Freudenberg - Carsten Knop - E-Book

Freudenberg E-Book

Carsten Knop

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Beschreibung

Zum ersten Mal seit seiner Gründung vor 175 Jahren, mitten in der Revolution von 1848/49, hat das Familienunternehmen Freudenberg aus dem badischen Weinheim seine Unternehmensgeschichte vollständig quellenbasiert aufbereiten lassen. Entstanden ist ein Buch nicht nur für die Familie Freudenberg und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern auch für historisch Interessierte, die einen »Wirtschaftsroman« aus dem wirklichen Leben lesen wollen. Wenn ein Unternehmen über alle Umbrüche hinweg – angefangen bei der Gründung des Kaiserreichs über den Ersten Weltkrieg, die Hyperinflation der 1920er Jahre, die Weltwirtschaftskrise, die Nazi-Diktatur, den Zweiten Weltkrieg, die Gründung der Bundesrepublik bis hin zu einer sich globalisierenden Welt, einer Pandemie und der Digitalisierung – prosperiert, wenn es allen Bedrohungen trotzt, wenn es dabei erfinderisch und sozial engagiert bleibt, dann ist das eine wirklich gute Geschichte. In diesem Buch beschreibt Carsten Knop nicht nur die Protagonisten, sondern auch, wie sich das Unternehmen immer wieder neu erfindet und bis heute erfolgreich bleibt.

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Cover for EPUB

Carsten Knop

FREUDENBERG

Ein Start-up der Revolution

Unter wissenschaftlicher Mitarbeit von Prof. Dr. Werner Plumpe

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Zum ersten Mal seit seiner Gründung vor 175 Jahren, mitten in der Revolution von 1848/49, hat das Familienunternehmen Freudenberg aus dem badischen Weinheim seine Unternehmensgeschichte vollständig quellenbasiert aufbereiten lassen. Entstanden ist ein Buch nicht nur für die Familie Freudenberg und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern auch für historisch Interessierte, die einen »Wirtschaftsroman« aus dem wirklichen Leben lesen wollen.Wenn ein Unternehmen über alle Umbrüche hinweg – angefangen bei der Gründung des Kaiserreichs über den Ersten Weltkrieg, die Hyperinflation der 1920er Jahre, die Weltwirtschaftskrise, die Nazi-Diktatur, den Zweiten Weltkrieg, die Gründung der Bundesrepublik bis hin zu einer sich globalisierenden Welt, einer Pandemie und der Digitalisierung – prosperiert, wenn es allen Bedrohungen trotzt, wenn es dabei erfinderisch und sozial engagiert bleibt, dann ist das eine wirklich gute Geschichte.In diesem Buch beschreibt Carsten Knop nicht nur die Protagonisten, sondern auch, wie sich das Unternehmen immer wieder neu erfindet und bis heute erfolgreich bleibt.

Vita

Carsten Knop ist seit 2020 Herausgeber der Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.), einer der drei auflagenstärksten überregionalen Tageszeitungen in Deutschland, die für ihre erstklassige Wirtschaftsredaktion bekannt ist. Anfang 2018 bis März 2020 war Carsten Knop Chefredakteur für die digitalen Produkte der F.A.Z. Davor war er Wirtschaftskorrespondent in New York und San Francisco, bevor er wieder zurück in Frankfurt Leiter der Unternehmensberichterstattung und später auch für Wirtschaftsnachrichten zuständig wurde.Werner Plumpe ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität in Frankfurt am Main. Von 2008 bis 2012 war er Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

INHALT

Impressum

INHALT

VORWORT

Kapitel 1

Unternehmensgründung

Gründung inmitten einer Revolution

Warum Weinheim?

Antrag auf Erwerb der Gerberei im Jahr 1828

Der Erwerb der Gerberei im Jahr 1829 und der Eintritt von Carl Johann Freudenberg 1833

Beruflicher Erfolg, Familiengründung – und die Rettung aus der Insolvenz

Neuanfang am 9. Februar 1849 –Die Gründung von Heintze & Freudenberg

Kapitel 2

Aufbaujahre, Innovationen und Wachstum

Vom innovativen Lackleder zur Gründung der Firma Carl Freudenberg

Vom richtigen Umgang miteinander – Die Geschäftsgrundsätze

Hermann Ernst und Friedrich Carl Freudenberg: Amerika, die Chromgerbung und ein neuer Patriarch

Veränderungen in der Eigentümerstruktur

Die Ausbildungswege der Geschäftsführer der dritten Generation

Hermann Ernst Freudenberg jun. (1881–1920)

Walter Freudenberg (1879–1957)

Hans Freudenberg (1888–1966)

Otto Freudenberg (1890–1940)

Richard Freudenberg (1892–1975)

Kapitel 3

Vom Ersten Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise

Der Erste Weltkrieg und seine Folgen bei Freudenberg (1914–1918)

Hyperinflation und Notgeld

Gewerkschaften

Gründung der F&Co. (1921): Trennung der Verwaltung der Familienanteile vom operativen Geschäft

Tod des Firmenpatriarchen Hermann Ernst Freudenberg (1923)

Vollständiger Übergang der Verantwortung auf die dritte Generation

Rückgewinnung der Märkte

Weltwirtschaftskrise und die Folgen

Technische Entwicklung und Vorantreiben der Diversifizierung

Kapitel 4

Freudenberg im Nationalsozialismus

Freudenberg nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und die politische Einstellung der Unternehmensleitung

Umwandlung in eine Kommanditgesellschaft

»Arisierungen« und Arisierungsversuche

Rüstungsproduktion bei Freudenberg

Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf das Unternehmen und seine Belegschaft

Zwangsarbeit bei Freudenberg

Die »Schuhprüfstrecke« im Konzentrationslager (KZ) Sachsenhausen

Handlungsspielräume von Unternehmen 1933 bis 1945 – Ein Essay von Werner Plumpe

Kapitel 5

Neubeginn und Wirtschaftswunder — INTERNATIONALISIERUNG UND DIVERSIFIZIERUNG

Der Neubeginn: Die juristische Aufarbeitung

Das Unternehmen unter Treuhänderschaft

Richard Freudenberg als Politiker der jungen Bundesrepublik

Wiederaufbau des Leder- und Schuhgeschäfts

Aus dem Vliesstoff wird Vileda

Die Entstehung der ersten Filter, Innovationen und der Bau der Mauer

Die Entwicklung des Dichtungsgeschäfts

Einstieg in die Schwingungstechnik

Die Weiterentwicklung der Sparte Nora: erste Kautschuk-Bodenbeläge und immer mehr Schuhsohlen aus Gummi

Ökologisches Engagement in Südamerika: Forst- und Holzbetriebe in Brasilien

Generationswechsel in der Unternehmensleitung

Heinz Hoppe und Freudenberg

Hans Freudenberg und die Bildung

Zeit der Vollbeschäftigung: Internationalisierung der Belegschaft in Weinheim

Neue Partner in Japan

Der Übergang von Richard auf Hermann Freudenberg

Datenverarbeitung und moderne Betriebswirtschaft

Der Einstieg in das Geschäft mit Schmierstoffen durch die Übernahme von Klüber

Kapitel 6

Freudenberg im Zeichen von Wirtschaftskrisen, wachsender Komplexität und Innovationen

Das Ende des Booms und die Beschleunigung des strukturellen Wandels in den Märkten

Die Strukturkrise der deutschen Lederindustrie und ihre Auswirkungen auf Freudenberg

Die erste weibliche Führungskraft von Freudenberg und der Umweltschutz

Der Kampf um den Erhalt des Schuh- und Kunstledergeschäfts

Freudenberg und SAP

Dichtungs- und Schwingungstechnik zwischen Ölpreiskrise, deutscher Wiedervereinigung und López-Effekt

Schwierige Anfänge in China

Strukturwandel? Innnovation! Internationalisierung! Das Vliesstoff-Geschäft von den 1960er Jahren an

Ein neuer Markt: Freudenberg in Indien

Vileda tritt einen Siegeszug in den Haushalten an

Der Aufstieg zum Global Player: Die Entwicklung der Klüber-Gruppe nach der Übernahme durch Freudenberg

Die Weiterentwicklung und der Abschied von Nora

Komplexität beherrschen durch Organisation: Von der Sparten-Organisation zur »Freudenberg Organisation für Kundenorientierte UnternehmensStruktur« (Fokus)

Kapitel 7

Nachhaltigkeit, Mobilität, Digitalisierung — DAS UNTERNEHMEN SEIT DER JAHRTAUSENDWENDE

Euro, Terroranschläge, Finanzkrise, Konflikte, Pandemie – Freudenberg in einer Welt in Bewegung

Die organisatorische und strategische Weiterentwicklung: Auf Fokus 1 folgt Fokus 2.0

Die Weiterentwicklung zu Fokus 2.0

Zukunft planen: Das Projekt Odyssey

Die Digitalisierung von Freudenberg

Digitalisierung in Ausbildung, Forschung und Entwicklung

Freudenberg und die Mobilität des 21. Jahrhunderts

Zukunftstechnologie Brennstoffzelle

Demografischer Wandel – eine große Chance für Freudenberg

Haushaltprodukte im Zeichen von demografischem Wandel und Globalisierung

Nachhaltigkeit als Verpflichtung für künftige Generationen

Nachhaltige Chemiesparte

Nachhaltige Lösungen für das Öl- und Gasgeschäft

Eine systematische Nachhaltigkeitsstrategie

Führung, Familie, Werte

»FREUDENBERG WIRD EIN FAMILIENUNTERNEHMEN BLEIBEN« — MOHSEN SOHI UND MARTIN WENTZLER IM GESPRÄCH

EINE NACHHALTIGE UNTERNEHMENSKULTUR — FREUDENBERG ALS VORBILD FÜR GENERATIONEN

WIE MAN ARCHIVSCHÄTZE ENTHÜLLT — DIE GESCHICHTE EINES UNTERNEHMENS AUF REISEN UND DES ÜBERSEEKOFFERS VON R. F.

