicher oder aufmüpfig. In meinen Geschichten jedoch, da sage ich, was ich will, lass meiner Fantasie freien Lauf. Ich erwäge kurz, ob ich die Shortstory für meinen neuen Blog nutzen soll, verschiebe die Entscheidung aber auf später. Zu emotional. Zu persönlich. Jedenfalls für den Moment.
Wenige Tage später liefert mir das Leben erneut Zündstoff. Als ob das Schicksal einen Angriff auf mein bis anhin sorgfältig geplantes Alltagsleben starten wollte. Als mein geliebter Grossvater unerwartet stirbt, trifft mich der Pfeil direkt ins Herz. Dagegen war der Jobverlust nur ein Streifschuss. Nachdem die Familie auch noch ankündigte, den laufenden Mietvertrag für seine seit Jahren geführte Kaffeestube zu kündigen, setze ich Himmel und Hölle in Bewegung, um meinen armen Grandpa davor zu bewahren, sich im Grab im Kickboxen üben zu müssen. Schliesslich war das Café sein Leben.
Da weder in Amerika noch sonstwo ein Jobangebot auf mich wartet, übernehme ich den Mietvertrag kurzentschlossen selbst. Ich kündige meine Wohnung in Zürich und ziehe nach Lachen im Kanton Schwyz, wo ich keine Menschenseele kenne und wo mich keine Menschenseele kennt, was mir aber kein bisschen Angst macht. Im Gegenteil.
Niemandem Rechenschaft schulden. Mich als neu erfundene, interessante Person ausgeben.
Tinka Braun, die Café-Besitzerin.
Eingebettet zwischen Bergen und Pflasterstein-Gassen lebe ich nun in der geschichtsträchtigen See-Gemeinde Lachen. Nur fünfzehn Gehminuten von meiner winzigen Zweizimmerwohnung entfernt, liegt meine neue, nach Kaffeebohnen riechende, Arbeitsresidenz, im Erdgeschoss eines Altbaus aus den Dreissigern.
Grandpa hätte es so gewollt. Seine Freundin Maggie konnte mich dafür begeistern, aber auch so wusste ich, dass es das einzig Richtige ist. Seither bin ich stolze Besitzerin des CAFÉ VINTAGE & CAKE, dem einen Ort, wo ich die Präsenz meines Grossvaters noch immer zu spüren glaube. Denn Grandpas unverkennbarer, würzig-herber Duft – eine Mischung zwischen Rasierschaum, Pfeifentabak und Kölnischwasser – haftet nach wie vor an dem wenigen Mobiliar, das von seiner Zeit noch übrig geblieben ist. Da ist zum Beispiel seine laut zischende, dampfspeiende Kaffeemaschine, ein Unikat, das ich damals als Kind Dragonlady getauft habe. Mein Grossvater fand den Namen passend und hatte mit mir über die Kaffeebohnen gewitzelt. ‹Du hast Recht. Diese braunen Bohnen sehen tatsächlich aus wie Baby-Drachenkacke!›
Ich vermisse ihn. Manchmal kommen mir seine Worte in den Sinn, seine Sprüche und Neckereien. Dabei höre ich seine tiefe Stimme, so nah, als ob er neben mir stehen würde. Sein ansteckendes Lachen klingt noch immer in meinen Ohren, ich hab nie verstanden, warum der Rest der Verwandtschaft sich über ihn ärgerte und sich gar provozieren liess. Als mein Vater einmal tadelnd von Grandpa verlangte, er solle nicht so kindisch tun, antwortete dieser: ‹Mein lieber Sohn, wenn ich jemals das Kind in mir verlieren sollte, kannst du mich gleich begraben.›
Seit wenigen Monaten liegt mein Grossvater nun unter der Erde, samt ‹Kind›. Er hat es bis zum Schluss behalten und Scherze gerissen, die – so bilde ich mir jedenfalls ein – nur ich, Maggie und seine Freunde verstanden haben.
Erstaunlich, wie eine Stimme den ganzen Raum füllen kann. Der Mann, der in der hintersten Ecke an der Fensterfront sitzt, redet seit zwanzig Minuten aufgebracht in sein Mobiltelefon. Er ist eher altmodisch gekleidet, der Schal ist immer noch um seinen Hals gewickelt.
Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen, da bin ich mir sicher, Gesichter kann ich mir merken. Die anderen Gäste sind alle gegangen, die meisten meiner Kunden wissen, dass ich nach achtzehn Uhr schliesse. Mein letzter Gast aber scheint komplett vergessen zu haben, dass eine Kaffeetasse neben ihm bereit steht. Er sitzt da, als ob er sich in seinem eigenen Wohnzimmer befände.
