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Es wird unter den Menschen keinen Frieden geben, wenn wir als Menschheit nicht Frieden schließen mit der Natur. Zu diesem Frieden gibt es viele Wege, und einige davon möchten die Autoren dieser 19 sehr unterschiedlichen Beiträge aufzeigen. Diese Wege führen zwangsläufig hinaus aus unserer anthropozentrischen Weltsicht und Gemütsverfassung. Die Natur ist nicht nur eitel Sonnenschein und laue Lüfte. Die Leser dieses Buches sind aufgefordert und herausgefordert, sich peitschenden Winden, kalten Regenschauern und eisigen Höhen auszusetzen. Aber am Ende warten neue Horizonte, aufregende Gedanken und hoffentlich die Besinnung auf die jedem von uns innewohnende Weisheit.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 268
Veröffentlichungsjahr: 2024
Laura Spies, Andreas Lentz (Hrsg.)
Es gibt heute unbedingt viele gute Gründe, das weibliche Geschlecht wieder besser sichtbar zu machen. Dies ist seit mehr als 40 Jahren auch Anliegen unseres Verlages. Ob dies durch Gendern erreicht wird, darf man jedoch hinterfragen, immerhin geht es um unsere Muttersprache. Sicher ist, dass der grammatische Genus nichts über das Geschlecht (Sexus) aussagt. Deswegen halten wir uns als Verlag beim Gendern bewusst zurück. Ausführliche Begründung dazu unter www.neue-erde.de/derdiedas
Laura Spies & Andreas LentzHrsg.
19 Annäherungen
Sonderausgabe zum40-jährigen Bestehen desVerlages NEUE ERDE
Bücher haben feste Preise.
1. Auflage 2024
Laura Spies und Andreas Lentz (Herausgeber)
Frieden mit der Natur
© Neue Erde GmbH 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlag:
Foto: Denis Belitsky/shutterstock.com
Gestaltung: Laura Spies und Dragon Design GB
Satz und Gestaltung:
Dragon Design, GB
eISBN 978-3-89060-496-1
ISBN 978-3-89060-853-2
Neue Erde GmbH
Cecilienstr. 29 · 66111 Saarbrücken
Deutschland · Planet Erde
www.neue-erde.de
Wir danken allen beteiligten Autoren für die eigens verfassten Aufsätze, die honorarfrei zur Verfügung gestellt wurden, was maßgeblich dazu beigetragen hat, das Buch zu diesem günstigen Sonderpreis anbieten zu können.
Wir danken den ungezählten Inspirationsquellen, die diesen vielfältigen Strauß von inspirierenden Gedanken ermöglicht haben, seien es gedruckte Bücher oder die vielgestaltigen Wesen der Natur.
Wir danken der Erde und dem Leben, das sie trägt, für unser Dasein.
Eine Einladung
Laura Spies
40 Jahre für eine neue Erde
Andreas Lentz
Eine neue Erdkultur
Matthias Blaß
Ein Fels erzählt
Coco Burckhardt
Von Verwaltern des Lebens zu Lebensaktivisten
Fabiana Fondevila
Bäume als Freunde und Helfer
Jenny Garrison
Artenvielfalt und Verzauberung
Fred Hageneder
Die Erde, unser Zuhause
Tanis Helliwell
Die Wiederentdeckung des Heiligen: liebend für die Erde sorgen
Waltraud Hönes
Frieden mit der Natur schließen
Derrick Jensen
Instandsetzen, Wiederherstellen, Wiedervereinen
Lierre Keith
Frieden mit der Natur
Satish Kumar
Der Kreis auf dem Berggipfel
Elizabeth E. Meacham
Wie persönlich ist die Natur?
Marko Pogačnik
Was uns die Wildnis lehrt
Mary Reynolds Thompson
Manifest der Neuen Erde
Catharina Roland
Frieden mit der Erde schließen
Dr. Vandana Shiva
Ein Ort der Zugehörigkeit
Llewellyn Vaughan-Lee
Ein ganzheitlicher Weg zur persönlichen und planetarischen Traumaheilung
Jack Adam Weber
In Liebe mit der Schöpfung
Andrea Wichterich
Frieden mit der weiblichen Natur
Anna Zemann
ANHANG
Ausgewählte Beiträge aus der Ausgabe von 1984
Einleitung
Andreas Lentz
Überlegungen in Sachen Einheit des menschlichen Wissens
Vine Deloria
Philosophie ist Erfahrung
Dolores LaChapelle
Die Poesie der Naturphilosophie
Gary Snyder
Neue Naturphilosophie
Andreas Lentz
Zeitdokument: Erfinderische Zwerge
Anton-Andreas Guha
Liebe Leserin, lieber Leser,
in einer Welt, in der Kriege aller Art die Schlagzeilen dominieren, findet der größte Kampf oft unbemerkt statt: der Krieg gegen die Natur. Die Menschheit hat sich in einer blinden Jagd nach Fortschritt, Macht und Reichtum verloren. Wir erleben weltweit eine zunehmende Flucht in Drogen und Ablenkungen. Die Überlastung durch den modernen Lebensstil, die ständige Reizüberflutung und der Leistungsdruck führen dazu, dass wir uns häufig abwenden – nicht nur von der Natur, sondern auch von uns selbst. Diese Entfremdung von unserer eigenen inneren Natur verstärkt die Kluft zwischen Mensch und Erde.