ANMERKUNGEN

Vorwort

Kapitel 1: Unternehmensgründung

Kapitel 2: Aufbaujahre, Innovationen und Wachstum

Kapitel 3: Vom Ersten Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise

Kapitel 4: Freudenberg im Nationalsozialismus

Kapitel 5: Neubeginn und Wirtschaftswunder

Kapitel 6: Freudenberg im Zeichen von Wirtschaftskrisen, wachsender Komplexität und Innovationen

Kapitel 7: Nachhaltigkeit, Mobilität, Digitalisierung

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

VORWORT

Zum ersten Mal seit seiner Gründung vor 175 Jahren, mitten in der Revolution von 1848/49, hat das Familienunternehmen Freudenberg aus dem badischen Weinheim seine Unternehmensgeschichte vollständig quellenbasiert aufbereiten lassen. Entstanden ist ein Buch über einen klassischen »Hidden Champion«, geschrieben für die Familie Freudenberg , alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, für Familienunternehmer, für historisch Interessierte, aber auch für Menschen, die einen Wirtschaftsroman aus dem wirklichen Leben lesen wollen. Wenn ein Unternehmen über alle Umbrüche hinweg – angefangen bei der Gründung des Kaiserreichs über den Ersten Weltkrieg, die Hyperinflation der 1920er Jahre, die Weltwirtschaftskrise, die Nazi-Diktatur, den Zweiten Weltkrieg, die Gründung der Bundesrepublik Deutschland bis hin zu einer sich globalisierenden Welt mit Pandemie und Digitalisierung – prosperiert, wenn es allen Bedrohungen trotzt, wenn es dabei erfinderisch und sozial engagiert bleibt, dann ist das eine wirklich gute Geschichte.

Und die Geschichte von Freudenberg ist bestimmt von den handelnden Personen, von ihrem Geschick und Talent, von Rückschlägen, von Standortfaktoren von der Gründung an, stets auch von Konkurrenten und freundschaftlichen Kooperationen sowie dem notwendigen Glück, das gerade auch die früh erkennbaren Bemühungen zur Internationalisierung immer wieder begleitet hat.

Ist Freudenberg angesichts der auf diesem Weg erreichten Größe noch immer ein klassisches Familienunternehmen? Die Antwort ist ein klares Ja. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Größe und dem Übergang zur Fremdbestimmung, die aber in den USA ungleich stärker ausgeprägt ist. In Deutschland hingegen zeichnen sich die großen Familienunternehmen durch eine deutlich höhere Langlebigkeit und Kontinuität aus. Dazu gehört auch Freudenberg.

Betrachtet man die Listen der jeweils 25 größten Familienunternehmen beider Länder, fallen auf den ersten Blick vor allem Gemeinsamkeiten auf.1 In beiden Ländern stehen Familienunternehmen an der Spitze einzelner Branchen, darunter sind bekannte Marken und Weltkonzerne: Ford und BMW in der Automobilindustrie oder Bertelsmann und Fox in der Medienbranche. Und dann gibt es die Unternehmen, die der Unternehmensberater Hermann Simon »Hidden Champions« genannt hat. Sie sind in ihren jeweiligen Branchen und Segmenten Marktführer oder unter den Top drei, erwirtschaften Milliardenumsätze. Dennoch sind sie in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Vor allem aber sind sie bis heute meist vollständig im Eigentum von Familien, haben hohe Eigenkapitalquoten sowie eine hohe Fertigungstiefe, betreiben intensiv Forschung und Entwicklung und pflegen enge Beziehungen zu Partnern und Kunden. Gegenüber der Öffentlichkeit hingegen verhalten sie sich eher zurückhaltend. Das ist bei Freudenberg nicht anders.

Der im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und England weniger leistungsfähige deutsche Kapitalmarkt, der zu niedrigen Marktkapitalisierungen deutscher Unternehmen im internationalen Vergleich führt, wird zum Vorteil. Für Familienunternehmen war und ist der Anreiz, das Unternehmen an die Börse zu bringen, deutlich geringer. Dies führt dazu, dass in Deutschland die Anteile oder zumindest deren Mehrzahl eher bei den jeweiligen Familien liegen als in den stärker auf den Kapitalmarkt hin orientierten Vereinigten Staaten. Damit verbunden ist eine wesentlich geringere Bedeutung institutioneller Investoren, von Hedgefonds, Pensionsfonds und Private-Equity-Unternehmen, die ständig auf der Suche nach attraktiven Familienunternehmen als Beteiligungs- oder Übernahmekandidaten sind.

So etwas war in Weinheim, dem Hauptsitz des Unternehmens, ohnehin nie ein Thema: Hier wurde das Familienunternehmen erhalten und gleichzeitig dafür gesorgt, dass das Fachwissen externer Manager an führender Position mit genutzt wurde. Eine familieninterne Nachfolgefrage, die häufig ein Auslöser für den Verkauf des Unternehmens ist, stellte sich daher nie. Denn schon im Jahr 1914 war Hermann Ernst Freudenberg, ein Sohn des Firmengründers, der Ansicht, dass das Unternehmen nicht ausschließlich von Familienmitgliedern geführt werden müsse. In den 1970er Jahren wurden die ersten familienfremden Manager in die Unternehmensleitung aufgenommen, um die Professionalisierung voranzutreiben. Richtlinien für die Beschäftigung von Familienangehörigen im Unternehmen garantieren die Chancengleichheit und das Leistungsprinzip. Diese Regeln wurden später angepasst, um den Familienmitgliedern weiterhin eine besondere Bindung zum Unternehmen zu ermöglichen.

Im Jahr 2012 wurden abermals Diskussionen über die Beschäftigung von Familienangehörigen geführt und basierend auf Interviews und einer Benchmark-Studie neue Richtlinien erstellt. Diese legen nun fest, dass Familienmitglieder erst nach externer erfolgreicher Bewährung auf der Führungsebene ins Unternehmen eintreten dürfen. Insgesamt entfaltet sich eine Geschichte darüber, wie sich die Unternehmensführung von einer rein familiären zu einer professionellen und leistungsorientierten Struktur entwickelt hat.

Abb. 1Stammbaum Familie Freudenberg, Generation 1–3 (die blau hinterlegten Personen waren im Unternehmen tätig)

Das Buch beschreibt aber auch die alltäglichen und strategischen Herausforderungen, denen Unternehmen wie Freudenberg gegenüberstehen – ein Familienunternehmen, das über mehrere Generationen erfolgreich ist. Freudenberg profitiert dabei immer wieder von seinem kollektiven Gedächtnis und einer starken Unternehmenskultur, die es ermöglichen, aus vergangenen Ereignissen die richtigen Schlüsse zu ziehen und sich auf die Zukunft vorzubereiten. Kollektives Wissen, Innovation, Anpassungsfähigkeit und langfristiges Denken sind dabei die Schlüssel, um den technologischen und politischen Wandel zu bewältigen. Langfristiges Denken darf dabei nie mit Langmütigkeit verwechselt werden. Auch das ist etwas, was heutige und künftige Manager und Eigentümervertreter den Mitarbeitern von Freudenberg immer wieder vermitteln müssen.

Diese Mitarbeiter kommen inzwischen aus mehr als 100 Ländern und leben auf einer Erde, die vom Klimawandel bedroht ist. Wenn hier von Mitarbeitern die Rede ist, sind deshalb natürlich immer alle gemeint, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allen Ländern und aus allen Nationen, in denen Freudenberg tätig ist. Freudenberg versucht, die Stärken verschiedener Kulturen zu nutzen und eine gemeinsame Wertvorstellung zu schaffen. Damit verbunden ist das Ziel, bis zum Jahr 2045 ein klimaneutrales Unternehmen zu sein – und der Welt dabei zu helfen, selbst immer nachhaltiger zu wirtschaften, wobei diverse Produkte eine Rolle spielen, nicht zuletzt aber auch der Energieträger Wasserstoff. Das kommende Vierteljahrhundert bis zur 200-Jahr-Feier des Unternehmens wird nicht weniger aufregend als die Zeit, die seit der Gründung vergangen ist. Aber in einer intakten Familie wird in Generationen gedacht. Nachhaltiger kann eine Kultur nicht sein, im Sinn des Wortes und in jeder Beziehung.

Carsten Knop, im Frühjahr 2024

Kapitel 1Unternehmensgründung

Gründung inmitten einer Revolution

Es ist der 9. Februar 1849, ein Freitag. An diesem Tag gründen Carl Johann Freudenberg (1819–1898) und Heinrich Christian Heintze (1800–1862) eine neue Firma mit Sitz in Weinheim. Sie trägt den Namen »Heintze & Freudenberg«1. Ein solches Gründungsjahr muss man erst einmal in seinen Akten stehen haben: 1849. Und dann noch in Baden – ausgerechnet. Denn hier hatte die Revolution in Deutschland im Jahr zuvor ihren Ausgang genommen, und hier tobte noch im Sommer 1849 der Bürgerkrieg. In diesem revolutionären Baden, genauer in Mannheim, lebte Carl Johann Freudenberg mit seiner jungen Familie. In Mannheim herrschte Aufruhr, im wahrsten Sinne des Wortes: »[Hier fand im Februar 1848] eine erste, mehr als 2 500 Menschen zählende revolutionäre Volksversammlung statt, unzählige weitere sollten in den nächsten Tagen und Wochen im gesamten Deutschland folgen.«2 Gefordert wurden: Pressefreiheit, Bürgerwehren, Geschworenengerichte und im weiteren Verlauf der Revolution ein deutscher Nationalstaat mit einem frei gewählten Parlament. Die Revolutionäre teilten sich in Baden in zwei Lager: das liberal-konstitutionelle und das radikaldemokratische. In Baden gelang es den liberalen Kräften nicht, wie in Württemberg die Meinungsführerschaft zu erringen. Hier ging es fortan nicht mehr um einen Wandel innerhalb des bestehenden politischen Systems, sondern um einen radikalen Umbruch.3

Alles schien möglich in diesem Deutschland, das es zu der Zeit als einheitlichen Nationalstaat noch gar nicht gab. Das Land war ein Flickenteppich aus eigenständigen Territorien. Das Großherzogtum Baden war eines davon. Die Ordnung im Deutschen Bund4 und in Europa, die nach dem Ende der napoleonischen Zeit geherrscht hatte, geriet ins Wanken. Geschäftsleute, die in der Regel stabilen politischen Verhältnissen zugeneigt sind, blickten sorgenvoll auf die Ereignisse. Das gilt auch für die Gründer der heutigen Unternehmensgruppe Freudenberg, Heinrich Christian Heintze und Carl Johann Freudenberg, sowie ihre Angehörigen.