Während ich mit Hingabe Geschirr abtrockne, lausche ich seinen Worten. Meist spricht er klar und deutlich, dazwischen brummt er irgendwas und platziert Schimpfwörter, sodass ich mir aus den Bruchstücken eine Unterhaltung zusammenreimen kann. Es ist spannend, was er da erzählt. Zoff mit den Nachbarn hat er. Im Grunde nichts Weltbewegendes. Das ist es nicht, was meine Neugier weckt. Schliesslich habe ich schon vielen Gästen beim Telefonieren zugehört, doch der Mann macht den Eindruck, als spreche er lediglich mit seinem Handy – ohne einen Gesprächspartner am anderen Ende. Die reinste Buchstabensuppe, die sich da aus seinem Mund ergiesst. Ich frage mich, wie lange dieser Monolog noch dauern wird und schaue auf meine Uhr. Am liebsten würde ich mich zu ihm hinsetzen und ihn trösten. Ist ja gut, mein Lieber, ist ja gut.
Unschlüssig kaue ich auf meiner Unterlippe herum und überlege, ob ich es wagen soll. Die Lösung für sein Problem spuckt bereits in meinem Kopf herum. Das passiert mir immer, wenn ich Fremde belausche: Es inspiriert mich, Geschichten zu schreiben.
Kurzentschlossen setze ich mich zu meinem Gast und schaue ihn auffordernd an. Erstaunt bricht er sein Gespräch ab, legt sein Handy auf den Tisch und blickt mir direkt in die Augen. Nicht schuldbewusst, nicht genervt. Nur fragend. Aus der Nähe scheint sein Gesicht älter, ich bemerke viele kleine Fältchen, seine Augen sind müde.
«Was ist? Schliessen Sie?», fragt er, macht aber keine Anstalten, sich zu erheben.
«Nein. Erzählen Sie.»
«Was denn?»
«Was Sie gerade dem Telefon erzählt haben. Sie haben mich auf eine Idee gebracht – ich suche Stoff für Blogstorys, die ich auf meiner Homepage publiziere.»
«Aha.»
«Noch einen Kaffee dazu? Geht aufs Haus.»
Und so fing es an. An einem ganz normalen Mittwoch-Nachmittag im März. Noch am selben Abend begann ich seine Geschichte umzuschreiben. Den Anfang übernahm ich wortwörtlich. Doch dann entwickelten die Buchstaben eine verwegene Eigendynamik und der Plot steuerte in eine ganz andere Richtung. Vielleicht würde die fingierte Story dem Mann helfen, die Ursache seines Ärgers aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Vielleicht aber auch nicht …
Folgender Text ist koffeinhaltig. Frisch gemahlen aus dem Leben eines Kaffeetrinkers: Blogstory Nachbarintrigen
Die Sägessers, unsere Nachbarn, wandern aus.
Nach Singapur oder Shanghai, hab‘s wieder vergessen. Jedenfalls Richtung Sonnenaufgang. Anscheinend ein spezieller Ausland-Vertrag mit allem Drum und Dran – was immer das heissen mag. Management-Job, internationale Firma, alles top, das ganze Paket. Vor einem Monat klingelten sie an unserer Haustüre, der Freddy und die Silvie. Da standen sie stramm, strahlten uns stolz an und bombardierten uns mit ihren Neuigkeiten, als ob es uns interessieren würde.
Oh, wie wunderbar, wie mutig, viel Glück und alles Gute! Und Tschüss.
Das wär ja alles schön und gut, wenn jetzt meine Frau Gertrud nicht jede Minute davon reden würde, wie modern es doch heutzutage sei, auszuwandern. Ob wir nicht auch mal darüber nachdenken sollten. Ich bin Konditor. Der Freddy arbeitet im Finanzbereich, ist ja wohl ein Unterschied. Was will sie mir damit sagen? Etwa, dass ich versagt habe?
Der Groll gegen meine Nachbarn wird immer schlimmer und zerfrisst meine gutmütige Seele. Seit zwanzig Jahren wohne ich nun in diesem hübschen Quartier in Chur.
Stets war das Verhältnis gemütlich und entspannt, bis meine lieben Bündner Nachbarn einer nach dem andern gezwungenermassen umziehen mussten. Ihre Wohnsituation hat sich verkleinert (plötzlich Wittwer), verschoben, (Altersheim), erübrigt (Friedhof).