Wir haben uns von der Natur abgekoppelt und sie in viele Teile zerlegt, die es zu manipulieren und zu nutzen gilt. Diese Sichtweise hat zu einem rücksichtslosen Umgang mit unserem Planeten geführt – zur Übernutzung, Verschmutzung und Vernachlässigung. Die verheerenden Auswirkungen auf unseren Planeten wie Klimaveränderungen, Artensterben und Umweltkatastrophen sind direkte Folgen dieser dysfunktionalen Beziehung zwischen Mensch und Natur.
Dabei haben wir vergessen, dass wir ein untrennbarer Teil dieses natürlichen Gefüges sind. Jeder Fluss, jedes Tier und jeder Stein, sie alle haben einen wertvollen Platz inne. Und sie alle erhalten beständig, was sie zur Existenz brauchen: saubere Luft, Wasser und ein in sich funktionierendes Ökosystem. Wir sollten diese Gaben schätzen und verantwortungsbewusst mit ihnen umgehen, um sie für künftige Generationen zu bewahren.
Es geht darum, die Natur nicht nur als Ressource zu betrachten, sondern als einen lebendigen Organismus, von dem wir Teil sind und in vielfältigen symbiotischen Beziehungen mit seinen anderen Teilen stehen.
Seit nunmehr 40 Jahren setzt sich der Verlag Neue Erde mit Leidenschaft und Engagement für den Frieden mit der Natur ein. Er bietet eine Plattform für Menschen, die sich intensiv mit naturbezogenen Themen auseinandersetzen. Unterschiedlichste Sichtweisen kommen hier zusammen, doch eines eint sie: das Erkennen der Erde als ein lebendiges Wesen.
Dieses Buch vertritt 19 Stimmen, die sich dem Frieden mit der Natur auf ihre individuelle Weise nähern. Die Beiträge sind mehr als bloße Gedanken, sie sind eine Einladung: eine Einladung nicht nur zur Wiederentdeckung der Natur als etwas außerhalb von uns selbst, sondern auch zu einer Wiederentdeckung unserer uns innewohnenden Menschlichkeit und unserer Verbundenheit mit allem Lebendigen; eine Einladung zu einem Wandel vom anthropozentrischen zum ökozentrischen Weltbild.
Wir möchten dazu aufrufen, die Entfremdung zwischen Mensch und Natur zu überwinden und eine neue, respektvolle und liebevolle Beziehung aufzubauen.
Wahrer »Frieden« bedeutet nicht einfach nur die Abwesenheit von Konflikten; Frieden bedeutet, im Einklang miteinander zu existieren, sei es zwischen Einzelnen, zwischen Gemeinschaften oder zwischen Mutter Erde und Mensch.
Möge dieses Buch uns zu den Wurzeln unseres Menschseins führen und uns helfen, in Harmonie mit den natürlichen Kreisläufen zu leben, anstatt sie zu (zer-)stören. Möge es als kraftvolles Werkzeug dienen, um Bewusstsein zu schaffen und positive Veränderungen in der Welt zu fördern.
Laura Spies im Dezember 2023
und für einen erneuten Friedensschluss zwischen Mensch und Natur
Als ich 1984 mit Neue Erde als Verleger neu anfing, sah die Welt noch ganz anders aus, keine Frage. Und doch: Vieles, was uns heute als globale Probleme auf die Füße fällt, war auch damals schon absehbar und wurde thematisiert: Ausbeutung der Dritten Welt, Umweltverschmutzung, Hochrüstung und Grenzen des Wachstums. Und nicht nur das: Es wurden grundsätzliche Fragen gestellt zu unseren Narrativen und Paradigmen, nicht zuletzt angestoßen durch Indigene und Weise aus dem Osten.
Es war eine Zeit, in der vieles heraufbrodelte, was lange unter dem Deckmantel des Fortschritts und der Zivilisation zurückgehalten wurde.
Schon seit mir als Kind meine kleine Wildnis vor der Haustür genommen worden war und ich mich lesend in die Welt der Indianer flüchtete, fühlte ich mich fremd in einer Menschenwelt, die so wenig Sinn für die Natur hatte und keine Verbindung mit ihr empfand. Freunde fand ich in Büchern, hier sprachen Geistverwandte zu mir. Und so war es ein logischer Schritt, auf diesem Wege – über Bücher – nach solchen Freunden Ausschau zu halten und damit zugleich meinen Geistverwandten Bestätigung und Ermutigung zu vermitteln.
Die Gelegenheit fand sich, als ich Reiner Stelzer und seinen Release-Verlag kennenlernte, in den ich mich bald einbrachte, damals mit dem Buch »Der Papalagi«, das ein heimlicher Bestseller war, und in verschiedenen Ausgaben (unter anderem bei Werner Piepers »Grüner Kraft«) kursierte. Es war auch die Zeit der Raubdrucke: Das Tibetische Totenbuch, Wilhelm Reich, Carlos Castaneda und Timothy Leary waren einige der Titel und Autoren, die hier aus der Subkultur auftauchten.
Das war Anfang der 70er-Jahre, und in der Zeit entdeckte ich die amerikanische Ausgabe von »The Praying Flute«, in der ich mich wiederfand und die ich 1975 auf deutsch herausbrachte im Mutter Erde-Verlag, damals mit freundschaftlicher Unterstützung von Wolfgang Jünemanns »Middle Earth«.
Es folgten eine Reihe weiterer Titel und die Kalender »Indianerleben«, mit denen ich die indigene Weltsicht verbreiten wollte, und ich entdeckte Herman Wirth für mich, über den ich die bei uns heimische erdverbundene Urkultur wiederfand. So gab es 1980 in Frankfurt eine gut besuchte Veranstaltung mit dem Ureuropäer Herman Wirth, dem aus dem Schwabenland stammenden Schwarzfuß-Medizinmann Adolf Hungry Wolf und dem afrikanischen Medizinmann Okonfo Kawawa (Rashid Omoniyi).