Hinzu kam: Mitten in der Revolution war dort in Mannheim am 28. November 1848 Carl Johann Freudenbergs Sohn Friedrich Carl geboren worden. Man stellte Weichen für die berufliche und die private Zukunft gleichermaßen, wollte Ruhe – und fand Aufruhr.5

Ein Geschäft, wenn auch gemeinsam mit einem Partner, übernehmen – in einer solchen Phase voller Ungewissheiten? Dazu gehören die passenden Charaktereigenschaften, aber eben auch die richtigen Begleiter, sowohl im Beruf als auch privat. Carl Johann Freudenberg hatte das Glück, diese Zutaten miteinander verbinden zu können. Aber dieses Glück war ihm nicht in die Wiege gelegt. Die Zeiten waren unruhig, die Menschen hatten viel weniger Geld, dafür aber mehr Kinder als heute. Sie starben früher; die Hinterbliebenen mussten immer wieder von vorne anfangen.

Im Fall von Freudenberg kulminiert alles in den Ereignissen der Revolution. Sie hat nicht nur in der europäischen Politik viel in Bewegung gebracht, sondern die Geschäfte in einer Art und Weise mitbeeinflusst, die es dem einstigen Lehrling Carl Johann Freudenberg ermöglichen sollte, Schritt für Schritt zum Mit- und später auch zum Alleineigentümer seines Unternehmens zu werden. Die Entwicklung zeigt, wie auch schlechte Nachrichten Anlass zu verheißungsvollen Neuanfängen werden können. Diese schlechte Nachricht war für Heintze & Sammet, dem Vorläuferunternehmen von Heintze & Freudenberg, von dem noch ausführlicher die Rede sein wird, der Zusammenbruch des Bankhauses, über das man sich finanzierte.6

Doch bleiben bis dahin noch immer viele Fragen offen: Warum ausgerechnet nimmt die eigentliche Unternehmensgeschichte in Weinheim ihren Ausgang, wenn doch die beruflichen Wurzeln von Carl Johann Freudenberg eigentlich in Mannheim lagen? Wie hat der junge Carl Johann Freudenberg seine Frau Sophie kennengelernt? Und: Was für ein Unternehmen war Heintze & Sammet genau? Warum ging es in der betroffenen Region so viel um Leder? Um diese Fragen beantworten zu können, ist es notwendig, die aufregenden Revolutionswirren noch einmal zu verlassen – und in der Zeit zurück zu springen, zur Vorgeschichte der soeben gegründeten Firma Heintze & Freudenberg.

Warum Weinheim?

Die Geschichte von Freudenberg ist eng mit der Stadt Weinheim und ihrer Tradition im Lederhandwerk verbunden, auch wenn der Anfang in Mannheim gemacht wurde. Denn es war ja ebendort, wo die Kaufleute Heinrich Christian Heintze und Johann Baptist Sammet (1798–1870) am 1. März 1823 ihre Lederhandlung mit Namen Heintze & Sammet gründeten.7 Diese wurde am 4. August 1823 offiziell in die Mannheimer Handlungs-Innung aufgenommen.8

Abb. 4Johann Baptist Sammet (ohne Jahr)

Die Lederfertigung wiederum hatte in der Industrialisierung die »Position einer Schlüsselindustrie« inne. Denn das Leder war in seiner Bedeutung als »Konstruktionsmaterial« dem Eisen vergleichbar. Leder war somit ein wichtiger Werkstoff, der sich wegen seiner besonderen Materialeigenschaften in vielen unterschiedlichen Bereichen einsetzen ließ. Die Gründe: Die gegerbte Haut war sehr elastisch, geschmeidig, wärmeisolierend, zäh und unempfindlich gegenüber Feuchtigkeit, Hitze und Abrieb. Verarbeitet wurde es vor allem zu Kleidung, insbesondere zu Schuhen, aber auch als Sattlerleder, als Leder für Treibriemen, für Dichtungen und darüber hinaus auch als Buchbinder- und Geldbeutelleder.9

Heintze und Sammet gründeten also ihre Lederhandlung in einer Zeit, in der Leder und damit verbunden das Handwerk des Gerbens eine wichtige Rolle spielten. Die Anzahl an handwerklichen Betrieben in der ledererzeugenden Industrie stieg entsprechend bis 1850 in Deutschland deutlich an.10

Heintze & Sammet hatten vor allem mit der Hilfe ihres Handelsnetzes weit über die Grenzen des im Großherzogtum Baden liegenden Mannheim hinaus wirtschaftlichen Erfolg. Deshalb stellte sich den Herren bald die Frage einer Expansion hin zur eigenen Lederfertigung. So sollte die Wertschöpfungskette tiefer werden, und man hätte so eine bessere Kontrolle über die eigenen Waren. Solchen Überlegungen folgten schnell Taten: In den charakteristischen Mannheimer Straßenquadraten bauten sie zunächst 1828, also schon fünf Jahre nach der Gründung, eine eigene kleine Stiefelschaftproduktion auf.11 Hierfür verwendeten sie aber weiterhin zugekauftes Leder. Der Wunsch, das Leder nicht nur selbst zu verarbeiten, sondern fortan auch selbst herzustellen, warf alsbald die Standortfrage auf. Denn was benötigt man für die Herstellung hochwertigen Leders? Das Know-how des Gerbers und die Rohstoffe: Tierfelle, fließendes Wasser von guter Qualität und Gerbstoffe – in diesem Falle Eichenrinde – in ausreichender, sprich großer Menge.12 All dies war in Mannheim nicht verfügbar. So gab es in Mannheim keine Lohmühle, die für die Verarbeitung der Baumrinde zu Gerbstoff notwendig gewesen wäre. Fließendes und sauberes Bachwasser war ebenfalls nicht verfügbar und der Betrieb einer Gerberei an den Mannheimer Flüssen Rhein oder Neckar aufgrund der Gefahr von Überschwemmungen nicht möglich. Zudem hätte die geruchsintensive Lederherstellung gegen die damals geltende Polizeiverordnung der Stadt Mannheim verstoßen, was eine Ansiedlung von Gerbereien in der Stadt ausschloss.13

Abb. 5Die Wasserwerkstatt in der Gerberei im Müllheimer Tal (Werk Müll), 1899

Deshalb suchten die Herren Heintze und Sammet einen Standort für ihre Gerberei außerhalb Mannheims. Diese Standortfrage musste aber noch weitere Faktoren berücksichtigen: Die Fertigung musste verkehrsgünstig zu Mannheim liegen und nach Möglichkeit innerhalb des Großherzogtums Baden, um für den Transport der produzierten Leder ins Handelshaus nach Mannheim keine Zölle entrichten zu müssen. Dort wurden die Leder weiterverkauft.

Zu dieser Zeit war das Großherzogtum Baden Bestandteil des nach dem Ende der napoleonischen Kriege im Jahr 1815 auf dem Wiener Kongress gegründeten Deutschen Bundes. Baden hatte als Rheinbundstaat in den Koalitionskriegen an der Seite Napoleons gestanden und war durch geschicktes Taktieren erheblich gewachsen. Mit Napoleons Ende begann auch in Baden die Zeit der sogenannten Restauration. Aber das Land bekam 1818 auch eine Verfassung, die im Vergleich zu den Verfassungen der anderen Staaten im Deutschen Bund als freiheitlich galt.14

Warum waren Zölle zu beachten? Das heutige Deutschland bestand im 19. Jahrhundert aus vielen kleinen Territorien. Die Wahl des richtigen Standorts war angesichts der jeweils erhobenen Zölle im grenzüberschreitenden Handel also von entscheidender Bedeutung. Das heißt: Geschäftsbeziehungen außerhalb Badens waren zu jener Zeit Auslandsgeschäfte. Das klingt aus heutiger Sicht unvorstellbar, zeigt aber auch, dass große Binnenmärkte ohne Zollgrenzen keine Selbstverständlichkeit sind.15

Im Fall von Heintze & Sammet – und damit der heutigen Freudenberg-Gruppe – und Weinheim jedenfalls haben die Zutaten zur Zeit der Gründung gepasst. Denn Weinheim konnte all diese Ansprüche erfüllen: die Lage im Großherzogtum Baden, die Nähe und gute Anbindung an Mannheim, das Know-how für das Gerben. In der Stadt hatte die Lederherstellung eine jahrhundertelange Tradition. Zudem fand sich hier hochwertiges fließendes Wasser. Und es gab die zur Lederproduktion benötigte Eichenrinde, denn die Stadt liegt in der Nähe der Eichenwälder des Odenwaldes.

Heute ist Weinheim die größte Stadt des Rhein-Neckar-Kreises und der Stammsitz der Freudenberg-Gruppe.16

Exkurs

EXKURS: LEDERHERSTELLUNG

Mit dem Wasser des Weinheimer Flusses Weschnitz und des Grundelbachs haben in Weinheim dauerhaft vor allem die sogenannten Lohgerber gearbeitet. Die »Lohgerber fertigten durch vegetabilische Gerbung mit der sogenannten Lohe (hauptsächlich Eichen-, aber auch Fichten- oder Buchenrinde) Leder für Sättel und Zaumzeug sowie Sohl- und Schuhleder«. Deren Arbeitsweise lässt sich in drei Abschnitte unterteilen: Da ist zunächst die Vorbereitung der Häute in der Wasserwerkstatt, es folgen der eigentliche Gerbprozess und schließlich die Zurichtung der gegerbten Häute. Dieser genaue Blick ist wichtig, um zu verstehen, warum der Zugang zu qualitativ hochwertigem Wasser eine so überragende Bedeutung hat. »Die Rohfelle wurden in einem ersten Schritt in fließendem Wasser gespült, weshalb sich mittelalterliche Lohgerbereien an fließenden Gewässern befanden – wie es in Weinheim der Fall ist, wo der Gerberbach durch das traditionelle Gerberviertel der Stadt fließt und sich auch am Grundelbach einzelne Gerbereien befanden. Nach dem Spülen wurden die Felle auf den Schabebaum oder Gerberbock gelegt und mit den scharfen, geraden Fleischeisen Fleisch- und Fettreste entfernt. Um die Haare zu lösen, wurden die Felle anschließend üblicherweise in den Äscher gelegt. Dabei wurden die Häute in Bottichen mit gebranntem Kalk oder Pottasche eingelegt. Durch das Äschern wurde die obere Epidermisschicht, in der sich die Haarwurzeln befinden, gelöst. Deshalb wurden die Haare mit dem stumpfen, gebogenen Haareisen, auch als Scherdegen bezeichnet, einfach abgeschabt. Anschließend spülte man die Häute nochmals.«17