Die Neuzuzüger sind ein paar Jährchen jünger als ich, allesamt erfolgreich, irgendwelche Kaderleute, was weiss ich. Ist ja nicht mein Problem. Die sollen mich doch in Ruhe lassen mit ihrem karrieregeilen Gequatsche, mit ihren Intrigen und ihrem Gemauschel. Dauernd sticheln sie rum. Immer diese Angeberei, wie mir das auf den Sack geht! Die Müllermanns von nebenan; fahren auf einmal mit einem Porsche vor. Violett. Man muss sich das mal vorstellen. Nur weil vor ein paar Wochen die jüngste Tochter ausgezogen ist. Der Müllermann steckt tief in der Midlife-Krise oder sonst wo drin, so bunt wie der auf einmal rumläuft. Und dieses ständige Geschwafel über das Handicap beim Golfen … Ich kann’s nicht mehr hören. Insgeheim hoffe ich, dass einer aus Versehen von einem Schläger getroffen wird und eine saftige Gehirnerschütterung einsteckt. Wobei deren Gehirne so klein und gut versteckt sind, dass man sie wohl gar nicht erschüttern kann.
Als ich kürzlich von meinem wöchentlichen Jass-Abend nach Hause kam, standen sie nach dem Turnier mit ihrer Golfausrüstung vor ihren Protzautos und grinsten mich frech an. Fragten mich, ob ich nicht auch mal einen Abschlag üben wolle. Den Abschlag üben? Aber gern! Wenn Müllermanns Kopf ein Golfball wäre, – mit seiner Glatze hat er ja auch eine gewisse Ähnlichkeit, – würde der zu hundert Prozent mit dem ersten Schlag im dunkelsten Loch landen. Und das nicht auf dem Golfplatz! Dermassen motiviert wäre ich, ich würd ihn bis nach Innsbruck schiessen. Die hiesigen Golfplätze stecken voller Aasgeier, allesamt Wichtigtuer. Halb-Kriminelle, die mit einem Bein im Gefängnis stehen, wenn man mich fragt. Ist doch wahr.
Die kommen so geschniegelt daher, in ihrer lächerlich karierten Golfausrüstung, und werktags nicht weniger lächerlich in Krawatte und Massanzug. Ihre halbwüchsigen Kinder tragen Namen wie Kiki, Chloé, Jesse oder Logan. Deshalb brumme ich meist nur was vor mich hin, weil ich nicht weiss, wie ich diese Namen aussprechen soll. Allesamt Rotzlöffel, verwöhnte Teenager, die mich sowieso nicht hören, da rote oder neongrüne Kabel aus ihren Ohrmuscheln zu wachsen scheinen.
Was da zu Hause so abgeht, will ich ja nicht wissen. Ich sage nur: Draussen alles palletti, drinnen Konfetti!
Wetten, dass die sich regelmässig fetzen? Zu hören ist bei mir im Reihenhaus zwar nix, denn die Wände sind sehr dick. 90er Jahre. Zudem sind die stillen Kämpfe die schlimmsten. Nur zu gern würde ich mich in ihre Häuser einschleichen und auf Beobachtungsposten gehen.
Sie alle würde ich entlarven: die Müllermanns, die Sägessers, die Ramseiers – die sind besonders scheinheilig. Und die lieben ‹Halbwelschen›, die Hubers, die sich Übäär nennen, weil das vornehmer klingt.
Die massen sich an, über Flüchtlinge zu urteilen, ausgerechnet sie, die nicht mal merken, wie unerwünscht sie selbst sind.
Ich hab schon mit dem Pfarrer darüber gesprochen. Hab ihm meine finsteren Gedanken gebeichtet. Hatte sogar die Idee, eine Flüchtlingsfamilie bei mir aufzunehmen. Vielleicht auch nur, um die anderen zu strafen.
Eigentlich wünsche ich mir nur meine guten alten Bündner Genossen zurück. Stattdessen sitzt der Feind im Nachbarsgarten: Zürcher, Aargauer, St. Galler und Fribourger! Schlimmer geht’s nicht für einen Bündner. Seit drei Jahren terrorisieren diese Idioten mein Gemüt – es ist an der Zeit, sie loszuwerden. Sie aus meiner geliebten Umgebung zu vertreiben. Das ist gar nicht so einfach mit diesen Kakerlaken. Ein Tritt in den Arsch reicht da noch lange nicht. Lästige anonyme Anrufe, Drohbriefe, Stinkbomben oder unmoralische Angebote zeigen zu wenig Wirkung. Am besten wäre es wohl, für eine kollektive Massenvergiftung zu sorgen. Das jährliche Spätsommer-Gartenfest wäre die ideale Gelegenheit dazu. Vielleicht könnte ich Rattengift in den Kartoffelsalat meiner Frau mixen. Nee, davon isst sie ja auch. Mal überlegen … was mag sie nicht, was alle andern lieben … Das Tiramisù! Nein, das funktioniert nicht. Die liebe Müllermann ist gerade auf Diät. Womöglich probiert die nicht vom Tiramisù. Das wäre fatal. Wenn die erst mal verwitwet ist, hängt sie bestimmt dauernd bei uns im Haus rum.