Der Mutter Erde-Verlag hatte mit seinen Büchern aber nicht den erhofften Erfolg, so dass ich 1982 Konkurs anmelden musste. Jedoch ließ mich das Bücherverlegen nicht los, und so begann ich 1984 mit ein paar kleinen Büchern; und die ISBN 001 – das erste Buch also – trug der schmale Band »Frieden mit der Natur«.
Einige der damals in diesen Sammelband aufgenommenen Beiträge finden Sie als Reminiszenz hinten in diesem Buch. Aber ich darf mit einem gewissen Stolz und in großer Demut sagen, dass durch mein verlegerisches Wirken ein ganzes Netz von Beziehungen entstanden ist von Menschen, die bei aller Verschiedenheit an einer »Neuen Erde« mitarbeiten, die nur durch einen Friedensschluss mit der Natur Gestalt annehmen kann: das heißt mit dem ganzen Lebensnetz und allen Geschöpfen.
So finden Sie in diesem Buch 19 aktuelle Beiträge von Autorinnen und Autoren, die auf je ganz eigene Art ihre Gedanken ausbreiten und Sie teilhaben lassen. Und wenn sie mit dazu beitragen, Freunde und Geistverwandte zusammenzubringen und Sie auf den Weg des Herzens zu einem Frieden mit der Natur zu geleiten, dann erfüllt sich der Sinn meines verlegerischen Wirkens.
Andreas Lentz im Oktober 2023
Andreas Lentz, der Verleger des Verlags Neue Erde, hat mit seinem Engagement für Bücher, die seit nun 40 Jahren erscheinen, einen bedeutenden Beitrag geleistet. Er setzt sich für eine erdverbundene und lebensbejahende Lebensweise ein, insbesondere in den Bereichen Natur, Gesundheit und Spiritualität. Durch Bücher wie Spirituelle Ökologie zeigt er, dass Spiritualität nicht im Gegensatz zum Materiellen steht, sondern beide untrennbar miteinander verbunden sind. Sein Engagement für den unabhängigen Buchhandel und seine klaren Entscheidungen zeugen von seiner Standhaftigkeit. Andreas Lentz kämpft unermüdlich für Mutter Erde und eine lebenswerte Zukunft.
www.neueerde.de
Matthias Blaß
Was geschieht, wenn wir anderen Menschen mit Respektlosigkeit, gar Gewalt begegnen? Womöglich noch über einen längeren Zeitraum hinweg? Nun, dann werden sich diese Menschen wohl zur Wehr setzen, und sollten sie es vermeiden, werden sie anderweitige Verhaltensauffälligkeiten ausbilden. Niemand wundert sich ernsthaft über die Folgen, wenn Beziehungen grundlegend gestört sind.
Bis heute scheinen aber viele zu glauben, solche Beziehungsmuster gäbe es nur im zwischenmenschlichen Bereich. Jedenfalls ist für moderne Kulturen die Überzeugung kennzeichnend, dass die Regeln des Zusammenlebens nur unter Menschen gelten. Denn die übrigen Wesen der Erde werden in diesem Weltbild nicht als relevante Partner für Beziehungen anerkannt. Eben dies hat es uns ja erlaubt, willkürlich mit ihnen zu verfahren. Unsere Beziehungslosigkeit gegenüber der Erde führte zu Teilnahmslosigkeit und die wiederum zu Respektlosigkeit bis hin zur Gewalt.
Doch welche Überraschung: Wie sonderbar sich die Erde, die wir einst unsere Mutter nannten, auf einmal benimmt! Ja, eigentlich hatten wir von der Klimakrise, dem Artensterben und dergleichen schon lange gehört, aber durch Hitzerekorde vor der eigenen Haustür, Dürren, Waldbrände und Überschwemmungen erfahren wir die Krise jetzt am eigenen Leib. Während die Einschläge näherkommen, gestehen wir Modernen uns etwas Unerhörtes ein: Wir waren das. Jahrhunderte lang haben wir die Erde so übel behandelt, dass sie aus dem Gleichgewicht geraten ist. Jetzt schlägt – wie wir einst gesagt hätten – unsere erzürnte Mutter zurück. Ihre Kinder weiter versorgend, weiß sie sich nicht mehr anders zu helfen, als die eigenen Sprösslinge zu ohrfeigen.
Betreten, ratlos, aber einigermaßen aufgewacht stehen wir da. Die markerschütternden Hilferufe der Erde fordern dazu auf, unser Weltbild gründlich in Frage zu stellen. Ohne es zu wollen, hat die moderne Wissenschaft, Technik und Wirtschaftsweise den Beweis erbracht, dass die proklamierte Trennung von Mensch und Natur eine gefährliche Illusion war. Wie die Folgen belegen, dürfen wir auf die Pflege unserer außermenschlichen Beziehungen nicht verzichten. Denn das gesamte Netzwerk der Erde ist es, das Lebendigkeit hervorbringt – unsere eigene natürlich eingeschlossen.
Im Grunde hatten wir uns die Natur wie ein regloses Bühnenbild vorgestellt, vor dem sich das eigentliche Leben abspielt: die Dramen der menschlichen Geschichten und Geschichte. Da die natürliche Welt aber verhaltensauffällig wurde, kommt es uns nun gruseligerweise so vor, als würde sich das Bühnenbild plötzlich bewegen. Die Requisiten von gestern werden zu tonangebenden Akteuren von heute, die uns im Kostüm von Naturgewalten wissen lassen, dass sie mitspielen wollen. Das liefert den Stoff für den letzten Akt dieses lehrreichen Dramas: Die leichtsinnigen Kinder erkennen, wie lebenswichtig die Beziehung zu ihrer erzürnten Mutter ist. Zu guter Letzt zeigen sie Reue und versöhnen sich.