Wer diese Zeilen liest, einen Moment innehält und sich überlegt, welche Gerüche dabei entstanden sein müssen, dem wird noch heute mulmig im Bauch. »Die Arbeit in der Wasserwerkstatt war [entsprechend] anstrengend: […] Zunächst wurden die Häute in die mit frischem Wasser und Lohe (in der Lohmühle gemahlene Eichenrinde) gefüllten Gerbgruben eingelegt beziehungsweise eingestoßen. Die mit Eichenbohlen ausgekleideten Gerbgruben befanden sich entweder im Erdgeschoss oder hinter der Werkstatt. In bestimmten Zeitabständen wurden die Häute in den Gerbgruben umgeschichtet, um eine gleichmäßige Gerbung aller Häute in den Gruben zu gewährleisten. Nach dem viele Monate dauernden Gerbprozess, [der meist zwischen 15 und 18 Monaten dauerte], spülte man die gegerbten Häute erneut im fließenden Wasser. Danach wurden die Häute zum Abtropfen auf Stangengerüste oder Galerien gehängt und anschließend auf den Trockenboden der Gerberei gebracht. […] Nach dem Trocknen kamen die Leder schließlich in die Zurichtung, wo sie geglättet und gefalzt, d. h. auf eine gleichmäßige Dicke gebracht wurden. Wobei man sich das Falzen der Leder mit einem Falzeisen wie das Hobeln von Holz vorstellen muss. Abschließend bügelte man die Leder, um sie zum Glänzen zu bringen. Diese Prozessschritte der Lederherstellung sind bis in unsere Zeit die gleichen geblieben. Geändert haben sich lediglich die Prozesse und Bearbeitungszeiten.«18

Lange ging es in diesen Strukturen in Weinheim stetig aufwärts: »Aus dem ältesten Grundbuch der Stadt Weinheim vom Jahre 1588 können wir entnehmen, daß im ganzen 16. Jahrhundert das Gerberhandwerk blühte und seine Erzeugnisse nicht allein in der Stadt und ihrer Umgebung, sondern auch auf dem Handelsweg auf ausländischen Märkten absetzen konnte.«19

Antrag auf Erwerb der Gerberei im Jahr 1828

Mit der Entscheidung für den Standort Weinheim wurde von Heintze und Sammet auch der Aufbau einer eigenen Lederfabrikation in dem Ort an der Bergstraße beschlossen. Wer in den Kaufvertrag und das Grundbuch der Stadt Weinheim schaut, erfährt, dass Heintze und Sammet ihre Lederfabrik zunächst im alten, streng der Zunftordnung unterworfenen Gerberviertel einrichten wollten. Ausersehen war das Gerbereianwesen des Rentmeisters Ferdinand Hock. Mit inbegriffen: zweistöckiges Haus, Hof, Scheune und Gerberei.20 Außerdem wollten sie dessen Anteil an der oberen Lohmühle an der Weschnitz erwerben. So weit, so gut. Doch das Problem folgt sogleich: »Zunächst brauchten aber die beiden Handelsleute die Erlaubnis zur Fabrikation von Lederwaren in Weinheim.«21 Was also tun? Zuständig war in diesem Fall das Bezirksamt, das im Namen der Regierung die Aufsicht über die Verwaltung sämtlicher Gemeinden ausübte. Es bildete sowohl die unterste polizeiliche Behörde als auch die erste Instanz der Justiz in allen bürgerlichen Rechtssachen.22

Abb. 87Die Firmenleitung 1969382

Daher schrieben Heintze und Sammet an das Bezirksamt Weinheim ein ausführliches Gesuch, in dem die wirtschaftliche Bedeutung der Lederherstellung deutlich gemacht wurde. Es trägt das Datum des 12. Juli 1828.23 In ihm wurden diverse Gründe genannt, warum ihr Vorhaben genehmigt werden sollte: der Siegeszug der Industrie, die Monopolstellung des Auslandes24 in der Lederbranche, die Arbeitslosigkeit im eigenen Land. Dabei sei es durchaus möglich, verschiedene Lederprodukte, die man bisher aus dem Ausland beziehen müsse, auch selbst zu fertigen. Diese Argumente trug man nicht ohne Substanz vor. Denn man hatte ja Erfahrung, eben aus Mannheim, wo man Stiefelschäfte produzierte, die zuvor aus Straßburg in die Gegend gekommen waren. Das hatte gut funktioniert, offenbar so gut, dass Heintze und Sammet angaben, die fremde Konkurrenz vollständig verdrängt zu haben – und auch selbst schon in verschiedenen Städten des Auslandes größeren Absatz zu erzielen. Um weiter expandieren zu können, hoffte man auf den Zuschlag für die eigene Lederfertigung in Weinheim, dem Ort mit den vielen Standortvorteilen. Allerdings gab es auch einen Nachteil: Anders als Mannheim war Weinheim für Gerber nicht zunftfrei. Das war den Antragstellern natürlich klar. Sie versuchten deshalb vorzubeugen und gaben in vorauseilendem Gehorsam dem Bezirksamt an, in Weinheim kein Leder verkaufen zu wollen.25

In Weinheim hatten also die Zünfte das Sagen. Was aber bedeutete das (Wirtschafts-)Leben in einer Zunftordnung26 konkret? »Eine Zunft ist eine Gemeinschaft berufsgleicher Handwerker, die sich regelmäßig zusammenfanden, ihre Interessen, aber auch Freud und Leid miteinander teilten.«27 Die Zünfte waren dabei vor allem wirtschaftliche Zweckverbände. Ihr Ziel: der Schutz des Handwerks und jedes einzelnen Handwerkers. Sie waren, wenn man so will, die Vorläufer der heutigen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände. Geregelt wurde der Wettbewerb, was auch bedeutete, dass selbst innerhalb der Zünfte darauf geachtet wurde, dass kein Meister allzu erfolgreich werden sollte; Werbung war verboten, Lehrlinge hatten es oft nicht leicht, weshalb zum Ausgleich Gesellenbruderschaften entstanden, die den Zünften ebenfalls missfielen.28 Im Ergebnis hatten die Zünfte gute und schlechte Seiten. Handwerkliche Qualität wurde gesichert, doch das »steife Beharren auf den traditionellen Statuten führte dann schließlich auch zum Niedergang der Zünfte«.29

Leicht hatten es die Handwerker in diesen Zünften schon zu den besseren Zeiten nicht. Denn die Zünfte trugen unter anderem die Hauptlast des Steueraufkommens der Städte. Diese tragende Funktion innerhalb des Gemeinwesens stand aber im »krassen« Missverhältnis zur sozialen Stellung, die die Handwerker einnahmen: Je größer die Bedeutung des städtischen Handwerks wurde, desto drängender wurde auch der Wunsch laut, mitzuentscheiden, mit zu beraten und am Gemeinwohl verantwortlich teilzunehmen. Das führte in der Geschichte der Zünfte immer wieder zu blutigen Zunftkämpfen. Es gab auch zunftfreie Städte, zum Beispiel mit nur einer kurzen Unterbrechung Nürnberg. Doch überall galt, dass über die Jahrhunderte diverse kriegerische Auseinandersetzungen und später vor allem das Aufkommen der modernen Fabrikindustrie den Handwerkern und den Zünften zusetzten: »Dieser Konkurrenz war das Handwerk nicht mehr gewachsen.«30

Festzuhalten ist also, dass die Zünfte allerorten längst unter einem erheblichen Druck standen, als die Herren Heintze und Sammet ihren Vorstoß nach Weinheim wagten. »In Frankreich brachte die Revolution ab 1789 die Liquidierung der alten Zünfte und somit die Gewerbefreiheit, die auch später in den französisch besetzten Gebieten eingeführt wurde. Preußen folgte 1810 mit der Einführung der Gewerbefreiheit und verfügte die Beschränkung einzelner Gewerbe nur aus gesundheits- und sicherheitspolitischen Gründen. […] Das 1825 in Bayern unter König Max I. erlassene Gewerbegesetz bahnte den Übergang vom Konzessionssystem zur Gewerbefreiheit an.«31 Letzteres galt für Bayern, im Großherzogtum Baden wiederum waren die »Weinheimer Gerbermeister […] bis in die 1860er Jahre in der Gerberzunft vereinigt. […] Der Handel mit Leder war für heimische Gerber und für die Auswärtigen geregelt, die nur zu bestimmten Zeiten auf den Weinheimer Jahrmärkten ihr Leder feilbieten durften.«32

Andere machten sich die Zeichen der Zeit zunutze: Zu diesen zählte das Mannheimer Handelsunternehmen Heintze & Sammet.

Wie es dann mit dem Antrag von Heintze & Sammet weiterging, ist ein Lehrstück im Umgang mit Bürokratie in einem inzwischen recht gut funktionierenden Verwaltungsstaat, dem alte Zunftregeln zunehmend zuwider waren.33 Das Bezirksamt wollte erst einmal den Gemeinderat der Stadt Weinheim befragen, der empfand das Ganze wohl als heiße Kartoffel und reagierte erst einmal gar nicht. Dann drohte das Großherzogliche Bezirksamt am 1. August 1828 mit einem Taler Strafe.34 Dies entsprach im süddeutschen Raum in etwa dem Monatslohn eines einfachen Soldaten.35 Hiervon ausgehend ist dies für die Gerber in Weinheim eine spürbare Geldstrafe gewesen. Der Weinheimer Bürgermeister entschied sich, seine Gerberzunft vorzuladen, und diese gab – wenig überraschend – ihre ablehnende Erklärung ab: Die Reichen aus Mannheim wollte man nicht. Denn diese wollten in Weinheim doch sowieso nur noch reicher werden, auf Kosten der ansässigen Gerber. Die Fabrik sei überflüssig, der Lederabsatz ohnehin schlecht. Das sehe man ja daran, dass die Zahl der Gerbermeister schon jetzt zurückgehe. Die freundliche Ausweichempfehlung: Neckargemünd, Heidelberg oder Wiesloch. Dort sei einfach mehr Platz – und Gerber gebe es dort auch.36 Diese Ausführungen waren vor allem eins: Ausdruck der Furcht des ortsansässigen Gerberhandwerks vor der Konkurrenz der industriellen Lederproduktion.

Und der Blick auf die damalige Auseinandersetzung zwischen den auf Neuansiedlung sinnenden Mannheimer Unternehmern und den auf alten Traditionen beharrenden Weinheimer Zünften ist auch aus heutiger Sicht relevant: Denn die Frage, wann es sinnvoll ist, Neuem eine Chance zu geben, stellt sich zu jeder Zeit. Die Gründungsgeschichte von Freudenberg gibt hierauf schon in den allerersten Jahren bis heute gültige Antworten. Ein unumgänglicher, durch technologische Fortschritte befeuerter Wandel lässt sich sowieso nicht durch Regulierung aufhalten, sondern allenfalls steuern. Und gute Ideen, die das Alte verdrängen, können später für alle zu einem großen Gewinn werden – wenn man dem Wandel nur aufgeschlossen genug gegenübersteht. Das galt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und das gilt bis heute.

Der Erwerb der Gerberei im Jahr 1829 und der Eintritt von Carl Johann Freudenberg 1833

So blieb der Kampf der Gerber auch in diesem Fall vergeblich. Am 13. August 1828 genehmigte Bezirksamtmann Becker den Antragstellern Heintze und Sammet ihr Anliegen.37 Einfach aufgeben wollten die Weinheimer Zunftgerber freilich nicht, es gab noch einiges Hin und Her: Denn gegen diesen Beschluss wiederum reichte die Weinheimer Gerberzunft einen Schriftsatz ein. Man hatte sich Hilfe bei einem Rechtsanwalt aus Mannheim gesucht. Dessen wesentliches Argument gegen die Genehmigung war, dass Heintze & Sammet sich letztlich nicht an das Verbot des Lederverkaufs in Weinheim halten würden.38

Doch auch damit drangen die Gerber nicht durch: Am 7. März 1829 genehmigte auch das Großherzogliche Ministerium des Innern das Gesuch. Heinrich Christian Heintze und Johann Baptist Sammet konnten also in Weinheim eine Lederfabrik errichten, nur war ihnen der Einzelabsatz in Weinheim selbst untersagt, was sie zuvor ja ohnehin selbst angeboten hatten. Damit beginnt die Geschichte der ersten Weinheimer Lederfabrik am 7. März 1829.39

Vier Jahre später sollte in das Unternehmen, das diesen Sieg errungen hatte, Carl Johann Freudenberg als Lehrling eintreten. Verwandtschaftliche Beziehungen waren in jenen Zeiten nicht selten überlebensnotwendig, junge Menschen wurden schnell selbständig, mussten sich beweisen, konnten und durften dies aber auch, ganz gewiss im Fall von Carl Johann Freudenberg. Er war erst neun Jahre alt, als sein Vater starb, der es im Leben ebenfalls nicht leicht gehabt hatte. Der frühe Tod des Vaters sorgte dafür, dass Carl Johann schon als junger Teenager auf eigenen Beinen stehen musste. In seinem Fall mit der Hilfe einer Lehre bei seinem Onkel und damit in der Lederhandlung Heintze & Sammet in Mannheim.40

Wie es dazu kam, lässt sich in den Erinnerungen seines Sohns Friedrich Carl nachlesen, die dieser sehr viel später, im Alter von 90 Jahren, im Jahr 1938 aufgeschrieben hat: Schon Carl Johanns Vater Georg Wilhelm Freudenberg (1786–1829) hatte nach dem ebenfalls frühen Tod seines Vaters mit 20 Jahren Verantwortung übernehmen müssen. Sein Erbe war das Gasthaus »Zum Löwen« in Hachenburg, das er fortan betrieb. Doch es war die Zeit des Pauperismus, der frühindustriellen Unterbeschäftigungs- und Armutskrise, und die wirtschaftliche Lage im Land war entsprechend schlecht. Das Gasthaus musste aus finanziellen Gründen Anfang 1829 verkauft werden. Ein radikaler Berufswechsel wurde erforderlich: Georg Wilhelm Freudenberg wurde die Zollerhebungsstelle in Weilburg an der Lahn übertragen. Dort starb er am 9. März 1829. Allein sein Sohn Carl Johann, den er aus Hachenburg mitgenommen hatte, war bei ihm. Für dessen Mutter war es ebenfalls ein harter Schlag. Sie hatte nicht nur ihren Mann verloren, sondern musste nun auch um die wirtschaftliche Existenz ihrer Familie kämpfen. Catharina Elisabeth Freudenberg, eine geborene Reinhardt (1789–1843), verzog mit ihren sechs Kindern mittellos nach Neuwied am Rhein. Denn dort gab es Verwandte, die der Familie das Überleben sicherten.41 Einfach nur Kind konnte man in einer solchen Situation nicht lange bleiben. Carl Johann Freudenberg trat mit 14 Jahren seine Lehre an. Dies war, bezogen auf den protestantischen Hintergrund von Carl Johann Freudenbergs Familie, noch sehr lange übliche Praxis. Denn mit der Konfirmation im Alter von 14 Jahren galten die jungen Leute als vollwertige Gemeindemitglieder – und wurden entsprechend als junge Erwachsene behandelt. Dies bedeutete in der Regel auch das Ende der Schulzeit und das Verlassen des Elternhauses. Wer keinen höheren Bildungsweg einschlagen konnte, was in diesem Falle Carl Johanns älterem Bruder Wilhelm (1817–1901) vorbehalten war, trat eine Lehre an oder musste sich in den Gesindedienst verpflichten. Wo es möglich war, wurden die jungen Erwachsenen bei der Verwandtschaft in die Lehre gegeben.42 In diesem Fall war dies Catharina Elisabeth Freudenbergs Schwester Anna Sammet. Sie war die Ehefrau von Johann Baptist Sammet.

Mit ihrer Hilfe kam Carl Johann Freudenberg in der Unternehmung seines Onkels unter, dem Lederhändler Sammet in Mannheim. Dabei stellte sich der junge Freudenberg nach allem, was man dazu lesen kann, sehr gut an. Denn er erwarb sich das Vertrauen von Sammet und auch von seinem Teilhaber Heinrich Heintze. Später, im Jahr 1844, das zugleich das Jahr seiner Heirat mit Sophie Martenstein war, wurde Freudenberg gleich zu Jahresbeginn sogar stiller Teilhaber des Unternehmens. Einiges Geld hatte Freudenberg schon selbst verdient, das er in das Geschäft einbringen und so 20 Prozent der Anteile an Heintze & Sammet erwerben konnte.

Beruflicher Erfolg, Familiengründung – und die Rettung aus der Insolvenz

Es war ein folgenschwerer Sonntag im Frühjahr 1843 in Mannheim, an dem Carl Johann Freudenberg seine spätere Frau Sophie Martenstein kennenlernen sollte.43 Die beste Quelle für das, was damals geschah, sind die Erinnerungen von Sophie selbst, in denen sie ihr Elternhaus, ihre Kindheit – und auch jene erste Begegnung – beschreibt. Freudenberg wiederum hatte in der Lehre und der Zeit danach Eindruck gemacht sowie Können bewiesen – und recht ordentlich Geld verdient. In dieser Zeit also traf er Sophie:

»Meine Eltern lebten in Worms, mein Vater war ein stattlicher Mann, kräftig, fleißig und zuverläßig, er war sehr geachtet, er war Kaufmann und führte ein Spezereigeschäft [Gewürzhandel] mit Umsicht und Erfolg, meine Mutter war in Worms geboren, ihre Eltern hatten ein Zinngeschäft […]. Ich hatte in meiner Jugend nicht viel Vergnügen, die Mutter oft schwer krank, mein Bruder konnte mir nichts bieten, da durfte ich öfter nach Wiesbaden, und auch nach Mannheim reisen, zur Erholung u. Erfrischung nach der Pflege meiner lieben Mutter […]. In Mannheim durfte ich mitunter auf Besuch, da war eine Familie Krauß, Frau Krauß war die Nichte des Hausfreundes meiner Eltern und sie kam öfter auf Besuch bei ihrem Onkel. Einmal war ich auch im Frühjahr einige Wochen dort, da war Liedertafel, wozu ich mitgenommen wurde, wir kamen durch Zufall zur Familie Sammet u. Reinhardt zu sitzen. Da lernte ich Vater [Carl Johann Freudenberg] kennen, die Gesellschaft brach zusammen auf, u. wir gingen ziemlich weit miteinander nach Haus, am anderen Tag an einem Sonntag kam mein Vater [Friedrich Carl Martenstein] und meine Mutter mich abzuholen, und Nachmittags erschien unerwartet der junge Freudenberg, ich war überrascht, erhielt aber die Erklärung, er käme öfter zu Kraußens, es war eine äußerst lebhafte Unterhaltung, und ich konnte begreifen, daß er nicht so bald sich verabschiedete, da hat er gehört, daß meine Eltern die Erlaubniß gaben, ich dürfe im Sommer noch mal wieder kommen, das hat er sich gemerkt, und als ich wirklich im Juni kam, erschien auch er, meine Mutter war 2 Tage mit mir und wir konnten merken, wo es hinauswollte. Mutter ließ mich da, und nun lernte ich Vater [Carl Johann Freudenberg] kennen, da er öfter Abends erschien, nach längerem Dasein wurde mir klar, daß ich ihn lieb hatte, und als er sich aussprach, sagte ich ja, wenn meine Eltern mit einverstanden sind.«44

Wenn die Eltern einverstanden sind – das bedeutete nicht nur die Prüfung von Herz und Charakter oder gar Aussehen, sondern es ging um wirtschaftliche Fakten, sowohl zur persönlichen Finanzlage als auch zum beruflichen Erfolg. Dazu schreibt Sophie: »Die Überzeugung, einen braven tüchtigen Schwiegersohn zu bekommen, der sich ja 5000 Gulden verdient hatte, bewogen meinen Vater, ihm seine einzige Tochter anzuvertrauen.« Dann aber konnte Hochzeit gefeiert werden: »Der Brautstand bis zu 27. Febr. 1844 war kein langer, alle 14 Tage kam Vater [Carl Johann Freudenberg] nach Worms, doch war es eine schöne glückliche Zeit. Wir feierten eine schöne, große Hochzeit, es waren viele Gäste geladen, Wormser Verwandte, meine Freundinnen, vom Vater [Carl Johann Freudenberg] viele Verwandte in Mannheim, sein Bruder, der auch verlobt war, Heintze u. noch Andere.«45