Bis zur Versöhnung werden wir an unserer Naturbeziehung aber noch arbeiten müssen. Die Voraussetzungen scheinen günstig zu sein, denn die Erde macht nicht nur durch die ökologische Krise auf sich aufmerksam, sondern lockt auch immer mehr Menschen zu sich ins Freie hinaus. Ob es ihnen nun mehr um die belebende Bewegung beim Wandern, schlichte Erholung beim Spazierengehen oder um Gesundheit und inneren Frieden beim Waldbaden geht – all diese Menschen spüren instinktiv, dass die Natur ihren Leib und ihre Seele auf eine Weise nährt, die sie in der modernen Lebensweise vermissen. Naturbesucher lieben ihre Gastgeberin, weil sie sich bei ihr wie von Zauberhand wohlfühlen, ohne dafür etwas erbringen zu müssen.
Doch obwohl die Begeisterung für die Natur zunimmt, bleibt sie uns weiterhin fremd. Wir Spätmodernen sind wie schmachtende Liebhaber, die ihre Angebetete nicht kennen, weshalb unsere Annäherungsversuche eher an den Archetyp der fernen Geliebten als an den der Mutter erinnern. Machen wir uns – trotz Verschossenheit – nichts vor: Wie viele bekennende Naturliebhaber könnten mit dem Objekt ihrer Begierde eine entspannte oder gar lustvolle Nacht im Wald verbringen? Aus Furcht kann das heute kaum noch jemand. Die meisten Liebeshungrigen würden die Flucht ergreifen, wenn in ihrer Nähe ein aufgeschrecktes Reh bellt, weil sie den durchdringenden Warnruf nicht zuordnen können. Ein unternehmungslustiger Igel, der bei Dunkelheit im Laub raschelt, mausert sich in der Phantasie von Unerfahrenen leicht zu einem riesigen Wildschwein. Im klaren Morgenlicht würden sich diese Rätsel auch nicht auflösen, denn dafür müsste man die Spuren dieser Tiere lesen können. Und wie baut man eigentlich einen wärmenden Unterschlupf aus Naturmaterialien, der in der Nacht für Geborgenheit sorgt? Welche Pflanzen liefern das Frühstück?
Offenbar sind wir zu Fremden auf dem Land geworden, das uns trägt und ernährt. Insofern ergeht es uns ähnlich wie Migranten. Tatsächlich hat der koloniale Drang moderner Kulturen nicht nur Indigene von ihrem Land vertrieben und zu Migranten gemacht, er hat auch unser menschliches Innenleben samt Weltverhältnis kolonialisiert. Unser Migrationshintergrund ist, dass wir uns mit dem modernen Weltbild als Erdlinge entwurzelt und uns den Heimatboden unter den Füßen weggezogen haben. Wir waren verstiegen genug, von der Erde in eine vermeintlich enthobene Zivilisation auszuwandern, was die unter Migranten typische Gefühlslage hervorbringt: das Verlangen nach Heimat im fernen Land.
Wir Heutigen sind schlicht Naturwesen, die von der Natur getrennt leben, weshalb sie in uns sowohl Sehnsucht als auch Befremdung auslöst. Die beiden Pole stehen also keineswegs im Widerspruch zueinander, sondern gehören zum selben Phänomen. Doch weshalb können die enthusiastischen Wanderer und Waldbadegäste die Kluft zwischen diesen Polen nicht schließen? Das lässt sich leicht erklären: Denn wie das Sitzen in einer Bibliothek noch nicht zur Gelehrsamkeit führt, so entsteht durch den reinen Aufenthalt in der Natur noch keine kundige Vertrautheit mit ihr. Um Migranten in das Land einzugliedern, bedarf es mehr – und einige sträuben sich zunächst.
Die erstaunliche Bedeutung der Raumfahrt dürfte auch daher rühren, dass wir uns insgeheim und teilweise sogar ausdrücklich auf die Emigration von der Erde vorbereiten wollen. Der Fluchtversuch in noch kühnere Weiten liegt in gewisser Weise nahe, da wir unseren Heimatplaneten im Augenblick verloren haben. Doch schon während die ersten Raumfahrer sich mit Pioniergeist von der Erde entfernten, blickten sie auch schon nachdenklich auf ihre Herkunft zurück. Erstmals war es Erdlingen möglich, den ganzen Planeten mit eigenen Augen zu betrachten. Die Ikone, die dieses Ereignis der Menschheitsgeschichte festhält, kennen wir alle. Es ist das berühmte Foto vom blauen Planeten, welches die Besatzung von Apollo 17 im Jahre 1972 aufgenommen hat. Das Bild wurde unzählige Male mit andächtigen Worten besprochen und bringt die Sehnsucht der Menschheit zum Ausdruck, sich von neuem auf der Erde anzusiedeln. Wenn wir es betrachten, nehmen wir die Perspektive von orbitalen Ausflüglern ein, die sich wieder auf den Landeanflug zu ihrem Heimatplaneten begeben. Um diese einsetzende Rückbesinnung zu bezeugen, ist die Ikone wichtig genug.
Frühere Interpreten hatten dem Foto stärkere Auswirkungen zugetraut. Das Motiv führe die Endlichkeit der Erde untrüglich vor Augen, weshalb die einzig mögliche Konsequenz sei, die vom Club of Rome ebenfalls im Jahre 1972 angemahnten »Grenzen des Wachstums« einzuhalten. Doch was hat das Wissen um Grenzen bewirkt? Wenn es uns in den vergangenen Jahrzehnten an einem nicht gemangelt hat, dann an Informationen darüber, auf welch gewaltige Krise wir zusteuern. Auf dieses Wissen haben wir aber kaum reagiert und den Eindruck erweckt, als hätten wir an unserem Überleben kein Interesse. Wie ist das bloß möglich?
Die Gründe sind vielschichtig, aber einer liegt sicherlich in der Kolonialisierung unseres Menschenbildes. Den vor allem vernunftgeleiteten Menschen, den die Moderne teils behauptet, teils gefordert hat, gibt es nicht. Wissen allein bewirkt im Menschen keinen grundlegenden Wandel. Dies bestätigt die Hirnforschung schon seit Jahren. Wenn wir die Erde wieder als Einheimische bewohnen und pflegen wollen, dann brauchen wir eine persönliche Beziehung zu ihr, dann müssen wir uns wieder mit dem Land verbinden, auf dem wir leben. Dafür ist es nötig, dass wir einen Reifungsschritt vollziehen. Nachdem wir uns wie unerzogene Kinder unserer Mutter aufgeführt und wie jugendliche Schwärmer die ferne Geliebte angehimmelt haben, schlage ich nun die gute Freundin als neue Beziehungspartnerin vor – zu der sowohl die Mutter als auch die Geliebte werden kann.
Um diese Freundin zu gewinnen, kommt uns entgegen, dass Freundschaften für uns Menschen wesentlich sind. Wir sind Wesen, die sich natürlicherweise auf Beziehungen ausrichten und mit der Zeit lernen, wie Freundschaften geschlossen werden. Erfahrungsgemäß geht es so: Wir müssen uns der Freundin gegenüber öffnen, uns einlassen, Zeit mit ihr verbringen, sie kennenlernen. Wir müssen herausfinden, wie sie tickt und sie mit ihren Eigenheiten annehmen. Einer Freundin begegnen wir mit wertschätzender Anteilnahme.
Die moderne Psychologie sieht Freundschaften freilich nur unter Menschen vor. Dementsprechend betrachtet sie lediglich die zwischenmenschlichen Beziehungen, während die zur Natur weitgehend ausgeblendet werden. Diese Sichtweise bringt einmal mehr die Naturentfremdung der vergangenen Epoche zum Ausdruck, die wir dringend überwinden müssen. Denn für unsere seelische Gesundheit brauchen wir Naturbeziehungen, weil wir Beziehungswesen überhaupt sind, nicht nur Menschenbeziehungswesen. Erleichternder Weise beruht die Freundschaft zur Natur auf den gleichen Voraussetzungen wie die zu anderen Menschen, so dass wir zutiefst darauf vorbereitet sind. Um uns mit Naturwesen anzufreunden, müssen wir uns öffnen, einspüren, sie genau kennenlernen und wertschätzen – also buchstäblich das gleiche in Grün.
Allerdings ist uns Heutigen der umfangreiche Erfahrungsschatz verlorengegangen, der unsere Vorfahren in ihren Naturbeziehungen gehalten hat. Deshalb habe ich das Buch Freundschaft mit der Natur geschrieben. Es beruht auf meinen langjährigen Erfahrungen als Leiter der Naturschule Wildniswandern und begleitet moderne Lehrlinge durch einen Jahreskurs. Dazu lade ich den Leser auf eine Entdeckungsreise ein, um die Natur vor der eigenen Haustür zu erkunden. Was hat der Vogel soeben gesagt? Wie schleichen wir unbemerkt und aufmerksam durch den Wald? Welcher Unterschlupf wärmt am besten? Wie werden Pflanzen und Tiere zu unseren Verbündeten? Wie erkennen wir uns im Spiegel der Natur? In einem Wechselspiel aus Geschichten, Übungen und Hintergrundwissen reifen die Antworten heran. Denn eine Freundschaft mit der Natur entsteht nur dann, wenn wir sie mit lebendigen Themen unmittelbar erfahren.
Das besagte Buch fördert unsere direkten Naturbeziehungen im wesentlichen dadurch, dass es unsere menschlichen Zugänge zur Welt belebt. Hier unterscheide ich vier Ebenen: Geist, Körper, Seele und Verstand. Diese Ebenen im Menschen eröffnen jeweils ein Tor, durch das wir mit der Welt verbunden sind. Zusammen betrachtet zeichnen die vier Tore ein ganzheitliches Bild vom Menschen. Allerdings haben wir Modernen uns besonders auf die Kultivierung des Verstandes konzentriert und dabei die übrigen Zugänge vernachlässigt. Weil der Intellekt überbetont wurde, leidet die momentane Komposition unseres Menschenbildes unter einer erheblichen Unstimmigkeit. Wenn wir mit uns selbst und der Natur wieder ins Gleichgewicht kommen wollen, müssen wir alle Zugänge gleichermaßen wachrufen. Im Buch erziele ich diese Ausgewogenheit, indem ich vier große Bereiche aus den menschlichen Toren hervorgehen lasse, die für Verbindung sorgen: der Geist gebiert die Naturspiritualität, der Körper das Naturhandwerk, die Seele die Naturwahrnehmung und der Verstand das Naturwissen. Diese Bandbreite ermöglicht ein weites Erfahrungswissen um die Natur, das eine kraftvolle Freundschaft mit ihr braucht.