Es folgten Jahre, in denen eine junge Familie entstand. Zunächst wurden zwei Töchter geboren: Elise (1845–1891) sowie Luise (1846–1847), die allerdings früh starb. Als der Sohn Friedrich Carl (1848–1942) auf die Welt kam, war die Revolution schon ausgebrochen – das Land erlebte Wirren, in denen auch das Bankhaus zusammenbrach, über das man das Geschäft mit Hilfe von Wechseln finanzierte.46 Zum Glück war in dieser Situation Freudenbergs Schwiegervater Friedrich Carl Martenstein zur Stelle. Es war auch Martensteins familiäre Hilfe, die es seinem Schwiegersohn ermöglichte, die Krise als Chance für sich zu nutzen. Dazu schreibt der im Revolutionsjahr geborene Friedrich Carl Freudenberg 90 Jahre später in seinen Erinnerungen:

»Infolge politischer Stürme war die Firma Heintze & Sammet in Zahlungsschwierigkeiten geraten und mußte 1848 liquidieren. […] Da die Liquidation die Trennung der beiden Firmeninhaber notwendig machte, konnte Vater zwischen den beiden Teilhabern wählen. Seine Wahl fiel auf Herrn Heintze. So entstand die Firma Heintze & Freudenberg in Weinheim, welche seit 1849 die kleine Kalbleder-Gerberei übernahm […]. Herr Heintze und sein Sohn Leopold, der etwa 10 Jahre jünger war als mein Vater, siedelten im Jahre 1848 nach Weinheim über, meine Eltern Februar 1849. Wir wohnten zunächst am Marktplatz des damals keine 5000 Seelen zählenden Städtchens […].«47

Auch Sophie Martenstein erinnert sich lebhaft an diese emotional offenbar sehr belastende Zeit in ihrer noch immer recht jungen Ehe. Sie schildert die damals getroffenen Vereinbarungen zur Rettung und Übernahme eines Teils der Geschäfte aus der Insolvenz sehr genau:

»Nach langen Berathungen mit mehreren alten Geschäftsfreunden und vieler Mühe mit den Gläubigern kam denn ein Arrangement zu Stande, worin bestimmt war, allen vielen Vertrauensgläubigern (zu denselben zählte auch mein Vater und mein Bruder) sollte ihr volles Capital werden, wenn sie mit demselben bis zur Rückgabe 3 Jahre ohne Zinsen warten wollten, die Geschäftshäuser hingegen erhielten 60 fl [Badische Gulden] statt 100 fl und nahmen dann ihr Geld in kürzerer Zeit in Empfang, auf diese Weise konnten die angefangenen und in der Gerberei begriffenen Felle ausgearbeitet werden, das alte Geschäft hörte nach und nach ganz auf und ist mit der Liquidation erloschen. […] Durch Einsehen der Herrn erhielt mein Mann, meine beigebrachten 10,000 fl aus der Liquidationsmasse, Herr Heintze mußte mehrere Jahre warten, bis alles geordnet war, ehe er sein Vermögen aus dem alten Geschäft erhalten konnte. Mein Vater war nun so gut, wie er sah, daß alles in Ordnung war und stellte mich dann meinem Bruder im Vermögen gleich, d. h. er gab mir bis zu 30,000 fl Kapital, und dies bildete den Stock des jetzigen Geschäfts, denn von Credit war damals keine Rede, und oft noch mußte Vater [Friedrich Carl Martenstein] noch längere Jahre durch Vorschüße machen, die er natürlich mit Zinsen immer wieder richtig zurück erhielt.«48

Holen wir doch einmal den Taschenrechner heraus, um uns der Summe des in das Unternehmen investierten Vermögens zu nähern: Bezogen auf die uns überlieferten Summen können wir sagen, dass sich das Gesamtvermögen von Carl Johann und Sophie Freudenberg im Jahr 1844 auf 15 000 Gulden belief, wovon 12 000 Gulden ins Unternehmen investiert waren. Nach heutiger Kaufkraft entspräche dies übrigens 275 000 beziehungsweise 220 000 Euro. Aus dem Kapitalkonto von Carl Johann Freudenberg im Hauptbuch von 1848 lässt sich das tatsächlich im Unternehmen Heintze & Sammet investierte Kapital ermitteln. Dort lesen wir: Einlagen von Carl Johann Freudenberg (November 1848): 4 300 Gulden; Einlage von Sophie Freudenberg (November 1848): 10 000 Gulden. Dies ergibt ein Eigenkapital am Unternehmen von 14 300 Gulden (ohne Gewinnanteile).49

Wie hoch das darüber hinausgehende private Vermögen von Carl Johann Freudenberg war, lässt sich nicht mehr ermitteln. Dass er aber über solches verfügt haben muss, zeigt sich mit einem Blick in das Kapitalkonto des Hauptbuches von 1849. Bis zum April 1849 bringt Carl Johann Freudenberg weitere 3 000 Gulden Eigenkapital als Bareinlagen in das frisch gegründete Unternehmen Heintze & Freudenberg ein. Bis zum Juli folgen weitere 3 576,44 Gulden Eigenkapital aus Gewinnanteilen. Ende Juli 1849 verfügt Carl Johann Freudenberg damit über ein Eigenkapital am Unternehmen von 20 876,44 Gulden (umgerechnet rund 495 000 Euro).50 So stellen sich inmitten der Revolution die Weichen für ein Weltunternehmen.

Sophie verfolgte die geschäftliche Entwicklung des Unternehmens ihres Mannes durchaus, aber sie war zugleich auch eine fürsorgende Mutter. Später in ihrem Leben wird sich beides auf eine spannende Weise miteinander vermischen, als sie dafür sorgt, dass auch die Familien ihrer Töchter finanziell am Erfolg des Unternehmens beteiligt bleiben (siehe Exkurs zur Töchterspende). Denn die Familie wuchs schnell. Sophie Freudenberg schrieb dazu selbst: »Am 26. Mai 1850 kam Auguste zur Welt, sie war das 3te lebende Kind, am 8. März 1853 wurde Emilie geboren […]. Am 15. Juli 1854 kam Wilhelm zur Welt. Kurz zuvor, im Frühjahr kam Vaters Schwester Emilie zu meiner Hilfe ins Haus, der Haushalt war in der neuen Wohnung mit dem großen Hof und Garten größer, auch mußte ich oft zur Pflege meiner Mutter nach Worms, da hatte ich Jemand Zuverlässiges nötig. Am 18. März 1856 kam Hermann zur Welt, es war eine schöne Zeit, welche wir mit den Kindern verlebten […].«51

Abb. 15Handkoloriertes Familienfoto,1857. V. l. n. r.: Emilie, Hermann Ernst, Elise, Carl Johann, Sophie, Auguste, Wilhelm und Friedrich Carl Freudenberg

Gerade Hermann Ernst (1856–1923) kommt im weiteren Verlauf der Unternehmensgeschichte noch überragende Bedeutung zu. 1863 sollte mit Sophie Freudenberg, die bis 1938 lebte, noch ein achtes Kind auf die Welt kommen.

Neuanfang am 9. Februar 1849 –Die Gründung von Heintze & Freudenberg

Am 9. Februar 1849 konnte es also losgehen mit der neuen Lederfabrik, die Krise durch Fallierung des Bankhauses im Jahr 1848 war zur Chance geworden. Mit der Gründung der Gerberei Heintze & Freudenberg, die rund 50 Arbeiter beschäftigte, setzt die eigentliche Unternehmensgeschichte ein.52 Die alten Wurzeln aber wurden nicht gekappt, die Geschäftsbeziehungen zwischen Heintze & Freudenberg auf der einen Seite und Johann Baptist Sammet auf der anderen Seite bestanden auch nach der Aufteilung fort. Die Lederhandlung von Sammet in Mannheim wird nachweislich zwischen den Jahren 1849 und 1867 mit Leder aus der Gerberei von Heintze & Freudenberg beliefert.53

Aus der heutigen Sicht lässt sich nur schwer vorstellen, in welchen unruhigen Zeiten Carl Johann Freudenberg und sein Partner Heinrich Christian Heintze ihr soeben neu sortiertes Geschäft erhalten mussten. Mehr Stabilität in Politik und Gesellschaft wäre willkommen gewesen. Für die Aufständischen der Revolution hatte man wohl auch daher wenig Sympathie, was aus Sophies Zeilen stets hervorgeht: »Heintze und der Buchhalter Mansfeld, die ihnen sehr mißliebig waren, flohen in den hessischen Odenwald, und wollten auch Vater [Carl Johann Freudenberg] mitnehmen. Aber er weigerte sich, das Geschäft und seine Familie zu verlassen. Freilich war es nahe daran, daß er wie andere Weinheimer Bürger gefangen gesetzt wurde. Nur die Fürsprache des Metzgers Odenwälder bewahrte ihn davor.«54 Ein Missverständnis konnte hier nämlich leicht zu einem gewichtigen Problem werden, dafür ein Beispiel, das allerdings nicht mit Carl Johann Freudenberg in Verbindung gebracht werden kann: In Weinheim hatte sich ein demokratischer Verein gebildet, der für die Republik eintrat. In diesem Verein waren angesehene Weinheimer Bürger engagiert, es kam zu einem Anschlag auf die Eisenbahn, in der Folge wurde eine große Zahl von Personen, darunter 33 aus Weinheim, unter Anklage gestellt.55

Dazu muss man wissen, dass die Revolution in Baden bis zum Schluss aufregender blieb als an anderen Orten: »Im Mai 1849 riefen die republikanischen Kräfte zu einer Volksversammlung ins badische Offenburg. Unter den vierzigtausend Menschen, die dem Ruf folgten, waren auch viele Soldaten. Die Regierung wurde zum Rücktritt aufgerufen und die baldige Einberufung einer konstituierenden Landesversammlung gefordert. Binnen weniger Tage schlug sich nahezu das gesamte badische Militär auf die Seite der Revolution. In der Nacht vom 13. auf den 14. Mai 1849 floh der Großherzog Leopold aus Baden.«56 Diese badischen Truppen wurden auch in Weinheim einquartiert. »Leopold suchte beim preußischen König Hilfe. Dieser […] setzte im Juni 1849 53 000 Soldaten in Bewegung. Die am 1. Juni ausgerufene Badische Republik wird binnen eines Monats niedergeschlagen.«57 Gerade in Weinheim blieb die Revolution bis zuletzt aufregend: Besonders der Juni 1849 hatte es in sich, die Stadt wechselte in kurzer Zeit mehrfach den Besatzer. Mal waren es aufständische Truppen, mal preußische.58

Zugleich musste kräftig in das Unternehmen investiert werden, und das, während in der eigenen Wohnung nach wie vor Truppen einquartiert waren. So blieben der Schwiegervater in Worms und sein Geld eine wichtige finanzielle Lebensader.

Die junge Mutter Sophie hat das alles sehr beeindruckt: »Die Herren hatten im Sommer [18]49 den ersten großen Bau, wo später das Comptoir war, in der Gerberei, angefangen zu errichten, da kam der Kriegslärm, […] das Bauen wurde eingestellt, bis wieder Ordnung und Ruhe im Lande war. Die Mittel waren sehr klein, manchen Samstag ging ein Bote nach Worms um beim Vater [Friedrich Carl Martenstein] Geld zum Auszahlen zu leihen; daß unter solchen Verhältnissen oft mit großen Sorgen gekämpft wurde ist begreiflich.«59

Abb. 16Gelände der Gerberei im Müllheimer Tal in Weinheim, um 1880

Kapitel 2Aufbaujahre, Innovationen und Wachstum

Vom innovativen Lackleder zur Gründung der Firma Carl Freudenberg

Nach dem Ende der revolutionären Kämpfe in Baden machten Heintze und Freudenberg Bekanntschaft mit dem Gerber Karl Michel und dessen Sohn Eduard, denen für die Anfangsjahre des Unternehmens entscheidende Bedeutung zukam. Denn Eduard Michel (1830–1895)1 brachte zusammen mit seinem Vater eine vielversprechende Technik zur Lackierung von Leder ein, die dem Unternehmen einen steilen Aufschwung ermöglichte.

Sophie Freudenberg schrieb dazu in ihren Erinnerungen:

»Da kam im Herbst 1849 der alte Michel, ein erfahrener Gerber, bot den Herrn an, ihnen die Lackierfabrik einzurichten, ihre Gerbung eigne sich dafür, mit Willen und Unterstützung meines Vaters wurden in der Gerberei Proben gemacht, die befriedigend ausfielen; der junge Michel, 19 Jahre alt, trat ein, er hatte mit seinem Vater in Paris gearbeitet, hatte die Zeichnung der Lackieröfen, und das Rezept des Lackkochens.«2

Der Mut, es mit dem jungen Eduard Michel zu versuchen, sollte sich schnell auszahlen, man konnte so im Jahr 1850 ein neues Produkt, Lackleder, das zur damaligen Zeit sehr gefragt war, auf den Markt bringen. Der Erfolg war gewaltig. Schon nach fünf Jahren machte Lackleder 80 Prozent der Herstellung aus. Das Verfahren wurde immer weiter perfektioniert – und sorgte für die Beschäftigung von 240 Mitarbeitern im Jahr 1855.3 In dieser Zeit, wohl im Jahr 1851, wurde Leopold Heintze (1825–1874), der Sohn von Heinrich Christian Heintze, als Geschäftspartner an der jungen Firma beteiligt.4 Dem Können des späteren Meisters Michel und dem Aufbau der Lacklederproduktion kamen auch die Umstände entgegen. 1851 setzte nicht zuletzt wegen der kalifornischen Goldfunde ein weltumspannender Wirtschaftsaufschwung ein, der der ganzen Zeitperiode, die zur sogenannten Gründerzeit der Jahre 1872 bis 1873 wurde, ihren Namen gab. Die weltweite Nachfrage nach modischem Leder boomte. Um der hohen Nachfrage gerecht zu werden, baute Freudenberg ab 1852 eine Lackierfabrik als zweiten Standort in Weinheim. Das innovative Lackleder trieb auch die Internationalisierung des Unternehmens voran, denn lackiertes Leder war als Modeartikel in ganz Europa begehrt. Ein weltumspannendes Einkaufs- (Rohfellimport) und Vertriebsnetz wurde errichtet: Schon 1850 hatte das Unternehmen in Großbritannien die erste Auslandsniederlassung eröffnet: Leopold Heintze ließ sich in Liverpool nieder, um die Schuhindustrie und den Lederbedarf des Britischen Empire, des damals größten Marktes überhaupt, zu betreuen.5 In rascher Folge wurden dann Handelsbeziehungen auch nach Italien (1851), Skandinavien (1852), Brasilien (1853), Spanien (1854), Russland (1855), Indien (1867) und nach Australien (1868) aufgebaut.6 Geschäftlich lief es kontinuierlich gut. Die Verbindlichkeiten aus Liquidation und Gründungsphase konnten getilgt werden. Zudem wurde im Jahr 1855 die erste Dampfmaschine mit Dampfkessel in der Gerberei zur Lederherstellung eingesetzt und der Betrieb baulich erweitert und damit auch modernisiert.7

Abb. 19Die Lackierfabrik (später Werk Alte Lackierfabrik), um1900

Auch Friedrich Carl Freudenberg erinnerte sich an Eduard Michel und seine schnellen Erfolge:

»Der Erfolg Eduard Michels während seiner ersten 15 Jahre (1849–1864) als Leiter der Lacklederfabrik war außergewöhnlich.«8

Dies kommt auch in Auszeichnungen für das Unternehmen und in einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung zum Ausdruck. Die hochwertigen Lederwaren von Heintze & Freudenberg wurden auf der ersten Weltausstellung 1851 in London präsentiert und mit einer Bronzemedaille prämiert.9 1853 gewann das Unternehmen in New York eine weitere Bronzemedaille, zwei Jahre später in Paris eine Silbermedaille. Die Auszeichnungen hatten großen Einfluss auf die geschäftliche Entwicklung, denn die Preismedaillen konnten als Gütesiegel und damit als Marketinginstrument eingesetzt werden. Bis zur Jahrhundertwende wurden nachweislich sogenannte Lederetiketten10 sowie Prägestempel, Anzeigen und Plakate als Werbemittel verwendet – das Unternehmen zog alle Register. Die Werbung wirkte, die Auszeichnungen trugen somit auch erheblich zum geschäftlichen Erfolg bei – 1852, ein Jahr nach der ersten Londoner Industrieausstellung, wiesen die Geschäftsbücher eine Umsatzsteigerung von fast 34 Prozent aus. Nach der Auszeichnung von New York stieg der Umsatz im Jahr 1854 um mehr als 43 Prozent, während es 1856 nach der Weltausstellung von Paris zu einem Umsatzanstieg von fast 22 Prozent kam. Die Mitarbeiterzahl stieg weiter auf 320 im Jahr 1856 und auf 420 im Jahr 1865. Der Umsatz verneunfachte sich – bezogen auf das Gründungsjahr – fast in derselben Zeitspanne auf knapp 800 000 Badische Gulden (1856) und erreichte bis 1864 mit 926 176 Gulden schon fast die Millionengrenze.11

Trotz des wirtschaftlichen Erfolgs des Unternehmens gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen den Partnern Heintze und Freudenberg schwierig. Obwohl Leopold Heintze seinem Partner Carl Johann Freudenberg im Alter näher stand als sein Vater und sogar mit ihm befreundet war, ließ sich die Zusammenarbeit nicht gut an. Vater und Sohn Heintze waren Freimaurer und vertraten liberale Ansichten. Das führte zu Konflikten mit dem deutlich konservativeren Partner. Da der ältere Heintze einen Logenbruder als Prokuristen mit dem Namen Otto Sexauer eingestellt hatte, bildeten sich zwei Parteien in der Firma. Die Gerberei – in der das Leder bis vor der Zurichtung hergestellt wurde – unterstand den Heintzes, die Lackierfabrik Carl Freudenberg, der aber den Lackiermeister Eduard Michel frei walten ließ.12

Abb. 20Lederetikette der Firma Carl Freudenberg um 1900 mit den Preismedaillen der Weltausstellungen bis 1867

Die Beziehung der Partner Heintze und Freudenberg wurde nach dem Tod von Heinrich Christian Heintze 1862 beziehungsweise bereits nach dessen Austritt aus dem Unternehmen im Oktober 1860 immer schlechter. Darauf hatten verschiedene Faktoren Einfluss: Die gegensätzlichen politischen Ansichten wurden schon erwähnt. Zudem liefen die Geschäfte 1865 auch aufgrund zunehmender technischer Probleme in der Lackierfabrik nicht mehr besonders gut. Das Bankhaus Rothschild in Frankfurt wollte – vielleicht aus diesem Grund, vielleicht aber auch vor dem Hintergrund des heraufziehenden Krieges des Jahres 186613 – die Verbindung mit Heintze & Freudenberg beenden, was zwar verhindert wurde, aber die Abhängigkeit von anderen Geldgebern erhöhte, zu denen auch Eduard Michel zählte. Michel aber verstand sich mit dem Vertreter und Vertrauten Heintzes, Otto Sexauer, überhaupt nicht gut. Michel war der Chef der Lackierfabrik; Sexauer der Chef der Gerberei, jedenfalls dann, wenn er da war. Denn er vertrug das Weinheimer Klima nicht. Zudem war er kein Fachmann. Hinzu kam, dass die Söhne von Heintze erheblich jünger waren als die von Freudenberg – und in der Summe ergab sich einiger Widerstand Heintzes gegen den Eintritt von Friedrich Carl Freudenberg in die Firma.14

Friedrich Carl Freudenberg war mit 14 Jahren nach Koblenz zu seinem Onkel geschickt worden, um dort eine »preußische« Schule zu besuchen. Die Erwartungen des Vaters waren stets hoch, seine Leistungen zunächst nicht befriedigend. Anschließend kam er nach Karlsruhe aufs Gymnasium und später auf die polytechnische Hochschule, wo er ein dreijähriges Studium der Volkswirtschaft und der Chemie absolvierte, was sein Vater als Vorbereitung auf seine zukünftige Arbeit im Unternehmen wünschte. In den Semesterferien und nach dem Studienabschluss wurde er zur praktischen Arbeit in verschiedene Gerbereien in Deutschland, im Elsass15 und in Dänemark geschickt.16