Wenn wir uns der Natur mit unserem ganzen Wesen öffnen, wird sie mit der Zeit zur guten Freundin. Dann schließt sich die Kluft zwischen Sehnsucht und Fremdheit, die uns dazu brachte, die Erde wie jugendliche, flegelhafte Liebhaber zu verehren und zu verheeren. Erst aus der Verbundenheit mit der vertrauten Freundin entsteht die Fürsorge, die heute vonnöten ist. Dafür sind Freundschaften ja da, wie wir aus Erfahrung wissen: Sollten die Freunde in eine schwere Krise geraten, werden sie sich gegenseitig hindurchhelfen. Das können wir aber nur, wenn wir die Freundin gut kennen.
Unsere Verbindung mit der Natur zu pflegen, dürfte die wichtigste Aufgabe im 21. Jahrhundert sein. Durch freundschaftliche Beziehungen wird es uns gelingen, aus der Emigration zurückzukehren und uns friedlich auf der Erde niederzulassen. Das haben aber noch nicht alle »außerirdischen« Rückkehrer verstanden, die sich im Grunde schon auf dem Landeanflug befinden. Viele vernehmen die Notrufe der Erde und behalten sie seither im Blick, hoffen jedoch weiterhin darauf, dass die ökologische Krise allein durch eine Weiterentwicklung von Technik zu überwinden sei. Das wäre bequem, weil wir an unserem Lebenswandel nicht viel ändern müssten. Die Technikgläubigkeit bleibt aber dem modernen Machbarkeitsdenken verhaftet, das die Krise hervorgebracht hat und führt deshalb noch tiefer in die Irre. Denn die kulturellen Rahmenbedingungen bestimmen darüber, was technische Innovationen erreichen wollen, wie sie genau konzipiert werden und ob wir sie weise einsetzen. Technologien spiegeln immer den Geist einer Gesellschaft wider. Solange es im kulturellen Raum kein intimes Verständnis vom Leben auf der Erde gibt, wird uns die erforderliche Ausrichtung fehlen, wobei und wie uns neue Technologien überhaupt helfen sollen.
Was jetzt vor allem ansteht, ist eine Weiterentwicklung von Kultur. Es geht um nichts Geringeres, als eine neue Bewusstseins-, Kultur- und Gesellschaftsstufe zu entwickeln, deren oberstes Gebot die Förderung des Lebens ist. Dadurch hellen sich unsere Aussichten auf: Eine lebensförderliche Zukunft wird möglich, indem wir alte Weisheiten über das Zusammenleben auf der Erde mit modernen Errungenschaften verschmelzen. Wir brauchen eine zeitgemäße, nachmoderne Erdkultur, die es bisher nicht gab und noch nicht gibt.
Doch wer wird uns beraten, wie wir die nötige Erdung einer zukünftigen Kultur vollziehen? Das wird zunächst die gute Freundin sein. Ihr müssen wir uns öffnen, anvertrauen und wie beschrieben in Beziehung gehen. Dann sind wir von Natur nicht nur im übertragenen Sinne erfüllt, sondern gleichsam angefüllt, so dass ihre Themen in uns lebendig werden und zu sprechen beginnen. Je mehr Menschen die Stimme der Freundin aber vernehmen, desto mehr dringen ihre Anliegen bis in den kulturellen Raum hinein. Sie erhebt ihre Stimme in uns, und wir erheben ihre Stimme unter uns allen, weil freundschaftliche Fürsorge das nahelegt. So räumen wir der Erde ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der Zukunft ein.
Wenn wir länger im Austausch mit der Freundin bleiben, verrät sie uns irgendwann auch, worin das Wesen des Lebens auf der Erde besteht. Dieses Verständnis wird durch eine Fülle von Erfahrungen heranreifen, die wir mit der Lebendigkeit der Natur samt unserer eigenen sammeln. Damit erfährt unsere Ansprechpartnerin eine letzte archetypische Verwandlung: Sie wird zur weisen Ältesten, die unsere Vorfahren als Erdgöttin erlebten. Stellen wir uns eine Hüterin der Weisheit vor, welche in den unendlichen Beziehungen des Erdgewebes gespeichert wurde, um Lebendigkeit hervorzubringen. Aus dieser Quelle können die Prinzipien unserer Gesellschaft neu ergrünen. Einige Zeitgenossen haben bereits begonnen, sich an die Weisheit der Erde wieder anzubinden und sie in die öffentlichen Debatten hineinzutragen. Dort ist momentan ein enormer Paradigmenwechsel im Gange, der offenbar von der weisen Ältesten eingeflüstert wurde.
An die Zukunftstauglichkeit des modernen Programms glaubt heute jedenfalls kaum noch jemand. Es besagte, dass wir die natürliche Welt wie etwas Totes behandeln und fortwährend ausbeuten sollen, um immer mehr Wohlstand für eine separate Menschenwelt zu schaffen. Stattdessen zeichnet sich ein neues Erd- und Beziehungsparadigma ab, das unseren Sinn für Gemeinschaft auf die natürliche Welt ausdehnt und wieder auf die Pflege unserer Lebensbedingungen setzt. Zukünftig wird es nur noch eine Welt aus lauter lebendigen Teilnehmern geben, die miteinander in synergetischen Beziehungen stehen. Die rein »soziale Frage« nach der Verteilung des menschlichen Reichtums wird von der »ökosozialen Frage« abgelöst. Hier werden wir beantworten müssen, wie genau wir uns in die Erdgemeinschaft eingliedern wollen, so dass sie ihre lebensspendende Kraft erhält oder möglichst sogar steigert.
Dieser Perspektivwechsel wird sich durchsetzen, weil es zur Kooperation mit unseren Lebensgrundlagen keine Alternative gibt. Offen ist allerdings, wie wir mit den spätmodernen Ausprägungen der weiblichen Erdarchetypen verfahren. Werden wir schleunigst mit der guten Freundin und der weisen Ältesten über den Wandel beraten? Oder bleiben wir an der fernen Geliebten hängen, um am Ende desto schmerzlicher von der erzürnten Mutter zu einem Neuanfang gezwungen zu werden?
Angesichts unserer prekären Lage sollten wir eines nicht vergessen: Indigene Völker sind seit unvordenklichen Zeiten mit der Erde verbunden und in einem intensiven Dialog begriffen. Sie haben ihr Wissen um das Zusammenleben aller Wesen in Überlieferungen konzentriert, damit spätere Generationen davon lernen können. Wir Heutigen sind gut beraten, diesen Erfahrungsvorsprung dankend aufzunehmen. Schließlich ist den Indigenen gelungen, was unter dem Eindruck der jüngeren Geschichte kaum noch glaubhaft erscheint: Ihre Völker haben über lange Zeiträume in Frieden mit der Erde und untereinander gelebt. Im Umkreis von indigenen Siedlungen nimmt die Biodiversität in aller Regel sogar zu. Das sind keine Idealisierungen, sondern archäologisch und ethnologisch belegte Tatsachen. Wie haben diese Völker solch ein Kunststück vollbracht? Ihr Rezept bestand und besteht in einer friedensstiftenden Kultur. Ein Bündel von kulturellen Werkzeugen sorgt dafür, dass die menschlichen Beziehungen zur Welt auf mehreren Ebenen gepflegt werden. So kann sich die Erdgemeinschaft als täglich erfahrbare Praxis etablieren.
Unser Weltverhältnis lässt sich in vier grundlegende Beziehungen unterteilen, auf die Friedenskulturen ihre Aufmerksamkeit richten. Dazu gehören unsere Beziehung zur Natur, zur Gemeinschaft, zu uns selbst und zur Geistwelt. Für die Pflege aller vier Bereiche gibt es kulturelle Routinen, die so miteinander in Resonanz stehen, dass sie eine gemeinsame Friedensabsicht verfolgen. Für diese kulturellen Werkzeuge habe ich mich auf meinen Reisen zu indigenen Völkern und Lehrern besonders interessiert. Außerdem konnte ich damit ausgiebig in der gelebten Verbindungskultur meiner Naturschule experimentieren, was zu vertiefenden Einsichten führte. Allmählich haben sich acht kulturelle Kernelemente herauskristallisiert, die sich den vier grundlegenden Beziehungen zuordnen lassen. Die folgende Aufstellung verschafft also einen Überblick, wie sich mir der Kern einer friedlichen, beziehungsstiftenden Erdkultur im Augenblick darstellt. Ich werde kurz erläutern, was mit den indigenen Kernelementen jeweils gemeint ist und Beispiele anführen, unter welchen Namen sie heute in verwandelter Form wieder aufleben:
1.
Schon immer entstand
Naturfreundschaft
, indem wir unser ganzes Wesen öffnen und uns mit lebendigen Themen unmittelbar verbinden. Mit der Wildnispädagogik haben die Naturschulen eine dementsprechende, zeitgemäße Erziehungskunst entwickelt.
2.
Als
Gabenaustausch
bezeichne ich einen wirtschaftlichen Stoffwechsel aus Geben und Nehmen, der Fruchtbarkeit durch die wechselseitige Unterstützung seiner Teilnehmer erzielt. Dies wird von Allmende-Modellen in der Landwirtschaft bis hin zu Wikipedia wieder aufgegriffen, teilweise auch in der Kreislaufwirtschaft.
3.
Die ökonomische Grundlage des
Gemeinwohls
bildete die Teilung aller lebensnotwendigen Güter, insbesondere der Nahrungsmittel. Genossenschaften und Sharing-Modelle basieren auf einem ähnlichen Prinzip.
4.
Basisdemokratische
Kreiskultur
beruht auf den Regeln des Redekreises. Dazu gehören empathisches Zuhören, respektvolle Ehrlichkeit und angestrebte Einigkeit. Das wird mittlerweile in vielen Organisationen sowie in der gewaltfreien Kommunikation angewandt.
5.
Die
Lebensaufgabe
entspringt aus unserer persönlichen Begabung, deren Entfaltung nicht nur uns selbst, sondern auch dem großen Ganzen dient. Dieser Zusammenhang wird momentan als sinnstiftende Selbstverwirklichung neu erfahren.
6.
Übergangsrituale
helfen, dem Wandel unserer persönlichen Aufgabe und gesellschaftlichen Rolle gerecht zu werden, während wir unsere Lebensstadien durchwandern. Dabei begleiten derzeit die naturbasierte Prozess-, Visionssuche- und Ritualarbeit.
7.
Mit
Dankbarkeit
verneigen wir uns vor allem, was uns nährt und was wir nicht in der Hand haben. Damit vertrauen wir uns dem Geheimnis des Lebens auf eine bejahende Weise an, was längst von spirituellen Lehrern wiederentdeckt wurde.
8.
Erdspiritualität
geht aus uralten Fertigkeiten hervor, die uns mit der geistigen Wirklichkeit der Welt verweben. Den Kern dieser Praxis hat unter anderem der Core-Schamanismus von Michael Harner freigelegt.