Abb. 21Friedrich Carl Freudenberg, 1895

Schließlich ergab es sich, dass sich Carl Johann Freudenberg, ohne Heintze zu beteiligen, entschloss, im östlich von Heidelberg gelegenen Ort Schönau 1869 eine zweite Gerberei zu errichten, deren Leitung er dann seinem Sohn Friedrich Carl übertrug.17 Dort kaufte Carl Johann Freudenberg in jenem Jahr einen stillstehenden Sensenhammer18. Dessen Standort erfüllte auch die notwendigen Bedingungen für den Betrieb einer Gerberei: gutes Wasser, Wasserkraft, Nähe zu den für die Gerbung benötigten Rinden. Obendrein war der Kaufpreis attraktiv.19 Das Werk wurde schließlich vom 1. Juli 1869 an – gegen seinen Willen und nur auf Wunsch des Vaters – von Friedrich Carl Freudenberg geleitet.20 Mit fünf Arbeitern wurden lohgare Kalbfelle gegerbt.21 Später kamen noch Pferdehäute hinzu.22

Wichtig ist dabei zu wissen, dass das Werk in Schönau, obwohl von einem Freudenberg geleitet, kein Teil der Weinheimer Unternehmung war. Und weil zwei verschiedene Gerbereien nicht gleiche Ware liefern, wurde das Leder aus Schönau entweder ungestempelt oder mit dem Stempel F. W. B. (Freudenberg, Weinheim/Bergstraße) verkauft, während das Leder aus Weinheim als Fabrikat von Heintze & Freudenberg gekennzeichnet wurde.23

Der erste nachweisbare Gesellschaftsvertrag der Firma Heintze & Freudenberg datiert übrigens ebenfalls aus dem Jahr 1869, eben dem Schönauer Gründungsjahr. Doch ist dieser Vertrag Ausdruck von Zerrüttungserscheinungen: Denn nach der Errichtung der Gerberei in Schönau vereinbarten Leopold Heintze und Carl Johann Freudenberg zunächst die Auflösung des Gesellschaftsvertrags. Heintze zog einen Teil seiner Guthaben aus der Firma ab, so dass Freudenberg große Bankkredite aufnehmen musste. Da sich die Partner dann aber die wirtschaftlichen Schwierigkeiten einer Liquidation vor Augen hielten, einigten sie sich schließlich doch auf den Vertrag aus dem Jahr 1869 – mit einer Laufzeit von fünf Jahren.24

Im Jahr 1874, kurz vor dem Auslaufen dieses Vertrags (und bevor ein schon verhandelter, neuer Kontrakt in Kraft treten konnte), starb Leopold Heintze.25 Daraufhin ließen sich die Hinterbliebenen ihre Einlagen auszahlen. Die Auszahlung erfolgte gemäß dem gültigen Vertrag, der eine entsprechende Erbregelung vorsah.26 Da Leopold Heintze bei Unterzeichnung des Vertrags bereits an Tuberkulose erkrankt war, ist es sehr wahrscheinlich, dass er gezielt eine solche Abfindungsregel zur Absicherung seiner Familie in den Vertrag aufnahm.

Wenn man das Gesamtbild betrachtet, wurde durch die Etablierung des Werks in Schönau die Auflösung des Gesellschaftsvertrags durch die Freudenbergs mindestens billigend in Kauf genommen. Allerdings geschah dies zu einem nicht geringen Preis, sowohl emotional als auch finanziell. So war zwar durchaus Nachfrage für die Produkte aus Schönau vorhanden, um die Fabrik wachsen zu lassen: Schon im Jahr 1870 waren 22 Arbeiter in der Lederfabrik tätig.27 Doch das Unterfangen blieb über mehrere Jahre hinweg verlustträchtig. 1873 wurde zwar ein erster kleiner Gewinn von 5 Prozent erzielt, bis 1881 wurde aber zumeist mit Unterdeckungen in den Bilanzen, also mit Verlust, gearbeitet. Erst nach 1881 begann die Gerberei rentabel, sprich mit Gewinn, zu arbeiten.28

Das Unternehmen gelangte somit 1874 in den alleinigen Besitz von Carl Johann Freudenberg. Die Firma wurde in Carl Freudenberg umbenannt. Die Schönauer Gerberei wurde in das neu gegründete Unternehmen Carl Freudenberg integriert. Dennoch werden die Leder aus Weinheim und Schönau weiterhin unterschiedlich gestempelt, um Unterschiede in der Qualität anzuzeigen.29 Auch die grundsätzlich schwierige wirtschaftliche Lage von Schönau blieb. Hermann Ernst Freudenberg war es letztlich, der seinem Bruder Friedrich Carl half, die Dinge wieder in die richtige Richtung zu lenken.

Abb. 22Das Wappen der Gerberei Carl Freudenberg von 1874. Es zeigt die Handwerksgeräte des Gerbers: ein Falzeisen, ein Fleischeisen und ein Haareisen zum Bearbeiten der Felle. Die Geräte sind von zwei Löwen flankiert, die zusammen mit der Krone den Führungsanspruch symbolisieren

Wie erwähnt gab es ab 1865 zunehmend technische Probleme bei der Lacklederproduktion, die zu Qualitätseinbußen führten. Eduard Michel, der Leiter der Lackierfabrik, war nicht in der Lage, diese in den Griff zu bekommen. Die Bereitung des Lackleders war durchaus kompliziert. Es handelt sich dabei um einen chemischen Vorgang der abgestuften Verharzung erwärmten Leinöls unter Mitwirkung von Sauerstoff in Gegenwart von Metalloxyden sowie Ruß zur Schwärzung. »Die wichtigste Fehlerquelle besteht in der Übertragung eines im kleinen Maßstabe ausgearbeiteten Prozesses in größere Dimensionen. Verhältnis des Gefäßinhalts zur Oberfläche, Wärmewirtschaft, Zeitabläufe, Durchmischung, Berührung mit der Luft und anderes verändern sich von Grund aus. Dem war Eduard Michel nicht gewachsen.«30 Und weiter:

»Bei der Lacklederbereitung ist die Grundierung mit Leinöl sehr wichtig, aber Michel konnte sich nicht von den schmutzigen alten Grundresten trennen [d. h. den noch im Ofen von den vorigen Chargen her sitzenden verschmorten Resten], ›das gute Öl, das noch darinnen steckt‹. Er wärmte also den Dreck immer wieder auf und setzte frischgekochtes Leinöl zu, anstatt reinlich zu verfahren. Das geschah jahrelang. Ferner darf niemals die grundierte Fläche in der Hitze getrocknet werden. Jahrelang wurden die Felle im ersten Grund an der Luft getrocknet. Die Speicher reichten bei dem vergrößerten Betrieb bald nicht mehr aus, also hing er die grundierten Felle in heiße Trockenstuben und den Lack kochte er rasch in hohen zylindrischen Kesseln bei ungenügendem Luftzutritt und verkohlte ihn. Die besten Bestandteile des Leinöls zogen als Wolken stinkenden Qualmes über Weinheim hin.«31

Abb. 23Auf dem Tafelacker nahe der Alten Lackierfabrik wurden die frisch lackierten Leder auf Holztafeln aufgespannt und bei gutem Wetter an der Luft getrocknet, 1899

Friedrich Carl Freudenberg erinnert sich an die Wende zum Schlechteren, denn zum technischen Unvermögen kamen auch noch menschliche Führungsschwächen hinzu:

»Aber die dann folgenden 20 Jahre seines Wirkens (1865–1884) brachten einen Mißerfolg nach dem anderen. Wie ist diese Tragik des Mannes zu erklären? […] Trotz der Schwierigkeiten, die Michel insbesondere später verursachte, sind wir seinem Andenken Dank schuldig. Diesem Gefühl entsprang die fast väterliche Zuneigung unseres Vaters zu ihm. Der Kern des Mannes muß besser gewesen sein als die Schale, sonst wäre das freundschaftliche Verhältnis zu Freudenberg unerklärlich. Aber diese Schale war furchtbar rauh. Mit den Arbeitern verkehrte er wie mit Sklaven und das trotz der Einsprache seines Prinzipals [Carl Johann Freudenberg], dessen gütigem Wesen, als eines Mannes, der in seiner Jugend die Bitterkeit der Armut selbst erfahren hatte, jede Härte und Lieblosigkeit ganz entgegengesetzt war.«32

In dieser 1865 beginnenden zweiten Hälfte der Arbeit Michels für Freudenberg änderten sich auch die politischen Verhältnisse sehr. Aus dem Deutschen Bund wurde unter der Führung Otto von Bismarcks 1871 das Deutsche Reich. Daraus ergab sich erstmals ein einheitlicher deutscher Markt. Die Industrialisierung schritt voran. In der Unternehmensspitze von Freudenberg aber knirschte es. Hier der herrische Michel, auf der anderen Seite der Patriarch Carl Johann Freudenberg, der von seinen Mitarbeitern für sein fürsorgliches Wesen geschätzt wurde. Die Firma geriet in Schwierigkeiten; die wirtschaftliche Lage im Reich verschlechterte sich durch den sogenannten Gründerkrach von 1873, der eine Rezession – die sogenannte Gründerkrise – auslöste, die bis 1879 anhielt.33 Darüber hinaus verschlechterte sich auch die Qualität der eigenen Produkte.34

Auch aus dem Bau der Fabrik in Schönau und anderen Bauvorhaben ergeben sich schnell weitere Konflikte, die zu einem nicht geringen Teil abermals mit der Art von Michel zusammenhängen, auch daran erinnerte sich Friedrich Carl später lebhaft: »Ich frage mich, woher Michel seine zweifellosen bautechnischen Kenntnisse hatte, wenn er auch von Statik nichts verstand. […] Bauleidenschaft hat Michel verleitet, bei der Herrichtung der Schönauer Fabrik eine heillose Verschwendung zu treiben. Auch Vaters Wohnhaus hat er mit einer kostspieligen Sandsteinarchitektur versehen. Obendrein hat er es 20 Jahre lang verstanden, sich Vorteile aus Liegenschaften und Material der Firma zu verschaffen und die Arbeiter nebenher zu benutzen. Mein Bruder Hermann bezeichnete dieses Verfahren mit dem Spottwort ›er michelte‹.«35

Hermann Ernst Freudenberg hatte seine Lehr- und Wanderjahre in den Vereinigten Staaten verbracht und kehrte schließlich, vor allem auf dringende Bitten von Friedrich Carl36, 1876 nach Deutschland zurück:

Abb. 24Hermann Ernst Freudenberg, 1879