Selbstverständlich liefert diese Aufstellung nur eine Skizze, der wir mehr Farbe verleihen müssen. Dafür sollten wir Spätmodernen prüfen, inwieweit uns die erläuterten Kernelemente unterstützen können, den Übergang in eine nachmoderne Erdkultur zu gestalten. Immerhin haben sich die dazugehörigen Kulturwerkzeuge nicht nur bei Indigenen bewährt, sondern ihr heutiges Potential in zeitgemäßen Weiterentwicklungen bewiesen. Letztere müssen wir nun breiter erproben und aus der gesellschaftlichen Praxis heraus vervollkommnen. Dabei steht uns der Balanceakt bevor, die ursprüngliche Kraft der Kulturwerkzeuge zu erhalten und für ihre Anschlussfähigkeit mit der Gegenwart zu sorgen. Sicher ist jedenfalls, dass folkloristische Nachahmungen von alten Völkern nicht in eine neue Erdkultur führen. Verbreiten werden sich die Werkzeuge nur, wenn sie lebenswerte Lösungen für aktuelle Bedürfnisse und Erfordernisse anbieten. In der Kulturevolution gibt es kein epochales »Zurück«, weshalb ein passendes Motto für heute lautet:
Vorwärts zur Natur!
Matthias Blaß leitet die Naturschule Wildniswandern, die Touren, Seminare und Ausbildungen in freier Natur anbietet. Seit 25 Jahren begleitet er Menschen jeden Alters dabei, auf der Erde wieder heimisch zu werden. Zahlreiche Reisen führten ihn zu indigenen Völkern und Lehrern, wodurch er intensiv mit dem Wissen alter Kulturen vertraut wurde. Daraus hat sich ein wildnispädagogischer Ansatz entwickelt, der auf hartes Survivaltraining verzichtet und vielmehr dazu einlädt, im Einklang mit der Natur zu leben. Sein Buch Freundschaft mit der Natur ist ein tiefgreifender Jahreskurs in Naturverbundenheit.
www.wildniswandern.de
Coco Burckhardt
Ich bin ein Fels – ich war schon da – zur Geburtsstunde der Welt.
Ich sah die Ozeane schwinden und die Kontinente entstehen, schaute den Gebirgen beim Wachsen zu und den Flüssen sich ihre Wege bahnen durch das Land.
Ich freute mich am ersten Grün, den ersten Bäumen und der ersten Blume.
Hörte das erste Surren der Insekten, sah die erste Raupe sich in einen Schmetterling verwandeln, staunte über den Flug der Vögel und das weiche Fell der Tiere, die ihre schutzlosen Jungen damit wärmten.
Es war schön, dem Gedeihen der Schöpfung beizuwohnen – so viel Vielfalt, so viel Farbe, so viele Fähigkeiten, so viel Musik, so viel Schönheit.
Eines bedingte das andere, eines war des anderen Nahrung – alles hatte seinen Platz, alles seinen Sinn.
Der ewige Kreislauf von Werden und Vergehen war geschaffen.
Ich bin ein Fels – ich war schon da – zur Geburtsstunde der Welt.
Dann, nach vielen Zeitaltern, brachte die Natur ein neues Wesen hervor, anders als die Wesen zuvor. Es war zu ungewöhnlichen Dingen fähig, konnte mehr als ihr Pflanzen und ihr Tiere. Wir schauten zu, wie es begann, das Land zu durchwandern, wie es den Eiszeiten trotzte, Herr über das Feuer wurde und sich mit seinen geschickten Händen zu helfen wusste.
Nach der letzten großen Winterruhe der Welt veränderte sich das neue Wesen rasch. Vielerorts, wo das Wetter und ihr Pflanzen und ihr anderen Tiere es zuließen, wurde dieses jüngste Mitglied der Schöpfung sesshaft.
Es nannte sich Mensch, machte die Wildnis zu Gärten, vermehrte sich und begann die Zeit zu zählen.
Noch verstand es die Sprache von euch Vögeln, freute sich an eurem Flug, erkannte darin Botschaften der künftigen Tage.
Wusste das Surren und Zirpen von euch Insekten zu deuten, wie auch die Wolken und das abendliche Licht.
Es war den Sternen noch so nah wie der Erde, wie uns Steinen, euch Wassern, euch Kindern aus Flora und Faunas Reich und auch sich selbst.
Doch mit jeder gezählten Stunde entfernte es sich von seinem, von unserem Ursprung. Es vergaß, dass Blume und Baum, Fels und Fluss, Dachs und Drossel seine Geschwister sind.
Es vergaß, sich zu erfreuen am ausgelassen zwitschernden Flug von euch Schwalben, die ihr damit den sommerlichen Abend begrüßt.
Es vergaß, still zu werden, wenn es an euch Flüssen oder unter euch Bäumen saß.
Es vergaß auch, nur so viel zu nehmen, wie es zum Leben brauchte.
Dafür begann es, Hierarchien zu schaffen und stellte den einen über den anderen.
Die Erde ist groß, und nicht überall geschah diese Veränderung so zeitig.
An manchen Orten der Welt blieb der Mensch noch lange mit seinem, unserem Ursprung verbunden.
Doch dort, wo ich stehe, auf dem Teil der Erde, den er heute Europa nennt, eilte diese Veränderung am gravierendsten und schnellsten voran.
Im Vergleich zu seinen Kindertagen ward hier schon viel vergessen, aber man ehrte noch Mutter Erde und suchte ihre Nähe in den großen Wäldern.
Doch dann kam ein Stern mit Schweif und verdrängte den Mond.
Aus dem Kreislauf wurde ein Diesseits und ein Jenseits, ein Gut und ein Böse.